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Shark Heart

Als Buch hier erhältlich:

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Was bedeutet es, ein Mensch zu sein?

Wren und Lewis sind frisch verheiratet, als das Paar durch eine seltene Diagnose erschüttert wird. Lewis wird einen Großteil seines Bewusstseins, seiner Erinnerungen und seines Intellekts behalten, doch sein Körper wird sich in den eines weißen Hais verwandeln. Während Lewis die Züge und Triebe einer fleischfressenden Kreatur annimmt, kämpft sein kompliziertes Künstlerherz darum, mit seinen Fehlern Frieden zu schließen. Gleichzeitig bleibt Wren nichts anderes übrig, als ihren Mann liebevoll in eine ungewisse Zukunft zu begleiten und erneut zuzusehen, wie ihr ein geliebter Mensch entgleitet.


  • Erscheinungstag: 27.05.2025
  • Seitenanzahl: 448
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749908608
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Zum Buch

Was bedeutet es, ein Mensch zu sein?

Wren und Lewis sind frisch verheiratet, als das Paar durch eine seltene Diagnose erschüttert wird. Lewis wird einen Großteil seines Bewusstseins, seiner Erinnerungen und seines Intellekts behalten, doch sein Körper wird sich in den eines weißen Hais verwandeln. Während Lewis die Züge und Triebe einer fleischfressenden Kreatur annimmt, kämpft sein kompliziertes Künstlerherz darum, mit seinen Fehlern Frieden zu schließen. Gleichzeitig bleibt Wren nichts anderes übrig, als ihren Mann liebevoll in eine ungewisse Zukunft zu begleiten und erneut zuzusehen, wie ihr ein geliebter Mensch entgleitet.

Zur Autorin

Emily Habeck hat einen BFA-Abschluss in Theater von der SMU‘s Meadows School of the Arts sowie Master-Abschlüsse von der Vanderbilt Divinity School und dem Vanderbilt‘s Peabody College. Sie wuchs in Ardmore, Oklahoma, auf. Shark Heart ist ihr erster Roman.

Emily Habeck

Shark Heart

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von
Edith Beleites

HarperCollins

Für meine Eltern

1. Szene

LEWIS: Als ich von New York weggezogen war, habe ich anfangs viel nachgedacht und mich gefragt, ob ich das Richtige getan hatte. Aber als ich dich dann traf, war ich für meine Fehler regelrecht dankbar. Vielleicht ist Fehlermachen ein Wunder. Vielleicht ist alles genauso gekommen, wie es sein sollte.

WREN: Du bist ein wunderbarer Lehrer. Und du hast es ja selbst gesagt: Alles, was in New York passiert ist, hat letzten Endes zu dem geführt, was du ohnehin hättest tun sollen, wärst du nicht so stur gewesen. Außerdem bist du noch jung. Du kannst machen, was du willst. Du kannst wieder Schauspieler werden und am Theater arbeiten, wenn du Lust dazu hast. Ich kann für unseren Unterhalt sorgen, wenn du es noch einmal versuchen willst.

LEWIS: Danke, aber das ist nicht, was ich …

Ich sage andauernd das Falsche.

Ich spreche zu viel über mich.

Was ich sagen will, ist:

Mein Scheitern als Künstler hat uns zusammengebracht,

du mit deinen schmalen Handgelenken und Fingern,

mit deinen effizienten Tagesabläufen,

deinen Listen für alles und jedes,

deinen Recherchen,

deinen glasklaren Grafiken bei jeder Angelegenheit.

Du machst alles besser, als es vorher war,

sogar mich.

Darf ich auf deinem Stückchen Land an deiner Seite sein? Wir sagen den Gräsern, sie sollen uns hoch um die Beine wachsen, und wenn der Wind Ahorn zu uns herüberweht, pflegen wir die Keime, Schösslinge, Setzlinge, bis sie groß und stark sind, uns Schatten spenden und Nahrung geben. Unsere Bäume leben zweihundert Jahre oder mehr, während auch unsere Verbindung immer selbstverständlicher und stärker wird. Selbstverständlicher, weil sich keiner mehr an eine Zeit erinnern kann, in der wir nicht unser Universum schufen. Stärker, weil unsere zweihundert Jahre alten Bäume unsere Zeugen waren und sind. Und dann sterben wir eines Tages glücklich und werden in unsere Erde gelegt. Pilze sprießen aus dem, was einmal unsere Körper waren. Ganze Pilzfamilien werden den Ort markieren, an dem wir gelebt haben.

Aus der Erde zu wachsen, bedeutet Leben.

Das hast du mich gelehrt.

Du,

eine Frau, deren tiefstes Lachen geräuschlos ist,

eine Frau, der nicht das kleinste Detail entgeht,

eine Frau, die nicht weiß, wie brillant sie ist,

egal, wie oft ich es dir vor Augen führe.

Manchmal frage ich mich, ob du überhaupt ein Mensch bist,

sondern ein Geist

eine Fee

oder eine Erinnerung,

ausgelöst von einer Fernsehsendung, die ich mir in einem Krankenhauszimmer oder einer Gefängniszelle ansehe. Oder ob du ein ebenso wunderbarer wie merkwürdiger Traum bist, aus dem ich niemals erwachen möchte. Ich stelle mir gern vor, dass wir uns vor langer Zeit in einem Tagtraum kennengelernt und beschlossen haben, uns im Hier und Jetzt zusammenzutun. Wren, du bist der komplizierteste Mensch, den ich je kennengelernt habe. Ich meine das im positiven Sinne. Kompliziert und vollkommen unbeeindruckt von so fragilen Dingen wie Jugend, Schönheit, Versprechen und Träumen, und ich möchte dir nah sein, solange ich lebe – oder es wenigstens versuchen. Deswegen möchte ich dich fragen, ob du mich heiraten willst. Wren, möchtest du meine Frau sein?

*

Wren war anders als alle Frauen, die Lewis je kennengelernt hatte. Von Anfang an gab sie sich ihm gegenüber so, wie sie war – unbeirrbar und klar. Keine Tricks, keine Geheimnisse, keine Spielchen.

Ihre Kochrezepte waren bis auf den Cent durchgerechnet und niemals hinterließ sie etwas in seiner Wohnung. Vor der Zeit irgendwo anzukommen, bedeutete für sie, pünktlich zu sein. Spontaneität hingegen Stress. Blumige Worte und große Geschenkkartons mochte sie nicht. Sie war stets fünf Schritte voraus. Sie notierte sich alles. Jede neue Umgebung checkte sie auf mögliche Probleme ab, immer auf der Hut. Filme sah sie sich nicht zur Unterhaltung an, sondern um frühzeitig zu erkennen, wie sie enden würden. Wren sagte Ich liebe dich, aber es war ihr unangenehm, wenn man es zu ihr sagte.

Anders als Lewis nahm sie das Leben nicht persönlich und sie ließ keine überbordenden Gefühle zu. Wrens Liebe war echt, aber durchdacht, und zum ersten Mal im Leben fühlte Lewis sich mit ihr sicher und konnte seine Sensibilität und inneren Turbulenzen akzeptieren, denn Wren liebte ihn so, wie er war.

