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Nordstern - Der Zauber der freien Pferde

hier erhältlich:

Wo Pferde und Magie aufeinandertreffen

Es ist das Jahr 1783 und der Ausbruch des Laki-Vulkans steht kurz bevor. In wenigen Tagen wird eine Naturkatastrophe über Island hereinbrechen, die weltweite Klimafolgen hatte. Um die Menschen vor der tödlichen Gefahr zu warnen, ihre geliebte Stute Drifa und möglichst viele Pferde zu retten, ist Erla durch Raum und Zeit gereist. Doch dabei hat sie Flóki und Kadlin verloren. Erla ist verzweifelt. Ohne die beiden und ihre Fähigkeiten sieht sie keine Möglichkeit, sich zurück in die Gegenwart zu retten. Doch der Vulkanausbruch ist nicht ihr einziges Problem. Es gibt jemanden, der alles daransetzt, ihre Mission zum Scheitern zu bringen.

Ein mitreißender Pferderoman vor der traumhaften Kulisse Islands

Der Finale der Vorgeschichte zum Pferderoman-Bestseller „Nordlicht“!


  • Erscheinungstag: 26.10.2021
  • Aus der Serie: Nordstern
  • Bandnummer: 3
  • Seitenanzahl: 272
  • Altersempfehlung: 12
  • Format: E-Book (ePub)
  • ISBN/Artikelnummer: 9783505144714

Leseprobe

Prolog

Wir folgen unserer Bestimmung. Folgen den Schicksalsfäden, die die Nornen für uns gewebt haben. Ich sehe Sterne, farbige Nebel und bunte Galaxien. Ich tauche ein, mitten in das Farbenspiel des pulsierenden Leuchtens. Da sind Nordlichter. Nicht nur grün, sondern vielfarbig. Schillernd und bunt tanzen die Nebel am Firmament.

Ich stehe in einem grünen Tal, über mir eisblauer Himmel. Eine heilige Stätte. Älter als die Zeit selbst. Frieden erfüllt mich. Kurz nur. Viel zu kurz.

Dann bin ich plötzlich von vollkommener Dunkelheit umgeben.

Schwärze, nein, dunkles Blau.

Um mich ist das Wiehern von Pferden. Ich spüre ihre Leiber, die Wärme ihrer Körper. Ich höre ihr Trappeln. Sie flehen mich um Hilfe an.

Es riecht nach Schwefel, nach Feuer und Lava, nach versengtem Fell und Angst. Ich wusste nicht, dass Lava einen Geruch hat oder dass sie so laut ist. Verbrannte Erde.

Ein Nordsturm rollt auf mich zu. Eisig und trocken.

Heiß. Kalt.

Verschlingt mich. Uns. Gibt uns nicht frei.

Strahlendes Licht und formlose, undurchdringliche Dunkelheit wechseln miteinander, wie in einem kosmischen Urzeitgewitter. Bilder formen sich, Gestalten, Worte. Da ist eine Höhle. Im flackernden Schein eines Streichholzflämmchens kauert ein Mädchen. Ich weiß, dass sie Elin heißt und nach mir kommen wird. Unsere Geschichte ist noch nicht vorbei. Sie wird das Nordlicht tragen.

Dann ist da ein rotbärtiges Gesicht. Es sieht mich finster an. Hasserfüllt. Doch da ist auch Jórunn. Aufmerksam blickt sie aus einer spiegelnden Wasserfläche zu mir empor, viel älter, als ich sie in Erinnerung habe. Ihr langer grauer Zopf ist schneeweiß geworden. Ihr wässriger Blick beginnt sich um mich zu drehen, zu weben und zu wirbeln.

Ich sehe die Zukunft. Eine dunkle Zeit liegt vor uns.

Lange.

Viel zu lange.

Ewig.

Weil alles doppelt ist und auch wieder nicht.

Ich beginne die Reise von Anfang an.

Alles fließt. Aber jetzt ist es nicht Wasser, sondern ein träger Strom aus Feuer und Glut. In seinem Schatten sehe ich rötliche Umrisse, Schemen. Zusammengedrängte Körper, wispernde Stimmen.

Ich werde fortgerissen in einem tosenden Strudel.

Funkelndes Eisglitzern.

Gletscherlicht.

Die Berge atmen. Feuer und Eis.

Wo die Haut der Erde so dünn ist wie hier, da sind viele Grenzen fließend. Der Wind trägt ihre Lieder mit sich fort.

Die Huldu haben mich gelehrt, ihnen zu lauschen, sie zu verstehen. Alles an mir schmerzt. Aber ich darf nicht aufgeben. Sonst ist alles verloren. Sonst sind die Pferde verloren. Ich muss meiner Bestimmung folgen. Es ist längst geschehen. Und es gibt Hoffnung.

Der Nordstern wird mich führen.

Durch Zeit und Raum.

Durch die Nordnacht.

Durch den Nordsturm.

Durch das Nordfeuer.

Ein Funken Hoffnung.

Sie rufen mich Weltenwanderin. Weltenwandlerin.

Aber ich trage noch einen anderen Namen. Ich kann mich erinnern.

Erla. Meine Mutter rief mich Erla.

Dies ist meine Geschichte.

1. Rumpelpumpel

»Wo ist sie hin?« Flóki stemmte sich ächzend auf seine Arme. Mühevoll zog er sich auf alle viere und richtete sich auf. Seine Glieder wollten ihn kaum tragen. Er fühlte sich zerschlagen und steif vor Kälte.

Kadlin lag leblos auf dem Bauch. Auf dem Boden glitzerten Scherben im fahlen Mondlicht, die Scheibe des kleinen Stallfensters war völlig zersplittert. Darum war es so kalt – und weil die Stalltür im Luftzug auf und zu klappte. Draußen war es bereits dämmrig, aber im Stall noch so dunkel, dass er nur Umrisse erkennen konnte, ganz abgesehen davon, dass seine Augen noch nicht bereit dazu waren, sich scharf zu stellen. Je mehr er blinzelte und es versuchte, desto stärker schmerzte sein Kopf.

