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Nordwestnacht

Als Buch hier erhältlich:

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In SanktPeter-Ording weht ein tödlicher Wind
Als ein Filmteam St. Peter-Ording als Drehort auswählt, ist die Freude bei den Anwohnern groß. Besonders der junge Polizeiobermeister Nils Scheffler genießt den Trubel und seine damit verbundene Stellung als Polizeiberater am Set sehr. Doch dann wird einer der Aufnahmeleiter tot aufgefunden, spektakulär an die Stelzen eines Pfahlbaus gekettet. Alsaußerdem die zweite Hauptdarstellerin verschwindet, drängt Nils, der sich in sie verliebt hat, darauf, dass hier etwas nicht stimmen kann. Gemeinsam mit den Kommissaren Hendrik Norberg und Anna Wagner beginnt er im Fall der Vermissten zu ermitteln. Und dieser ist verworrener, als es zunächst scheint ...


  • Erscheinungstag: 22.03.2022
  • Aus der Serie: Ein Fall Für Die Soko St. Peter Ording
  • Bandnummer: 3
  • Seitenanzahl: 384
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749903399

Leseprobe

Dieses Buch ist ein Roman. Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden.
Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen wäre rein zufällig und nicht von mir beabsichtigt.

Sonntag, 24. Mai

Anna Wagner stieß einen wohligen Seufzer aus, als feste Arme sie umschlangen und sich ein warmer Körper an ihren Rücken presste.

»Schlaf weiter«, raunte eine Stimme an ihrem Ohr, und in diesem Dämmerzustand, der das Erwachen begleitet, wurde ihr bewusst, dass das beharrliche Summen und das leise Murmeln, das sie einem Traum zugeordnet hatte, der Wirklichkeit entsprungen waren.

Sie brauchte einen Augenblick, um in der Realität anzukommen, dann gähnte sie herzhaft und tastete mit der Hand hinter sich, aber die andere Seite des Bettes war bereits leer. Nur das Smartphone, das jetzt verstummt war, lag noch dort.

Bereitschaftsdienst. Manchmal hasste sie dieses Wort. Immer dann, wenn es den neuen Mann an ihrer Seite davon abhielt, ein ganzes Wochenende mit ihr zu verbringen, weil er wieder zu einem aktuellen Einsatz gerufen wurde. Konnte das Verbrechen denn nicht wenigstens am Wochenende Pause machen?

Sie schwang die Beine aus dem Bett, streifte den Bademantel über und ging zum Fenster, um die Jalousien hochzuziehen und einen Blick in den Garten zu werfen. Sonntagmorgen, acht Uhr, nur das Zwitschern der Vögel war durch das gekippte Fenster zu vernehmen. Eine schwarze Katze streifte über den Rasen, hielt kurz inne und blickte sich um, um ihren gemächlichen Weg dann fortzusetzen und mit einem plötzlichen Sprung in der Blumenrabatte zu verschwinden, die den hinteren Bereich des Grundstücks begrenzte.

Anna gähnte erneut und tapste dann auf nackten Sohlen die Treppe ins Erdgeschoss hinunter, wo ihr Aki auf dem Flur entgegengelaufen kam und sie mit freudigem Gebell begrüßte. Aus dem Bad war das Rauschen der Dusche zu vernehmen, in das sich ein misstönender Singsang mischte. Unglaublich, wie munter manche Menschen am frühen Morgen schon waren.

Anna hockte sich hin und streichelte den Belgischen Schäferhund, den Hauke am Vorabend wieder ins Wohnzimmer verbannt hatte, ausgiebig. »Na, mein Schöner, hast du Hunger?«

Der fünfjährige Malinois-Rüde mit dem braunen Fell und der schwarzen Schnauze folgte ihr schwanzwedelnd in die Küche, wo sie seinen Napf mit der speziellen Futtermischung füllte, die Hauke am Vortag mitgebracht hatte. Anna lehnte sich gegen die Arbeitsplatte und lachte, als Aki sich über sein Fressen hermachte. »Ach, du Armer, man könnte ja glauben, dass du seit Tagen nichts mehr bekommen hast.«

»Dieser Hund wird mir noch mal die Haare vom Kopf fressen. Ohne sein tägliches Training würde er kugelrund werden.« Hauke war im Türrahmen aufgetaucht, die Haare noch nass vom Duschen, ein Handtuch um die Hüften geschlungen. Sein Gesicht drückte Bedauern aus, als er auf sie zukam und sie in die Arme schloss. »Tut mir leid, dass ich losmuss.« Er gab ihr einen Kuss und löste sich nach einigen atemlosen Momenten nur widerstrebend von ihr.

»Mir auch«, sagte sie bekümmert, »aber es hilft ja nichts. Wir haben uns unsere Jobs schließlich freiwillig ausgesucht.« Sie blickte fragend zu ihm hoch. »Was ist denn passiert?«

»Versuchter Totschlag in Eckernförde. Mal wieder eine Beziehungskiste. Der Täter wird noch im Umkreis der Opferwohnung vermutet.« Voller Unverständnis schüttelte er den Kopf. »Diese Taten nehmen langsam Ausmaße an, das ist echt nicht zu fassen. Ich habe vor Kurzem gelesen, dass mittlerweile täglich ein Mann versucht, seine Partnerin, Frau oder Ex-Frau umzubringen.«

»Und jeden dritten Tag gelingt dieser Versuch«, ergänzte Anna. »Ich habe den Artikel auch gelesen.«

»Und die Strafen sind teilweise so was von milde, da kann man nur den Kopf schütteln.« Hauke wischte sich über das Gesicht, seine sonst so heitere Miene war düster geworden. Er warf einen raschen Blick zur Küchenuhr. »Ich muss los.«

»Soll ich dir noch ein schnelles Frühstück machen?«

Hauke stibitzte eine Banane und einen Apfel aus dem großzügig gefüllten Obstkorb auf der Arbeitsplatte und ging zur Tür. »Keine Zeit.«

Fünf Minuten später war er zum Aufbruch bereit und verabschiedete sich mit einem Kuss und den Worten ich melde mich.

Seufzend schloss Anna die Haustür hinter ihm und Aki und blieb einen Augenblick lang unentschlossen im Flur stehen. Hauke und sie hatten einen entspannten Strandtag geplant, da die Wettervorhersage einen weiteren herrlichen Sommertag mit bis zu sechsundzwanzig Grad angesagt hatte. Der Sommer hatte sich wie in den Vorjahren bereits im Mai eingestellt, und wenn man den Vorhersagen Glauben schenken konnte, würde er wieder mit heißen Temperaturen aufwarten.

Sie ging ins Wohnzimmer und öffnete die doppelflügelige Terrassentür. Trotz der frühen Tageszeit strömte bereits warme Luft ins Zimmer. Die Vögel überschlugen sich mittlerweile vor Lebenslust, und der Garten explodierte geradezu. Anna hatte zum Glück einen grünen Daumen und seit ihrem Einzug im Januar kräftig gewerkelt und gepflanzt, damit pünktlich zum Frühlingsbeginn alles fertig war.

Einen Moment lang überlegte sie, ob sie den Strandtag ohne Hauke durchziehen oder sich etwas anderes vornehmen sollte. Sie war jetzt seit zwei Monaten mit dem ein Jahr älteren Kollegen zusammen, den sie bei einer Zusammenarbeit im Januar kennengelernt hatte. Hauke Dammann arbeitete als Hundeführer bei der Polizeidirektion Kiel, und nach ihrem Kennenlernen hatte sie ihn zunächst auf Abstand gehalten. Zu sehr hatte sich Norbergs Warnung in ihrem Hinterkopf festgesetzt, was den enormen Frauenverschleiß ihres gemeinsamen Kollegen betraf. Aber Hauke hatte nicht nachgelassen in seinem Bemühen, und irgendwann war sie dann doch schwach geworden. Er tat ihr gut und brachte sie zum Lachen und war somit genau das, was sie nach ihrer Scheidung gebraucht hatte. Sie wollte nicht darüber nachdenken, ob es etwas Dauerhaftes werden würde, dazu war es noch viel zu früh. Sie wollte einfach nur das Zusammensein mit Hauke genießen und sich von der Leichtigkeit, mit der er durchs Leben ging, anstecken lassen.