Dass sie gut zuhören konnte, wussten alle, die sie kannten, zu schätzen. Und sie konnte sich alles merken, was man ihr sagte. Wenn sie mit jemandem sprach, stellte sie glasklare Fragen und scheute sich vor nichts. Wenn man ihr Fragen stellte, gab sie jedoch nur knappe und eher formelhafte Antworten. Sie fand, es gab nicht viel über sie zu sagen. Lieber schenkte sie anderen so viel Raum und Aufmerksamkeit, wie sie brauchten, denn ihr selbst ging es ja ohnehin gut.

Anfangs vermisste Lewis die Unternehmungen mit seinen früheren, kunstorientierten Freundinnen – bis morgens um zwei billigen Wein trinken, über alte Filme sprechen, Avantgarde-Theater besuchen, Drehbücher analysieren, sich gegenseitig Trost spenden nach einem missglückten Vorsprechen.

Als ihre Beziehung exklusiver, ernsthafter und realer wurde, erkannte er, dass Wren künstlerisch niemals mit ihm konkurrieren würde. Das war entspannend, und er genoss es, seinen Geschmack nicht rechtfertigen zu müssen.

Wenn sie überhaupt über Kunst sprachen, lernte Wren immer etwas Neues, und ihre Unwissenheit war ihr verletzlichster Punkt. Sie hatte keine Ahnung von Theater, Kino, Musik und Lyrik. Sie hat nie darüber nachgedacht, wie Schönheit definiert wird, oder über den Ursprung des Denkens philosophiert. Sie hat nie über eine fremdsprachige Oper geweint oder eine Stunde lang vor einem Gemälde gestanden, um herauszufinden, wie es sich verwandelt, wenn man sich ernsthaft damit beschäftigt.

Wren wurde ganz weich und jung, wenn sie lernte. In solchen Momenten tat Lewis so, als machten sie einen gemeinsamen Ausflug in die Vergangenheit. Bei dieser imaginären Reise waren sie beide sechzehn Jahre alt und entdeckten die Musik und verstrickten sich in eine pure, reine Liebe, die nichts zu fürchten hat.

Wren lernte immer mehr zu schätzen, was Lewis liebte, aber eine Leidenschaft für Kunst entwickelte sie nie. Die Rolle des Kunstliebhabers überließ sie ihm.

APRIL

Ihre Hochzeit war gefühlvoll und wunderbar, aber praxistauglich, genau wie ihre Beziehung, die nie ein Schlachtfest großer Leidenschaft oder eine opulente Zurschaustellung von Fürsorglichkeit war.

Wren mochte klar strukturierte, ruhige Abende mit ein paar Freunden. Lewis mochte ausgelassene Zusammenkünfte, bei denen die zahlreichen Gäste kamen und gingen, wie es ihnen beliebte. Für die Hochzeit einigten sie sich auf etwas dazwischen: ein Fest im Garten seiner Eltern mit vierundvierzig Gästen und einem BBQ-Empfang, den ein Caterer organisierte.

Seit dem Teenageralter war Wren sich selbst überlassen gewesen, deswegen war es nur folgerichtig, dass sie sich von niemandem zum Altar führen ließ. So schritt sie selbst darauf zu, während ein Schüler der Highschool, an der Lewis unterrichtete, Geige spielte.

Was Lewis in diesem Moment zu Tränen rührte, war nicht Wrens Anblick – sie trug ein Kleid so blau wie der Himmel über Texas –, nicht der Anblick seiner Mutter, die sich die Hände aufs Herz drückte, oder dass alle, die er liebte, hier versammelt waren, sondern der Gedanke an die großen Bäume, die hinter ihm standen. Die vier Eichen, zu diesem Anlass mit Lichterketten behängt, waren der Schauplatz seiner kindlichen Fantasien gewesen. Zusammen mit diesen Bäumen war er groß geworden. Jetzt waren sie quasi sein Trauzeuge und konnten sehen, was er aus seinem Leben machte. Ein überwältigendes Gefühl für ihn.

Als junger Mann hatte er manchmal versucht, sich diesen magischen Moment vorzustellen, wenn seine künftige Frau auf ihn zugehen würde. Wer sie wohl sein mag?, hat er sich jahrelang gefragt. Jetzt endlich kannte er die Antwort: Wren! Wren wird meine Frau! Im Geiste brüllte er die Enthüllung dieses Mysteriums heraus.

Als er dann Wrens Hand hielt, dachte er an ihre Freundlichkeit, ihren Intellekt, ihre innere Schönheit. Doch während er sich mit allem vermählte, was er bereits von ihr wusste, vermählte er sich auch mit allem Unbekannten, mit dem, was er noch nicht von ihr wusste. Das Gleiche galt für sie.

Am Ende des Zeremoniells drehten sich Lewis und Wren zu Familie und Freunden um, ein Mikrokosmos, der soeben ihre Verwandlung bezeugt hatte, ein Mikrokosmos, dem wohl bewusst war, dass auch die gelungenste Ehe eine Tages vor große Herausforderungen gestellt wird. Aber für diesen Abend waren diese Herausforderungen lediglich eine Hypothese. Für diesen Abend galten Wren und Lewis als ein Paar, das sich glücklich schätzen konnte.

Von jetzt an würde die Zukunft für sie eine gemeinsame sein.

Ihre Hochzeitsnacht verbrachten sie in einer Bed & Breakfast Pension, die am Stadtrand von Fort Worth inmitten einer Wiese voller blauer Lupinen lag. Sie teilten sich ein ebenso riesiges wie klebriges Sticky Bun mit Karamell und Pecannüssen und träumten von ihrer Hochzeitsreise, die sie im Sommer nach Frankreich führen würde. Eigentlich hatten sie gleich nach der Hochzeit losfahren wollen, aber dann waren die technischen Proben für das Schul-Musical, Sweeney Todd, just für diese Zeit angesetzt worden, und da Lewis die Hauptverantwortung dafür trug, konnte er nicht verreisen.

Beide wollten sich von dem Druck befreien, dass ihre Hochzeitsnacht das romantischste Zusammensein ihres Lebens werden sollte. Deswegen hatte sie eher die Tonalität eines ganz gewöhnlichen, relaxten Samstagabends, den sie zufällig zusammen verbrachten. Und das war sehr schön.

Als Lewis durchs Zimmer tanzte und mit übertriebener Falsettstimme ›The Worst Pies in London‹ sang, musste Wren so sehr lachen, dass sie grunzte. Es war ihr peinlich und sie entschuldigte sich dafür. Auch wenn sie sich unendlich freute, legte sie Wert auf ein maßvolles Benehmen.

MAI

Einige Wochen nach der Hochzeit bemerkte Lewis eine merkwürdige Veränderung an sich. Sein Nasenrücken war nicht mehr ein dreieckiger Knochen, sondern fühlte sich eher wie ein weicher Knorpel an.

