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Sie haben Ihr Toupet ins Glücksrad geschmissen

Als Buch hier erhältlich:

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Ein neues Fernsehquiz versetzt das Haus Sonnenuntergang in helle Aufregung. In der „Ü80 Show“ können drei Senioren und eine Pflägekraft 50.000 Euro gewinnen.

Diese Chance lässt sich Sybille Bullatschek natürlich nicht entgehen und bewirbt kurzerhand das Heim für einen Auftritt in der Sendung, natürlich ohne ihren Chef, Herrn Otterle, einzuweihen.

Als die Zusage kommt muss sie nicht nur ihn von der Wichtigkeit der Show überzeugen, sondern auch die euphorischen Senioren im Zaum halten, die ihrem Auftritt in der Show entgegenfiebern und das komplette Heim in den Wahnsinn treiben.

Und als hätte die engagierte Pflägekraft nicht schon an genügend Fronten zu kämpfen, wollen ihr ausgerechnet jetzt auch noch ein paar Kolleginnen den Platz auf dem Quizstuhl streitig machen. Bei so viel Trubel sollte doch wenigstens das Privatleben etwas Entspannung bringen, aber auch hier geht es wieder drunter und drüber. Der attraktive Jean-Luc taucht unverhofft in Sybilles Leben auf und verdreht ihr gewaltig den Kopf. Eigentlich könnte alles so schön sein, wäre da nicht ihre Schusseligkeit, dank der sie den hübschen Franzosen fast ins Jenseits befördert.


  • Erscheinungstag: 27.05.2025
  • Aus der Serie: Haus Sonnenuntergang
  • Bandnummer: 3
  • Seitenanzahl: 320
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365010266

Leseprobe

Zum Buch:

Ich habe vor einigen Wochen unsere Senioren heimlich zu einer neuen Quizshow im Fernsehen angemeldet. Das Format soll zur besten Sendezeit auf einem großen Kanal laufen und heißt »Die Ü80 Show«, und darin spielen drei Bewohner aus einem Seniorenheim und eine Pflägekraft um 50.000 Euro. Ich hab den Aufruf auf einer Internetseite entdeckt und sofort die anderen eingeweiht. Nachdem wir im Team überlegt haben, wer von den Senioren sich dafür eignen würde, hab ich kurzerhand die Bewerbungsunterlagen losgeschickt. Natürlich ohne unseren Chef, Herrn Otterle, einzuweihen. Der wär wahrscheinlich erst im Quadrat und dann mir an die Gurgel gesprungen. Schließlich predigt er uns seit mittlerweile anderthalb Jahren erfolglos, dass wir eine »Business Company im Health-and-Care-Sektor« sind, und da haben wir in einer TV-Sendung, seiner Ansicht nach, reichlich wenig zu suchen. Er kommt vom Marketing, und nichts ist ihm heiliger als der gute Ruf unseres Heims. (Welcher gute Ruf? Hahaha.) Andererseits bin ich mir sicher, dass er garantiert Ideen hätte, was er mit 50.000 Euro machen würde. »Investieren, Frau Bullatschek, investieren.« Aber das ist unser Geld. Also, noch net, aber vielleicht ja bald. Vorausgesetzt, dass diese Fernseh-Heinis sich irgendwann bei uns melden. Bestimmt sind sie überschüttet worden mit Bewerbungen.

Zur Autorin:

Hinter der »Pflägerin der Herzen« Sybille Bullatschek steckt die Comedienne und Comedyautorin Ramona Schukraft, die seit 2009 mit ihren Pflegeprogrammen deutschlandweit tourt und in Theatern, Heimen und auf Kongressen auftritt. Sie zählt in den Sozialen Medien mittlerweile über 21.000 Fans. Ihre Videos aus dem Haus Sonnenuntergang, die sie regelmäßig im Seniorenheim dreht, werden tausendfach geklickt, gelikt und geteilt. »Sie haben Ihr Toupet ins Glücksrad geschmissen« ist Sybille Bullatscheks dritter Roman.

Lieferbare Titel der Autorin:

Sie haben Ihr Gebiss auf der Hüpfburg verloren

Sie haben Ihren Rollator beim Zumba vergessen

Sybille Bullatschek

Sie haben Ihr Toupet ins Glücksrad geschmissen

HarperCollins

Kapitel 1

Wer bremst, verliert

Ich renne zum Flurfenster im Wohnbereich Südcorega und schaue erwartungsvoll in die Hofeinfahrt. Wenn mich net alles täuscht, hab ich gerade das Dieselgeräusch vom Postauto wahrgenommen, als ich mit Frau Grube aus dem Bad gekommen bin. Ich lass sie kurz in ihrem Rollstuhl auf dem Flur stehen und sprinte mit dem Satz »Sekunde, bin gleich wieder da!« davon. Meine Ohren sind zwar nicht die besten – ich kann zum Beispiel eine Amsel absolut net von einer Drossel unterscheiden, aber das Brummen von Siggis gelbem Postbussle kenn ich wie kein anderes Geräusch. Dachte ich zumindest. Als ich das Fenster aufreiße und mich rausbeuge, um zu sehen, ob ich richtiglag, sehe ich, wie ein fröhlicher Tiefkühlkost-Vertreter in einem weißen knielangen Kittel und mit einer Aktentasche aus dem silbernen Kleinbus steigt und auf die automatische Eingangstür zusteuert. Mist. Getäuscht. Gut, dass es »Wetten, dass …?!« nicht mehr gibt, ich hätte kläglich versagt, wenn ich mit meiner Lieferwagen-Wette mitgemacht hätte. »Sybille Bullatschek aus Pfleidelsheim wettet, dass sie das Postauto von Siggi Rothemund unter hundert anderen Fahrzeugen heraushören kann!«, höre ich im Geiste Thomas Gottschalk sagen. Jetzt würde vermutlich das traurige »Leider verloren«-Signal ertönen, und ich hätte mich vor einem Millionenpublikum blamiert. Aber zum Glück bin ich ja bei meinem Arbeitsplatz im Haus Sonnenuntergang und net in einer Samstagabendshow im Fernsehen.

Frau Grube schaut mich erwartungsvoll an. »Was war denn unten los?«

»Ach nix«, wiegele ich ab. »Ich dachte, ich hätte das Postauto gehört.«

»Oh, warten Sie auf einen Liebesbrief, Frau Bullatschek? Ich war früher auch immer so nervös, wenn ich Post von einem Verehrer bekommen habe.«

»Äh ja, so ähnlich.«

Leider habe ich keinen Verehrer, der mir in schnörkeliger Handschrift Briefe schreibt und Herzchen auf dem Umschlag malt. Mir würde sogar schon eine E-Mail in einer Partnerbörse reichen, in der man meinen Namen richtig buchstabiert – aber auch da Fehlanzeige.

Allerdings wäre es zu früh, ihr jetzt zu sagen, warum ich so sehnsüchtig auf den Mann im gelben Auto warte. Ich habe vor einigen Wochen unsere Senioren heimlich zu einer neuen Quizshow im Fernsehen angemeldet. Das Format soll zur besten Sendezeit auf einem großen Kanal laufen und heißt »Die Ü80-Show«, und darin spielen drei Bewohner aus einem Seniorenheim und eine Pflägekraft um 50.000 Euro.