Die beiden Lämmer blökten hungrig. Es roch nach Rauch und Schwefel und frischem Schafmist.

Jórunn war fort.

Drifa und Erla auch.

»Kadlin, wach auf!«

Wie lange war er bewusstlos gewesen? Wenn das da draußen die Morgendämmerung war, hatten sie Stunden hier gelegen. Wo war Jórunn? Und wo war … das Untier? In der Sekunde, nachdem Erla und Drifa in den Zeitstrudel gestürzt waren, hatte Kadlin die Forke geworfen und er sein Messer. Dann war da ein greller Blitz gewesen, ein Knall, als das Portal sich geschlossen hatte. Die Druckwelle hatte sie alle umgerissen. War es tot? Oder etwa entkommen? Hatte es womöglich …?

Erschrocken kämpfte er sich auf die Füße. An der Stelle, wo die niedergestreckte Kreatur hätte liegen müssen, zeichnete sich nur eine fast unsichtbare Vertiefung in der Erde ab. Die Forke steckte in der Wand, sein Messer lag auf dem Boden. Etwas Blut klebte daran. Aber der Draugur war verschwunden.

»Kadlin, was ist mit dir? Kadlin!« Mit zwei torkelnden Schritten war er bei seiner Freundin und rüttelte unsanft an ihrer Schulter. Rasender Schmerz fuhr ihm die Wirbelsäule hinab, als er sich bückte.

»Mhhm«, beschwerte sie sich, und Flóki seufzte erleichtert, als sie sich endlich bewegte.

»Du lebst. Wir sind beide noch am Leben.« Ihm war schwindelig, und er ließ sich neben sie auf den Boden plumpsen. Alles tat weh. Selbst das Atmen war eine Qual.

»Hat es funktioniert?«

»Ich glaube, ja. Sie … sie sind … alle fort.«

Kadlin schlug träge die Augen auf, musterte ihn und schloss die Lider gleich wieder. Mühsam drehte sie sich auf die Seite. »Du klingst wie ein alter Mann. Ich kann kaum was sehen. Ist das Blut an deinem Mund oder Dreck?«

Flóki tastete danach und starrte dann auf seine Hände. Immer noch leicht benommen zerrieb er die geronnenen dunklen Krümel zwischen den Fingern. »Keine Ahnung. Und bei dir?« Der Zwang, husten zu müssen, wurde fast übermächtig, aber er unterdrückte ihn, so gut es ging.

Kadlin zuckte mit den Achseln. »Ich habe ja immer Nasenbluten, wenn ich meine Gabe einsetze. Ich schätze, diesmal war es ein bisschen heftiger als sonst.« Sie grinste, öffnete die Augen und richtete sich mit seiner Hilfe auf. »Aber unglaublich, wie wir das Vieh überlistet haben, oder? Und all diese Farben, als Erla … Moment …« Hektisch sah sie sich um. Dabei wurde sie aschfahl. »Alle sind weg? Wo ist es hin? Ist es geflohen? Wieso hat es uns nicht getötet?«

»Ich weiß es nicht.« Ihm war übel, sein Kopf wollte schier zerplatzen, und er legte schützend die Hände an seine Stirn. »Jórunn ist auch verschwunden. Meinst du, die Bestie hat sie verschleppt?«

Kadlin schüttelte den Kopf und stützte sich an seiner Schulter ab, um aufzustehen. Sie tastete nach einer Stalllaterne, um sie mit zittrigen Fingern zu entzünden. Dann leuchtete sie damit den Boden ab.

»Dort. Das sind ihre Spuren. Sie ist aus eigener Kraft aus dem Stall gegangen. Aber da sind keine von dem Draugur.« Sie humpelte zur Tür, die Hand an ihrem Messer, und spähte kurz hinaus, bevor sie nach dem Riegel griff, die Tür verschloss und sich mit dem Rücken daran lehnte. Die beiden Lämmer blökten lauter. Flóki schleppte sich langsam zu ihnen hinüber, stach die Forke in den Heuvorrat und schüttete ihnen etwas von dem getrockneten Gras in die Futterraufe. Die kleine körperliche Anstrengung genügte, dass sich alles um ihn drehte und er sich wieder setzen musste.

»Irgendwas stimmt da nicht«, sagte Kadlin in seinem Rücken und löschte hastig die Laterne. Sie klang heiser. »Die Sonne geht gleich auf, wie lange waren wir denn bewusstlos?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete er leise und sah zu dem leeren Bett aus Stroh hinüber, in dem all die Wochen Drifa gelegen hatte, Erlas todkranke Stute. Das Gefühl von Verlust stach in sein Herz, schärfer als jede geschliffene Waffe. Er hatte Erla begleiten wollen. Er hätte sein Leben für sie aufs Spiel gesetzt, und sie hatte gewusst, dass er dazu bereit war. Aber sie hatte ihn zurückgestoßen, damit er in Sicherheit blieb. Würde er Erla je wiedersehen? In seinem schmerzenden Kopf hallten die Worte der alten Kräuterfrau wider: Es ist ein Mysterium. Ihr denkt zu linear. Was in aller Welt hatte Jórunn damit gemeint? Der Hustenreiz wurde übermächtig. Flóki schmeckte Blut. Dann überrollte ihn die Übelkeit. Torkelnd kämpfte er sich hoch und übergab sich in einen leeren Futtereimer.

