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Nordwestschuld

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Zwischen Internetbetrug und radikaler Rache – dieser Fall verlangt der Soko SPO alles ab!

Als die 55-jährige Karla Hensel vermisst gemeldet wird, übernimmt die Soko St. Peter-Ording den Fall. Bei den Befragungen des Umfelds stellt sich schnell heraus, dass Karla erst vor Kurzem über Facebook einen interessanten Mann kennengelernt hat. Ihre Mitarbeiterin Inken berichtet außerdem von Geldüberweisungen, die Karla an diesen Mann getätigt haben soll, und vermutet, Karla sei einem Love-Scammer aufgesessen. Ist dieser für Karlas Verschwinden verantwortlich?
Dann tauchen auch noch Skelettteile am Ordinger Strand auf. Sie können Elke Färber zugeordnet werden, einer vor zwei Jahren in Itzehoe verschwundenen Frau, die seinerzeit unter ähnlichen Umständen verschwand. Kann es wirklich sein, dass gefährliche Betrüger, die auch nicht vor Mord zurückschrecken, ihr Unwesen im Norden treiben?


  • Erscheinungstag: 21.03.2023
  • Aus der Serie: Ein Fall Für Die Soko St. Peter Ording
  • Bandnummer: 4
  • Seitenanzahl: 400
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365002698

Leseprobe

PROLOG

April 2019

Hatten vor einer Woche noch Panik und Hilflosigkeit überwogen, war es Elke Färber mittlerweile gelungen, ihr seelisches Gleichgewicht wenigstens halbwegs wiederzuerlangen.

Natürlich hing dies damit zusammen, dass sie die dreißigtausend Euro, mit denen sie Jonathan würde freikaufen können, in der Zwischenzeit von ihrem Konto abgehoben hatte. Ihr wöchentliches Limit von Geldabhebungen lag zwar darunter, weshalb es zuerst auch Schwierigkeiten gegeben hatte, weil ein neuer Mitarbeiter versucht hatte, ihr Steine in den Weg zu legen. Aber als sie den Inhaber der Privatbank eingeschaltet hatte, der ein langjähriger Freund von ihr und ihrem verstorbenen Mann war, war die Angelegenheit in Windeseile über die Bühne gegangen. Schließlich waren die Färbers nicht irgendwer, sondern beständige und vermögende Kunden, und Elke hatte dem Bankier unmissverständlich klargemacht, dass sie kein Problem damit hätte, ihre Vermögenswerte zu einer anderen Bank zu transferieren. Freundschaft hin oder her.

Heute Morgen hatte sie den Betrag dann endlich entgegennehmen können und Jonathan umgehend eine Nachricht geschickt. Seitdem wartete sie auf seine Antwort und tigerte mit dem Handy in der Hand unablässig durch das große Haus, dessen Stille sie an so manchen Tagen zur Verzweiflung brachte.

Jonathan hatte sie am kommenden Tag endlich besuchen wollen. Sein erster Besuch in Deutschland, das er bisher noch nicht kannte. Sie hatte ihm vorgeschlagen, zu ihrer Segeljacht zu fahren, die in Brunsbüttel vor Anker lag, weil Jonathan ein ebenso leidenschaftlicher Segler wie ihr verstorbener Mann Arnold zu sein schien und sie die Vermutung gehabt hatte, dass er sie vom Verkauf des Schiffes abbringen würde. Sie hätte es gerne behalten, aber es war zu groß, um es allein segeln zu können, und sie hasste es, sich immer wieder nach Partnern umsehen zu müssen, die sie selbst für kürzere Törns brauchte.

Bis es aber so weit kam, müsste Jonathan sich erst einmal entschließen, seiner Heimat Südafrika den Rücken zu kehren und bei ihr in Deutschland zu bleiben. Er hatte angegeben, keine Familie zu haben, und als Chirurg konnte er schließlich auch hier arbeiten, da würde er mit Sicherheit umgehend eine Anstellung finden. Darauf setzte sie ihre ganze Hoffnung, und sie würde nicht nachlassen, ihn davon zu überzeugen und ihm während seines geplanten Aufenthaltes die Schönheiten Schleswig-Holsteins zu zeigen:

die Lübecker Bucht, wo in Timmendorf und Scharbeutz eine Reihe von Freunden wohnte, die sich aufgrund ihrer Positionen in Wirtschaft und Politik sicher für ihn starkmachen würden, wenn es um die Einführung in gewisse Kreise ging, die ihm auch beruflich von Nutzen sein konnten.