Ich hab den Aufruf auf einer Internetseite entdeckt und sofort die anderen Pflägekräfte eingeweiht. Nachdem wir im Team überlegt haben, wer von den Senioren sich dafür eignen würde, hab ich kurzerhand die Bewerbungsunterlagen losgeschickt. Natürlich ohne unseren Chef, Herrn Otterle, einzuweihen. Der wär wahrscheinlich erst im Quadrat und dann mir an die Gurgel gesprungen. Schließlich predigt er uns seit mittlerweile anderthalb Jahren erfolglos, dass wir eine »Business Company im Health-and-Care-Sektor« sind, und da haben wir in einer TV-Sendung seiner Ansicht nach reichlich wenig zu suchen. Er kommt vom Marketing, und nichts ist ihm heiliger als der gute Ruf unseres Heims. (Welcher gute Ruf? Hahaha!) Andererseits bin ich mir sicher, dass er garantiert Ideen hätte, was er mit 50.000 Euro machen würde. »Investieren, Frau Bullatschek, investieren.«

Aber das ist unser Geld. Also, noch net, aber vielleicht ja bald. Vorausgesetzt, dass diese Fernseh-Heinis sich irgendwann bei uns melden. Bestimmt sind sie überschüttet worden mit Bewerbungen.

Ä bissle Risiko ist natürlich dabei, denn noch läuft die Sendung gar net im Fernsehen und keiner weiß, was da eigentlich passieren wird. Am Ende muss jemand strippen oder wird vor den Zuschauern vorgeführt. Das fände ich am Schlimmsten. Es ist doch nix peinlicher, als wenn sich über irgendwelche Unzulänglichkeiten, zum Beispiel wenn ein Senior ein Wort falsch ausspricht oder zu stottern anfängt, lustig gemacht wird. Das kenn ich von Videos im Internet, wo sich dann die ganzen Affen in den Kommentarspalten das Maul zerreißen. Furchtbar. Aber ich denk jetzt erst mal positiv. Schließlich wäre es auch schön für unsere Senioren, wenn sie ihr Wissen, was sie sich durch jahrelanges Ausfüllen von Kreuzworträtseln oder bei unserem Wissensquiz mit Saskia, unserer Betreuungskraft, angeeignet haben, unter Beweis stellen könnten. Wir haben mit Absicht noch nix verraten, denn sie würden uns definitiv wochenlang in den Wahnsinn treiben mit der Frage, wann es endlich losgeht, was sie anziehen sollen und um wie viel Uhr die Sendung läuft, denn sie müssen ja ihren Verwandten Bescheid sagen.

Abgesehen von der Tatsache, dass es sowieso ein Hauen und Stechen geben wird, wenn sie erst mal erfahren, dass nur drei von ihnen mitkönnen.

Ich schiebe Frau Grube in ihr Zimmer, zieh ihr unter höchster Kraftanstrengung ihre Kompressionsstrümpfe an und helfe ihr in ihr hellblaues Baumwollkleid. Dann packe ich noch schnell das Geschenk für ihren Urenkel ein, der gerade mal ein halbes Jahr alt ist und heute zum ersten Mal zu Besuch kommt. Also, er kommt natürlich net allein, sondern mit der Enkeltochter. Eigentlich hab ich gar keine Zeit mehr, aber ich hab es ihr leichtfertig versprochen.

»Meinen Sie, er freut sich über den selbst gehäkelten Teddy?«, fragt sie mich, als ich das Papier einschlage und das kuschlige Stofftier leicht zusammengeknautscht in der Geschenkverpackung verschwinden lasse.

»Äh, des isch gar kein Schweinle?«, frage ich vorsichtig.

»Nein, das ist ein Teddy, das sieht man doch«, sagt sie jetzt, als wäre ich ein bissle einfältig. »Den hab ich selbst gehäkelt, das hat mich einen Monat Zeit gekostet.«

»Oh ja, wie schön, des war bestimmt viel Arbeit!«, lobe ich sie.

Ich klebe das Päckchen mit Tesa zu und hoffe, dass ein sechs Monate altes Baby noch nicht weiß, dass ein Teddy normalerweise net rosa ist und weder ein Ringelschwänzle noch Schlappohren hat. Frau Grube gehört schließlich zu unseren Hundertjährigen, und da kann man schon froh sein, dass sie überhaupt noch zur Häkelnadel greift. »Na, dann viel Spaß mit dem kleinen Mann«, rufe ich zum Abschied und wende mich zum Gehen. In dem Moment wird mir die Tür, die ich gerade öffnen will, schwungvoll in die Visage geknallt. Ich halte mir vor Schmerz die Nase und blicke ins Gesicht einer schlecht gelaunten Beate, die ungeduldig mit ihrer Teekanne vor meiner Nase rumfuchtelt. Statt sich zu entschuldigen, schaut sie argwöhnisch auf das von mir eingepackte Geschenk, und dann bleibt ihr Blick auf der Schere und dem Tesafilm in meiner Hand hängen.

»Na, Kaffeekränzle mit Frau Grube, Sybille? Also wenn du lieber Geschenke einpacken willscht, als hier zu arbeiten, kannst du ja bei Douglas anfangen. Wär echt toll, wenn du jetzt Milena beim Umlagern mit den Senioren in Gang B helfen würdescht.«

Blöde Kuh, denke ich bei mir, aber halte mich zurück. Es fällt mir total schwer, aber das hab ich neulich bei einer Fortbildung für Deeskalationsstrategien gelernt. Pflägekräfte werden ja heutzutage immer öfter von irgendwelchen aggressiven Verwandten oder auch von Senioren angegriffen, und deshalb hat uns Herr Otterle in weiser Voraussicht einen Kurs spendiert, damit wir nicht bei jeder Provokation gleich ausrasten und dem Pöbler oder der Pöblerin eine Kopfnuss verpassen. Auch wenn es so mancher mehr als verdient hätte.

Man darf eine Situation net hochkochen lassen, hat der Coach erklärt. Außerdem wirkt es souveräner, wenn man gar nix sagt. »Jesus hat schließlich auch die linke Wange hingehalten, nachdem ihm jemand auf die rechte geschlagen hat«, hat er uns erklärt. Na ja, das Argument mit Jesus fand ich jetzt net so überzeugend, schließlich weiß man, wie die ganze Geschichte ausgegangen ist. Außerdem hab ich wenig Lust, mir von Beate noch eine scheppern zu lassen. Aber auch ein lautes Wortgefecht wäre schon unangenehm. Gerade vor Frau Grube. Senioren nehmen sich so was immer sehr zu Herzen, und ich will nicht, dass sie Angst kriegt oder schlechte Laune, wo doch heute ihr Urenkel kommt. Ich atme einmal tief durch und lass Beate dann einfach stehen.

»Zum Gang B geht’s aber rechts rum, Sybille!«, brüllt sie mir noch hinterher.

Ich nuschle nur ein leises »Ach, lecko mio« und würde ihr am liebsten den bösen Finger zeigen. Aber dann verpetzt sie mich garantiert bei Otterle, und ich krieg einen Anschiss. Den Triumph gönn ich ihr net. Ich bin mit Absicht in die andere Richtung abgebogen, weil ich kurz im Aufenthaltsraum in mein Fleischkäs-Weckle beißen will. Aber das muss sie ja net wissen.