»Wir müssen es meinen Eltern erzählen«, sagte er mit belegter Stimme. »Alles. Und dem Goden. Und wir müssen Jórunn finden. Wo kann sie sein?«

Ich gehe langsam dem vagen Lichtschein entgegen, dem Geruch von Feuer und Rauch, geröstetem Brot und würzigem Eintopf. Drifa ist an meiner Seite, ich halte mich an ihr fest. Mit einer Hand umklammere ich ihre drahtige Mähne, die andere, die ich über ihren Hals gelegt habe, will ihr dichtes Fell spüren, die Muskeln darunter, die Wärme ihres Körpers. Ich muss sie anfassen, berühren, fühlen. Immerzu. Sonst kann ich nicht begreifen, dass sie lebt. Meine Stute. Dass sie gesund ist und ihre Hufe neben mir taktrein und kraftvoll auf den Höhlenboden setzt. Mein ganzer Körper dröhnt im Nachhall der Reise, aber das kümmert mich nicht, weil mein Herz so voller Freude ist. Ich habe mein Pferd wieder. Und weil ich sie fühle, weiß ich, dass es kein Traum ist. Es ist ganz real. Drifa ist bei mir. Wir sind zusammen und sie lebt. Sie lebt! Ich presse meine Hände in ihr dichtes Fell. Streichele sie, fasse nach, zwirbele die Strähnen ihrer Mähne.

»Drifa, meine Drifa«, murmele ich immer wieder, mein Herz pocht wie wild, und es kümmert mich nicht, dass meine Rippen schmerzen, dass mir übel ist und der Boden unter meinen Füßen mir wie Wackelpudding vorkommt. Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist, in der ich zwischen den Welten und Zeiten gewandert bin, eingehüllt in die bunten Nordlichter. Aber ich weiß, dass der Zauber funktioniert hat: Drifa ist gesund. Und ich bin zurück – zurück bei Kadlin und Floki. Die beiden müssen es irgendwie geschafft haben, erneut Raum und Zeit zu beugen und Drifa und mich zurückzuholen.

Oh, was werden sie staunen, wenn sie sehen, dass es tatsächlich geklappt hat! Drifa ist gesund, singt es in mir. Ich möchte schreien und lachen und es hinausrufen in die Welt, und doch bin ich ganz still. Mein Pferd ist zurück. Es ist ein Wunder, ein Geschenk des Himmels. Nein, nicht des Himmels, wir haben das getan. Wir haben es hinbekommen, es ist Huldumagie, die Magie meiner Elfenfreunde. Sie lebt. Sie lebt, sie lebt, sie lebt!

»Du lebst«, flüstere ich und bleibe kurz stehen, um Luft zu holen und um meine wunderschöne Stute auf die Nase zu küssen. Zum hundertsten Mal innerhalb der letzten Minuten taste ich ihre Haut ab, ihr Fell und vergewissere mich noch einmal, dass da wirklich keine Wunden mehr sind. Kein Schorf, nur ein paar Narben, die mir beweisen, dass es kein Traum ist. Das Gift des geisterhaften Draugurs ist fort.

Drifa brummelt leise, und dann schnaubt sie und schüttelt sich, stampft mit dem Vorderhuf auf und will weitergehen. So kenne ich sie. So temperamentvoll und eigensinnig. Ich könnte platzen vor Glück – und so fühlt sich mein Kopf gerade leider auch an. Er pocht, und plötzlich durchzuckt mich ein greller Schmerz. Ich sehe Fell und Pranken mit spitzen Nägeln, etwas Schweres wirft sich gegen mich, fauliger Atem streift mein Gesicht. Und da ist noch etwas, ein Gedanke: Ich habe eine Aufgabe. Ich wollte jemanden retten. Nicht nur Drifa – auch andere. Pferde. Aber wovor? Es fällt mir nicht ein. Wenn nur mein Kopf nicht so schmerzen würde! Ich kneife die Augen zusammen, blinzele, bis der Schmerz etwas nachlässt und ich wieder die Höhlenwände um mich herum wahrnehme.

Drifa reibt ihren Kopf an meiner Schulter. »Ich weiß ja, die anderen warten. Ich komme schon.«

Sie stützt mich, und mein Nordstern zeigt uns den Weg. Der Anhänger, den Flóki mir geschenkt hat, ist jetzt mein eigener Nordstern. Er leuchtet und schillert im Dunkel, vielfarbig wie ein sternenklarer, isländischer Winternachthimmel, über den die Nordlichter tanzen. Es sind dieselben Farben, aus denen unsere Energiefelder das Portal gebildet haben, das mich hierher katapultierte. Daran erinnere ich mich. Das ist ein Anfang.

Der Stein ruht warm auf meinem Schlüsselbein. Er vermittelt mir ein Gefühl von Geborgenheit, so als wäre Flóki die ganze Zeit über bei mir. Der Labradorit ist aufgeladen mit seiner Energie und mit der von Kadlin. Er führt uns zu ihm, er bringt uns nach Hause, ich weiß es. So, wie der Nordstern am Firmament mich immer führt.

So schnell ich kann, setze ich meine Füße voreinander. Das ist nicht so einfach. Diese Reise – oder wie immer man das bezeichnen soll, was wir da eben hinter uns gebracht haben – steckt mir gehörig in den gerade erst halbwegs verheilten Knochen. Aber wenn ich Drifa ansehe, würde ich es sofort wieder tun.

Langsam drängen jetzt andere Gedanken in mir an die Oberfläche. Sorgen um Flóki. Um Kadlin. Wenn sie die Zeit beugt, bekommt sie Nasenbluten. Flóki hat es noch stärker mitgenommen, als er den Raum gebeugt hat. Es ist sehr anstrengend, ja sogar gefährlich für beide, wenn sie ihre Gaben einsetzen. Die alte Heilerin hat uns gewarnt. Ich schlucke trocken. Weiter als mich haben sie noch nie jemanden gehen lassen. Und verboten ist es noch dazu, was sie getan haben.

»Es geht ihnen bestimmt gut«, sage ich ins Dunkel der Höhle, will, dass es mutig klingt, zuversichtlich. Die Antwort ist nur der Nachhall meiner Stimme, und das leise Plitschen eines Wassertropfens, der auf Fels trifft.