Die Schlei, wo sie eine kleine Ferienwohnung außerhalb von Kappeln besaßen, die Arnold und sie immer aufgesucht hatten, wenn sie Ruhe und Abstand von ihrem stressigen beruflichen Alltag brauchten.

Und dann natürlich die Nordseeküste und die Inseln, allen voran Sylt, wo sie in Hörnum ein weiteres Feriendomizil besaßen. Sie hatten das schmucke Friesenhaus vor fast dreißig Jahren erworben, als Eigentum auf Sylt noch bezahlbar war und die Insel nicht so überlaufen wie heutzutage. Das Sahneschnittchen war dann 2008 dazugekommen: der 18-Loch-Golfplatz Budersand in fußläufiger Entfernung ihres Hauses. Elke hatte mittlerweile herausbekommen, dass Jonathan ebenfalls dem Golfsport nachging, und sie war überzeugt davon, dass ihm dieser Platz sehr gefallen würde.

Doch dann war am vergangenen Sonntag Jonathans Nachricht eingetroffen, die drohte, all ihre schönen Zukunftspläne auf einen Schlag zunichtezumachen.

Jonathan war während der Teilnahme an einem medizinischen Kongress in Istanbul verhaftet worden. Widerrechtlich natürlich, als er durch Zufall auf der Straße in die Versammlung einer verbotenen Partei geraten war.

Die Nachricht hatte Elke in Angst und Schrecken versetzt. Der heiß geliebte Mann, der ihr Leben endlich wieder mit Licht erfüllt hatte, saß in einem türkischen Gefängnis? Es war eine so grauenhafte Vorstellung, dass sie nicht mehr ein noch aus wusste. Fast stündlich hatte sie Nachrichten an ihn geschickt, obwohl sie davon ausging, dass er sie überhaupt nicht lesen konnte, weil man ihm im Gefängnis das Handy abgenommen hatte. Das Warten hatte sie verrückt gemacht, die Hilflosigkeit, Jonathan nicht unterstützen zu können. Die Angst, dass er Repressalien ausgesetzt war oder womöglich sogar gefoltert wurde. Man las und hörte doch immer so schreckliche Dinge von dem, was in türkischen Gefängnissen auf der Tagesordnung stand.

Als sich Jonathan zwei Tage später dann endlich mit einer Mail gemeldet hatte, war Elke vor Erleichterung in Tränen ausgebrochen. Er hatte einen Hilferuf geschickt, in dem er sie um Geld bat, weil er sich freikaufen müsse und seine Ersparnisse dafür nicht ausreichen würden.

Natürlich würde sie ihm helfen, was für eine Frage. Nach ihrer Zusicherung hatte Jonathan geschrieben, dass sein bester Freund Lawrence Arnster nach Deutschland kommen würde, um das Geld persönlich abzuholen. Sobald ihr Feedback gekommen sei, dass sie die Summe zusammenhabe.

Jonathan, geliebter Jonathan.

Elkes Herz zog sich vor Verlangen zusammen, als sie sein ausgedrucktes Foto betrachtete. Das markante Gesicht mit den blauen Augen und den grauen Schläfen. Den definierten Oberkörper, dessen Konturen sich unter dem eng anliegenden T-Shirt abzeichneten und darauf hinwiesen, dass er ein Mann war, der sich in Form hielt.

Vor drei Monaten erst war Jonathan in ihr Leben getreten, das seitdem nicht mehr dasselbe war. Er hatte ihr über Facebook eine Nachricht geschickt, dass ihr Bild ihn bezaubert habe und er sich an ihren Posts erfreue und sie deshalb gerne näher kennenlernen würde. Dabei waren ihre Posts überhaupt nichts Besonderes, meistens Fotos von Wochenendausflügen oder ihrer Segeljacht Illaria.