Spontan beschloss sie, den Strand für heute zu vergessen und stattdessen eine Radtour zu unternehmen. Seitdem sie wieder mit dem Malen begonnen hatte, stand der Besuch einiger Galerien schon länger auf ihrem Programm, und da Hauke nicht sonderlich daran interessiert war, würde sie die unverhoffte Gelegenheit beim Schopf packen und einigen von ihnen einen Besuch abstatten.

Seit Nils Scheffler am Freitagnachmittag diesen merkwürdigen Zettel auf dem Küchentisch von Julias Ferienhaus hatte liegen sehen, war es mit seiner Ruhe vorbei. Darauf angesprochen, was es damit auf sich hätte, hatte er im ersten Moment den Eindruck gehabt, dass Julia ihn abwimmeln wollte, aber nach einigem Zögern hatte sie ihm schließlich anvertraut, dass sie seit einiger Zeit von einem Stalker belästigt wurde.

Der Zettel war unter der Tür des Ferienhauses durchgeschoben worden, und diese Tatsache war für Nils mindestens ebenso beängstigend gewesen wie die in einer ausgeprägt nach rechts geneigten Schrift verfassten Worte Jetzt bist du fällig, bedeutete dies doch, dass der Stalker nicht nur wusste, wo Julia während der Dreharbeiten wohnte, sondern ebenfalls eine, wie auch immer gemeinte, Drohung wahrzumachen gedachte.

»Nils?«

Hendrik Norberg musterte ihn mit einem verblüfften Ausdruck, nachdem er die Haustür geöffnet hatte. Was mit Sicherheit vor allem daran lag, dass Nils die Klingel in seiner Aufregung etwas zu lange gedrückt hatte.

»Tut mir leid, dass ich am Wochenende störe, aber die Sache ist dringend.« Wäre Norberg vor Ort gewesen, hätte Nils ihn bereits am Freitagabend informiert. Da der Dienststellenleiter aber am Himmelfahrtstag mit seinen beiden Söhnen zu einem Kurzurlaub bei seinem Vater in Stockholm aufgebrochen und erst heute Mittag nach St. Peter-Ording zurückgekehrt war, hatte Nils nur mit Anna und den beiden Kollegen des Bereitschaftsdienstes sprechen können, wobei Letzteres eine ausgesprochen unerfreuliche Erfahrung für ihn gewesen war. Die Kollegen hatten nämlich große Skepsis an den Tag gelegt und gemeint, dass sich Schauspieler ja immer so einiges einfallen lassen würden, um auf sich aufmerksam zu machen beziehungsweise im Gespräch zu bleiben. Erst recht, wenn sie erst zweiundzwanzig Jahre alt wären und die erste große Rolle in einer bekannten Serie ergattert hätten. Da müsse man kräftig die Werbetrommel rühren, damit es auch jeder mitbekäme. Deshalb solle besser Norberg entscheiden, ob der Zettel ernst zu nehmen sei und falls ja, wie es dann weiterginge. Die Sprüche hatten Nils ziemlich erbost, weil Julia ein solches Verhalten nun wirklich nicht nötig hatte.

Anna hingegen hatte die Angelegenheit nicht auf die leichte Schulter genommen, das von ihr vorgeschlagene Gespräch mit Julia war allerdings nicht zustande gekommen, da diese sich bereits auf den Weg zu ihren Eltern gemacht hatte, wo sie das Wochenende und einen Teil des drehfreien Montags verbringen wollte. Diese Entscheidung hatte Nils beruhigt, war sie so doch wenigstens kurzfristig aus der Schusslinie.

»Komm rein.« Norberg gab die Tür frei, und Nils betrat den Flur des Einfamilienhauses, das Norberg seit dem Tod seiner Frau im vergangenen Jahr mit seinen Söhnen Finn und Lasse allein bewohnte. Ein Trolley stand neben der Treppe in den ersten Stock, auf den Stufen lag eine Reisetasche.

Norberg wies auf eine offen stehende Tür zur Linken. »Geh schon mal ins Wohnzimmer, ich komm gleich nach.« Er verschwand in dem gegenüberliegenden Raum, der Küche, wie Nils nach einem kurzen Blick im Vorübergehen feststellte.

»Willst du auch einen Kaffee?«, hörte er Norberg rufen.

»Gerne.« Nils ließ seinen Blick durchs Wohnzimmer schweifen. Warme Farben, viel Holz, kaum Nippes, aber eine Reihe von Fotos, auf denen Norberg mit seinen beiden Söhnen, die Nils mittlerweile kennengelernt hatte, und einer attraktiven Frau zu sehen war. Nils vermutete, dass es sich um Norbergs verstorbene Ehefrau Kathrin handelte, der er nicht mehr begegnet war, da Norberg erst nach ihrem Tod die Dienststellenleitung in St. Peter-Ording übernommen hatte.

Norberg kam mit zwei Bechern Kaffee zurück und stellte einen davon vor Nils ab, bevor er auf dem Sofa Platz nahm. »Ach so«, sagte er unvermittelt, »nimmst du Milch und Zucker? Sorry, aber so was kann ich mir einfach nicht merken.«

»Alles okay, ich trinke ihn grundsätzlich schwarz.«

Auf der Treppe waren polternde Schritte zu hören, kurz darauf stand Norbergs ältester Sohn Lasse in der Tür. Ein kurzes Nicken in Nils’ Richtung, dann machte er auf dem Absatz kehrt. »Ich bin noch mal weg.«

Norberg schien zu einer Antwort ansetzen zu wollen, aber die ins Schloss fallende Haustür signalisierte, dass sie den Empfänger nicht mehr erreicht hätte.

»Was ist denn so wichtig?«, fragte Norberg, nachdem er sich mit einem ergebenen Seufzer auf der Couch zurückgelehnt hatte.

»Es geht um Julia Manshardt«, sagte Nils. »Eine der beiden Hauptdarstellerinnen der Krimiserie, die hier gerade gedreht wird«, ergänzte er auf Norbergs verständnislosen Blick hin. Anna und Norberg hatten zwar zugestimmt, dass Nils dem Produktionsteam zur Seite stand, wenn es um polizeiliche Fragen ging und seine Zeit Hilfestellung erlaubte, aber im Gegensatz zu Nils hatte sich bislang noch keiner der beiden für die Dreharbeiten und die Schauspieler interessiert.

Nils hingegen war Feuer und Flamme gewesen, als die Anfrage vor drei Monaten an sie herangetragen worden war. Polizeiliche Unterstützung beim Dreh einer weiteren Staffel von Tödlicher Norden, einer Serie, die seit zwölf Jahren ein Millionenpublikum begeisterte. Bereits als kleiner Steppke hatte Nils voller Begeisterung bei den Dreharbeiten der letzten Staffel der Surfer-Serie Gegen den Wind zugeschaut, und auch beim Dreh des Kinofilms im vergangenen Jahr, in dem sich einige aus der alten Surferclique nach Jahren wiedertrafen, war er häufig dabei gewesen und einmal sogar als Komparse eingesetzt worden. Wenn er nicht für den Polizeiberuf gebrannt hätte, wäre er mit Sicherheit beim Film oder Fernsehen gelandet.