»Wir haben es geschafft, du und ich, Drifa. Jetzt kann uns nichts mehr passieren. Da vorn wird es heller, da warten sie auf uns, Flóki und Kadlin, ganz sicher, du wirst sehen.«

Ich wische die Bilder beiseite, die jetzt als Erinnerung hochkommen. Das Untier, das sich auf mich stürzen will, Flóki, der sich ihm mutig in den Weg stellt. Der stürzt, als ihn das Monster um Haaresbreite mit seinen Tatzen verfehlt. Ich schüttele den Kopf. Meine Stimme zittert, als ich trotzig fortfahre. »Alles wird gut. Wir zeigen dich dem Goden. Du bist geheilt. Das Untier ist besiegt. Hoffe ich zumindest. Wir mussten das tun. Ich werde alles erklären, und dann …« Plötzlich bleibt Drifa stehen, und ich halte ebenfalls inne. Sie gibt alarmiert ein schnorchelndes Geräusch von sich. Meine Augen haben sich inzwischen einigermaßen an die Dunkelheit gewöhnt. Nicht so gut, dass ich erkennen könnte, was sie so aufregt. Aber ich sehe, dass sie die Ohren spitzt und die Nüstern bläht.

Einen Wimpernschlag später schwanke ich, als ob meine Beine nachgäben. Ich kralle mich an Drifas Mähne fest, damit ich nicht falle. Sie schnaubt empört. Aber das bin nicht ich, das ist der Boden, der sich ächzend unter unseren Füßen bewegt. Ich reiße den Kopf hoch, weil da oben auch Geräusche sind. Doch im Dunkel kann ich nichts erkennen. Weit über uns klingt es, als ob Steine aneinander reiben. Drifa drängt nach vorn. Sie trabt an, und ich hänge mich an sie und versuche, mitzuhalten.

Es rumpelt, so wie früher in Lübeck, wenn die Panzer direkt vor dem Haus auf der Straße entlangfuhren und das Geschirr im Schrank zum Klirren brachten. In der Ferne donnert es. Da explodiert etwas. Unwillkürlich ziehe ich den Kopf ein. Bombennächte. Krieg. Einen Moment lang hält mich meine Erinnerung zum Narren. Ich meine die Sirenen zu hören, die meine Kindheit bestimmten, fühle die Hand meiner Mutter, die mich drängt, schneller zu laufen.

Mein Herzschlag wird doppelt so schnell, Schweiß bricht mir aus, ich schmiege mich panisch an Drifas Hals und kneife die Augen zusammen. Drifa macht ein paar Galoppsprünge und stolpert, bevor sie einsieht, dass wildes Tempo im Halbdunkel der Höhle keine gute Idee ist. Ich fürchte mich.

Irgendwo in der Schwärze hinter uns lösen sich ein paar kleinere Felsbröckchen und hüpfen klickernd davon. Ganz kurz nur, dann ist alles wieder vorbei. Der Boden hat sich beruhigt. Keuchend ringe ich nach Atem.

Ein Erdbeben. Keine Panzer. Ich bin nicht mehr in Deutschland. Der Zweite Weltkrieg ist mindestens sieben Jahre vorbei. Wir haben dieses Grauen überlebt. Nichts kann schlimmer sein! Ich schließe den Mund und zwinge mich, durch die Nase zu atmen, während wir weiterstolpern.

»Hey, es gibt keinen Grund zur Panik, wir sind hier nicht in einem Luftschutzbunker, es fallen keine Bomben. Dagegen ist so ein winziges Erdwackeln ein Mäusepups.« Aber wie soll sie mir das glauben, wenn es mir selbst so schwerfällt?

Ich muss aufpassen, dass meine Füße nicht zwischen Drifas Hufe geraten. Meine Schimmelstute zieht weiter vorwärts, zum Ausgang, und ich kann ihre Furcht verstehen. Wenn Steine fallen, will man nicht in einer Höhle sein, die einem jederzeit auf den Kopf stürzen kann.

»Nicht so schnell«, mahne ich japsend, als mein Pferd immer ungestümer wird und losstürmen will. Ich habe Angst, sie zu verlieren, im düsteren Zwielicht zu fallen, ich bekomme Seitenstechen. Wenn ich nur nicht so schwach auf den Füßen wäre und so schlecht Luft bekommen würde. Das Korsett engt mich ein. Ich trage es seit meiner ersten Begegnung mit dem Zwischenwesen. Die alte Jórunn hat es mir angepasst, um meine Wirbelsäule zu stützen, solange sie noch nicht richtig verheilt ist. Aber jetzt engt es mich ein. Mir ist heiß und kalt zugleich.

»Es ist doch alles gut«, flüstere ich Drifa und mir selbst zu und versuche, in den Bauch hinunter zu atmen, so wie es der alte Thorbjörn mich gelehrt hat, als ich ganz neu in Island war und Andris Großvater mir die ersten Reitstunden meines Lebens gab, auf dem Hof, wo ich das erste halbe Jahr angestellt war.

Natürlich habe ich trotz allem, was mein Verstand mir eingibt, ein mulmiges Gefühl, und die Stute spürt meine Nervosität ebenso stark wie ich die ihre. Wenn das gerade wirklich ein kleines Erdbeben war, sollten wir so schnell wie möglich raus aus der Höhle. »Wir sind schon fast draußen, es ist gleich geschafft.«

Tatsächlich streift ein frischer Luftzug mein Gesicht, und vor uns wird es stetig heller, die Felswände malen die Schatten des flackernden Lagerfeuers nach, das ich bereits gerochen habe. Eine Biegung noch.

»Flóki!«, rufe ich, und dann sehe ich ihn auch schon und lasse das Pferd los.

Am Feuer, vorn am Eingang kauert eine Gestalt, nicht mehr als eine Silhouette gegen den Lichtschein, sie stochert in den Flammen und rührt in einem dampfenden Topf, der an einem Dreibein hängt. Ich habe mir den Duft nach Essen nicht eingebildet. Mein Magen knurrt. In meinem Kopf flattern die Gedanken durcheinander wie ein aufgescheuchter Vogelschwarm. Wie lieb, dass er so weit gedacht hat! Wie lange habe ich eigentlich nichts gegessen? Sein alter Wollpullover kommt mir so vertraut vor. Er ist um einiges schmutziger, als ich ihn in Erinnerung habe, und in der Lederweste über dem Schulterblatt klafft ein Riss. Ob das dem Kampf mit der Bestie geschuldet ist? Wieso bin ich überhaupt in einer Höhle und nicht zurück im Stall? Ach, Hauptsache, es geht ihm gut und wir sind wieder zusammen. Als mein Pferd an ihm vorbei ins Freie trabt, fährt er erstaunt herum.