Er erschrak und machte sich Sorgen, bis er sich daran erinnerte, dass Nase und Ohren ein Leben lang immer weiter wachsen. Seine verstorbenen Großväter hatten beide sehr große Nasen und Ohren gehabt. Das muss der Grund sein. Meine Nase wächst, dachte er. Gleich darauf beunruhigte ihn der Gedanke, dass er in wenigen Jahren vierzig sein würde. VIERZIG! Und ich habe nichts geschafft! Ich habe keine Ahnung von gar nichts! Über seine Nase dachte er nicht weiter nach.

Eine Woche später jedoch bestand seine Nase nur noch aus Knorpel. Sie sah aus wie immer, aber er konnte sie mit der Hand platt- oder seitlich an seine Wangen drücken. Wenn er kräftig den Kopf schüttelte, wackelte seine Nase, als sei sie aus Gummi. Er führte es Wren wie einen unterhaltsamen Zaubertrick vor. Sie aber war höchst alarmiert.

»Das ist nicht witzig, Lewis! Du solltest damit zum Arzt gehen.«

Sie wollte ihn umgehend in die Notaufnahme des Krankenhauses fahren, aber Lewis beruhigte sie und sagte, er habe keine Schmerzen. Und er versprach ihr, gleich am nächsten Morgen Dr. Anderson anzurufen.

Dr. Anderson war Lewis’ Arzt seit Kindertagen und ein Freund der Familie. Lewis erwartete, dass er so jovial und zu Scherzen aufgelegt sein würde wie immer, doch er zeigte sich äußerst besorgt, genau wie Wren. Während eine Schwester Lewis Blut abnahm, schrieb Dr. Anderson zwei Telefonnummern für ihn auf, die eines Rheumatologen und die eines Neurologen.

»Wenn Sie am Empfang sagen, dass ich Sie schicke, bekommen Sie zeitnah einen Termin. Und das ist gut so. Es muss nämlich schnell etwas passieren!«

Auf der Arbeit hatte er es mit einer begeisterten Theaterabteilung zu tun, nachdem Sweeney Todd sich als rauschender Erfolg erwies. Dr. Anderson und seine ominösen Aussagen waren schnell vergessen. Da es nur noch zwei Wochen bis zu den Sommerferien waren, ließ Lewis seine Schüler Pizza bestellen und Karaoke singen. Er schaute auch bewusst weg, als eine Gruppe anfing, die schmutzige Version von Cards Against Humanity zu spielen, aber als vier Jungen aus den Abiturklassen aufs Dach der Schule steigen wollten, verhinderte er es, indem er ihnen augenzwinkernd androhte, sie zum Rektor zu schicken.

»Was hat Dr. Anderson gesagt?«, fragte Wren am Abend des Arztbesuchs, bevor sie ihre Jacke ausgezogen hatte.

»Er hatte keine Ahnung.«

»Was soll das heißen?«

»Er hat mir Überweisungen für Fachärzte gegeben. Ich habe schon Termine gemacht«, sagte Lewis, um Wren zu beruhigen. Stattdessen wollte sie mehr wissen.

»Welche Fachärzte?«

»Weiß ich nicht mehr.«

»Wann hast du die Termine?«

»Warum fragst du so viel?«

»Weil ich mir Sorgen mache. Du etwa nicht?«

»Nein«, sagte Lewis und umarmte sie. »Ich bin jung und gesund. Worüber sollte ich mir Sorgen machen?«

Aber das entsprach nicht der Wahrheit; er machte sich durchaus Sorgen. Was immer da mit ihm vorging, passierte schnell. Er war andauernd durstig, aber selbst wenn er literweise Wasser trank, musste er kaum je urinieren. Außerdem lockerten sich seine Backenzähne; so etwas hatte er seit seiner Kindheit nicht erlebt. Und wie in seiner Kindheit fühlte er bereits neue Zähne unter den alten wachsen, nur dass die neuen Zähne nicht kantig und stumpf waren, sondern scharf wie Messerspitzen.

Die merkwürdigste Veränderung ging an seiner Haut im unteren Rückenbereich und an seinen Füßen vor. Wenn diese Hautpartien unter der Dusche nass wurden, waren sie ganz glatt, solange er mit der Hand an ihnen hinabfuhr, aber wenn er die Hand in die entgegengesetzte Richtung bewegte, waren sie rau wie Schmirgelpapier. Den ganzen Tag über fühlten sich seine Fußsohlen trocken an. Einmal riss sogar der rechte Hacken ein und blutete in seinen Schuh. Deshalb rieb er seine Füße jetzt dick mit Vaseline ein, bevor er sich morgens die Socken anzog. Innerhalb von Minuten sog seine Haut die Salbe auf, und dann lieferten sich Heilung und Zerstörung einen erbitterten Kampf.

Weitere Symptome waren gesteigerter Appetit, starke Schmerzen seiner Knochen in Oberschenkel und Wade, Konzentrationsschwierigkeiten, Reizbarkeit und sogar Aggressivität, unterbrochen von Phasen vollkommener Teilnahmslosigkeit. Das alles schilderte er Ärzten und Schwestern, bis es zu einem monotonen Singsang wurde.

Andere Beschwerden konnte er nicht recht in Worte fassen. Er hatte jetzt ein anderes Raumgefühl: Wo immer er sich befand, kam er sich wendiger und beschwingter vor als sonst, fast so, als würde er schwimmen statt gehen. Er konnte jetzt auch sprinten, ohne dass sich sein Puls beschleunigte. Wenn er nachts in den Garten schaute, merkte er, dass er alles klarer erkennen konnte als tagsüber. Auch sein Gehör veränderte sich, und er war imstande, Dinge wahrzunehmen, die sich an oder gar außerhalb der Peripherie seines Blickfelds befanden. Und er wusste immer, welche Bewegung jemand als Nächstes machen würde.

*

Am ersten Tag der Sommerferien saß Lewis in seinem Büro inmitten von Theaterstücken, von denen er eins für den Herbst aussuchen wollte, als das Telefon klingelte.

»Hier spricht Carla aus der Praxis von Dr. Ramirez. Ich würde gerne mit Lewis Woodard sprechen.«

Er hatte Sorglosigkeit vorgetäuscht, als Wren fragte, ob der Neurologe angerufen habe, aber jetzt hatte er doch Angst. Seine Hände zitterten, als er sich den Telefonhörer fester ans Ohr drückte.

»Am Apparat«, sagte er mit einer tieferen Stimme als üblich.

»Hallo, Mr. Woodard. Ich rufe an, um Ihnen zu sagen, dass Ihre Testergebnisse jetzt vorliegen. Dr. Ramirez bittet Sie, in die Praxis zu kommen, um alles zu besprechen.«

»Können Sie mir jetzt schon etwas sagen?«

»Tut mir leid. Dr. Ramirez möchte persönlich mit Ihnen sprechen.«

Zwei Tage später saß er Dr. Ramirez gegenüber, der sich vorbeugte und so eindringlich sprach wie ein Priester.