Mit jeder Nachricht waren sie sich nähergekommen. Hatten dem anderen von ihrem Leben und ihren Träumen erzählt, und Elke hatte schon sehr schnell gewusst, dass Jonathan ihre Chance auf eine zweite große Liebe war. Sie hatte sich angenommen gefühlt und immer weniger Scheu gehabt, sich ihm zu öffnen, was ihr bei persönlichen Treffen immer ein wenig schwerfiel. Ihr Umfeld war skeptisch gewesen, schon damals, als sie ein Jahr nach Arnolds Tod damit begonnen hatte, einen neuen Partner zu suchen. Onlinedating sei zwar in, aber doch nicht mehr in ihrem Alter. Immerhin gehe sie schon auf die Sechzig zu! Aber Elke hatte sich nicht beirren lassen, weil sie das Alleinsein hasste, und schließlich hatte das Schicksal ihr Jonathan geschenkt.

Das Smartphone signalisierte den Eingang einer neuen Nachricht.

Endlich!

Elkes Hände zitterten so sehr, dass das Mobiltelefon fast zu Boden gefallen wäre, als sie die Nachricht aufrief.

Es folgte der Hinweis, dass sich Lawrence nach seiner Ankunft in Deutschland sofort mit ihr in Verbindung setzen würde.

Wieder begannen Elkes Tränen zu fließen, aber dieses Mal waren es Tränen der Erleichterung.

Jetzt würde alles gut werden …

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Garek Musa schwitzte. Zwar hatten ihn sein Outfit als seriöser Geschäftsmann und der südafrikanische Pass auf den Namen Lawrence Arnster auch diesmal vor den weitergehenden und stets gefürchteten Sicherheitskontrollen am Frankfurter Flughafen bewahrt, aber die Übelkeit, die sich vor einer Stunde eingestellt hatte, war stärker geworden und machte ihm zunehmend Angst.

Der FlixBus, der ihn nach Kiel bringen sollte, war rappelvoll. Die Lautstärke mancher Gespräche und die schlechte Luft, gegen die die Klimaanlage nicht ankam, hatten bereits auf den ersten Kilometern an seinen Nerven zu zerren begonnen. Jetzt, kurze Zeit nach dem Stopp in Hamburg, waren sie zum Zerreißen gespannt.

Garek hatte den Aufenthalt am Hamburger ZOB zu einem Toilettengang genutzt und voller Entsetzen auf das Blut in der Toilettenschüssel gestarrt. Sein Darm krampfte, als wollte er sich bereits jetzt der ersten Fingers entledigen. Aber das durfte nicht sein, das war noch viel zu früh. Garek hatte am Vorabend nach der Einnahme der fünfzig Fingers wie immer Medikamente geschluckt, die zur Entschleunigung des Darms beitragen sollten, damit die kostbare Fracht, die er in sich trug, nicht bereits während seiner Anreise wieder herauskam. Hochreines Kokain, zehn Gramm pro Finger, das mit Milchzucker oder Lidocain gestreckt wurde oder neuerdings auch mit Levamisol, einem Tierentwurmungsmittel. Straßenverkaufswert fünfzigtausend Euro.

Schon bei dem vorangegangenen Training mit verschiedenen Lebensmitteln, das notwendig war, um die Darmbelastung zu stärken, hatte Garek gegen die Vorahnung angekämpft, dass sich sein achter Trip nach Deutschland als unheilvoll erweisen würde.

Garek arbeitete für die nigerianische Mafia und war im letzten Jahr innerhalb seiner Bruderschaft aufgestiegen. Seine Intelligenz und Skrupellosigkeit hatten dazu geführt, dass er die ärmlichen Verhältnisse, aus denen er stammte, hinter sich lassen konnte und mittlerweile bei einer Reihe von Vorhaben das Sagen hatte. Deshalb hatte er sich auch nicht mehr als Bodypacker einsetzen lassen, da seine Aufgaben jetzt andere waren. Dummerweise war der eigentlich vorgesehene Mann aber ausgefallen, und da Garek einen nächsten Einsatz in Deutschland hatte, hatte er notgedrungen nachgegeben. Nachgeben müssen.