Ein mulmiges Gefühl überkommt mich. Irgendetwas stimmt da nicht. Ich will ihm in die Arme laufen, als der Junge aufsteht, und sich ganz zu mir hindreht, ein brennendes Etwas wie eine Fackel noch in der Hand. Mitten in der Bewegung pralle ich zurück, als wäre ich gegen eine unsichtbare Wand gerannt. Und mein Herz vergisst für eine Sekunde, dass es weiterschlagen muss.

»Du bist nicht mein Flóki«, keuche ich. Dann verschwimmt das fremde Gesicht vor meinen Augen. Der Boden unter mir gibt nach, aber diesmal ist es kein Erdbeben. Diesmal bin ich es. Das sanfte Leuchten meines Anhängers wird gleißend hell, bunt, und dann: Nacht.

Vor meinen Augen ist nur Dunkel, und ich heiße es willkommen. Ich falle, hinein in bodenlose Schwärze. Danach weiß ich nichts mehr.

Die Farbnebelnacht schwindet, und mit ihr die körperlose Schwerelosigkeit. Die wirbelnden Strudel spucken mich aus, ich wimmere leise, als der Schmerz meinen Körper wiederfindet.

Vor meinen geschlossenen Lidern taucht der Nordstern auf, sanft und ruhig blinkt er mich an, wie um mich zu trösten, und strahlt mit seiner Zuversicht bis in mein Herz. »Du wolltest mich doch führen«, flüstere ich und drifte noch einmal davon. Gemurmel in einer uralten Sprache plätschert wie ein fließender Bach vorüber. Gesänge, Gebete. Lichter flirren, Farben kommen und gehen.

»Schlaf und werde heil. Ich hüte und halte deinen Segen mit Yggdrasil. Du bist in allen Zeiten vertäut und geborgen.«

Es wird wieder dunkel, aber anders, greifbarer. Es riecht nach Schnee und feuchtem Stein. Schwefel. Fackeln. Ich ertaste blind die Mähne meines tapferen Pferdes und folge dem flackernden Lichtschein. Die Szene kommt mir bekannt vor. Drifa ist bei mir, und alles wird gut, denke ich euphorisch, und dass Flóki ja auf mich wartet. Er hat es versprochen.

Vorsichtig tasten wir uns voran. Drifas Hufklappern hallt wider von den Wänden der Höhle. Vorn am Eingang sitzt ein Junge am Feuer. Mein Herz schlägt schneller. Hier war ich schon einmal. Diesmal wird es klappen. Ich muss mich nur konzentrieren.

»Flóki!«, flüstere ich beschwörend. Doch als er sich umdreht, sehe ich wieder in dieses fremde, viel zu junge Gesicht. Schweißgebadet wache ich auf.

»Schhhh. Habt keine Angst, ich tu Euch nichts, hört Ihr?«

Ich zucke zurück, denn im nächsten Moment spüre ich ein feuchtes Tuch auf meiner Stirn, und als ich die Augen aufschlage, starre ich erneut und auf einen Schlag hellwach in das Gesicht dieses mir völlig unbekannten Jungen. Dies ist kein Traum mehr.

Er sieht mich ebenso skeptisch, beinahe argwöhnisch an wie ich ihn. Ich reiße das ranzig stinkende Stück Stoff von meinem Kopf und schnappe nach Luft.

»Wo bin ich?«, frage ich atemlos. »Wo ist mein Pferd? Wo ist Flóki?« Suchend hebe ich den Kopf, lasse mich aber gleich wieder zurücksinken, weil die Höhle sich um mich dreht und mir davon schlecht wird. Alles tut mir weh, nicht nur die blöden Rippen.

Der Junge nimmt mir das Tuch weg, als hätte er Angst, dass ich es ins Feuer werfen könnte.

»Eure Stute frisst gleich hier, bei meinem Wallach. Macht Euch keine Sorgen und verzeiht mein Eindringen. Ich hatte Euch nicht bemerkt, als ich Schutz suchte vor dem Unwetter und vor der Nacht. Ich gab ihr Heu und hoffe, dies ist Euch recht.« Er zeigt mit dem Kinn nach links, und noch bevor ich mich in die Richtung drehe, höre ich Drifas zufriedenes Schnauben.

Erleichtert atme ich aus und schließe kurz die Augen. »Danke. Das ist sehr nett.« Von dem übrigen Gefasel habe ich kein Wort verstanden. Wieso Eindringen? Der glaubt doch wohl nicht, dass ich hier wohne, oder? Wie alt mag er sein? Zehn? Zwölf? Älter? Jünger?

»Eins meiner Schafe hat sich verstiegen, und ich hätte es nicht vor Einbruch der Dämmerung nach Hause zurückgeschafft. Ich glaube, Ihr habt Euch bei dem Erdbeben verletzt. Ihr habt eine Schramme am Kopf. Tut es sehr weh? Seid Ihr gestürzt? Bei Tagesanbruch geht es Euch sicher besser.«

»Ha?« Verwundert taste ich an meine Schläfe und spüre klebrigen Schorf. Da ist tatsächlich eine kleine Wunde. Darum kümmere ich mich später.

Der Junge mustert mich noch immer.

»Müssen wir nicht nach draußen?«, frage ich. »Ich meine, sagt man nicht, dass man sich bei einem Erdbeben ins Freie retten soll?«

Er presst die Lippen zusammen, senkt den Blick und stochert schweigend im Feuer herum. »Nein. Dort … ist es noch nicht sicher. Es ist Nacht«, fügt er hinzu, als ob das alles erklären würde, und er betont es so, dass ich lieber nicht nachfrage. Als ich klein war, hatte ich auch Angst im Dunkeln. Aber ich glaube, bei ihm steckt mehr dahinter. Da draußen herrscht allenfalls Zwielicht.

