In Ihrem Roman zeichnen Sie ein lebendiges und authentisches Bild vom Leben in den Südstaaten in den 1920er Jahren. Gibt es einen besonderen Grund, warum Sie diese Zeit und diesen Ort für Ihren Roman ausgewählt haben? Wie haben Sie zu den Themen recherchiert?
Meine Großmutter ist in Branchville in South Carolina aufgewachsen. Mit schöner Regelmäßigkeit habe ich sie davon erzählen hören, dass sie während ihrer Kindheit die meiste Zeit hungrig war. Schon vor der Weltwirtschaftskrise von 1929 gab es eine schwere Wirtschaftskrise im Süden, die Armut und Hungersnöte verursacht hat. Aus den Geschichten meiner Großmutter weiß ich, unter welchen schlimmen Bedingungen ihre Familie gelebt hat. An ihren Händen hatte sie Narben, weil sie jahrelang Baumwolle gepflückt hat. Als Teenager sind ihre die Zähne ausgefallen, weil sie so schlecht ernährt war.
Als ich ein Kind war, sind wir oft nach Branchville gereist, um meine Urgroßmutter zu besuchen. Sie lebte in dem Haus, das ich im Buch als Mrs. Walkers Haus beschrieben habe. Es war nicht schwierig, Recherchen über eine Zeit und einen Ort anzustellen, mit denen ich so eng verbunden bin. Ich habe während des Schreibens recherchiert. Ich habe Zeit in Branchville verbracht, mit den Leuten dort gesprochen, Gottesdienste und Familien besucht und ihnen zugehört. Ich habe alles gelesen, was ich in die Hände bekommen konnte, über die Region und über den Zug der Baumwollkapselkäfer, aber ich kann nicht erklären, wie und warum die Geschichte sich so entwickelt hat, wie sie es schließlich tat. Viele Entdeckungen, die mich überrascht und begeistert haben, habe ich erst während des Schreibens gemacht – ich habe mich mit einer starken Kraftquelle verbunden gefühlt, und dieses Gefühlt hat meine Arbeit begleitet.
Ihre Protagonistinnen erfahren Diskriminierung aufgrund ihres Geschlechts, ihrer Hautfarbe und ihrer sozialen Stellung. Heute, rund hundert Jahre später, hat sich die Situation für Frauen und People of Color noch immer nicht grundlegend geändert. Warum? Und was müsste Ihrer Meinung nach passieren, um Gleichberechtigung durchzusetzen?
Ist es nicht bemerkenswert, dass Frauen nach all diesen Jahren immer noch dafür kämpfen, die gleichen Rechte wie Männer zu bekommen? Ich habe einige Theorien darüber, warum sich diese Dynamik noch nicht grundlegend verändert hat: Der alte christliche Glaube und das jahrhundertealte patriarchalische System, das heute noch existiert, ziehen immer noch viele Frauen in dem Glauben groß, dass sie ihrer Familie dienen müssen, sonst stimmt etwas mit ihnen nicht. Wenn man nicht zulässt, dass eine Frau oder auch eine ganze Gruppe von Menschen sich über ihren eigenen Wert klar wird, dann kann man sie kontrollieren.
Ich frage mich, wie eine Gesellschaft aussehen würde, in der wir die Bedürfnisse jedes Individuums berücksichtigen. Uns wird beigebracht, dass es selbstsüchtig ist, mehr zu wollen, und dass wir uns dafür schämen sollten. Weil wir Zeit für uns selbst brauchen oder Ehrgeiz zeigen, der über unsere Kultur, unsere Familie und die soziale Norm hinausgeht, sind wir plötzlich ein schlechter Mensch. Warum? Das ergibt für mich keinen Sinn.