In Kiel hatte er sich wieder in dem ihm schon bekannten Hotel eingebucht, und wenn die Übergabe des Rauschgifts am kommenden Tag erfolgt war, konnte er sich dem eigentlichen Grund seines Deutschlandbesuchs zuwenden. Dämliche Weiber schröpfen, die auf der Suche nach Liebe selbst ihren letzten Euro hergeben würden.

»Ist Ihnen nicht gut?« Die ältere Frau, die seit Hamburg neben ihm saß, schaute Garek besorgt an. Ehrliche Anteilnahme lag in ihren Augen und kein Funken Misstrauen oder Ablehnung, wie sie Garek bei anderen so oft gewahrte, wenn sie ihn, den Schwarzen, von oben bis unten musterten.

Da sich seine Deutschkenntnisse in den letzten Jahren verbessert hatten, konnte er ihr problemlos antworten. »Alles in Ordnung, danke.« Er nickte bekräftigend mit dem Kopf, wohlwissend, dass sein Anblick das Gegenteil aussagte. Schweißnasses Gesicht, ein zitternder Körper. Der hastige Blick auf die Armbanduhr verriet ihm, dass sie in einer guten Stunde in Kiel eintreffen würden. In seinem Hotelzimmer würde er sich aufs Bett legen und versuchen, zur Ruhe zu kommen. Den Gedanken, dass ein oder womöglich mehrere Fingers geplatzt und für seinen schlechter werdenden Zustand verantwortlich waren, versuchte er weiterhin zu verdrängen. In der Vergangenheit war so etwas häufiger vorgekommen, zum Glück nicht bei ihm, und mittlerweile wurde mehr Sorgfalt auf die Verpackung des Kokains gelegt. Also dürfte sein Zustand wohl eher den beiden Mettbrötchen zuzuschreiben sein, die er am Frankfurter ZOB während der Wartezeit auf den Bus zu sich genommen hatte. In Nigeria war Schweinefleisch für ihn tabu, im Ausland sprach er ihm hingegen mit großer Leidenschaft zu.

Bei dem Gedanken, dass es sich nur um eine Lebensmittelvergiftung handeln könnte, wurde er wieder etwas ruhiger. Damit war zwar auch nicht zu spaßen, aber wer in Afrika aufwuchs, war hart im Nehmen.

Die ältere Frau wühlte in ihrer übergroßen Tasche herum und förderte eine schmale Warmhaltekanne zutage. »Ich kann Ihnen einen Tee anbieten. Pfefferminze, das beruhigt den Magen. Mir wird bei Busfahrten auch immer übel, deshalb gehe ich nie ohne meinen Tee auf Reisen.«

Garek zwang sich, ruhig zu bleiben, sie meinte es ja nur gut. Dankend lehnte er ihr Angebot ab und wandte seinen Kopf zum Fenster, in der Hoffnung, dass sie dann von ihm ablassen würde.

Während der Bus Kilometer um Kilometer zurücklegte, überließ sich Garek seinen Gedanken. Wenn in Kiel die Übergabe der Päckchen erfolgt war, würde er nach Brunsbüttel fahren und dort die Frau aufsuchen, um von ihr die vereinbarten dreißigtausend Euro für seinen Freund Jonathan entgegenzunehmen. Ein Kichern stieg in Gareks Kehle empor, und der Gedanke an dieses Treffen ließ ihn für einen Moment seine Übelkeit vergessen.

Es würde Garek immer ein Rätsel bleiben, wie Frauen auf die Lügengeschichten hereinfallen konnten, die er und die anderen Männer der Organisation ihnen Tag für Tag über die unterschiedlichen Messengerdienste auftischten. Wie diese Frauen in ihrer Sehnsucht nach Liebe und Zuwendung alle Bedenken über Bord warfen und ihr Geld wildfremden Männern anvertrauten, die sie noch kein einziges Mal persönlich getroffen hatten, sondern nur vom Chatten her kannten. So viel Dummheit musste wirklich bestraft werden.