Beate ist schon sehr speziell. Seit wir zusammenarbeiten, und das sind jetzt schon viele Jahre, hat sie vielleicht dreimal gute Laune gehabt. Ich hab selten so einen negativen Menschen getroffen (okay, außer unserem Herrn Seifert vielleicht, aber der ist erstens ein alter Senior und zweitens für sein Aggressionspotenzial bekannt). Es ist mir ein Rätsel, warum Beate so verbittert ist, denn sie führt ja – nach eigenen Angaben – so ein tolles, aufregendes Leben. Ständig kommt sie mit irgendwelchen teuren neuen Markenklamotten zum Dienst oder mit glitzernden Halsketten und protzigen Ringen, die ihr der Peter, ihr Mann, angeblich geschenkt hat. Zum Geburtstag, zum Namenstag, zum Valentinstag, zum Hochzeitstag. Dann stolziert sie wie ein Gockel auf dem Flur auf und ab und lässt sich von den Senioren bewundern, nicht ohne zu erwähnen, was das alles gekostet hat. »Die ist schön, die Jacke, oder? Die isch von Calvin Klein. 350 Euro. Hat mir mein Mann gekauft. Wollen Sie mal anfassen?« Komischerweise trägt sie alles nur ein- oder zweimal, was bei uns schon den Verdacht geweckt hat, dass sie die Sachen einfach im Internet bestellt, einmal anzieht und dann wieder zurückschickt. Nur, damit sie vor uns ä bissle angeben kann. Alles möglich, aber dann wär sie wirklich eine ganz arme Wurst und würde mir fast ä bissle leidtun.

Im Aufenthaltsraum treffe ich auf meine Kolleginnen Milena und Evelyn.

»Milena, ich helf dir gleich«, sag ich mit vollem Mund und schlucke schnell einen Bissen von meinem Weckle runter.

»Womit, Sybille?« Sie schaut mich erstaunt an.

»Na, mit dem Umlagern, Beate hat gesagt, du brauchst mich.«

»Aber das hab ich doch schon vorhin mit ihr gemacht.«

»Oh man! Das ist wieder typisch. Und mich schnauzt sie an!«, empöre ich mich.

Eveyln wirft mir einen mitleidigen Blick zu.

»Ach, die musst du heute in Ruhe lassen. Die ist superschlecht drauf wegen der Rezension.«

»Wegen der was?«

»Na, wegen der Internet-Bewertung.«

»Welche Internet-Bewertung?«

»Hast du das noch nicht mitgekriegt mit diesem Internetportal Rate your Seniorenheim

»Nee«, sage ich verdutzt. »Was soll das denn heißen, ›rate‹?«

»Na, das ist Englisch und heißt so viel wie ›Bewerte dein Seniorenheim‹.«

»Und wieso schreiben die des net uff Deutsch?«

»Keine Ahnung, klingt wahrscheinlich moderner. Aber ist auch egal. Jedenfalls hat sie da irgendein User oder eine Userin als Drachen und als ›unfähig‹ bezeichnet, und da ist sie an die Decke gegangen.«

»Was? Unsere liebe, herzensgute Beate soll ein Drachen sein? Wer schreibt denn so was Böses?« Ich lache, und Evelyn stimmt kurz mit ein. Dann wird sie wieder ernst.

»Na ja, also wir kommen ehrlich gesagt auch nicht viel besser weg. Du bist die Überengagierte mit der albernen Brille, die besser im Kindergarten aufgehoben wäre.«

»Waaaaas?« Ich verschlucke mich an meinem Fleischkäs-Weckle.

»Das ist ja eine bodenlose Frechheit.«

»Na ja, immerhin bist du überengagiert. Wir anderen würden nur rauchen und Kaffee trinken und die Senioren vernachlässigen.«

»Hier, schau!« Evelyn reicht mir ihr Handy, auf dem eine bunte Seite mit einem Rollator-Logo zu sehen ist.

Ich überfliege den Text und lese laut vor: »›Sie sind zufrieden oder unzufrieden mit dem Seniorenheim, in dem Sie Ihre Mutter oder Ihren Vater untergebracht haben, oder wohnen gar selbst in einer Einrichtung? Lassen Sie andere User wissen, wie Sie das Heim bewerten. 100 % echte Bewertungen. Rate your Seniorenheim. Jetzt mitmachen.‹«

Ich lese mir die Bewertungen zu unserem Haus Sonnenuntergang durch. Die meisten sind positiv, und ich kenne die Namen. Die Tochter von Frau Bäuerle hat uns fünf Sterne gegeben und dazugeschrieben, wir wären das Beste, was Senioren passieren kann. Auch die Bewertung vom Sohn von Herrn Kämmerer lobt uns über den Klee. Aber dann kommen drei bis vier Kommentare mit nur einem Stern.

»Wie kommen die drauf, dass die Bewohner bei uns net rauskommen? Wir waren doch neulich erst im Zoo und auf dem Weinfest!«

»Keine Ahnung. Internet halt. Da kann jeder schreiben, was er will, ob es stimmt oder nicht.«

Den Kommentar über Milena lese ich extra leise vor, denn sie würde garantiert in Tränen ausbrechen. »›Auch das osteuropäische Mäuschen ist eine Vollkatastrophe. Wie soll meine Mutter bei dem furchtbaren Akzent überhaupt verstehen, was sie will? Wer weiß, an welcher Autobahnraststätte sie die aufgegabelt haben.‹«

Ich werfe Evelyn einen vielsagenden Blick zu und bedeute ihr, dass sie nix sagen soll. Sie nickt mir kurz verschwörerisch zu. Milena, die gerade in der Kaffeeküche verschwunden ist und jetzt zurückkommt, hat von unserem Gespräch zum Glück nichts mitgekriegt. Und ich bin mir sicher, dass sie nichts von dem Portal und den Bewertungen weiß. Sie hat zwar ein Smartphone, guckt da aber im Gegensatz zu uns eher selten drauf. Und wenn, dann hängt sie auf polnischen Seiten rum oder guckt, ob sie eine Nachricht von ihren Verwandten aus Polen hat. Der Kommentar über sie ist eine Oberfrechheit, denn Milena hat als Einzige von uns Pflägemanagement in Krakau studiert. Sie ist äußerst fleißig, gewissenhaft und freundlich, und das zeigt umso mehr, dass die Bewertungen aus reiner Boshaftigkeit geschrieben wurden.

»Und was sagt Otterle dazu? Isch er schon durchgedreht?«

Evelyn lacht. »Ja, in der Tat. Gestern! Sei froh, dass du freihattest. Der ist wutentbrannt über den Flur gestürmt. Du weißt doch: ›die Außenwirkung‹.«

Das Image ist in Otterles Augen das Wichtigste bei einem Unternehmen, das hat er wahrscheinlich in irgendeinem Marketing-Seminar gelernt oder auf der London Business School, die er besucht hat. Und unser Image war jetzt schon mehrfach in Gefahr. Erst haben wir Pflägekräfte unseren guten Ruf aufs Spiel gesetzt, als wir das Komitee, das den Titel »Heim des Jahres« vergibt, in die Flucht geschlagen haben, und im letzten Jahr hat es Otterle verbockt, als er mit der zwielichtigen Luxus-Residenz Senior Palace fusionieren wollte und sich dann rausstellte, dass die kriminelle Machenschaften am Laufen hatten. (Natürlich ist das Ganze nur rausgekommen dank der investigativen Recherche von Frau Spielmann und mir, aber das ist eine andere Geschichte.) Wir sind also schon mehr als einmal knapp an einem Imageschaden vorbeigeschlittert, und da kommen ihm solche negativen Bewertungen natürlich äußerst ungelegen.

Mir passen die rufschädigenden Kommentare auch überhaupt net ins Konzept. Schließlich hab ich unser Heim für das TV-Quiz beworben, und wenn die im Internet rausfinden, dass wir angeblich so eine Chaos-Truppe sind, laden die uns im Leben net ein.

»Morgen gibt es um dreizehn Uhr dreißig ein Meeting. Hast du den Zettel nicht gesehen?«

»Nee, bin noch net dazu gekommen …«

»Anyway, ich geh jetzt rauchen und Kaffee trinken oder wie man das nennt, wenn man sich acht Stunden den A… aufreißt«, sagt Evelyn mit ironischem Unterton. Ich weiß, dass sie auf die Bewertung anspielt, weil sie in Wirklichkeit ja gar net raucht.