Viele Frauen sind sogar wegen ihrer Hautfarbe, ihrer Religion oder ihrer Kultur noch mehr Vorurteilen ausgeliefert. Wir wollen, wir brauchen alle dieselben Dinge: Freiheit, Möglichkeiten, gleiche Bezahlung, Anerkennung und ein Leben, das einem sinnvollen Zweck dient. Das kommt mir ziemlich einfach vor, und trotzdem bekommen wir weiterhin den Kopf getätschelt und gesagt, dass wir zu emotional sind oder nicht verstehen, wie die Welt funktioniert.
Ich glaube, statt Frauen wie das schwächere Geschlecht zu behandeln, sollten wir unsere Kinder so erziehen, dass sie die Kraft haben, die Welt zu verändern.
Wir machen Fortschritte darin, das ganze Spektrum der Geschlechtsidentitäten zu verstehen, aber wir haben noch einen langen Weg vor uns, bevor wir vollends begreifen, dass keiner von uns nur eine einzige Identität hat.
Die drei Frauen in „Alligatoren“ müssen sich in einer von Männern beherrschten Welt beweisen. Sie müssen Gewalt und Diskriminierung ertragen und behalten trotzdem ihre innere Stärke und ihre Solidarität. Wenn man an die aktuelle Debatte über Frauenrechte denkt, was können wir von den Protagonistinnen Ihres Romans lernen?
Veränderung kann entstehen, wenn wir unsere Kräfte vereinen. Das ist es, was Retta, Gertrude und Annie im Laufe des Buches zu verstehen beginnen. Retta sagt, dass sie niemanden kennt, der nicht von Verlusten geprägt ist. Annie ist geprägt durch den Verlust von Buck. Gertrude hat sich durch ihre Handlungen für immer verändert, obwohl sie damit ihr Überleben und das ihrer Töchter gesichert hat.
Keiner von uns hat eine Ahnung davon, was andere ihr Leben lang mit sich herumtragen. Wenn wir im Hinterkopf behalten können, dass wir alle Trauer und traumatische Ereignisse erlebt haben, dann können wir uns vielleicht als Freunde begegnen statt als Feinde, und Balsam für unsere Wunden sein. Ich kenne niemanden, der ein schreckliches Trauma ganz alleine verarbeiten könnte. Wir brauchen einander.
Die #metoo-Bewegung wurde durch die Erkenntnis ins Leben gerufen, dass beinahe jede Frau, die wir auf der Straße treffen, eine Geschichte davon erzählen kann, wie sie von einem Mitglied des anderen Geschlechts misshandelt oder missbraucht wurde.
Ich weiß nicht, was ich in meinem Leben noch sehen werde, aber wenn man wie ich daran glaubt, dass jede Generation ein Echo hinterlässt, dann werden meine Töchter oder die Töchter meiner Töchter vielleicht in einer Zeit leben, in der Gleichberechtigung nicht einfach ein Anspruch ist – sondern eine Tatsache.
Wären die Frauen in dem Roman glücklicher, wenn es überhaupt keine Männer gäbe?
Du lieber Himmel, nein. In diesem Buch gibt es viele gute Männer – Burns, Preacher, Odell, Lonnie, Doktor Southard. Burns ist klar, dass seine Schwester intelligent ist, und er versucht, sie durch seinen eigenen neugierigen Geist zu fördern. Er erinnert sie daran, dass sie wertvoll ist und geliebt wird. Annies Vater hat an sie geglaubt. Retta hat in ihrem Mann Odell einen wirklichen Partner. Die beiden verbindet nicht nur Liebe und gegenseitige Unterstützung, sondern sie bringen das Beste im anderen zum Vorschein. Deswegen hat Retta schließlich den Mut, zu tun, was sie am Ende tut. In diesem Buch sind die guten Männer unglaublich liebevoll.
Aber ich glaube, dass es einen Unterschied zwischen männlicher Energie und der Energie des Patriarchats gibt. Ein Mann will, dass die Menschen, die ihn umgeben, blühen und gedeihen. Die patriarchalische Gesellschaft ist herabwürdigend und bevormundend, und sie wird nicht kampflos untergehen.