»Das Labor hat uns die Testergebnisse geschickt. Die Diagnose ist eindeutig.« Anders als ein Priester fasste er sich sehr kurz, wahrscheinlich um dem Ganzen die Schwere zu nehmen. »Sie befinden sich im Anfangsstadium einer Mutation zum Carcharodon carcharias.«

»Charcharodon – was?«

»Carcharodon carcharias. Ein Weißer Hai.«

Lewis wurde schwindelig, und er wünschte, er hätte Wren mitgebracht. Er hatte darauf verzichtet, weil er sie nicht unnötig ängstigen wollte, falls es nichts Ernstes war. Aber es war etwas Ernstes. Das begriff er, obwohl er nur Bruchstücke mitbekam, als der Arzt die Diagnose erklärte:

»Chondrichthyes-Mutationen, der Fachbegriff für Knorpelfisch-Mutationen, vollziehen sich schnell und brachial. Noch haben wir keine Möglichkeiten, den Übergang von Luft- zu Wasseratmung zu erleichtern. Manche Patienten berichten von permanenten Erstickungsgefühlen gegen Ende dieses Prozesses. Einige verfügen noch über gewisse menschliche Eigenschaften, wenn sie freigelassen werden, aber auch die verlieren sie bald. Grundsätzlich kann man sagen, dass die Mutation fortschreitet, wenn die Patienten ins Meer entlassen werden … Ich habe mir Ihren MRT-Scan angesehen – Fußgelenke, Knie, Hüften, Ellenbogen und praktisch Ihr ganzes Knorpelgewebe. Es überrascht mich, dass Sie überhaupt noch gehen können. Wie stark sind Ihre Schmerzen?«

Als Lewis zu seinem Wagen humpelte, beladen mit Informationsbroschüren und sieben Rezepten, versuchte er, zu rekonstruieren, was Dr. Ramirez gesagt hatte, und er bedauerte, sich keine Notizen gemacht zu haben. Er konnte seine Diagnose nicht einmal aussprechen. Es würde ihm nichts anderes übrig bleiben, als alles im Internet zu recherchieren.

*

Lewis beschloss, die schlechten Nachrichten so lange wie möglich für sich zu behalten und sein Alltagsleben nicht davon beeinflussen zu lassen. Er tat so, als könnte Verdrängung seine Symptome mildern und als sei das Ganze ohnehin Unsinn. Aber die Symptome wurden schlimmer und die Geheimhaltung als solche zog fast genauso viele Konsequenzen wie die Krankheit nach sich. Er wusste, dass er es Wren erzählen musste. Und zwar bald.

In der Zwischenzeit bombardierte sie ihn mit Fragen: Hat Dr. Ramirez heute angerufen? Vielleicht fragst du lieber noch mal nach? Warum sprichst du nicht wenigstens mit der Arzthelferin? Haben sie nicht gesagt, in einer Woche bekämst du Bescheid? Kann es nicht sein, dass sie einfach vergessen haben, dich anzurufen? Haben sie dir vielleicht eine E-Mail geschickt? Hast du mal in den Spam-Ordner geguckt? Haben sie vielleicht was im Patientenportal gepostet? Hast du dafür ein Passwort vergeben?

Dann wurde Lewis’ Geheimnis zu einer regelrechten Lüge.

Wenn er allein war, überschlugen sich seine Gedanken.

Wenn er mit anderen zusammen war, tat er so, als sei alles in Ordnung.

Wenn er mit Wren zusammen war, verkörperte er eine typisierte Version seiner selbst: idealistisch, humorvoll, voller kreativer Energie.

Schließlich war er einmal Schauspieler gewesen.

Zu seinen Schülern sagte er oft, das Leben selbst sei eine Kunst. Deswegen war es nur folgerichtig, dass er ihnen als Lehrer dieses Prinzip demonstrierte. Noch befand er sich im ersten Akt und konnte das Geschehen kontrollieren. Noch war er der Regisseur seiner eigenen Geschichte.

Was nach der Pause kommen würde, lag in Gottes Hand, falls es denn einen Gott gab, oder die Natur würde ihren freien Lauf nehmen. Und für den Fall, dass es keinen Gott gab, würde Lewis dem Leben die Schuld geben, all dem Chaos und Drama auf Erden.

TEIL EINS

WREN und LEWIS

HAUPTFIGUREN

WREN: Frau (35). Hört gut zu. Verfasst Listen. Zeitnehmerin. Würde das Geschehen gern durch Illusionen und immaterielle Werte wie Willenskraft, Pragmatismus, Hoffnung und Liebe kontrollieren.

LEWIS: Mann (35). Lehrer. Träumer. Regisseur. Bühnenautor. Gescheiterter Schauspieler bis zu dem Zeitpunkt, als er die Vorstellung seines Lebens gab (also jetzt).

WINZIGE SCHWANGERE: Früheres Wunderkind. Menschenfeindin. Vogelmutter.

ORT / ZEIT

Dallas, Texas / 2016

*

Als Wren die Grundschule besuchte, hingen die Kinder Wunschzettel an die Traumfänger, die sie gebastelt hatten. Mit einem breiten Marker schrieb Wren auf ihren:

Ein mittelmäßiges Leben

In der zweiten Klasse stellte sie sich nämlich vor, dass einem ein sehr bemerkenswertes Leben vielleicht gestohlen würde, während ein sehr unscheinbares vielleicht missachtet würde. Ein mittelmäßiges schien ihr eine sichere Wahl.

Ihre Lehrerin, die in ihrer Freizeit heimlich Gedichte schrieb, fand das ganz zauberhaft, klug und bodenständig. Auf die Idee, dass ein solcher Wunsch von einem Kind stammte, dem bereits zu viel aufgebürdet wurde, kam sie nicht.

In der Mittelschule beglückwünschte sie ein anderer Lehrer zu ihrer unaufgeregten Selbstsicherheit, und für Wren war es eine Auszeichnung, die sie fortan wie ein unsichtbares Ehrenabzeichen trug.

Mit dreißig war ihr Wunsch nach einem mittelmäßigen Leben ausgeprägter denn je.

Ihr Alltag war ausgeglichen, vorhersehbar und gut organisiert. Sie tat fast alles dafür, ihre Gewöhnlichkeit zu bewahren. Sie war attraktiv, schaute aber nicht gern in den Spiegel. Sie verdiente gutes Geld, gab es aber nur für Basics aus. Sie verreiste nie. Manche hielten ihr Leben für langweilig, weil sie nicht verstanden, was Wren wichtig war. Sie war unerschütterlich.

*

Anfangs, als sie einander noch nicht gut kannten, sagte Lewis oft zu ihr:

»Weißt du eigentlich, wie schön du bist?«

»Nein.«

»Bist du aber.«

»Nein.«

»Doch, bist du.«

»Hör bitte auf.«

»Es stimmt aber.«

»Schönheit ist nicht wichtig.«

Lewis dachte, dass es ein Witz sein sollte, und lachte. Aber das war es nicht.