»Net aufregen, nur wundern«, rufe ich ihr den Satz hinterher, den uns der Coach neulich noch mit auf den Weg gegeben hat und der mich jetzt manchmal davon abhält, dass ich gleich auf hundertachtzig bin. Sie winkt ab und schließt kaum hörbar die Tür.

Bevor ich nach meinem Dienst das Haus Sonnenuntergang verlasse, schaue ich noch kurz am Empfang bei Anke vorbei, um sie zu fragen, ob Siggi mittlerweile mit seinem Postauto aufgetaucht ist. Offensichtlich war er schon da, denn sie schaut kurz den Stapel mit der Post durch und schüttelt dann mit dem Kopf. »Nee, da ist nix dabei für dich, Sybille. Es sei denn, du willst eine Rechnung bezahlen, da hätte ich genug Briefe, die ich dir anbieten kann!«

»Nett von dir, aber davon hab ich daheim selber genug.« Wir lachen.

»Ich sag dir Bescheid, wenn was kommt. Von wem erwartest du denn Post? Ein heimlicher Verehrer?«

Oh man, jetzt fängt die auch noch damit an! Warum denken alle, dass man als Single den ganzen Tag nichts anderes macht, als auf Männersuche zu sein? Ich komme auch ohne Mann hervorragend klar. Okay, manchmal wäre es schon schön, wenn mir jemand den Sprudelkasten hochtragen würde oder den Wasserhahn repariert. Aber ein Mann macht ja auch Arbeit, sagt meine Kollegin Ute immer. Und die muss es wissen, schließlich ist sie schon zwanzig Jahre verheiratet. Männer wollen ständig Aufmerksamkeit, und wenn man in einer Beziehung ist, muss man alles zusammen machen, weil man ja ein Pärchen ist. Wie nervig. Im schlimmsten Fall kauft man sich die gleichen Übergangsjacken und macht stundenlange, anstrengende Wanderungen oder hängt in weißen Bademänteln in einem Wellness-Hotel ab, so wie Beate. Die fährt mit ihrem Peter öfter in so eine Sauna-Landschaft. »Des isch so entspannend, Sybille! Des solltescht du auch mal machen. Aber allein isch natürlich blöd, du hascht ja immer noch keinen Partner … Also der Peter und ich … bla bla bla.« Ich stelle dann immer meine Ohren auf Durchzug.

Sauna! Um Gottes willen. Ich war einmal im Leben in einer Sauna. Nie wieder. Es war so heiß, dass ich fast erstickt bin. Mir ist urplötzlich ganz schummerig geworden, und ich war kurz vor einem Ohnmachtsanfall. Nur der Gedanke, dass ich nichts anhatte und in diesem Zustand auf keinen Fall von einem Sanitäter reanimiert werden wollte, hat mich davon abgehalten umzukippen. Ich hatte Angst, dass sie mich am Ende splitterfasernackt auf einer Trage durchs halbe Spaßbad schleppen. Horror! Ich hab das Bild schon vor meinem geistigen Auge gesehen: neugierige Rentner, die mich von ihren Liegen aus anstarren, besorgte Mütter, die kopfschüttelnd ihren Kindern die Augen zuhalten, und ein grimmig dreinblickender Bademeister, der sauer ist, weil ich mit dieser Aktion den ganzen Betrieb aufhalte. Nee. Das wollte ich auf keinen Fall. Ich bin dann benommen zur Tür getaumelt und hab wie eine Irre daran gerissen. Ich wollte nur noch raus. Atmen! Luft! Abkühlung! Dann hab ich Panik gekriegt, weil sie net aufging, und ich war mir sicher, dass jemand die Tür von außen verriegelt hat und wir jetzt alle gleich qualvoll ersticken würden. Das hab ich mal in einem Krimi gesehen. »Die Tür isch zu! Die Tür isch zu! Hiiilfeee«, hab ich kreischend gerufen. Einer der nackten Männer ist dann aufgesprungen und hat sie für mich aufgemacht. Hätte mir auch jemand sagen können, dass man drücken muss, net ziehen.

Aber um beim Thema »Männer« zu bleiben: Ich hab die Hoffnung langsam aufgegeben, dass der Richtige noch kommt. Letztes Jahr hatte ich erst einen Stalker, dann ein missglücktes Internetdate mit diesem Momo, und schließlich wurde ich von Evelyn ausgebootet, die mir den attraktiven Fotografen Jochen Brändler vor der Nase weggeschnappt hat, der im Haus Sonnenuntergang Bilder für unsere Imagebroschüre gemacht hat. Er war wahnsinnig gut aussehend und hat wild mit mir geflirtet. Ich war so nah dran. So nah. Und dann hat er sich für Evelyn entschieden. Großer Fehler! Wäre er mal lieber mit mir zusammengekommen, dann hätte sein Liebesglück länger gehalten. Vielleicht wären wir jetzt sogar schon verheiratet und hätten die gleichen Übergangsjacken. Evelyn hingegen hat ihn nach drei Monaten eiskalt abserviert, was ich natürlich schon hab kommen sehen. Pech für ihn.

Ich verabschiede mich von Anke und laufe auf dem Parkplatz ausgerechnet Herrn Otterle in die Arme. »Na, schon Feierabend, Frau Bullatschek?«, ruft er mir zu und schaut prüfend auf seine Uhr, um zu checken, ob ich auch wirklich keine Minute zu früh gehe. Eigentlich würde ich jetzt gern erwidern: »Na, immerhin hab ich schon acht Stunden gearbeitet, im Gegensatz zu Ihnen«, aber das mache ich natürlich nicht.

»Ja, ich muss noch Auto waschen«, sage ich künstlich lächelnd und deute auf meinen völlig verdreckten Fiesta, der auf dem Personalparkplatz steht. Keine Ahnung, warum ich ihm das erzähle, denn es interessiert ihn wahrscheinlich sowieso nicht und geht ihn eigentlich auch nichts an. Aber irgendwie ist es mir unangenehm, dass mein Auto aussieht, als hätte ich an der Rallye Paris-Dakar teilgenommen. Schuld ist der Saharastaub, den es wohl angeblich, laut Wetterbericht, aus Afrika zu uns geweht hat und der mein Auto völlig eingenebelt hat. Als es dann am nächsten Tag geregnet hat, ist aus dem Staub eine braungelbe Brühe geworden, die mir das komplette Auto versaut hat.

»Ähm, ja. Wie schön.« Otterle schaut leicht irritiert und prüft dann sein Handy, ob er irgendeine wichtige Nachricht gekriegt hat, damit er sich nicht länger mit mir über Belanglosigkeiten unterhalten muss.

»Na dann, bis morgen.« Er hebt kurz den Arm, während er auf sein Telefon starrt, und verschwindet schnellen Schrittes in Richtung Eingangstür.

Eigentlich fahr ich net gern durch die Autowaschanlage, weil ich meistens den ganzen Verkehr hinter mir aufhalte. Es fängt schon damit an, dass ich es einfach net hinkriege, in diese blöde Rille zu fahren, die das Auto dann durch die Anlage schiebt. Der Typ, der mich mit hektischen pantomimischen Bewegungen reindirigiert, wie ein Fluglotse, macht auch heute wieder ein verzweifeltes Gesicht. Wahrscheinlich denkt er nur: »Oh man, so doof kann man doch nicht sein!«

»Rechts! Sie müssen nach rechts lenken! Zu weit! Jetzt wieder nach links!«, ruft er streng. Nach dem fünften Versuch ruckelt mein Auto kurz, und ich bin drin. Hurra. Letztes Mal hat es länger gedauert, und ich bin fast ä bissle stolz. Ich kurbele fröhlich die Scheibe runter und halte ihm das abgezählte Geld hin.