»Julia … äh, Frau Manshardt hat das hier erhalten.« Nils zog das Schreiben, das er in einer Asservatentüte gesichert hatte, aus seiner Jackentasche und reichte es Norberg, der mit gerunzelter Stirn die vier Worte las. »Es wurde unter der Tür ihres Ferienhauses durchgeschoben.« Seine Aufregung verstärkte sich. »Julia wird seit Längerem von einem Stalker bedroht, Hendrik. Und diese Drohung kann nur von ihm stammen. Wir müssen ihr Personenschutz geben!«

»Nun mal halblang«, erwiderte Norberg und ließ den Zettel auf den Couchtisch sinken. »Was sagt denn Frau Manshardt dazu? Ist ihr bekannt, um wen es sich bei dem Stalker handelt?«

Nils zögerte, als er sich an Julias Reaktion auf seine diesbezügliche Frage erinnerte. Es hatte den Anschein gehabt, dass sie sich ihre Antwort erst überlegen musste. Auch den Zettel hatte sie anfangs nicht rausrücken wollen.

»Nils …?«

Nils wischte den Gedanken beiseite. Warum hätte sie ihn belügen sollen? »Nein, sie weiß nicht, um wen es sich handelt.«

»Hat sie denn wenigstens eine Ahnung?«

Nils schüttelte den Kopf.

»Und seit wann wird sie gestalkt?«

»Seit vier Monaten.«

»Hat sich Frau Manshardt denn an die Polizei gewandt? In ihrem Wohnort zum Beispiel?«

Nils kam sich langsam dämlich vor, weil er auch diese Frage mit Nein beantworten musste. »Sie hat das gestern runtergespielt und gesagt, dass sie das schon kennen würde. Da käme ab und an mal so ein Brief, aber nichts würde passieren. Das könne man doch nicht ernst nehmen. Deshalb sei sie auch nicht zur Polizei gegangen.« Eine befremdliche Aussage, wie Nils fand, da dies doch normal gewesen wäre. Zumal er Julias Angst gespürt hatte, denn das Zittern in ihrer Stimme, die fahrigen Bewegungen, mit denen sie sich durch das Haar gestrichen hatte, und ihr Blick, der seinem nicht hatte standhalten können, waren eindeutige Signale gewesen.

»Also, ich weiß nicht …«, Norberg sah ihn mit einem skeptischen Blick an.

»Was weißt du nicht?« Die Worte waren aggressiver herausgekommen als beabsichtigt, weil Nils plötzlich fürchtete, sich auch von Norberg einen blöden Spruch anhören zu müssen, was die Mediengeilheit von Schauspielern anbelangte.

Norberg erwiderte nichts, sondern sah ihn nur unverwandt an, bis Nils sich schließlich zu einer Erklärung genötigt fühlte. »Sie ist nicht der Typ, der so etwas selbst inszeniert, um damit Aufmerksamkeit zu erregen. Das hat sie überhaupt nicht nötig!«

»Wenn ich dich richtig verstanden habe, ist die Rolle in dieser Serie erst ihre zweite. Also dürfte sie noch kaum jemand kennen. Da hat sie Publicity schon nötig.«

»Aber sie wusste gestern doch gar nicht, dass ich vorbeikomme! Da macht eine herumliegende Fake-Drohung ja überhaupt keinen Sinn.«

»Jetzt sei mal ehrlich, Nils! Wenn du eine Inszenierung ansprichst, ist dir dieser Gedanke doch auch schon gekommen.«

»Nein, ist er nicht! Aber da kamen ein paar blöde Sprüche von Sören und Lars, als ich sie Freitagabend darauf angesprochen habe. Anna war die Einzige, die die Angelegenheit ernst genommen hat.«

»Hat Anna Frau Manshardt denn dazu befragt?«

Nils schüttelte den Kopf. »Sie wollte es, aber Julia war bereits auf dem Weg zu ihren Eltern. Sie hatte geplant, das Wochenende bei ihnen zu verbringen.« Verzagt blickte er Norberg an. »Was machen wir denn jetzt?«

»Dreht Frau Manshardt morgen wieder?«

»Nein, morgen hat sie frei. Sie wollte gegen Mittag zurückkommen.«

»Also gut, dann werde ich sie morgen aufsuchen und mit ihr sprechen. Ich muss mir ein Bild machen, damit ich das einordnen kann.«

»Julia ist ein gradliniger Mensch, Hendrik«, sagte Nils eindringlich. »Sie würde nie auf die Idee kommen, sich so etwas auszudenken.«

»Bist du dir da so sicher? Du kennst sie doch viel zu kurz, um das beurteilen zu können.«

»Ich kann das beurteilen!«, sagte Nils aufgebracht. Es wurmte ihn, dass Norberg die Meinung der beiden Kollegen zu teilen schien.

»Ich will dir nicht zu nahe treten, Nils«, erwiderte Norberg nach einem Augenblick, in dem er ihn aufmerksam gemustert hatte, »aber kann es sein, dass du ein bisschen voreingenommen bist, was Frau Manshardt betrifft?«

Hitze erfasste Nils, und er spürte zu seinem Entsetzen, dass er rot anlief. Waren seine Gefühle für Julia denn wirklich so offensichtlich? »Ich … nein …« Normalerweise war er nicht um Worte verlegen, aber in dieser Situation wollte ihm einfach keine Erwiderung einfallen.

»Okay, lassen wir das«, fuhr Norberg zu seiner großen Erleichterung fort. »Aber du musst zugeben, dass es nicht von der Hand zu weisen ist, dass wir es hier mit einer Publicitymasche zu tun haben könnten. Sie muss ja nicht von Frau Manshardt selbst initiiert worden sein, sondern unter Umständen von anderen Personen im Team oder deren Umfeld. Diese Filmfritzen dürften doch Erfahrung im Rühren der Werbetrommel haben. Ein Hinweis an die Presse, dass eine der Hauptdarstellerinnen von einem Stalker bedroht wird, natürlich mit den entsprechenden Posts in den Social-Media-Kanälen, und schon ist die höchste Aufmerksamkeit garantiert.«

»Verdammt noch mal, wieso nimmt eigentlich niemand außer Anna und mir diese Drohung ernst?«, fragte Nils aufgebracht.

»Du musst mir schon zugestehen, dass ich die Angelegenheit etwas differenzierter sehe als du«, erwiderte Norberg kühl.

Und jetzt kommt gleich wieder der Spruch mit der größeren Erfahrung, dachte Nils erzürnt. Aber dazu kam es nicht, was er für einen Moment fast bedauerte, denn in seiner momentanen Stimmung hätte er eine richtig patzige Antwort vom Stapel gelassen.

Da Norberg keine Anstalten machte, seinem letzten Satz noch etwas hinzuzufügen, erhob sich Nils. »Danke für deine Zeit. Ich finde alleine raus.«

Zwanzig Minuten später hatte Nils die Böhler Strandüberfahrt erreicht und nahm den Radweg hinunter zum Strand. Die Bewegung hatte ihm gutgetan, auch wenn er sich auf dem Deich aufgrund zahlreicher Fußgänger und weiterer Radfahrer nicht so hatte auspowern können wie erhofft. Trotzdem war er wieder runtergekommen und fand seinen Abgang mittlerweile unterirdisch. Schließlich hatte Norberg zugesagt, mit Julia zu sprechen, und genau das hatte er, Nils, sich ja erhofft. Denn Anna wäre ab Dienstag in Urlaub und würde es unter Umständen an ihrem letzten Arbeitstag nicht mehr schaffen.