»Du bist wunderschön und ich werde es dir immer wieder sagen.«

»Halt an! Ich steige aus und gehe zu Fuß nach Haus.«

»Das ist nicht dein Ernst.«

»Doch

»Warum denn?«

»Weil du nicht zuhörst.«

»Ich darf meine Freundin nicht mit Komplimenten überhäufen?«

»Du hast es erfasst.«

*

Lewis hatte gelernt, behutsam zu sein, wenn er Wren klarmachen wollte, was in ihm vorging. Da er meist starke Gefühle hatte, war das die größte Herausforderung ihrer Beziehung. Doch als er mehr über Wren und ihre Vergangenheit erfuhr, begriff er, dass ihre Angst, verletzt zu werden, einen Grund hatte.

Auf seine ganz eigene Art verstand er, wogegen sich ihr Widerwille richtete.

Sein Leben lang hatte er ein Theaterschauspieler sein wollen. (Am Broadway! Und eigentlich wünschte er es sich immer noch so sehr, dass er es kaum aussprechen konnte.) Für ihn war das Theater mehr als eine Leidenschaft: Es war seine Berufung.

Er liebte das Theater wie einen Gott, und das Schauspielen war seine Religion. Seine Gefühle beruhten jedoch nicht auf Gegenseitigkeit. Es hatte ihm nicht einmal Eintritt gewährt, außer als Bewunderer, Zuschauer, Lernenden. Es hatte Lewis viel gekostet: seine Zwanziger, sein inneres Feuer, sein Geld und seine Zeit.

Bei einem Sonntagsspaziergang um den White Rock Lake in ihrem ersten gemeinsamen November hatte Wren ihm die Geschichte ihrer Mutter, Angela, auf eine distanzierte, aber klare Art erzählt. (Erst später wurde Lewis bewusst, wie viel Mut Wren hatte aufbringen müssen, um diesen Teil von sich preiszugeben.)

Angela hatte Wren aufgezogen und sich um sie gekümmert, bis sich noch während Wrens Kindheit ihre Rollen umkehrten. Angela hatte ihr das Leben geschenkt und ein Zuhause gegeben, ihr aber auch die Kindheit und Unschuld genommen, die Neugier und Flexibilität, die Fantasie und Wundergläubigkeit. Wren sagte, manchmal hasste sie ihre Mutter, und manchmal vermisste sie sie so sehr, dass sie kaum atmen konnte.

Als Lewis das hörte, kam es ihm seltsam bekannt vor, denn trotz ihrer unterschiedlichen Persönlichkeiten, Berufe, Steuerklassen und Lebenserfahrungen waren sie doch gleich – überarbeitet und zurückgewiesen von etwas, das sie verzweifelt liebten.

*

Mit achtzehn entschied sich Wren für ein College in New England, weil sie möglichst weit von Oklahoma wegwollte. Nach dem College nahm sie einen Job in Boston an, aber schon nach zwei Jahren zog sie in die Nähe ihrer Heimat zurück.

Als sie weit weg war, wurde ihr nach und nach zweierlei klar. Zum einen war sie dankbar, endlich von Oklahoma weg zu sein und noch einmal durchstarten zu können. Zum anderen fühlte sich der Nordwesten nicht wie zu Hause an.

Sie hasste den grauen Himmel und das schwarze Loch der Winterdepressionen, in das sie regelmäßig von Oktober bis April fiel. Außerdem fand sie die Lebenshaltungskosten nicht angemessen für einen Ort, der so überfüllt und kalt war. Im Gegensatz dazu erschien ihr Oklahoma, das sie als Jugendliche so gehasst hatte, jetzt als lebenslustig, geräumig und einladend.

Sie vermisste die Vorstellung, dass Grasland und Himmel am Ende des Horizonts aufeinandertrafen. Sie vermisste es, in der Langgrasprärie mitten im Geraschel wogender Wiesen voller Präriegras, Blauhalm, Goldbartgras und Rutenhirse zu stehen. Im Mai vermisste sie die Felder voller schwarzäugiger Susannen, Kokardenblumen und Mädchenaugen. Sie vermisste die rote Tonerde der unbefestigten Straßen. Sie vermisste die Gerüche aus Räucheröfen, Läden, die sonntags praktisch menschenleer waren, Friseurbesuche für dreißig Dollar, den Scherenschwanz-Königstyrann, der wie Superman aussah, wenn er durch die heiße, trockene Luft flog. Am meisten vermisste sie die Abende, wenn eine grapefruitfarbene Sonne über der Prärie hing und sich vom Tag mit unerwarteten Farben wie denen von Zuckermelonen, Fuchsien und Flieder verabschiedete.

Es war, als säße ein Magnet in ihr, der seine Kraft immer nur aktivierte, wenn sie sich weit weg von den weiten Ebenen und ihrer Mutter befand.

Dallas gefiel ihr, weil viele es nicht mochten. Auf den ersten Blick war nichts Besonderes daran, alles nur Beton, platt und ohne Zugang zum Meer. Die Stadt schien groß genug zu sein, um darin unterzutauchen, aber nicht groß genug, um sich darin zu verlaufen. Die Leute waren nett. Und in ein paar Stunden Autofahrt konnte sie bei ihrer Mutter sein.

*

Wren und Lewis sahen sich zum ersten Mal in einem angesagten Café mit Terrasse in der Elm Street. Es war ein schöner Tag im Jahr 2012, der Sonntag, bevor Obama für eine zweite Amtszeit gewählt wurde.

Lewis war mit einer Frau verabredet, die ihre Beine rankenartig sowohl über die Schenkel geschlagen als auch um die Fußgelenke geschlungen hatte. Auch ihre Arme hatte sie verschränkt und ihre Strickjacke war mehrere Nummern zu groß. Lewis gab sich die allergrößte Mühe, sie gut zu unterhalten, erzählte eine Geschichte nach der anderen und lachte über seine eigenen Witze. Die Frau war so still wie abweisend und sehr dünn.

Wren beobachtete die beiden und machte sich Gedanken über ihren Beziehungsstatus. Ganz klar ein erstes Date, und der doppelten Unsicherheit nach zu urteilen, waren beide hauptsächlich damit beschäftigt, herauszufinden, ob das Bild, das sich jeder von ihnen aus dem Onlineprofil des jeweils anderen gemacht hatte, der Wirklichkeit standhalten konnte oder ob ihnen jemand ganz anderes gegenübersaß.

Lewis trug ein dunkelgelbes T-Shirt, das zu den umliegenden Blumenbeeten passte.

Wren versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass sie die beiden anstarrte. Starr sie nicht so an, sagte sie sich. Du bist hier, um einen Salat zu essen und etwas zu lesen.

Aber den Typ im gelben T-Shirt zu belauschen, war viel unterhaltsamer, als etwas über Big Data zu lesen.

»Ich bin gerade von New York zurückgezogen«, sagte er.

»… habe in Denton gewohnt, bevor ich mein Musikstudium abgebrochen habe. Jetzt unterrichte ich Yoga«, sagte sie.