»Gang raus!«, brüllt er jetzt mahnend und deutet auf meinen Schaltknüppel. »Sagen Sie mal, sind Sie das erste Mal in einer Waschanlage?«

»Ja, des macht sonscht immer mein Mann«, lüge ich und hoffe, dass er sich nicht an mein Gesicht erinnert. Ich kann jetzt unmöglich zugeben, dass es jedes Mal so ein Theater ist, bis ich mein Auto in Position gebracht habe. Aber da ich es eh so selten wasche, hat er beim letzten Mal vielleicht noch gar net hier gearbeitet. Und nächstes Mal ist sowieso wieder ein anderer da. Die Fluktuation an der Autowaschanlage ist noch höher als bei uns in der Pfläge.

Mein Fiesta wird langsam ins Innere der Anlage geschoben. Die riesigen roten Bürsten fahren mit einem Höllenlärm um mein Auto herum, als wollten sie es gleich zerquetschen. Und dann kommt meine Angststelle. Der Föhn. Ein circa zwei Meter breites Metallteil, aus dem warme Luft geblasen wird, nähert sich bedrohlich meiner Windschutzscheibe. Verdammt! Warum fährt es denn net hoch? Das müsste doch hochfahren! Oh mein Gott! Es kommt auf mich zu! Auf dem Metall steht mahnend der Satz »Nicht bremsen«. Wahrscheinlich wissen die Ingenieure von der Waschanlage, dass es jedem Autofahrer den Angstschweiß auf die Stirn treibt. Ich vermute, sie haben es mit Absicht so konstruiert und sich dabei halb totgelacht. Im Grunde weiß ich natürlich, dass es gleich, kurz bevor es mich berührt, stufenweise nach oben gehen wird, aber kann ich der Technik wirklich vertrauen? Was ist, wenn es doch nicht hochfährt und das Ding kaputt ist? Dann knallt es gegen meine Scheibe, die zerberstet, das Metallteil fährt ins Innere des Autos, und die scharfen Kanten trennen mir den Kopf ab, der dann polternd auf den Beifahrersitz kullert. Und einer der Mitarbeiter wird mit seinem osteuropäischen Akzent schulterzuckend sagen: »Oh, haben wir doch Problem mit dem Föhn.« Das kann ich net zulassen. Instinktiv mache ich das, was man auf keinen Fall machen soll. Ich trete volle Pulle auf die Bremse. Es ruckelt kurz, ein lautes Alarmsignal ertönt, und eine rote Lampe leuchtet auf. Dann bleibt das Band stehen, und die Bürsten, die gerade das Auto meines Hintermanns polieren, verharren in ihrer Position. Ich kann im Rückspiegel sehen, wie er sich fragend umschaut. Dann klopft es plötzlich an meinem Fenster. Der Mann, der mich gerade so unwirsch in die Rille gewunken hat, steht mit hochrotem Kopf davor und bedeutet mir, dass ich die Scheibe runtermachen soll.

»Was machen Sie denn? Herrgott! NICHT bremsen. Steht da doch!« Er deutet auf den Schriftzug, der auf dem Föhn prangt, der in seiner Position kurz vor meiner Windschutzscheibe stehen geblieben ist.

»Nehmen Sie den Fuß von der Bremse, es passiert nichts.« Er schaut prüfend in meinen Fußraum. »Nicht mehr bremsen«, ermahnt er mich streng.

»Okay«, sage ich kleinlaut und will schon die Scheibe wieder hochmachen, da ruft er mir noch zu: »Und lassen Sie nächstes Mal Ihren Mann wieder das Auto waschen!«

Das Saugen hinterher ist einfacher. Ich bin schließlich Saugprofi. Das mach ich oft genug daheim, und dabei kann ja auch nix schiefgehen. Ich schnapp mir den vibrierenden Plastikschlauch und fange an, den Fußraum zu säubern und dann die Sitze.

Gerade als ich denke: »Uh, der hat aber Power«, ist es schon zu spät. Das surrende Monster hat mit einem Happs meinen Wohnungsschlüssel verschluckt, der auf dem Beifahrersitz lag. Scheiße!!! Ich starre entsetzt in das Saugrohr, aber von meinem Schlüssel, der nur an einem kleinen Ring befestigt war, fehlt jede Spur. Ich warte eigentlich darauf, dass das Saugmonster jetzt einen lauten Rülpser ausstößt. Wie blöd, dass ich ausgerechnet heute den Ersatzschlüssel nehmen musste, weil ich in der Hektik meinen Schlüsselbund am Morgen net gefunden hab.

Zerknirscht gehe ich zum Eingang der Waschstraße, wo der Mitarbeiter die nächsten Kunden in die Anlage winkt. Gerade ist ein Rentner mit einem dicken Daimler dran, der sich noch dämlicher anstellt als ich vorhin. Der Mitarbeiter ist kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Als der Opa endlich drin ist, nutze ich den kurzen Moment, bis das nächste Auto dran ist. Ich brülle gegen den ohrenbetäubenden Lärm an.

»Entschuldigung!«

Keine Reaktion.

»Entschuuuldiiigung!«, versuche ich es noch mal und zupfe den Mann vorsichtig am Ärmel. Der zuckt vor Schreck zusammen und schenkt mir, als er mich erkennt, einen unfreundlichen Blick.

»Ja?«

»Mein Schlüssel ist weg.«

»Waaas?«

»Mein Schlüssel ist im Staubsauger!«

Da er mich immer noch nicht verstanden hat, winkt er einen Kollegen heran, der für ihn übernehmen soll, und tritt dann mit mir ein Stück in den Hof, wo es ein bisschen leiser ist.

»Ich hab gesaugt, und dann hat er einfach meinen Schlüssel gefressen.«

»Wer?«

»Der Mann am Nachbar-Saugplatz.«

Ich ernte einen irritierten Blick.

»Nein. Späßle. Der Staubsauger natürlich.«

»Ja, und was soll ICH jetzt machen?«

»Kann man den net aufmachen? Der Schlüssel muss ja irgendwo sein.«

»Sind Sie betrunken?«

»Bitte was?«, frage ich nach, weil ich denke, dass ich mich verhört habe.

»Entweder sind Sie betrunken oder verrückt.«

»Warum?«

»Sehen Sie die 16 Staubsauger da?« Er deutet genervt auf die anderen Autofahrer, die alle dabei sind, akribisch ihre Fahrzeuge zu reinigen. »Der ganze Dreck landet in einem großen Container unterirdisch.«

»Ja, eben. Und da muss doch mein Schlüssel drin sein!«, beharre ich.

Er rollt die Augen und langt sich dann an den Kopf, als könnte er so die Fassung bewahren.

»Gute Frau, Ihr Schlüssel ist da bestimmt irgendwo, aber den finden wir nie wieder.«

»Wer sagt des? Man muss es doch wenigstens probieren. Wer aufgibt, hat schon verloren«, belehre ich ihn. »Wo isch denn der Container? Ich suche auch selber.«

»Hören Sie, ich hab jetzt keine Zeit für so ein Kasperletheater. Lassen Sie sich einen neuen machen.«

»Aber ich komm doch jetzt net rein daheim!«, bettele ich.

»Ist das mein Problem? Dann hätten Sie halt besser aufpassen müssen. Steht hier doch überall: ›Wir übernehmen keine Haftung für Gegenstände, die eingesaugt werden.‹«

Er wendet sich zum Gehen. Da ich das Gefühl hab, er will mir überhaupt net helfen, muss ich ihm leider drohen. Ich stemme bockig die Arme in die Hüften.