Wie immer, wenn er den Strand erreichte und seinen Blick schweifen ließ, überfiel Nils das Gefühl, auf einem fremden Planeten gelandet zu sein. Der Böhler Strandbereich umfasste eine schier unendliche Fläche, auf der sich die Menschen selbst im Hochsommer verliefen. Auch jetzt konnte er nur einige winzige Farbtupfer in weiter Ferne ausmachen. Hier kamen überwiegend Familien mit ihren Kindern her, auch wenn es ein langer Weg bis zum Wasser war. Vom Deich brauchte man bei Ebbe zu Fuß eine Dreiviertelstunde. Wer schneller vorankommen wollte, nahm den Pkw oder den Bus, dessen Haltestelle sich am Beginn des Strandes befand.

Für Nils war dieser Ort der Inbegriff von Freiheit. Als wäre er allein in einem unendlichen Universum. Eine Empfindung, die ihn selbst als Kind nicht geängstigt hatte, ganz im Gegenteil. Sie hatte ihm immer Kraft gegeben, und so war es auch dieses Mal.

Er würde gerne einmal mit Julia hierherkommen und versuchen herauszufinden, ob sie ebenso empfand. Wie er überhaupt alles über sie wissen wollte. Weil es ihn zum ersten Mal in seinem Leben so richtig erwischt hatte.

Nachdem Nils gegangen war, dachte Norberg noch einmal über das Gespräch nach. Dass sich sein Kollege in Julia Manshardt verguckt hatte, war Norberg und Anna schon kurz nach Beginn der Dreharbeiten aufgefallen, wenn Nils wieder mal mit leuchtenden Augen von der Schauspielerin geschwärmt hatte.

Norberg hoffte, dass ein Gespräch mit Frau Manshardt ihm zu einer Einschätzung verhelfen würde. Falls er den Eindruck gewinnen sollte, dass sie tatsächlich einer Bedrohung ausgesetzt war, hatte er allerdings nur wenig Handhabe, um etwas zu unternehmen. Könnte sie den Namen eines Stalkers nennen, bestünde die Möglichkeit, eine Gefährderansprache an diesen zu richten. Unter Umständen könnte auch ein Annäherungsverbot ausgesprochen werden. Beide Maßnahmen waren allerdings stumpfe Schwerter, dessen war sich Norberg wohl bewusst. Viele Männer ließen sich davon nicht im Geringsten abschrecken.

Falls Julia Manshardt allerdings wirklich keine Ahnung haben sollte, wer diesen Brief verfasst hatte, sah die Angelegenheit schlecht aus. Es war nicht möglich, in einem solchen Fall jemanden zum Schutz der betreffenden Person abzustellen, es musste erst etwas passieren, bevor die Polizei eingreifen konnte. So lautete das Gesetz. Ganz abgesehen davon hätte er auch niemanden dafür übrig gehabt. Auch wenn er davon ausging, dass Nils sich sofort freiwillig angeboten hätte.

Norberg hatte die Anfrage der Produktionsfirma zunächst mit Skepsis betrachtet, sich nach der Lektüre der zugesandten Drehbücher allerdings zur Hilfestellung bereit erklärt, weil die Darstellung ihrer Arbeit eine Reihe von Fehlern enthielt. Wie schon häufiger beim Ansehen von Fernsehkrimis oder beim Lesen von Kriminalromanen hatte er sich auch dieses Mal gefragt, warum Autoren eigentlich nicht ihre Hausaufgaben machen konnten.

Auf seine Nachfrage hatten allerdings sämtliche Kollegen abgewunken. Bis auf Nils, der seine Begeisterung nicht verbergen konnte. Er hatte in den vergangenen Wochen zusammen mit Anna einen alten Vermisstenfall bearbeitet, und da nach dem erfolgreichen Abschluss jetzt nur noch Schreibkram zu erledigen war, hatte sie zugestimmt, dass er dem Fernsehteam bei Bedarf unter die Arme griff.

»Papa?«

Der achtjährige Finn war in der Tür aufgetaucht und blickte ihn erwartungsvoll an.

»Ich komme.« Norberg hatte dem Stöpsel vorgeschlagen, eine Pizza essen zu gehen, nachdem sich Lasse in der Zwischenzeit mit dem Hinweis gemeldet hatte, dass er nicht zum Abendessen heimkommen werde. Sein Ältester hatte seit einem halben Jahr eine Freundin, viel zu früh, wie Norberg fand, schließlich war Lasse erst vierzehn. Aber die Zeiten hatten sich nun mal geändert, das musste er akzeptieren, auch wenn es ihm in manchen Dingen nicht leichtfiel. Als er mit seinem Sohn über Verhütung sprechen wollte, hatte ihn dieser nur entnervt angesehen und gefragt, wie oft er ihn denn noch aufklären wolle. Außerdem hätten sie bisher keinen Sex gehabt, weil Tina das noch nicht wollte.

»Ist es okay, wenn ich noch zu Daniel fahre?«, wollte Finn wissen. »Wir haben uns jetzt sooo lange nicht gesehen.«

Norberg unterdrückte ein Grinsen. Das hätte er sich ja denken können, dass sich auch Finn verabreden würde, kaum dass sie wieder zu Hause waren. Dabei waren sie nur vier Tage fort gewesen. Norberg setzte eine betretene Miene auf. »Nur zu. Lasst euren alten Vater ruhig allein.«

»Ooooch, Papa.« Finn setzte seinen treuherzigsten Blick ein, mit dem er fast immer durchkam. So auch jetzt, obwohl Norberg sich gefreut hätte, noch ein wenig Zeit mit ihm zu verbringen. Ab morgen würde diese nämlich wieder knapp werden, da auf der Dienststelle noch eine Reihe von Dingen der Erledigung harrte, die er schon vor seinem Kurzurlaub angeschoben hatte.

»Zisch ab!« Daniel Hartwigsen und seine Eltern wohnten nur einige Straßen entfernt, sein Vater Philipp war Norbergs bester Freund. Trotzdem hatte er nach Kathrins Tod im März des vergangenen Jahres lange gebraucht, um ihm seinen Kummer zu offenbaren und die Unzulänglichkeit, die er jetzt im Umgang mit seinen beiden Söhnen empfand, für die er viel zu wenig Zeit hatte. »Um acht bist du wieder hier! Spätestens, hörst du! Sag Bescheid, wenn ich dich abholen soll.«

»Musst du nicht, da ist es doch noch hell.«

Nachdem Finn das Haus verlassen hatte, stand Norberg etwas ratlos im Zimmer herum und ging dann in die Küche, um den Kühlschrank zu inspizieren. Seine Schwiegermutter hatte ihn aufgefüllt, aber bei diesem schönen Wetter stand Norberg nicht der Sinn danach, ein einsames Abendessen zu Hause einzunehmen. Also machte er sich auf den Weg zur Strandhütte, dem Pfahlbaurestaurant am Südstrand, das fußläufig bei einigermaßen guter Kondition in zwanzig Minuten zu erreichen war.

Der Außenbereich war gut besucht, aber noch nicht überfüllt. Als Norberg auf einen freien Tisch zusteuerte, sah er Anna an einem der Nebentische sitzen. Sie schien erst vor Kurzem gekommen zu sein, da bisher nur ein Getränk vor ihr stand und sie die Speisekarte studierte.