»Du bist Yoga-Lehrerin? Das ist ja cool!«, erwiderte er.

Dann machte er wieder einen Witz und die Dünne lachte nicht. Wren suchte Blickkontakt mit ihm und lächelte.

Starre da nicht rüber, sagte sich Lewis. Du hast ein Date mit der Dünnen, nicht mit der Salat-Lady.

Irgendwann brachte Lewis die Frau zu ihrem Auto und umarmte sie, ohne allzu viel von ihr zu berühren.

Als er sich sicher war, dass sie außer Sichtweite war, rannte er zu dem Café zurück und hoffte, dass die Salat-Lady noch nicht gegangen war.

Sekunden später stand er keuchend vor Wren und versuchte, lässig zu wirken.

»Gut, dass ich dich noch erwische«, sagte er.

»Hi.«

»Gibst du mir deine Telefonnummer?«

»Du hältst wohl nicht viel von Zeitverschwendung, was?«

»Nee.«

»Hattest du nicht gerade ein Date?«

»Ach was! Bloß eine Freundin. Wie heißt du?«

»Wren.«

»Wren«, wiederholte er. »Ich heiße Lewis.«

»Lewis«, sagte Wren und hielt das S am Ende länger als nötig. »Weißt du eigentlich, dass dein T-Shirt zu den Blumenbeeten passt?«

»Oh, danke. Ich meine … nein.«

Es folgte noch ein wenig Small Talk, und plötzlich befanden sie sich in einem Gespräch, das vier Stunden dauern sollte. Der große Tisch zwischen ihnen schien mit der Zeit immer kleiner zu werden. Sie standen erst auf, als das Personal die Stühle stapelte und unter den Tischen fegte.

Zum Abschied wollte Lewis sie küssen, aber er zögerte, und in der Pause, die entstand, reichte Wren ihm ihre Visitenkarte.

*

Lewis wartete nicht, bis er zu Hause war, um Nachforschungen über sie anzustellen. Kaum saß er mit ihrer Visitenkarte auf den Knien in seinem Honda Accord, als er sie schon auf seinem Handy googelte. Er merkte, dass er Feuer gefangen hatte, und war ziemlich nervös. Er wollte alles über diese Wren in Erfahrung bringen.

Als er herausfand, dass sie im Finanzwesen arbeitete, bekamen seine Hoffnungen einen Dämpfer, und er fragte sich, ob sie ihm ihre Karte gegeben hätte, wenn sie wüsste, dass er bloß Theaterkurse an einer Highschool gab.

Er versuchte, sich vorzustellen, welche Sorte Männer sie bevorzugte. Die typischen Emporkömmlinge aus protegierten Studentenverbindungen mit Abschlüssen in Volkswirtschaft, die er am College immer belächelt (und heimlich bewundert) hatte? Typen, die freitags keine Vorlesungen hatten, 70.000-Dollar-Sportwagen fuhren und in den Semesterferien mit dem Geld ihrer Eltern Dauerpartys in Cabo feierten? Am College mochte er diese selbstsicheren Millionäre-in-spe nicht, weil er sie beneidete. Und er beneidete sie, weil er nicht selbstsicher war. Womöglich war er ein Loser.

Aber du hast deine Kunst, sagte er sich, als er vier Tage später immer noch an Wren dachte. Du kannst ihr keine Reichtümer bieten, aber du bist interessanter als diese anderen Typen. Außerdem hast du in New York gewohnt!

Dann musste er über sich selber lachen und dankte dem

Herrgott, dass er es wenigstens laut ausgesprochen hatte.

Und schließlich schrieb er ihr:

Hi, ich bin’s, Lewis Woodard, der Typ im gelben T-Shirt. Ich denke an dich und möchte mich dafür entschuldigen, dass ich dich nicht schon früher kontaktiert habe. Ein Bierchen am Wochenende?

Kaum hatte er das abgeschickt, bekam er ihre Antwort:

Ja.

»Warum bist du nach Texas zurückgezogen?«, fragte Wren gleich zu Anfang ihres ersten Dates. Sie saßen an einem Picknicktisch im Hof hinter einer Brauerei.

Lewis hatte New York aus vielen Gründen den Rücken gekehrt, aber da es ein erstes Date war, beschloss er, erst mal nur einen zu nennen.

»Ich glaube, ich habe den Himmel vermisst. Die Häuser und der Beton haben mir zugesetzt. Ich konnte kaum noch atmen.« Sofort bereute er, etwas so Gefühliges zu einer so rationalen und erfolgreichen Frau gesagt zu haben. »Wahrscheinlich klingt das ein bisschen irre.«

»Nein«, sagte Wren und beugte sich zu ihm vor. »Überhaupt nicht.«

*

Als sie ein Jahr zusammen waren, glaubte Lewis zu wissen, wann Wren an ihre Mutter dachte; sie zog die Stirn kraus und senkte den Blick.

Genauso blickte sie drein, als Lewis sie mit einer Ballonfahrt am Lake Travis überraschte. Es sollte der Höhepunkt des Wochenendes sein, an dem sie Geburtstag hatte. Hoch über dem See beschloss er, es zu wagen.

»Was vermisst du an ihr?«, fragte er und hoffte, dass er ihre Gedanken richtig gelesen hatte.

Im cremefarbenen Sonnenuntergang schwebten sie über die Villen der Ufergrundstücke, und Wren erzählte ihm, dass ihre Mutter die Namen der meisten Vögel kannte, Brot backen und Minigärten in Eierschalen anlegen konnte. Dass sie seit dem Verlust ihrer Mutter jeden Morgen als Erstes ihre Hände anschaute, um sich zu vergewissern, dass sie wie die ihrer Mutter aussahen – Hände, die sie nie verlassen hatten und auch im verschwommenen Niemandsland zwischen Schlafen und Wachen lebendig blieben.

»Also eigentlich alles?«, sagte Lewis.

Wren nickte und ihre Augen wurden ganz glasig. »Alles.«

Wren mit neun

Wren ging gern zur Schule, denn es machte ihr Spaß, herauszufinden, wie alles miteinander zusammenhing. Sie konnte sich jeden Stoff ungewöhnlich schnell merken und erkannte, wann die Lehrer Fehler machten oder inkonsequent waren, aber wenn sie darauf hinwies, wurde sie getadelt. So wurde sie zur stillsten Schülerin ihrer Klasse.

Wenn sie mit ihren Aufgaben schneller fertig wurde als ihre Mitschüler, durfte sie ein Buch aus der Schulbibliothek lesen, bis die anderen fertig waren. In diesen Büchern stieß sie auf fremde Welten und lernte etwas von den Protagonisten darin. Sie merkte, dass die Figuren Fehler machten, und beschloss, selbst nicht so zu werden. Irgendwie würde sie es schaffen, perfekt zu werden.