»Wo hast du so viel Brennholz gesammelt?«, frage ich, um das Eis zu brechen, doch das ist gleich der nächste Fettnapf.

»Ha? Holz? Nein, das ist ganz normaler getrockneter Schafdung. Nehmt Ihr denn nicht …? Verzeiht«, setzt er an, und ich schnaube ungeduldig, weil ich keine Ahnung habe, wieso er sich so kompliziert ausdrückt und wieso ich solchen Blödsinn frage, wo es doch wirklich gerade Wichtigeres gibt. Ich weiß noch immer nicht, wo ich bin – und dann greift mit einem Mal lähmende Angst nach mir. Der Junge gehört nicht zum Verborgenen Volk. Er ist ein Mensch, aber er trägt altertümlich geschnittene dunkle Stoffhosen und seltsam klobige Schuhe. Und er spricht so, als stamme er aus einer anderen Zeit.

»Wie weit ist es nach …?« Ich zögere. Der Name eines Huldu-Gehöfts wird ihm logischerweise nichts sagen. Er ist, wie es aussieht, ein einfacher Schafhirte, alles andere hätte ich gespürt. Es brizzelt, wenn ich in die Nähe eines Unsichtbaren komme, besonders bei Flóki. Vielleicht frage ich besser nach dem Hof von Andris Familie, der ganz in der Nähe von dem Huldu-Haus liegt, in dem Floki lebt? »Ingvar Thorbjörnson, weißt du, wo die wohnen?«

Wieder starrt er mich an, als könne einer von uns beiden nicht bis drei zählen. Dann schüttelt er den Kopf.

Ich will es mit der Hofstelle von meiner Mutter und meinem Stiefvater versuchen, aber ich weiß nicht, wie Hrafns Vater heißt. Wieso müssen Isländer auch so komplizierte Nachnamen haben?

»Hveragerði«, fällt mir immerhin der Name des Ortes ein, und ich unterdrücke verzweifelt die Angst, die sich immer stärker in mir ausbreitet. »Wie weit ist es von hier nach Hveragerði? Ist das zu schaffen bis zum Mittag, ohne Handpferd? Oder … wie spät ist es denn wohl? Hast du eine Armbanduhr?«

»Ha? Nein, einen Hof, der so heißt, kenne ich nicht. Das tut mir leid.«

Mist. Fangen wir mit etwas Leichtem an. »Ist es Morgen oder Abend?«

Er lächelt schüchtern. »Ja, das weiß man nie so genau im Zwielicht, stimmts? Die Sonne steigt bald auf, es dürfte auf drei Uhr zugehen.«

Sommer also. Die hellen Nächte. Das hilft schon mal.

»Danke. Dann sag mir doch bitte, wie das nächste Dorf heißt.«

Er glotzt mich verdattert an.

Okay. Vielleicht ist das so eine Verständigungssache. Habe ich ein falsches Wort benutzt? Eigentlich sollte mein Isländisch inzwischen fließend sein, aber wer weiß, so stark, wie mein Kopf dröhnt, hat vielleicht mein Hirn die Vokabeln ein wenig durcheinandergewirbelt.

»Die nächste größere Stadt?«

»So was haben wir hier nicht.«

»Ha? Es muss doch einen Ort in der Nähe geben, wo Menschen leben? Viele Menschen. Zusammen!« Es kann doch nicht so schwer sein, herauszufinden wo ich bin – oder wann.

Sein Gesicht hellt sich auf. »Ja natürlich. Ich wohne auf Heiðarsel. Mein Bauer ist Árni Erlingursson. Er hat gerade seine Pacht verlängert. Bis nächsten Mai darf ich für ihn arbeiten, oben, in der Sennerei. Danach bin ich zu alt, sagt Sigrún, die Sennerin. Dann muss ich mir etwas Neues suchen … Hauptsache, ich finde dieses sture Mutterschaf wieder. Wenn ich das nicht heil nach Hause zurückbringe, legt sie mich übers …« Er wird rot und bricht ab.

Dieses Gefühl kenne ich so gut. Ingvars Mutter hat mich wegen eines Fehlers beim Melken auch einmal geohrfeigt, ganz am Anfang. Meiner Mutsch ist noch nie die Hand ausgerutscht, aber viele Erwachsene sind da nicht so zimperlich. Wir hatten in Lübeck Lehrer in der Schule, die ständig Kopfnüsse verteilten und einen Rohrstock neben sich am Pult hatten. Ich hoffe, dass sich das irgendwann ändert. Aber es ist bestimmt nichts, wofür er sich schämen müsste. Ansonsten verstehe ich allerdings nur Bahnhof. »Ich meine nicht euren Hof. Die Namen sagen mir leider nichts. Wo ist die nächste größere Siedlung?«, versuche ich es noch einmal. Ganz langsam. »Ich habe mich verlaufen und möchte mich orientieren können. Kannst du mir dabei helfen? Wo zum Kuckuck sind wir hier?«

Beeindruckt sieht er mich an. Wahrscheinlich hat er keine Ahnung, was ein Kuckuck ist – gleich noch ein Fettnapf, Erla. Ganz prima.