Norberg zögerte. Es wäre das Normalste der Welt gewesen, zu ihr zu gehen und zu fragen, ob sie allein wäre und er sich zu ihr setzen könne. Sie gehörte nicht zu den Frauen, die lieber zu Hause blieben, als allein essen zu gehen, und sie würde sich ohne Begleitung auch niemals an einen Katzentisch verbannen lassen. Also bestand die Möglichkeit, dass sie auch heute Abend niemanden erwartete. Trotzdem schreckte er davor zurück, sie anzusprechen, er wollte nicht aufdringlich sein. Dabei verband sie mittlerweile eine Freundschaft, die in den vergangenen Monaten beständig gewachsen war und ihm sehr viel bedeutete. Als ein ehemaliger Kollege im Januar aus Rache einen Brand im Keller von Norbergs Haus gelegt hatte, war Anna durch Zufall zur Stelle gewesen und hatte so Schlimmeres verhindern können. Durch ihr schnelles und beherztes Eingreifen hatte sie seine Söhne gerettet, und zu einem Übergreifen des Brandes auf das Haus war es dank der rechtzeitig informierten Feuerwehr nicht gekommen.

»Hendrik!« Sie hatte ihn entdeckt und winkte ihn zu sich. »Setz di her!« Ab und an verfiel sie noch in die bayerische Mundart. »Oder hast du noch jemanden bei dir?«, fragte sie, als er an den Tisch herangetreten war.

Norberg schüttelte den Kopf. »Nein, ich bin allein. Und du?«

»Ich auch.« Sie lächelte verschmitzt. »Du störst also nicht, falls dir das Sorge bereiten sollte.«

Bisweilen verwirrte es ihn, wie gut sie ihn inzwischen kannte.

»Oder willst du lieber allein essen?« Die Grübchen in ihren Wangen vertieften sich.

»Nein. Ich hatte nur gedacht, dass Hauke vielleicht noch kommt. Da wollte ich nicht stören.« Er wusste nicht so recht, was er von dieser Beziehung halten sollte, Hauke Dammann war als Frauenheld verschrien. Norberg hoffte, dass Anna eine Enttäuschung erspart bleiben würde, schließlich lag ihre Scheidung noch nicht allzu lang zurück. Aber sie hatte seinen diesbezüglichen Hinweis in den Wind geschlagen, und er war nicht weiter in sie gedrungen, weil es ihm nicht zustand, sich in ihr Leben einzumischen.

Anna verzog das Gesicht. »Er musste heute Morgen zu einem Einsatz. Ich hab ihm eine Nachricht geschickt, dass ich jetzt hier bin, aber er hat sich noch nicht gemeldet. Und falls er doch noch kommen sollte, musst du dich nicht an einen Nachbartisch setzen, okay?« Sie zwinkerte ihm zu und nahm einen großen Schluck von ihrem Weißbier. »Wie war’s in Stockholm?«

»Na ja …«, sagte er gedehnt, »so weit gut.« Der Kurzurlaub war auf Drängen von Lasse zustande gekommen, der seinen Großvater wiedersehen wollte.

Ihr Blick war skeptisch. »Soll heißen?«

»Die Jungs fanden es klasse. Mein Vater hatte ja immer schon einen guten Draht zu Lasse, und mit Finn konnte er jetzt auch etwas anfangen. Als Lennart seinerzeit zurück nach Stockholm gezogen ist, war der Stöpsel ja erst drei Jahre alt.«

»Und wie war es für dich? Bist du deinem Vater wieder nähergekommen?«

Vor seinem Urlaub hatte es zwischen Anna und ihm einmal ein Gespräch gegeben, in dem er auf die Querelen zu sprechen gekommen war, die ihn und seinen Vater entzweiten. »Wir arbeiten dran und haben vereinbart, uns jetzt öfter zu besuchen. Mal sehen, ob das was bringt.« Er bestellte ein Bier bei der Kellnerin, die ihm eine Speisekarte gebracht hatte. Während Anna ihre Bestellung aufgab, warf er einen Blick in die Karte und entschied sich für ein Rinderfilet. Endlich mal wieder ein Stück Fleisch zwischen die Zähne bekommen, in Stockholm hatte es nämlich nur vegetarische Kost gegeben. Sein Vater Lennart war ein leidenschaftlicher Koch und hatte dieses Talent offensichtlich an Lasse vererbt, der schon einige Male erwähnt hatte, dass er keinen Bock auf ein Studium hätte, sondern lieber eine Ausbildung zum Koch machen würde.

»Nils hat übrigens mit mir über eine Schauspielerin gesprochen, die zu dem Team gehört, das hier gerade diese Krimiserie dreht«, sagte Anna, nachdem die Kellnerin wieder gegangen war. Seine Kollegin schob die Sonnenbrille in die Haare, während sie sich im Stuhl zurücklehnte, und wirkte beneidenswert entspannt.

»Ich weiß, bei mir war er vorhin auch.«

»Was hältst du von der Sache?«

Er zuckte mit den Schultern. »Schwer zu sagen. Bevor ich nicht mit ihr gesprochen habe, kann ich mir kein Urteil bilden.«

»Nils ist ziemlich besorgt.«

»Nils ist ziemlich verknallt.«

Anna lachte. »Ja, das ist wirklich nicht zu übersehen. Obwohl er sich alle Mühe gibt, es zu verbergen.«

Norberg sprach die Überlegungen an, die ihm spontan durch den Kopf gegangen waren und gegen eine tatsächliche Bedrohung sprachen. Nachdem er geendet hatte, nickte Anna. »Du hast recht, das ist alles nicht von der Hand zu weisen. Aber davon wollte Nils ganz sicher nichts hören, oder?«

»Sein Abgang vorhin war nicht von schlechten Eltern. Ich hätte ihn für erwachsener gehalten.« Norberg nahm einen großen Schluck von seinem Bier, das mittlerweile vor ihm abgestellt worden war. »Ich spreche morgen mit Frau Manshardt, und danach bin ich dann hoffentlich schlauer. Falls es wirklich eine Bedrohung geben sollte, muss ich mich mit dem Produzenten, oder wer auch immer bei denen das Sagen hat, in Verbindung setzen.«

»Die werden dann sicherlich erwarten, dass du jemanden zu Frau Manshardts Schutz abstellst.«

»Davon ist auszugehen, aber diesen Zahn muss ich ihnen ziehen. Da müssen sie sich was anderes überlegen.«

»In Hollywood haben die doch alle ihre Bodyguards«, sagte Anna und wedelte sich mit einem Fächer Luft zu. Die Luft stand, der Himmel hatte sich zugezogen, und wie es aussah, würde sich heute noch etwas entladen. »Ich kenne mich in dem Bereich ja so gar nicht aus, aber so etwas müsste doch über die Produktionsfirma laufen.«

»Das ist aber immer eine Frage des Geldes. Und da hört die Fürsorge dann unter Umständen auf.«

»Hilfe!«

Der Schrei gellte über die Sandbank und das auflaufende Wasser, das von Minute zu Minute höher stieg. Er hatte mittlerweile jegliches Zeitgefühl verloren und sann verzweifelt darüber nach, wann die Flut an diesem Morgen ihren Höchststand erreichen würde. Sie studierten die Zeiten jeden Tag und hatten auch die Aktualisierungen ständig im Blick, und wenn ihn seine Erinnerung nicht trog, dürfte es heute gegen drei Uhr sein.

»Hilf… Hil…«, die Stimme wollte ihm nicht mehr gehorchen, der einsetzende Hustenreiz erschütterte seinen ganzen Körper. Als er endlich verebbte, versuchte er, sich ein weiteres Mal hochzuhieven und an die Querstrebe zu klammern, aber seine Kräfte verließen ihn zusehends, und so sackte er erneut nach unten in das kalte Wasser. Die Fesseln schnitten in seine Handgelenke, sein qualvolles Stöhnen verhallte ungehört, ebenso wie die Hilfeschreie. Seine festgeketteten Füße spürte er schon lange nicht mehr, sein Körper fühlte sich mittlerweile wie ein Eisblock an. In diesem Moment dachte er zum ersten Mal daran, sich in sein Schicksal zu ergeben. Denn wer sollte ihn hier zu dieser nächtlichen Stunde hören? Das Wetter war zunehmend schlechter geworden, seitdem er wieder zu Bewusstsein gekommen war und realisiert hatte, dass er hier angekettet war. Immer wieder waren Regenschauer heruntergeprasselt. Auch jetzt begann es erneut zu schütten, und der Blick durch die Streben des Pfahlbaus zeigte dunkle Wolken, die Unheil verkündend über den Himmel stoben. Bei gutem Wetter wurden selbst um diese Zeit noch häufiger Partys von jungen Leuten am Strand gefeiert. Aber bei diesem Regen war daran nicht zu denken, also bestand nicht die geringste Chance, jemanden auf sich aufmerksam zu machen.