An einem Elternabend in der vierten Klasse sagte Wrens Lehrer zu Angela, Wren sei eine sehr gute Schülerin, aber sozial nicht integriert. In den Pausen bleibe sie lieber mit einem Lehrer im Klassenzimmer und lese, statt mit ihren Mitschülerinnen auf dem Pausenhof zu spielen. Das überraschte Angela nicht. Wren war schon als Baby sehr still und wissbegierig gewesen. Aber sie wollte alles in ihrer Macht Stehende tun, um ihrer Tochter zu helfen, und wenn Wrens Lehrer ihre Introvertiertheit problematisch fanden, nahm sie es ernst.

Sie beschloss, Wrens zehnten Geburtstag groß zu feiern. Zuerst war Wren skeptisch, aber je mehr Angela darüber sprach, was man alles machen könnte, desto stärker freundete sie sich mit dem Gedanken an. Angela mietete einen Pavillon im Park. Zwei Sonntage vor der Party bastelten Wren und sie sechsundzwanzig Einladungskarten aus farbigem Karton und schrieben Datum, Uhrzeit und Ort darauf. In der Schule legte Wren sie am Montag in die Fächer ihrer Klassenkameraden.

Am Morgen der Geburtstagsparty, dem 27. Februar, schnitt Angela Wren die Haare im Garten. Danach dekorierten sie Cupcakes, malten sich gegenseitig die Fingernägel pink an und bastelten eine Geburtstagskrone für Wren.

Es war ein wunderbarer Tag, 24 Grad, und die Sonne schien – eine für die Jahreszeit seltene Wetterlage, der für gewöhnlich eine Woche mit Eis und Schnee folgte.

»Was haben wir für ein Glück mit dem Wetter«, sagte Angela. »Der perfekte Tag für eine Party.«

»Der perfekte Tag für eine Party«, plapperte Wren ihr ganz aufgeregt nach.

Eine Stunde vor der Zeit waren sie in dem Pavillon zugange, um alles vorzubereiten. Angela hängte Girlanden auf, während Wren sechsundzwanzig Bingo-Karten auf den Tischen verteilte. Aber um eins, als die Party anfangen sollte, war noch keiner da.

»Wahrscheinlich verspäten sie sich ein wenig«, sagte Angela und hoffte, dass sie recht hatte.

Um halb zwei näherte sich endlich ein Wagen, aber als er den Pavillon fast erreicht hatte, sah Wren, wie sich ein kleiner Kopf wegduckte, und dann fuhr das Auto schnell weiter.

»Das war jemand aus meiner Klasse«, sagte Wren.

»Wahrscheinlich mussten sie schnell noch woandershin. Die anderen sind bestimmt schon unterwegs«, sagte Angela.

Um zwei wollte Angela die schmerzliche Wahrheit nicht aussprechen. Stattdessen steckte sie kleine Kerzen auf die Cupcakes und stellte Wren auf eine Bank, während sie ein enthusiastisches »Happy Birthday« sang. Noch bevor das Lied zu Ende war, brach Wren in Tränen aus und schluchzte so sehr, dass ihr die Luft wegblieb. Die selbstgebastelte Krone fiel ihr vom Kopf und landete in einer Pfütze.

»Keiner mag mich. Sie wissen nicht mal, dass ich überhaupt existiere. Ich hasse mich.«

Angela nahm Wrens Hand, aber Wren entzog sie ihr und ließ sich auf die Bank fallen.

»Also, ich hab dich lieb. Du bist der beste Mensch, den ich kenne, mein Lieblingsmensch auf dem ganzen Planeten.«

Brav blies Wren die Kerzen aus.

Als sie die Bingo-Karten und Girlanden einsammelten, wurde Angela auf die Kinder, die sie nicht kannte, wütend, und deren Eltern fand sie grausam. Sie war aber auch auf sich selbst wütend. Es war ihre Schuld, sie war einfach eine schlechte Mutter. Eine Mutter, die mit fünfzehn schwanger geworden war und keinen Mann an ihrer Seite hatte.

»Weißt du«, sagte sie, als sie den Truck anließ, »vielleicht ist es meine Schuld. Ich habe vergessen, auf die Einladungen zu schreiben, dass die Leute Bescheid sagen sollen, ob sie kommen können.«

»Schon gut, Mom. Eigentlich wollte ich sowieso keine Party.«

Die nächsten zwei Tage aßen Angela und Wren Cupcakes zum Abendbrot. Zuerst machte das Spaß, aber am zweiten Abend mussten beide zugeben, dass sie nichts Süßes mehr sehen konnten.

*

Vor Lewis hatte Wren ihre erste Beziehung mit Anfang zwanzig. Vor Lewis waren ihre Beziehungen kurz und ohne innere Bindung. Nur wenige gingen über ein erstes oder zweites Date hinaus.

Mit Lewis wurde alles anders. Sie hasste das Klischee, aber Lewis gab ihr etwas, wovon sie nicht einmal gewusst hatte, dass sie es brauchte. Sie brauchte es sogar so sehr, dass sie ihm von Anfang an nichts entgegenzusetzen hatte, aber als sie anfing, ihn zu lieben, schwankte sie zwischen Unentschlossenheit und Angst, und die stärkste Stimme in ihr flüsterte ihr ein, dass sie es sich nicht leisten konnte, zu lieben.

*

Als sie verlobt waren, sagte Wren bei der Suche nach einem Lokal für die Hochzeitsfeier, Hochzeiten seien Humbug und bei der Ehe gehe es lediglich um ein offizielles Dokument, das einem Steuervorteile und bestimmte Rechte verleiht.

»Was soll das heißen?«, fragte Lewis erschrocken. Sie befanden sich auf dem Parkplatz des Arboretums von Dallas und waren gerade wieder in ihren Wagen gestiegen.

»Ich verstehe nicht, warum wir Tausende Dollars für ein Lokal ausgeben sollten. Eine Hochzeit ist doch bloß eine bedeutungslose Show.«

Lewis verstand jetzt, was sie meinte, aber es machte ihn traurig. Für ihn war eine Hochzeit etwas ganz anderes. Er liebte das ganze Drumherum, das man durchaus als Show bezeichnen konnte, aber für ihn war es eine Show, die auf wahrer Liebe basierte. Die beste Kombination, die er sich als Schauspieler vorstellen konnte.

*

Als Lewis damit beschäftigt war, Wren seine Diagnose zu verheimlichen, dachte sie über etwas anderes nach. Ihr war klar geworden, dass sie sich in puncto Ehe geirrt hatte. Sie musste doch etwas bedeuten, denn seit ihrer Hochzeit hatte sie sich verändert. Sie konnte nicht mehr schlafen.

Schon als sie verlobt waren, dachte sie, sie hätte ihre Angst vor Liebe und Bindung abgelegt. Noch nie hatte sie sich so frei gefühlt und war so glücklich gewesen. Doch die Ehe weckte eine ganz neue, unerklärliche Angst in ihr. Tagsüber verdrängte sie ihre Gefühle, aber nachts wurde sie von ihrer Angst überwältigt. Dabei ging es nicht um Lewis als Person, die Tiefe ihrer Liebe oder Verbindlichkeit. Das Problem war vielmehr, dass ihr klar war, wie leicht sie einander enttäuschen könnten.