Dann holt er tief Luft. Und atmet wieder aus. Runzelt die Stirn. Kratzt sich am Kopf. Seine Fingernägel sind unglaublich schmutzig. Endlich hellt sich seine Miene auf. »Also, wenn Ihr unseren riesigen Hof nicht kennt … das Bistum Skálholt kennt Ihr sicher«, verkündet er schließlich. »Da leben bestimmt neunzig Menschen, und es gibt eine wunderschöne Domkirche, die Brynjólfskirkja. Ich war schon einmal dort. Der Herr hat mich mitgenommen, als er dort wichtige Besorgungen hatte. Er brauchte Papiere.«

»Aha«, sage ich matt. »Nein, ich dachte an etwas Größeres als … neunzig Menschen. Eine … Stadt eben.«

»Das Gut Skálholt ist riiiesig. Aber es liegt ein paar Tagesreisen von hier im Westen. Man muss durch den Sandur, das ist gruselig. Etwas Größeres kenne ich nicht. Außer Reykjavík und Hólar im Norden natürlich. Aber da war ich noch nicht. Ich würde das schon gerne mal sehen. Der Pastor sagt, da kann man Latein lernen, und große, bunte Glasfenster haben sie, mit Bildern drin. Doch das ist unerreichbar für einen wie mich. Für die Priesterschule braucht man Geld.«

Ich gebe auf. Ganz offensichtlich reden wir so was von aneinander vorbei. Versuchen wir es anders.

»Gibt es hier größere Vulkane? Die Katla oder die Hekla, sind die in der Nähe? Oder ein Gletscher vielleicht? Kennst du die Namen von ein paar Flüssen?«

»Ihr stellt aber komische Fragen. Den Vatnajökull sieht man doch von überall. Und den Mýrdalsjökull und die Katla natürlich auch. Die Hekla ist etwas weiter weg, aber bei gutem Wetter …«

»Wunderbar.« Ich seufze erleichtert. »Dann sind wir immer noch im Suðurland.«

»Ja, das hätte ich Euch gleich sagen können.« Er lacht. »Die Vulkane sind ein ganzes Stück von hier, zum Glück. Aber wenn Euch das hilft, der bekannteste Fluss hier oben ist der Skaftá. Wir sind im Bezirk Skaftáfell, das ist die Gemeinde von Síra Jón. Und wenn Ihr Euch so für Vulkane interessiert, gibt es hier den Grímsvötn. Er liegt auf dieser Seite unter dem Vatnajökull verborgen. Wir sind hier ganz in der Nähe von Grímurs Seen.«

»Ach hör auf. Keine alten Legenden dazwischenwerfen«, murmele ich ein wenig genervt, während ich im Kopf versuche, eine Landkarte zusammenzubekommen.

Der Junge lacht. »Ja. Die Seen hat noch keine lebendige Seele zu sehen bekommen. Wenn es sie gibt, dann sind sie seit Tausenden von Jahren zu Eis gefroren – und wenn sie auftauen und überlaufen, möchte ich lieber nicht in der Nähe sein …«

»Woher kennst du so viele Geschichten?«, will ich jetzt doch wissen.

»Na, kennt Ihr denn keine Abendwache bei Euch? Lest Ihr Euch etwa nicht vor, wenn es dunkel ist? Da kann man so viel lernen! Ich höre immer ganz genau zu, wenn wir im Winter zusammen in der Stube sitzen.«

»Aber jetzt ist Sommer«, gebe ich zurück. »Oder nicht?«

»Doch. Stimmt.« Er sieht mich nach wie vor neugierig an, der kleine Klugscheißer, seine Augen glitzern vergnügt. »An die Gletscher könnt Ihr Euch also erinnern, ja?«

Ich nicke. Das hilft mir nur noch nicht so richtig weiter. Das Gletschergebiet des Vatnajökull ist gigantisch groß.

Der Junge zeigt schräg hinter sich. »Dort drüben Richtung Süden sieht man den Mýrdalsjökull. Unglaublich viel Schnee und Eis. Und noch mehr Eis, so weit das Auge reicht, gibt es, wenn Ihr rausgeht und nach Nordosten guckt. Gúdrun sagt, der Vatnajökull streckt uns hier schon die Gletscherzunge heraus. Aber alles dazwischen ist fruchtbares Land mit Schluchten und Flüssen und Wasserfällen und viel fettem Gras für unsere Schafe. Das gibt den leckersten Käse und …«

»Die Feuerbezirke«, hauche ich. Und ob ich gut zugehört habe bei den Abendwachen, den traditionellen Erzählstunden in Flókis Elternhaus. Aber das ist es nicht. Direkt vor meinem Aufbruch haben wir darüber geredet. Über die Katastrophe, die hier ihren Anfang nahm … es war meine Idee, hierherzukommen. Ich runzele die Stirn. Stück für Stück ploppen die Erinnerungen wieder an die Oberfläche. Nicht nur wegen Drifa. Auch weil ich helfen wollte. Die Pferde retten, die Menschen natürlich auch und die Huldu … im Jahr 1783. Mir wird heiß und kalt. Ist das möglich? Dass ich tatsächlich … hier gelandet bin? Ist es das richtige Jahr? Ich frage mich, ob … »Heißen die denn überhaupt schon so?«, denke ich laut. »Ich meine, gab es hier schon einmal … einen Vulkanausbruch?«

»Sicher doch!« Der Junge lacht. »Aber davor müsst Ihr keine Angst haben! Als der Grímsvötn das letzte Mal Feuer gespuckt hat, war ich noch nicht geboren. Ihr seid wirklich nicht von hier, scheint mir.«

Mich schaudert bei seinen Worten. Wie viel Zeit bleibt uns wohl noch? Ich schüttele den schmerzenden Kopf und seufze. »Nein, ich komme aus Deutschland … äh, aus dem Königreich Preußen«, korrigiere ich mich schnell und hoffe inständig, dass er jetzt nicht den Namen des Königs wissen will oder so. Aber den Jungen fasziniert offenbar ganz etwas anderes.

»Das ist weiter weg als Dänemark, oder?« Beeindruckt rutscht er näher an mich heran. »Und gibt’s da keine Vulkane?«

»Nein, nicht solche wie hier jedenfalls.« Dann packt mich die Angst. Flóki ist nicht bei mir. Wie komme ich ohne ihn jemals wieder von hier fort? Welchen Tag haben wir heute? Vielleicht sollte ich das ganz forsch fragen. Aber das traue ich mich nicht – er hält mich auch so schon für seltsam genug.

»Ja, dann könnt Ihr so was nicht wissen ... wie seid Ihr denn hierhergekommen?«, will der Junge gleich darauf wissen.