Er schluchzte auf. Ja, er hatte schwere Schuld auf sich geladen. Aber niemand verdiente es, so zu sterben. Festgekettet unter einem Pfahlbau, dem sicheren Tod geweiht, wenn die Flut ihren Höchststand erreichte.

Montag, 25. Mai

Das beharrliche Klingeln seines Smartphones holte Norberg aus dem Tiefschlaf. Entnervt stöhnte er auf und drückte den Kopf noch tiefer ins Kissen. Da konnte er einmal ausschlafen, weil Spätdienst angesagt war, aber offensichtlich wollte man ihm diesen raren Luxus nicht gönnen. Schlaftrunken tastete seine Hand über die Platte des Nachttischs. Und stieß gegen etwas, das …

»Verdammt!«

Das halb volle Wasserglas landete mit einem Knall auf dem Parkettboden, das Smartphone klingelte unbeeindruckt weiter, bis Norberg es endlich zu fassen bekam und sich mit einem Brummen meldete. Was Sören Rohde ihm in knappen Worten mitteilte, ließ ihn allerdings augenblicklich wach werden und im Bett hochfahren. »Ich bin sofort bei euch!«

Fast zeitgleich mit Norberg trafen die restlichen Kollegen der Dienststelle am Pfahlbaurestaurant Strandbar 54° Nord ein, das sich auf dem Ordinger Strandabschnitt befand. Mittlerweile war es acht Uhr neununddreißig. Ein Jogger hatte den Leichenfund um acht Uhr zweiundzwanzig gemeldet, woraufhin Rohde, der sich in der letzten Stunde der Nachtbereitschaft befand, umgehend seine Kollegen informiert hatte.

Rohde hatte bereits mit einer weiträumigen Absperrung begonnen, die bei Norbergs Ankunft zwei Kollegen fortsetzten, damit er Norberg Bericht erstatten konnte. Sie blieben in kurzer Entfernung außerhalb der Absperrung stehen, und Rohde deutete zum Pfahlbau hinüber, auf dem sich das beliebte Restaurant befand. Er hatte Norberg am Telefon darüber informiert, dass der Leichnam an dem hinteren der hölzernen Bauten zwischen Stelzen und Streben festgekettet sei. »Siehst du ihn?«

Rohde hatte Anweisung gegeben, die Absperrung so weiträumig wie möglich vorzunehmen, damit niemand, der von dieser Seite den Strand entlangkam, auf den Leichnam aufmerksam wurde. Obwohl dieser mit bloßem Auge nicht als solcher erkennbar war. Selbst Norberg, der noch über eine gute Sehkraft verfügte, konnte lediglich ein größeres schwarzes Objekt in dem genannten Bereich ausmachen.

»Ich bin sofort hin zu ihm«, fuhr Rohde fort, »aber ich hab gleich gesehen, dass da nichts mehr zu machen war.« Seine Gummistiefel glänzten vor Nässe, da auch bei Ebbe die Stelzen dieses Pfahlbaus zumeist im Wasser standen. Im kommenden Jahr war ein Neubau zweihundert Meter landeinwärts geplant, nach dessen Inbetriebnahme der alte Pfahlbau abgerissen werden sollte. Da der Pegel der Nordsee kontinuierlich stieg, war dies bereits mit den Gebäuden der Strandaufsicht sowie den Toiletten für die Strandbesucher geschehen. Nun würde dieses Schicksal auch die Strandbar 54° Nord ereilen, die bei Flut mitten im Meer stand.

Norberg zügelte seine Ungeduld, auch wenn er Rohdes Beispiel am liebsten gefolgt wäre, aber im Augenblick war es vorrangig, dass die Kollegen die Absperrung fertigstellten und dafür Sorge zu tragen, dass hier kein Menschenauflauf entstand. Außerdem musste er die Leitstelle informieren, die dann alles Weitere veranlassen würde. Das wollte er als Erstes erledigen. Weiterhin war es wichtig, mit dem Mann zu sprechen, der die Leiche entdeckt hatte und jetzt im Heck eines Streifenwagens saß. Laut Rohde handelte es sich um einen Touristen aus Rheinland-Pfalz namens Kurt Heinze. Im Moment kümmerte sich ein Kollege um ihn, ärztlichen Beistand hatte der Mann abgelehnt. Sie mussten in Erfahrung bringen, ob ihm etwas aufgefallen war und wie weit er sich dem Toten genähert hatte.

»Wie ist dieser Herr Heinze denn eigentlich auf den Leichnam aufmerksam geworden?«, fragte Norberg. Er hatte das Telefonat mit der Leitstelle beendet und war zu Rohde zurückgegangen, der die Absperrung mit einem kritischen Blick kontrollierte. Die Kollegen hatten ihre Arbeit mittlerweile beendet und das ro – eiße Flatterband bis zum Beginn des langen Holzstegs gezogen, über den man das Restaurant erreichte. »Von hier aus kann man ohne Fernglas doch überhaupt nicht erkennen, was da hängt.«

»Er hat ausgesagt, dass er beim Joggen immer seine Kamera dabeihat. Heute hat er eine Reihe von Fotos der Pfahlbauten gemacht, weil ihn deren Konstruktion interessiert. Durch den Zoom hat er den Toten dann entdeckt.« Rohde zog eine kleine Digitalkamera aus der Tasche seiner Uniformjacke und zeigte Norberg die Fotos, die der Tourist gemacht hatte. Es war deutlich zu erkennen, dass es sich bei dem Leichnam um einen Mann handelte, allerdings nicht, ob er noch am Leben war, da sein Kopf seitlich auf der Brust hing.

»Ist Herr Heinze näher rangegangen, um zu überprüfen, ob der Mann noch lebt?«

Rohde schüttelte den Kopf. »Er hat ausgesagt, dass ihn keine zehn Pferde dorthin gebracht hätten.«

Die Gleichgültigkeit der Menschen erboste Norberg immer wieder aufs Neue, auch wenn es unwahrscheinlich war, dass der Tote zu diesem Zeitpunkt noch gelebt hatte und man ihm hätte helfen können.