»Ach, so wollen Sie sich jetzt aus der Affäre ziehen, na, Sie machen es sich ja leicht. Ich sag Ihnen eins: Wenn jemand den Schlüssel findet und bei mir wird demnächst eingebrochen, weil ja jetzt jemand MEINEN Haustürschlüssel hat, dann mach ich Sie verantwortlich. Dann sag ich der Polizei, dass …«

Weiter komme ich nicht. Er dreht sich kopfschüttelnd um und geht zurück an seinen Arbeitsplatz. So ein Mist! Wenn irgendein reicher Schnösel seinen Diamantring eingesaugt hätte, wäre er bestimmt kooperativer gewesen. Aber ich fahre ja nur einen alten Fiesta und bin in seinen Augen eine hysterische Kuh. Ich packe wütend meine Fußmatten ins Auto, und als ich den Kofferraum zumache, sehe ich, wie der Typ sich mit einem Kollegen unterhält und in meine Richtung deutet. Beide lachen jetzt blöd, und der andere Mann schüttelt ungläubig den Kopf. Wahrscheinlich fotografieren sie heimlich mein Nummernschild, kriegen dann raus, wo ich wohne, suchen später den Schlüssel in diesem riesigen Wulst aus Staub und Müll, und wenn ich net daheim bin, räumen sie meine ganze Wohnung aus. Okay. Das ist Möglichkeit eins. Möglichkeit zwei ist: Ich werde langsam paranoid. Aber es ärgert mich maßlos, dass ich jetzt wieder bei meinen Nachbarn, den Kotterers, klingeln muss, um den anderen Ersatzschlüssel zu holen. Vielleicht sind sie gar net da, und dann hock ich wieder stundenlang auf dem Gartenmäuerle, so wie neulich. Zweieinhalb Stunden hat es gedauert, bis sie endlich kamen, und ich hatte im Anschluss eine Blasenentzündung.

Meine Eltern haben zwar auch einen Schlüssel, aber die sind ausgerechnet heute zur Landesgartenschau gefahren und erst heute Abend wieder zurück. Mist, Mist, Mist. Und 160 Euro für den Schlüsseldienst auszugeben, hab ich auch keine Lust.

Aber ich habe Glück im Unglück. Als ich daheim ankomme, steht der Kombi von den Kotterers direkt vor der Haustür. Der Kofferraum ist geöffnet, und Martin, mein Nachbar, ist gerade dabei, ein paar riesige Gepäckstücke ins Auto zu hieven. In dem Moment fällt mir wieder ein, dass sie ja morgen früh zum Flughafen fahren, weil endlich ihre lang ersehnte Amerikareise ansteht.

»Na, Sybille, hascht du es dir doch überlegt und kommst mit?«, fragt er mich scherzend. »Musst dich aber beeilen …«

»Ach, ich würd so gern! Wo genau fliegt ihr denn hin in Amerika?«

»Nach Florida, da wohnt doch Irenes Cousine. Und die Kinder wollen unbedingt mal nach Disney World.«

»Oh, wie schön, da beneide ich euch. Des wird bestimmt klasse. Aber ich kann leider net. Ich krieg keinen Urlaub. Und außerdem hab ich doch Angscht vor Mäusen«, sage ich lachend, aber seinem Gesicht nach zu urteilen hat er meinen Gag net verstanden.

»Na, wegen der Micky Maus«, erkläre ich meinen Witz, aber er schaut mich nur irritiert an und quetscht die letzte Reisetasche zwischen die Koffer.

»Na, da musst du halt hier die Stellung halten.«

Ich hechte die Treppe hoch, um bei Irene meinen Schlüssel zu holen. Die Wohnungstür ist angelehnt, und ich höre von drinnen das laute Geschrei von Luca und Leon. Ich klopfe kurz, gehe dann aber, ohne eine Antwort abzuwarten, rein. Wahrscheinlich hat mich sowieso keiner gehört. Irene steht mit dem Rücken zu mir gewandt am Herd, und ich mach mich durch ein lautes »Hallo, Frau Kotterer?« bemerkbar. Sie fährt erschrocken zu mir rum, und ihr Gesicht hellt sich auf.

»Ach, Sybille! Wie schön! Du, ich bin grad noch am Kochen.«

»Kein Problem, ich komm bloß wegen dem Schlüssel.«

»Ach, des isch aber lieb, dass du dran gedacht hascht«, sagt sie jetzt lächelnd. »Warte, ich hol ihn.«

Sie reicht mir einen Schlüssel mit einem Bob der Baumeister-Anhänger.

»Des isch aber net meiner«, erkläre ich ihr.

»Nee, des isch unserer. Damit du reinkommscht wegen den Blumen und der Poscht und natürlich wegen unserem Bulli.«

Ich verstehe nur Bahnhof, und dann dämmert mir, was sie von mir will. Sie hatte mich schon vor Wochen gefragt, ob ich während ihrer Abwesenheit ein paar Aufgaben übernehmen könnte wie Blumen gießen und den Wellensittich zu füttern. Ich bin öfter mal Birdsitter, wenn sie im Urlaub sind.

»Na klar. Aber ich bräuchte bitte auch noch meinen Schlüssel.«

»Oh, nein, hascht du dich schon wieder ausgesperrt?«, fragt sie jetzt mit leicht vorwurfsvollem Ton, weil mir das letzter Zeit öfter passiert ist.

»Nee, der Staubsauger in der Waschanlage hat meinen Schlüssel geschluckt.«

»Du liebe Zeit, du bischt aber auch immer ein Pechvogel.«

»Na ja, war nur der Ersatzschlüssel, net so wild. Der Universalschlüssel vom Heim wär schlimmer gewesen …« (Schlimmer ist harmlos ausgedrückt. Otterle hätte mir den Kopf abgerissen!)

Sie reicht mir jetzt beide Schlüssel und bietet mir einen Stuhl an. Dann gibt sie mir noch ein paar Anweisungen.

»Also, die Blumen brauchscht du nur alle zwei bis drei Tage gießen, die Orchidee will net so viel Wasser, der Gummibaum säuft wie ein Loch, genauso wie der Oleander. Die Kakteen schaffen es wahrscheinlich sogar ganz ohne, aber gib ihnen einmal die Woche Wasser. Briefkaschten musscht du nur leeren, wenn die Poscht schon oben rausguckt. Dann isch er halt voll. Die Zeitung hab ich abbestellt. Und die Werbeblättle einfach ins Altpapier schmeißen. Freitag isch sowieso die Papiertonne dran. Dienschtag die gelbe. Also alle zwei Wochen. Aber so viel hascht du ja net. Vielleicht reicht es bei dir auch, bis mir wieder da sind. Und denk an den Biomüll, des müffelt doch sonscht so. Des hier sind dem Bulli seine Körnle.« Sie reicht mir ein großes Päckchen Vogelfutter.

»Den müsschtest du schon jeden Tag füttern. Und Salat. Gib ihm immer ä frisches Salatblatt. Der isch im Kühlschrank. Geld leg ich dir hin für einen neuen Kopf. Und frisches Wasser natürlich, und klar, den Käfig müsschtest du schon öfter mal sauber machen. Der Vogelsand isch in der Abstellkammer, direkt hinter dem Klopapier. Aber pass auf, dass er dir net rausfliegt, wenn du das Gitter hochhebscht. Der isch frech, unser Bulli.«

Jetzt lacht sie, und Bulli zwitschert plötzlich laut los, als hätte er verstanden, was Irene gesagt hat. Mir schwirrt der Schädel. Hoffentlich kann ich mir das alles merken. Also: Bulli alle zwei Wochen in die Biotonne werfen, und Geld für einen neuen ist im Kühlschrank … Nee, aber so ähnlich. Und als ob sie meine Gedanken lesen könnte, sagt sie dann: »Aber ich schreib dir alles auch noch mal auf einen Zettel.«

Das Geschrei von Luca und Leon aus dem Kinderzimmer wird immer lauter, und einer von den Zwillingen weint jetzt. Ob es Luca oder Leon ist, der kurz danach in die Küche gestürmt kommt und bei seiner Mama auf den Arm will, kann ich auch nach über fünf Jahren immer noch net sagen. Ich kann die beiden partout net auseinanderhalten.