»Mit dem Schiff. Schon vor einer Weile«, druckse ich herum. »Aber das ist eine lange Geschichte.«

Seine Augen hellen sich erwartungsfroh auf.

»… und dafür habe ich jetzt leider gar keine Zeit.«

Die Schultern fallen herunter.

Vorsichtig richte ich mich auf. Ein Schaffell rutscht von meinem Oberkörper. Darunter trage ich immer noch dieselben Sachen, mit denen ich aufgebrochen bin – falls Aufbrechen das richtige Wort ist für so eine Reise durch Raum und Zeit. Mitten in den Feuerbezirken bin ich also gelandet, offenbar im Sommer. Sommer ist ein dehnbarer Begriff in Island. Der beginnt traditionell am ersten Donnerstag nach dem 18. April. Großartig. Wie lange noch, bevor uns hier alles um die Ohren fliegt?

Es hilft nichts – ich muss es ihn doch direkt fragen: »Welcher Tag ist heute?«

Der sonderbare Junge lächelt schüchtern. »Noch etwa zwei Wochen, bis der Sonnenmonat Sól beginnt. Wir müssten irgendwo in der siebten Sommerwoche sein. Noch ist Skerpa: Anspitzermonat. Ich kann übrigens gut schnitzen.«

Oh Himmel, hilf. Er rechnet noch nach dem alten Mondkalender! Hrafnhildur hatte auch so einen. Ich konnte mir das nie merken, weil die Daten sich immer verschieben.

»Schön!« Ich zwinge mich zu lächeln. »Und weißt du auch, welches Datum wir nach dem äh … kirchlichen Kalender haben?«

Er stockt einen Moment und zählt etwas an den Fingern ab. »Ja«, verkündet er dann stolz. »Der achte – nein, wartet – der sechste Juni müsste das sein. Ich weiß das so genau, weil …«

Ungeduldig und ziemlich unhöflich unterbreche ich ihn. »Und welches Jahr? Das muss ich wissen.«

Er sieht mich mit großen Augen an. »1783«, sagt er langsam und legt den Kopf schief. Seine Hände kneten den feuchten Lappen, als er beobachtet, wie mir der Schweiß ausbricht. »Geht es Euch nicht gut? Fließt bei Euch die Zeit anders? Verzeiht, ich habe noch nie länger mit jemandem von den Huldu … und Ihr seid wirklich mit dem Schiff gefahren? So weit?«

Mir wird schwindelig. Glaubt er ernsthaft, ich wäre jemand vom Versteckten Volk? Und immer dieses oberhöfliche Ihr und Euch … Ich muss die Augen schließen, zwinge mich wieder, ruhig ein- und auszuatmen. 1783! Und wie es funktioniert hat, auf den Punkt genau. Raum und Zeit. Da wollte ich hin. Und jetzt? Ich muss wirklich auf den Kopf gefallen sein. Wie konnte ich glauben, dass ich bereits wieder zurück wäre? Mein Pferd ist gesund – aber nun sind wir hier gefangen. Oh Flóki, du hast mich gewarnt.

Ich nicke, zum Zeichen, dass ich verstanden habe, auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob der Inhalt der Worte des Jungen ganz zu mir durchgedrungen ist. Vorhin oder gestern – ungefähr zumindest – war noch 1952. Und plötzlich sind es noch zwei Tage bis zur schlimmsten Naturkatastrophe, die Europa seit Hunderten von Jahren gesehen hat. Der Countdown läuft, und mir ist übel, richtig doll übel. Ich will zu meiner Mutsch. Ich will mein Pferd nehmen und ganz weit weg reiten. Was war das nur für eine blöde Idee?

2. Draugur mal zwei

Das Wesen kämpfte. Musste das Mädchen kriegen. Durfte nicht wieder versagen, die Fährte verlieren. Und immer dieser bohrende Hunger. Es kratzte sich am Hals, dort, wo die Kette des Meisters sein Fell weggescheuert hatte. Sie darf nicht zurück, hatte er gesagt. Hol sie, das dumme Kind. Ist nicht von hier, kann nicht so schwierig sein, dämliches Vieh.

Mochte nicht mehr, wollte seine Ruhe haben. Kein schweres Klimperding mehr um den Hals. Nach Hause gehen. Dahin, wo die Erde blubberte. Von unten. Braun oder grün und gelb. Feuerrot auch. Dann musste man aufpassen. Nicht verbrennen. Tat auch weh, das.

Sie waren so laut. Schrien ihn an. Machten Lärm. Pieksten. Und stachen. Wollten ihn nicht zu dem Mädchen lassen. Konnte sie nicht erwischen. Waren flink. Und immer laut. Biss in den Ohren. Und Mäh auch noch. Schafe? Hunger.

Aber der Meister hatte es befohlen. Musste das zu Ende bringen. Sollten leise sein. Alle! Auch das Mäh!

Das Untier stellte sich auf die Hinterbeine, fletschte die Zähne und brüllte. Dann holte es zu einem tödlichen Schlag aus. Alle weg. Vorbei jetzt. Ruhe machen!

Da plötzlich stand alles still. Keine Bewegung. Kein laut. Nur halt. Und bunt. Konnte sich nicht bewegen. Wie das? Das Mädchen war das. Das andere. Die Alte. Und der Junge. Böse. Hörte sie reden. Verstand nicht.

Was war das für ein Wirbel? Farben? Zu Hause? Es hätte gern gewittert, aber es konnte nicht einmal mit der Nase zucken. Spürte nichts. Hörte nur weit weg. Sah zu. Sah, wie das Mädchen zum liegenden Pferdezottel ging, das nach Sterben roch. Den Jungen ansah. Nickte. Und wie der Nebel kam. Mit bunt und Blitzen. Und Farben. Wie Zuhause! Das Wesen spannte all seine Muskeln an. Wollte dahin. Wollte frei sein. Jetzt! In den Strudel. Nicht das Mädchen. Nicht der Junge. Selbst da durch. Nach Hause! Weg da. Alle!

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