Norberg zog sein Smartphone heraus und rief die Gezeiten-App auf. »Das nächste Tidehochwasser ist um fünfzehn Uhr siebzehn. Das ist zwar noch eine Weile hin, aber bis die Flensburger und jemand von der Rechtsmedizin hier sind, vergeht ja auch noch einige Zeit.« Von Flensburg, wo die für Nordfriesland zuständige Bezirkskriminalinspektion beheimatet war, dauerte die Fahrt anderthalb Stunden, von Kiel, dem Standort der Rechtsmedizin, noch länger. Norberg überlegte kurz und traf dann eine Entscheidung. »Wir werden den Toten vor Eintreffen der Kollegen bergen und erst einmal ins Bestattungsinstitut bringen lassen. Die Flut ist zwar schon einmal über ihn rübergegangen, aber vielleicht finden sich trotzdem noch irgendwelche Spuren.«

Rohde nickte. »Dann rufe ich mal den Bestatter an.«

»Wir müssen auch die Inhaber informieren, dass sie heute nicht öffnen können«, sagte Norberg, nachdem Rohde sein Gespräch beendet hatte. »Außerdem müssen wir wissen, ob gestern irgendjemandem vom Personal etwas aufgefallen ist, als sie den Laden dichtgemacht haben. Die machen ihre Öffnungszeiten doch immer vom Wetter abhängig, oder?«

Rohde nickte. »Das werden doch bestimmt die Husumer übernehmen wollen«, meinte er. »Oder das K1 aus Flensburg.«

Ja, darauf würde es hinauslaufen, dachte Norberg, und dieser Gedanke behagte ihm überhaupt nicht. Im Husumer Sachgebiet, das ebenfalls eingeschaltet werden würde, war mit Helge Brahms ein Kollege nachgerückt, den er schätzte, aber auch der würde raus sein, wenn die Flensburger Mordkommission den Fall übernahm. Die hatte seit Kurzem einen neuen Leiter, der aus Berlin kam, Anfang vierzig war und dem Hörensagen nach ein arroganter Überflieger sein sollte. Blieb abzuwarten, ob er bei den Ermittlungen vor Ort in Erscheinung treten würde oder diese eher dem Fußvolk überließ. Norberg bemühte sich, seine Voreingenommenheit in den Griff zu bekommen, aber es wollte ihm nicht so recht gelingen, da die Tatsache, dass seine langjährige Erfahrung als Mordermittler hier nicht gefragt sein dürfte, bereits jetzt an ihm zu nagen begann.

»Hendrik?« Rohde sah ihn fragend an. »Wer informiert jetzt die Inhaber?«

»Wir!«, entschied Norberg und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Der Bestatter würde nicht mehr lange auf sich warten lassen, und Helge Brahms aus Husum hatte in der Zwischenzeit eine Nachricht geschickt, dass er sich ebenfalls umgehend auf den Weg machen wollte. »Übernimmst du das? Dann warte ich hier auf den Bestatter und Brahms.«

Rohde nickte. »Kein Problem.«

Der Kollege machte sich auf den Weg, und Norberg schlüpfte unter dem Absperrband hindurch, um sich den Toten anzuschauen. Jeder Schritt unter seinen Gummistiefeln verursachte ein schmatzendes Geräusch, Wasser und nasser Sand spritzten auf.

Das Opfer war noch sehr jung, sein Anblick nur schwer zu ertragen. Der Mann befand sich in einer sitzenden Position, die Füße waren mit Kabelbinder an einer Stelze festgekettet, die Hände am Schnittpunkt zweier diagonal angebrachter Streben in ungefähr einem Meter Höhe befestigt. Durch die Fesselung war der Mann in eine unnatürliche Haltung gezwungen worden, die vor Eintritt des Todes zu großen Schmerzen im Schulterbereich und in den Armen geführt haben dürfte. Sein Kopf hing zur Seite, die Augen waren geschlossen. Vor seinem Mund hatte sich ein weißlicher Schaumpilz gebildet, was auf einen Tod durch Ertrinken hindeutete, allerdings auch dann vorkam, wenn eine Person erdrosselt oder erwürgt wurde. Strangmarken am Hals waren auf den ersten Blick allerdings nicht wahrnehmbar.

Beim Blick auf den Gezeitenkalender hatte Norberg gesehen, dass das Hochwasser an diesem Morgen um drei Uhr drei seinen Höchststand erreicht hatte. Wenn hier also ein Tod durch Ertrinken vorlag, würde der Todeszeitpunkt gut zu bestimmen sein.

Es bestand natürlich auch die Möglichkeit, dass der Tod durch andere Umstände eingetreten war. Das würde die Obduktion ergeben, aber Norberg glaubte nicht an ein anderes Ergebnis. Dieser Mann hatte ertrinken sollen, ein qualvoller Tod, dem Stunden voller Panik vorangegangen waren, während derer das Wasser immer höher stieg und er realisieren musste, dass seine Hilfeschreie ungehört in der Nacht verhallten und die Versuche, sich zu befreien, zum Scheitern verurteilt waren. Am Ende war kein Denken mehr möglich gewesen, sondern nur die alleinige Konzentration auf das Atmen, bis irgendwann das Wasser über ihm zusammengeschlagen war, die Ohnmacht eingesetzt hatte und schließlich der Tod.

Was hatte er getan, dass ihm ein solcher Hass entgegengebracht worden war und man ihn auf diese spektakuläre Weise umgebracht hatte? War hier ein Streit eskaliert, oder war die Tatausführung geplant gewesen? Handelte es sich um einen Täter oder mehrere? Eher Letzteres, da es für einen einzelnen Täter schwierig gewesen sein dürfte, das Opfer unter den Pfahlbau zu schleppen und festzuketten. Es sei denn, der Tote wäre mit irgendetwas außer Gefecht gesetzt worden und zu keiner Gegenwehr mehr fähig gewesen. Und selbst dann wäre es schwierig gewesen, da hätte schon jemand mit einem Auto so weit wie möglich an den Pfahlbau heranfahren müssen.

Norberg wandte sich um, als er Stimmen hinter sich vernahm, und erblickte Nils Scheffler, der mit den beiden Bestattern auf ihn zukam. Während Norberg die Männer begrüßte, warf Scheffler einen Blick auf den Toten, und Sekunden später war ein erstickter Ausruf zu hören.

»Mein Gott, das ist Tim.«

Norberg drehte sich zu ihm herum. »Du kennst den Mann?«

Nils war leichenblass geworden und starrte wie hypnotisiert auf den Toten. »Ja. Das ist Tim Förster.«

»Und wer ist Tim Förster?«, hakte Norberg nach, als nichts weiter kam.

»Einer der Aufnahmeleiter bei Tödlicher Norden

»Dann kennst du ihn näher?«

Nils schüttelte den Kopf, sein Blick flog zwischen Norberg und dem Toten hin und her. »Nein … nein, näher wäre gehetzt. Julia … Frau Manshardt hat ihn mir einmal vorgestellt.« Im nächsten Moment weiteten sich seine Augen. »Was, wenn dieser Stalker ihn umgebracht hat? Wir müssen dem Produktionsleiter Bescheid geben, damit er Julia warnt. Ich hab doch keine Nummer von ihr.«

Norberg ergriff Nils’ Arm, als dieser sich in Bewegung setzen wollte, und zog ihn ein Stück beiseite. »Du sprichst im Moment mit niemandem!«, sagte er leise.

»Aber …«

»Kein Aber! Wir werden die Verantwortlichen informieren und das Team und die Schauspieler befragen. Mit Frau Manshardt werde ich sprechen, sobald sie zurück ist. Dass ein Zusammenhang zwischen dem Tötungsdelikt und ihrer Stalking-Anschuldigung besteht, erscheint mir mehr als unwahrscheinlich.«

»Der besteht mit Sicherheit«, sagte Nils halsstarrig.

Norberg ging nicht auf seine Bemerkung ein. »Wir werden jetzt als Erstes den Toten bergen. Du wartest so lange hier auf den Kollegen Brahms.«

Die Mitarbeiter des Bestattungsinstituts hatten den Leichenwagen bis an den Flutsaum herangefahren. Sie hatten einen Body Bag dabei, einen luft- und flüssigkeitsdichten Leichensack, der aus einem speziellen Kunststoff hergestellt wurde. Bevor sie sich an die Bergung des Toten machten, schoss Norberg noch eine Reihe von Fotos, die er später an den Flensburger Kollegen sowie an Helge Brahms und an Krischan Garbers von der Spurensicherung weiterleiten wollte. Dann winkte er Lars Klüver und die beiden Bestatter zu sich und besprach mit ihnen, wie sie den Toten am besten bergen konnten. Hier mussten sie vorsichtig zu Werke gehen, denn auch wenn der Körper schon einmal vom Wasser überspült worden war, bestand die Möglichkeit, dass sich noch Spuren an den Armen und Händen fanden. Irgendetwas unter den Fingernägeln zum Beispiel, das nicht vom Wasser vernichtet worden war.