Auch die Frau, die ihn in Brunsbüttel erwartete, würde voller Hoffnung sein, dass ihr Geld dem Mann, mit dem sie jetzt seit drei Monaten Liebesbotschaften über das Internet austauschte, aus einem türkischen Gefängnis heraushelfen würde, in dem er vor einer Woche rechtswidrig festgesetzt worden war. Garek hatte sich ein weiteres Mal für diese Story entschieden, und er würde den rechtschaffenen Boten, bei dem das Geld in den allerbesten Händen war, auch dieses Mal wieder überzeugend darbieten.

»Junger Mann? Sie müssen aussteigen!«

Garek schrak zusammen, als er die Stimme vernahm und spürte, wie ihn etwas am Ärmel zupfte. Verwirrt öffnete er die Augen und wurde auf seine Sitznachbarin aufmerksam, die sich erhoben hatte und durch das Fenster nach draußen deutete. Garek folgte ihrem Blick und sah, dass sie den ZOB in Kiel erreicht hatten und die übrigen Insassen fast alle ausgestiegen waren. Da war er doch tatsächlich eingeschlafen.

Garek nickte ihr zu und stemmte sich aus dem Sitz, wobei ihn augenblicklich eine solche Übelkeit überfiel, dass er fast in die Knie gegangen wäre. Keuchend hielt er sich an der Rückenlehne des Vordersitzes fest und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Seine Sitznachbarin war zum Glück schon am Ausstieg, und auch die restlichen Fahrgäste beachteten ihn nicht. Was ihm nur recht war, weitere aufdringliche Fragen hätte er jetzt nämlich nicht verkraftet.

Als er den Bus endlich verlassen hatte, schleppte er sich Richtung Taxistand. Er war nicht zum ersten Mal in Kiel, und normalerweise wäre er den kurzen Weg zum Hotel zu Fuß gegangen. Aber dazu fehlte ihm heute die Kraft.

Der Taxifahrer guckte übellaunig und begann zu meckern, als Garek ihm das Ziel nannte. »Da sind Sie doch in fünf Minuten zu Fuß. Nee, so kurze Touren übernehme ich nicht.« Drei seiner Kollegen weigerten sich ebenfalls, beim fünften hatte Garek endlich Glück.

»Soll ich Sie nicht lieber ins Krankenhaus bringen?«, fragte der Mann mit besorgtem Blick. »Sie sehen ziemlich elend aus.«

Garek schüttelte den Kopf und ließ sich schwer auf den Rücksitz fallen. »Das ist nur ein bisschen Reiseübelkeit, das kenne ich schon. Kein Grund zur Sorge.«

Der Mann schien nicht überzeugt, brachte ihn aber wie gewünscht zum Hotel. Beim Einchecken blieben Garek zum Glück weitere Nachfragen zu seinem Gesundheitszustand erspart, und er gelangte unbehelligt in sein Zimmer, wo er sich stöhnend auf das Bett sinken ließ.

Die Übelkeit hatte zugenommen, aber Garek wehrte sich weiterhin gegen den Gedanken, dass doch ein Finger in seinem Darm geplatzt war. Weil er in diesem Fall sofort ins Krankenhaus gemusst hätte, wollte er sein Leben retten, aber was würde dann aus den Projekten werden, wegen derer er nach Deutschland gereist war? Verdammt, es ging um so viel Geld. Wenn er überlebte, würde er im Knast landen und andere würden absahnen. Nein, das würde er nicht zulassen!

Ächzend hob er die Beine aus dem Bett und versuchte sich aufzurichten. Er hatte wahnsinnigen Durst und musste irgendwie sehen, dass er die Wasserflasche auf dem Tisch zu fassen bekam. Es gelang ihm mit einiger Mühe, und nachdem er fast die ganze Flasche geleert hatte, sank er zurück aufs Bett.