»Okay, Sybille, ich glaub, des war’s, ich muss leider weitermachen, ich hab noch so viel zu tun, bis mir fahren …«

Ich kapiere, dass sie mich loswerden will, und springe von meinem Stuhl auf, umarme kurz Irene und streichle dann dem heulenden Bub über den Kopf.

»Kommt heil wieder und ganz viel Spaß in Disney World«, rufe ich noch im Rausgehen.

»Danke dir. Mir freuen uns alle so. Mir bringen dir auch was mit. Ach, und Sybille, ich leg dir zur Sicherheit auch noch unsere Nummer in Amerika aufs Telefontischle. Mir haben ja kein Handy an. Des isch die Nummer von meiner Cousine in Florida, der Tracy. Aber die wirscht du ja wahrscheinlich eh net brauchen. Was soll schon passieren?«, sagt sie lachend.

»Ja eben, positive Energie!«, stimme ich ihr zu.

Zu diesem Zeitpunkt ahnen wir beide noch net, dass ich diese Nummer früher anrufen werde, als mir lieb ist.

Kapitel 2

Rate your Seniorenheim

»Und die Rosen, Sybille. Der Rosengarten. So schön! Des hätte dir gefallen. Da gab es sogar eine Rose, die hieß Sibylle. Aber mit dem y hinten.«

»Hinten am Stengel?«, frage ich verwirrt, weil ich gar net richtig zugehört hab.

»Nein, im Namen natürlich!«, sagt Mama jetzt leicht gereizt. »Sag mal, hörscht du mir eigentlich zu? Du bischt schon wie dein Vater.«

»Ja, nein. Ich muss zum Spätdienscht.«

»Aber doch erscht um zwei.«

»Nee, heut isch Meeting. Ich muss früher da sein.«

Mama schwärmt mir jetzt schon geschlagene zehn Minuten von ihrem Besuch auf der Landesgartenschau vor. Sie hat mich kurz vor eins auf dem Handy erwischt, und eigentlich hab ich gar keine Zeit, mir ihre ausschweifenden Geschichten über Tulpen, Hortensien und die anderen verrückten Blumen anzuhören. Sie fährt begeistert fort, und ich putze mir währenddessen schnell die Zähne und stell sie auf laut.

»Ach, schön war’s! Und so viele Kinderle waren da. Damit hätt ich überhaupt net gerechnet. Des einzig Blöde war, dass der Papa ja allergisch isch.«

»Auf Hinder?«, frage ich mit vollem Zahnpasta-Mund.

»Auf was?«

Ich spucke schnell aus und wiederhole den Satz. »Der Papa isch auf Kinder allergisch? Seit wann das denn?«

»Nein, auf Korbblütler. Und die ham doch viele dort. Ich wusste des ja, aber ich hab gedacht, er reißt sich mir zuliebe ä bissle zusammen. Aber nix. Der hat die ganze Zeit geniest. In dem einen Pavillon gab es ein schönes Geigenkonzert, aber ich hab fascht nix gehört. Ständig Hatschi, Hatschi. Drei Packungen Tempotaschentücher hat er gebraucht. Und die Augen! Rot wie bei einem Angorahäsle. Daheim musste er dann erscht mal seine Medikamente nehmen und die Creme, die ihm Dr. Brückele verschrieben hat.«

Typisch Mama. Wie soll sich mein Vater denn bei einer Allergie »zusammenreißen«? Hätte er jetzt schlechte Manieren gehabt, so wie ein paar unserer Bewohner:innen, als wir sie letztes Jahr mit der Betreuung leichtsinnigerweise zur Landesgartenschau geschickt haben, hätte ich es ja verstanden. Aber für eine Allergie kann man ja nix. Armer Papa.

Unsere Senioren haben sich wirklich danebenbenommen. Seifert ist durch irgendwelche Beete getrampelt und hat mit dem Rollator ganze Büsche umgefahren, und die Senioras (so nennen wir die Bewohnerinnen im Haus Sonnenuntergang über 80) hatten nix Besseres zu tun, als »hübsche bunte Sträuße« als Mitbringsel zu pflücken. Bedauerlicherweise aus dem chinesischen Beet, was monatelang vorher angelegt worden war mit seltenem Saatgut aus Asien. Es gab sogar eine Anzeige wegen Sachbeschädigung und Diebstahl, und Otterle musste bei allen eine Demenz nachweisen, sonst hätten wir eine fette Geldstrafe zahlen müssen. Natürlich haben sich die Senioren maßlos drüber aufgeregt, dass sie angeblich nicht mehr im Besitz ihrer geistigen Kräfte sind, aber es hat nix genutzt. Dement spielen oder Strafe zahlen.

»Aber warum ich anrufe, Sybille, mir ham die Ingeborg getroffen. Die Ingeborg Klämmerle. Erinnerscht du dich? Die ham zwei oder drei Jahre bei uns gegenüber gewohnt, damals im Kapellengässle.«

Ich versuche, ein Gesicht abzurufen, aber mir fällt keins ein.

»Wie alt war ich denn da?«

»Na, so fünf oder sechs.«

»Mama! Wie soll ich mich bitte dadran erinnern? Bin ich ein Elefant?«

»Na, egal. Jedenfalls, mir ham uns ä bissle unterhalten, also, immer dann, wenn dein Vater gerade mal net geniest hat. Also der Ingeborg geht’s gut. Die sieht immer noch top aus. So lange, wellige, braune Haare bis zur Schulter, darum hab ich sie schon damals beneidet, und die sehen immer noch genauso schön aus.«

»Vielleicht isch es ja eine Perücke?«, werfe ich ein, während ich mein eigenes echtes Haupthaar kämme und mir mit einem Haargummi einen kleinen Zopf mache, der die seitlichen Haare aus dem Gesicht hält. Ich hoffe insgeheim, dass meine Frisur auch mit Mitte siebzig noch genauso voluminös ist wie jetzt und ich keine Perücke brauche.

»Wieso soll die denn eine Perücke aufhaben? Des hätt ich doch gesehen, außerdem war es ja doch windig, Sybille, und die hat sich nie an den Kopf gelangt, um ihre Haare festzuhalten.«

»Viele Senioren haben ein Toupet oder eine Perücke, des merkscht du gar net!«

Mama ignoriert meinen Kommentar und fährt mit ihrer Ingeborg-Begegnung fort.

»Ihr Mann isch ja sehr krank. Krebs. Speiseröhre oder Magen. Vielleicht war’s auch die Lunge. Oder war’s Prostata? Hach, so genau weiß ich nicht mehr. Moment! Richard, was hat der Rolf noch mal für einen schlimmen Krebs?«, ruft sie jetzt ins Wohnzimmer, in dem sich offensichtlich auch mein Vater befindet.

»Leber!«, höre ich die Stimme meines Vaters antworten.

»Leber«, wiederholt Mama. »Zweimal Chemo hat er schon gehabt. Schlimm, ganz schlimm. Der Papa hat ja zum Glück nur seine Allergie.«

»Ich hab keine Allergie!«, ruft mein Vater von hinten rein.