Nach einer kurzen Absprache verständigten sie sich darauf, zuerst die Kabelbinder an den Füßen des Toten von der Stelze zu trennen. Im Anschluss daran würden sie die Hände losbinden und Folie darüberziehen, die an den Ellenbogen fixiert werden sollte. Auch den Kopf wollten sie so sichern. Diese Arbeit übernahmen Norberg und Klüver, nachdem Letzterer die benötigten Utensilien aus dem Streifenwagen geholt hatte, dann trugen sie den Toten unter dem Pfahlbau heraus und legten ihn in den Body Bag, den die Bestatter anschließend im Leichenwagen verstauten.

Sie verabschiedeten sich von den Bestattern, und Klüver ging zur Absperrung zurück, an der sich in der Zwischenzeit eine Reihe von Schaulustigen eingefunden hatte, während Norberg den mittlerweile eingetroffenen Helge Brahms begrüßte und mit den Fakten vertraut machte.

»Oh, oh«, meinte Brahms, nachdem Norberg geendet hatte, »da wird der neue Kollege aus Flensburg aber gar nicht erfreut sein, dass du hier die Initiative ergriffen und für den Abtransport des Toten gesorgt hast.«

»Alles andere wäre unverantwortlich gewesen«, entgegnete Norberg. »Du weißt doch selbst, wie lange es dauert, bis die Flensburger und die Kieler hier sind. Lass die bloß mal in einen Stau geraten, dann tauchen sie erst gegen zwölf oder noch später hier auf. Da steigt das Wasser doch schon wieder, Tidehochwasser ist fünfzehn Uhr siebzehn.«

»Das musst du mir nicht erklären«, sagte Brahms grinsend. »Aber was versteht ein Berliner von den Gezeiten. Schäfer kommt eh schon als Bullterrier rüber, und diese Sache wird ihn so richtig auf die Palme bringen.«

»Sein Problem.« Norberg zuckte mit den Achseln. Was der neue K1-Leiter von seiner Vorgehensweise hielt, war ihm herzlich egal. Er wandte sich an Nils, der einige Schritte entfernt etwas hilflos in der Gegend herumstand. »Wir müssen die Ansprechperson im Produktionsteam informieren. Du erwähntest vorhin einen Produktionsleiter. Wie heißt der?«

»Stefan Kleff.«

Norberg notierte den Namen. »Du weißt doch sicher auch, wann heute Drehbeginn ist und wo ich das Team und diesen Stefan Kleff finde.«

Nils zog sein Handy heraus. Er tippte mehrere Male, bis er ein Word-Dokument aufgerufen hatte. »Drehbeginn ist um zehn Uhr am Böhler Leuchtturm, Drehende soll dort gegen dreizehn Uhr sein. Danach gibt’s eine längere Pause, und ab einundzwanzig Uhr ist dann ein Nachtdreh an der Böhler Strandüberfahrt geplant.«

»Haben die hier irgendwo einen festen Standort?«

»Sie haben im Heideweg ein Ferienhaus angemietet. Ansonsten sind sie mit ihrem mobilen Fuhrpark unterwegs.«

Norberg notierte auch die Adresse und Hausnummer des Ferienhauses. »Hast du außer Stefan Kleff noch ein paar Namen für mich? Es gibt doch bestimmt noch andere Ansprechpartner.«

Nils sah ihn verblüfft an. »Soll ich denn nicht mitkommen?«

»Nein, ich möchte, dass du in die Dienststelle fährst und dort so viel wie möglich über Tim Förster in Erfahrung bringst. Das hat im Moment Priorität.« Er überlegte kurz. »Hast du zufällig seine Handynummer?«

Nils schüttelte den Kopf.

»Ich besorge sie dir, dann kannst du einen Verbindungsdatennachweis beantragen. Und nimm seine Social-Media-Aktivitäten unter die Lupe.«

»Aber was ist denn nun mit Julias Stalker?«, wandte Nils mit gerunzelter Stirn ein. »Den dürfen wir doch nicht aus den Augen verlieren.«

»Nils«, sagte Norberg warnend, aber der Gesichtsausdruck des Kollegen zeigte ihm, dass dieser noch nicht bereit war, klein beizugeben.

»Dann nimm mich wenigstens zum Drehort mit. Ich kenne das Team, da bin ich doch viel nützlicher.«

Norberg schätzte Nils wirklich sehr, aber in diesem Augenblick fiel es ihm schwer, ruhig zu bleiben. Der junge Kollege war ein emotionaler Typ, zu emotional für seinen Geschmack, und trug sein Herz häufig auf der Zunge, was dazu führte, dass er seine Empfindungen nicht immer unter Kontrolle hatte. Eine Eigenschaft, die in ihrem Beruf nicht angebracht war, weil darunter die Professionalität litt. Norberg hatte bereits mit ihm darüber gesprochen und den Eindruck gewonnen, dass seine Botschaft angekommen war, aber jetzt schien es ihm, als wäre all sein Reden für die Katz gewesen. »Ich werde das nicht diskutieren, Nils!« In seinem momentanen Zustand wäre Nils ohnehin keine Hilfe bei den Befragungen, da seine allzu offensichtlichen Gefühle für Julia Manshardt und eine vielleicht auch schon aufgebaute Nähe zu Mitgliedern des Teams einer objektiven Bewertung definitiv im Wege stehen würden.

Nils’ Blick verdunkelte sich, aber er schien jetzt endgültig zu begreifen, dass es Norberg ernst war und ein weiteres Aufbegehren keinen Sinn hatte. Erneutes Tippen auf dem Smartphone, dann: »Ich habe dir die Liste der Teammitglieder geschickt. Ein weiterer Ansprechpartner wäre der Regisseur Holger Bernstorf.«

»Was ist mit dem Produzenten?«

»Der war bisher noch nicht vor Ort.« Nils verstaute sein Handy wieder in der Hosentasche; der Blick, den er Norberg zuwarf, war aufmüpfig. »War’s das?«

»Ja.«

»Was für ein Stalker?«, fragte Brahms, nachdem Nils davongestapft war. In jedem seiner Schritte hatte unausgesprochener Protest gelegen. »Und wer ist diese Julia?«

Norberg klärte ihn auf.

»Dein junger Kollege scheint mir ein bisschen übereifrig zu sein«, merkte Brahms an. »Läuft da was zwischen ihm und dieser Schauspielerin?«

Norbergs Gesichtsausdruck verfinsterte sich. »Ich hoffe nicht, dass er sich zu einer solchen Unprofessionalität hat hinreißen lassen.«

»Dann nimm ihn mal besser weiter ein bisschen an die Kandare«, empfahl Brahms.

»Darauf kannst du Gift nehmen!«

Brahms fuhr mit der Hand durch sein dunkelblondes Haar, das sich seit ihrer letzten Begegnung merklich gelichtet hatte. »Dass es einen Zusammenhang zwischen diesem Stalker und dem Tötungsdelikt geben soll, erscheint mir doch ziemlich weit hergeholt. Das sind ja zwei völlig verschiedene Delikte.«

Norberg teilte die Meinung seines Kollegen, aber natürlich würde er die Überlegung nicht außer Acht lassen. Er hoffte, dass er nach einer Befragung von Julia Manshardt schlauer sein würde.

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