Gedankenfetzen schossen durch seinen Kopf. Seine Eltern, die Geschwister, das Dorf in der Nähe der Hauptstadt Abuja, in dem er aufgewachsen war. Sada, die Stolze und Schöne, die ihn schon in ihrer gemeinsam verbrachten Jugend um den Verstand gebracht hatte.

Mit den Gedanken an sie dämmerte Garek langsam weg …

Als Garek am nächsten Morgen erwachte, fühlte er sich wie gerädert, empfand aber gleichzeitig eine große Dankbarkeit, dass er diesen Tag noch erleben durfte.

Die Nacht war ein einziger Höllentrip gewesen, den er fast durchgehend auf der Toilette verbracht hatte. Als er gemerkt hatte, dass es so weit war, hatte er einen der mitgebrachten dicken Müllsäcke in die Toilettenschüssel gehängt und dessen oberen Rand mit Tape an der Klobrille befestigt, damit er nicht in die Schüssel rutschte.

Das Ausscheiden der Fingers war wie immer schmerzhaft gewesen und hatte sich über mehrere Stunden gezogen. Zwischendurch hatte Garek über dem Waschbecken gehangen und sich die Seele aus dem Leib gekotzt. Als er irgendwann im Morgengrauen die Fingers durchgezählt und festgestellt hatte, dass alle fünfzig ausgeschieden worden waren, hatte er vor Erleichterung einen Weinkrampf bekommen und Allah gedankt. Die Übelkeit hatte zwar nachgelassen, aber trotzdem war nicht an ein Frühstück zu denken gewesen. Also hatte sich Garek erst am späten Nachmittag etwas Toastbrot und Zwieback auf sein Zimmer bringen lassen.

Die Übergabe der Fingers am Abend erfolgte ebenso problemlos wie die Entgegennahme der vereinbarten Geldsumme. Die Abnehmer in Kiel waren zuverlässig und Garek schon seit Jahren bekannt.

Am darauffolgenden Morgen fühlte Garek sich wie neugeboren. Er hatte durchgeschlafen, und die Übelkeit war endlich vergangen. Frohen Mutes schickte er eine Nachricht an seine Zielperson und bestieg dann den Bus, der ihn von Kiel nach Brunsbüttel bringen würde.

Dass sich dort seine beunruhigende Vorahnung erfüllen würde, ahnte er zu diesem Zeitpunkt noch nicht …

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Die Vogelinsel Trischen liegt in der Meldorfer Bucht und somit im Dithmarscher Teil des Nationalparks Wattenmeer und Welterbes, ihre Entfernung zur Dithmarscher Nordseeküste beträgt etwa vierzehn Kilometer. Die Insel gehört zur Gemeinde Friedrichskoog und ist unbewohnt, nur von März bis Oktober bezieht dort ein Naturschutzwart des NABU Quartier, der die Insel mit ihren großen Seevogelkolonien während der Brutzeit betreut und bewacht. Anderen Personen ist der Zutritt verboten.

Trischen ist eine Sandinsel mit kleinen Dünen im Westen und Salzwiesen im Osten, deren halbmondförmige Ausdehnung an die einhundertachtzig Hektar umfasst. Trischen wird als wandernde Insel bezeichnet, da sie nicht wie andere Inseln durch Befestigungen stabilisiert, sondern dem Wandel der Gezeiten unterworfen ist, der sie im langjährigen Durchschnitt dreißig bis fünfunddreißig Meter pro Jahr Richtung Osten, also zur Küste hin, wandern lässt.

Klaus Steffens hatte den Pfahlbau, der dem Naturschutzwart acht Monate lang als Unterkunft diente, Anfang März bezogen und sich sofort darin wohlgefühlt. Die Einrichtung war kein Luxus, aber gemütlich, und das Fehlen jeglicher menschlicher Gegenwart war Balsam für seine in letzter Zeit arg malträtierte Seele. Eine gescheiterte Beziehung nagte noch immer an ihm, ganz zu schweigen von dem monatelangen Streit und Stress, die der Trennung vorausgegangen waren.