»Mama, ich muss jetzt los«, versuche ich sie abzuwürgen, weil mich der Gesundheitszustand von einem Mann, den ich überhaupt net kenne, reichlich wenig interessiert. Krankengeschichten höre ich den ganzen Tag zur Genüge.

»Warum ich aber eigentlich anrufe, Sybille, der Sohn, der Jörg, der isch so alt wie du. Mit dem hascht du damals immer Verstecken gespielt, dem geht’s genauso wie dir!«, sagt sie jetzt aufgeregt.

»Was meinscht du? Hat der auch einen stressigen Job in der Pfläge?«

»Nein, der isch noch net verheiratet und sucht noch! Was für ein Zufall, oder?«

»Und?«

»Na, da könntet ihr euch doch mal treffen!«

»Zum Verstecken-Spielen?«, entgegne ich ironisch, weil ich natürlich genau weiß, worauf sie anspielt. Mamas Verkuppelungsversuche sind immer so offensichtlich und gehen grundsätzlich in die Hose. Wenn es nach ihr ginge, wäre ich schon mit dem Heizungsbauer, der ihre Therme repariert hat, zusammen, mit dem netten jungen Mann, der vertretungsweise ihren Gymnastikkurs geleitet hat, oder mit dem neuen evangelischen Pfarrer, weil der immer so schön lächelt, wenn er die Predigt hält. Ich verzichte freiwillig.

»Mama, ich such keinen Mann, und außerdem muss ich los.«

»Ich hab seine Nummer, von der Ingeborg, soll ich ihn mal für dich anrufen?«, sagt sie schnell.

»Nein!« Ich drücke den roten Knopf auf meinem Handy und schnapp mir meine Tasche.

»Jörg«, nuschele ich vor mich hin, als ich die Tür ins Schloss ziehe. Allein der Name reicht mir schon.

Um dreizehn Uhr fünfundzwanzig rausche ich mit meinem blitzblank geputzten Fiesta die Einfahrt vom Haus Sonnenuntergang hoch und überfahre dabei fast Herrn Bellis, der entweder leicht betrunken oder desorientiert – vielleicht auch beides – aus dem Gebüsch gesprungen kommt. Ich bremse ruckartig und muss an die Zombie-Serie von Evelyn denken, die sie so gern auf Netflix guckt und in der die lebenden Toten auch immer aus irgendwelchen Waldstücken torkeln, um den Hauptdarstellern an die Gurgel zu gehen. Gut, ich glaube kaum, dass Herr Bellis mich fressen möchte. Hoffe ich zumindest. Ich mache den Motor aus, lass mein Auto stehen und begleite ihn zum Eingang. Er schüttelt widerwillig meinen Arm ab, den ich ihm anbiete, damit er ein bisschen Halt hat. An der Schiebetür angekommen, übergebe ich ihn an Ute, die heute Frühdienst hat und zufällig gerade unten am Empfang ist.

»Ich hab dir ein Geschenk mitgebracht!«, sage ich augenzwinkernd und nicke mit dem Kopf in Richtung Bellis. Ute rollt die Augen und wendet sich dann dem Senior zu.

»Wo waren Sie denn schon wieder? Wir haben den ganzen Vormittag nach Ihnen gesucht.«

»Privatsache«, schnaubt er genervt, und Ute und ich wechseln einen vielsagenden Blick.

»Privatsache« heißt bei Bellis meistens, dass er am Kiosk von Herrn Öçan war und ein paar Schnäpsle gekippt hat. Herr Bellis ist öfter mal auf Tour. Im letzten Jahr hatten wir einen Riesenärger mit ihm, als er bei einem Banküberfall die Tasche mit der Beute mitgenommen hat, die die Täter in Panik zurückgelassen hatten. Die 250.000 Euro, die ich dann bei mir verstecken musste, hätten uns fast in Teufels Küche gebracht. Seither behalten wir ihn gut im Auge, auch wenn er in unserem Betreutes-Wohnen-Bereich eigentlich mehr Freiheiten besitzt als die anderen Bewohner. Ach ja, und im Moulin Rouge in Ludwigsburg musste ich ihn auch schon abholen und aus den Armen von zwei Prostituierten befreien. Mit Bellis wird es nie langweilig.

»Du bist aber spät dran, Sybille, um dreizehn Uhr dreißig ist doch Meeting.« Ute schaut auf ihre Uhr.

In dem Moment ertönt ein ungeduldiges Hupen aus der Einfahrt, und als ich mich umdrehe, sehe ich Herrn Otterle in seinem schicken Audi, der hektische Winkbewegungen macht und mir bedeutet, dass ich mit meinem Fiesta den Weg frei machen soll. »Na ja, ohne Herrn Otterle wird’s schwierig, und der steht, glaub ich, noch im Stau.« Ich zeige auf die Einfahrt, und wir lachen beide. Dann eile ich hektisch zu meinem Auto, um wegzufahren.

»Das ist die Feuerwehrzufahrt, Frau Bullatschek! Sie sollten doch wissen, dass man da nicht parken darf!«, blafft er mich durch das geöffnete Fahrerfenster an.

»Ja, isch ja schon gut, momentan brennt es ja net!«, antworte ich und steige in mein Auto. Natürlich weiß ich, dass man da net parken darf, aber was hätte ich denn machen sollen? Wenn Bellis wieder abgehauen wäre, hätte er ein noch größeres Fass aufgemacht.

Als wir im Besprechungsraum sitzen, hat sich Otterles Laune immer noch nicht gebessert. Seine Mundwinkel hängen traurig nach unten und erinnern mich ä bissle an die Lefzen von Larry, dem Bernhardiner unserer Nachbarn. Der guckt auch immer so, wenn Frauchen zum Einkaufen fährt. Nur dass Otterle nicht so viel sabbert, während er spricht. Er läuft unruhig auf und ab, als er uns die Neuigkeiten von diesem Bewertungsportal Rate your Seniorenheim verkündet, von dem mir Evelyn schon gestern berichtet hat.

»Es kann ja wohl nicht sein, dass uns irgendwelche Angehörigen dermaßen schlechte Bewertungen schreiben. Wenn das so weitergeht, kommt bald gar keiner mehr in unser Heim.«

»Och, ich hätte nix dagegen, wir haben ja auch so schon genug zu tun«, raunt mir Evelyn zu und kichert.

»Wir müssen gegensteuern, sonst geht unser gutes Image, was wir uns jahrelang aufgebaut haben, den Bach runter.«

Ich muss innerlich lachen. Otterle hat bisher eigentlich gar nix Positives zu unserem Image beigetragen. Er ist jetzt seit zwei Jahren unser Chef, weil er das Heim von seinem Vater übernommen hat. Außer hochtrabendem Marketing-Geschwätz und abstrusen Ideen kam bisher reichlich wenig von ihm. Duftspender hat er anbringen lassen, die unser Heim verpestet haben und unsere Senioren manipulieren sollten. Und verkaufen wollte er uns an eine große Pflägegruppe hinter unserem Rücken. Pah! Unser gutes Image haben wir allein uns selbst, unseren guten Ideen und unserer Fürsorge zu verdanken.

»Wie wär es denn mit TikTok?«, schlägt Steffi, unsere Auszubildende, vor, die sowieso den ganzen Tag nur am Handy hängt. Otterle schaut irritiert zu ihr, und man merkt ihm an, dass er offensichtlich noch nie was von dieser Social-Media-App gehört hat.

»Was bitte hat Tick Tack jetzt damit zu tun? Vom Bonbonlutschen kriegen wir wohl kaum einen besseren Ruf.«

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