Wenn sie es nicht mehr aushielt, ruhig dazuliegen, stand sie leise auf und spazierte durch die Nachbarschaft, bis der Himmel über den Hausdächern hell wurde.

Dann konnte sie auch jenseits der Lichtkegel von Straßenlaternen Waschbären, Opossums, Stinktiere und streunende Katzen sehen. Einmal bemerkte sie einen Fuchs auf dem Rasen eines Vorgartens. Zweimal nahm ein Kojote Reißaus vor ihr. Nach diesen Begegnungen fragte sie sich, wie es wohl sein musste, wenn man ein Tier wäre, das lediglich so schlichte und vernünftige Ängste hat.

*

In Essens- und Finanzplanung war Wren besser als Lewis. Seine Spezialität waren kryptische Verweise auf Aspekte der Pop-Kultur und spontane Kunstprojekte, bei denen beispielsweise Sprühdosen mit Neonfarben, eine Stichsäge und einmal eine komplette Autowerkstatt ins Spiel kamen. Es gab Tage, an denen sie einander gut ergänzten. An anderen gingen sie sich im Haus aus dem Weg und sprachen kaum miteinander.

*

Lewis träumte davon, eines Tages in einem Baumhaus zu wohnen. Wren gegenüber hatte er »Baumhauswohnen« einmal sogar als ein Lebensziel bezeichnet.

Er zeichnete fantasievolle Baumhäuser und gigantische Bäume, die seinen imaginären Häusern Halt gaben – gewöhnliche und Riesenmammutbäume oder Banyanbäume, Bäume, die es in Texas nicht gab. Aber die meisten waren ohnehin Fantasiegebilde und kamen in der Natur nicht vor. Sie hatten Korkenzieherstämme, Blätter so groß wie Regenschirme und Zweige wie Hängematten.

Als sie zusammengezogen waren, fand Wren im ganzen Haus verräterische Zeichnungen, auf Altpapier, Rechnungen, Einladungskarten, Pappkartons und Werbeprospekten. Lewis’ Hausmodelle waren spontane Ideen, und er ließ seine Zeichnungen immer dort liegen, wo ihm die jeweilige Idee gekommen war.

Wren liebte seine Ideen, hatte aber wenig Verständnis für die Unordnung, die sie anrichteten.

»Kann ich das wegwerfen?«, fragte sie immer wieder, eine Zeichnung in der Hand, und Lewis antwortete in vollem Ernst:

»Nein. Das müssen wir behalten.«

»Und das hier?«

»Das auch.«

»Lewis, es ist eine Serviette von Taco Bell. Willst du dieses Baumhaus nicht lieber auf etwas Haltbareres übertragen?«

»Ich möchte sie so haben, wie sie ist.«

Wren kaufte ihm eine Plastikmappe mit drei Fächern und zeigte ihm, wie er seine Zeichnungen darin aufbewahren und sogar kategorisieren konnte. Lewis wusste das Kategorisieren zu schätzen, vergaß es aber ständig.

So war es dann Wren, die, wenn sie seine Zeichnungen unter Sofakissen, auf dem Fußboden des Schlafzimmers, unter benutzten Kaffeebechern und zwischen Buchseiten fand, sie kategorisierte und ablegte.

*

Am dritten Jahrestag ihres Kennenlernens stellte Lewis ein großes Picknick auf der Heckklappe ihres Wagens zusammen. Als Wren ganz verschwitzt vom Spinning nach Hause kam und vom Küchenfenster aus sah, was er da tat, war sie sich fast sicher, dass Lewis ihr einen Antrag machen würde. Sie hatten bereits darüber gesprochen und sogar zusammen den Ring gekauft, aber Lewis hatte gesagt, dass er sie mit dem Wo, Wie und Wann überraschen wollte.

»Hey, Wren!«, rief er, aber durch die Fensterscheibe konnte sie ihn nicht hören.

Zwei Jahre lang amüsierte es Wren, wenn Leute sie fragten, ob sie und Lewis heiraten wollten. Dass sie eine Frau im gebärfähigen Alter war und mit einem Mann zusammenlebte, war plötzlich ein Thema, das sich Fremde, Bekannte, Verwandte und Freunde anzusprechen und eingehend zu diskutieren berufen fühlten.

Männern stellt man solche Fragen nicht!, sagte Wren wütend zu Lewis, wenn sie von einer Dinnerparty oder Firmenfeier nach Hause kam. Das nächste Mal sage ich ihnen, dass unsere Beziehung sie nichts angeht. Ich sage, dass wir in Sünde zusammenleben wollen, bis dass der Tod uns scheidet. Lewis verstand sie nur zu gut und wünschte, man würde diese Frage mit ihm statt ihr erörtern, damit Wren sich nicht so aufzuregen brauchte.

Wren versuchte, den Leuten klarzumachen, ihr Beziehungsstatus gehe sie nichts an, aber das änderte nichts daran, dass dieselben Leute ein paar Monate später wieder damit anfingen, und zwar so eindringlich, als hinge ihr eigenes Leben davon ab. Wann heiratet ihr denn nun endlich?

Kurz vor ihrem fünfunddreißigsten Geburtstag wurde ihr klar, dass diese Fragerei nie aufhören würde und sich sogar indirekt in die Art und Weise einschleichen würde, wie man über andere private Dinge sprach. Wren hatte keine Lust mehr, sich aufzuregen, und gab auf. Sich anmaßenden Fragen stellen zu müssen, war Teil des Frauseins. Und die Leute konnten nun einmal nicht begreifen, wie wichtig ihr ihre Privatsphäre war. Wenn wohlmeinende Mitmenschen fortan wieder davon anfingen, lächelte sie schüchtern, spielte das Spielchen mit und sagte sich gleichzeitig, dass sie – Gerede hin oder her – immer noch die Regie über ihr Leben hatte.

Niemals hätte sie damit gerechnet, irgendwann ihre Haltung zu alledem zu ändern, aber genau das passierte, und dieser Sinneswandel kam mit einer Wucht, als würde sie von einer Meereswoge verschluckt. Der Gedanke zu heiraten wurde ihr immer sympathischer und schließlich zu ihrem eigenen Wunsch.

»Was soll das werden?«, fragte Wren und hoffte, Lewis würde ihr nicht ausgerechnet vor der offenen Heckklappe ihres Wagens einen Antrag machen, noch dazu, wenn sie vom Sport ganz verschwitzt war und ihre Haare ein Desaster.

»Kennst du diese Palapas am Strand? Die aus der Tourismuswerbung.«

»Palapas am Strand?«

»Na, diese offenen Strohhüte mit Palmendächern. Wie auf Bali. Oder Bora Bora. Oder Tahiti. Da wollte ich mit dir heute Nachmittag eigentlich hin, und das hier ist alles, was auf die Schnelle machbar war.« Lewis zwinkerte ihr zu.

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