Steffens hatte sich gefreut, dass er in diesem Jahr die Möglichkeit hatte, als Vogelwart auf Trischen zu arbeiten, was ihm die Gelegenheit bot, eine Auszeit von seinem Beruf als Lehrer zu nehmen, der ihn mittlerweile immer stärker nervte. Er war schon immer sehr naturverbunden gewesen und gehörte dem NABU an, für den er immer wieder im Einsatz war, wenn es seine Zeit erlaubte. Auf Trischen würde er die Entwicklung der Bestände von Tieren und Pflanzen ebenso wie die Inselgeologie beobachten und dokumentieren.

Er war an diesem Morgen seit Tagesanbruch auf den Beinen und hatte während seines Streifzugs über die Insel im nördlichen Teil eine Reihe von Robben beobachtet, die sich auf der Seehundbank in der Aprilsonne aalten. In den nächsten Monaten würde der Nachwuchs zur Welt kommen, und Steffens, der ein leidenschaftlicher Hobbyfotograf war, freute sich jetzt schon darauf, die ersten Robbenbabys aus gebührender Entfernung abzulichten.

Als er auf seinem Rückweg zum Pfahlbau Richtung Festland blickte, stutzte er. War das Rauch dort über dem Wasser? Er griff zum Fernglas, und tatsächlich: Eine Segeljacht dümpelte in einiger Entfernung, in einem Moment noch gut sichtbar, im nächsten wieder von Rauchschwaden verdeckt.

»Scheiße!«, fluchte Steffens und fingerte nach dem Smartphone in seiner Hosentasche, um einen Notruf abzusetzen. Er verfügte über kein Boot, konnte also nicht rausfahren, um zu sehen, was da los war. Trotzdem rannte er zum Strand, um in Erfahrung zu bringen, ob vielleicht jemand über Bord gesprungen war, der seine Hilfe benötigte. Aber er konnte niemanden im Wasser entdecken, sondern nur hilflos zusehen, wie der Rauch immer stärker wurde …

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1 ¾ Jahre später

Sonnabend, 12. Dezember

Facebook-Post

Hallo, ich freue mich, eine so bemerkenswerte und wundervolle Persönlichkeit wie dich hier zu treffen. Dein Profil ist spannend mit den besten Beiträgen und Inhalten. Ich liebe die enorme Anziehungskraft, die du mit deinem Lächeln auf deinen Bildern ausübst. Du siehst umwerfend aus mit deinen hübschen und glänzenden Haaren muss ich zugeben. Ich würde dich gerne hinzufügen, aber das Senden einer Freundschaftsanfrage ohne deine Zustimmung wäre so unhöflich. Bitte sende mir freundlicherweise eine Freundschaftsanfrage, damit wir Freunde sein können, wenn es dir nichts ausmacht. Vielen Dank

Die Silbermöwe war alt und erschöpft geworden, ihre besten Tage lagen lange zurück. Die tägliche Jagd nach etwas Essbarem machte sie mürbe; die Zeiten, in denen sie den Menschen leckere Fischbrötchen oder Crêpes abgejagt hatte, waren unwiderruflich vorbei. Jetzt musste sie mit dem vorliebnehmen, was das Meer an den Strand spülte.

Und das war an diesem Morgen nur wenig, obwohl es in der vergangenen Nacht eine Sturmflut gegeben hatte, die häufig eine reiche Ausbeute brachte. Als die Silbermöwe sich umschaute, entdeckte sie zwar ein größeres Objekt, das am Flutsaum von den Wellen umspült wurde, und ein weiteres in kurzer Entfernung, das aus einem Haufen Treibsel ragte. Aber als sie näher hüpfte und die beiden Funde in Augenschein nahm, sah sie, dass es sich nur um Knochen handelte, an denen zu ihrer großen Enttäuschung nicht mal mehr ein Fitzelchen Fleisch hing. Das größere Gebilde sah merkwürdig aus. Im oberen Bereich klafften zwei nebeneinanderliegende große Löcher, darunter in der Mitte ein weiteres, und unten zog sich ein großes Loch von einer Seite zur anderen, in dem einige Stummel zu sehen waren.

Als die Silbermöwe auf eine Frau und einen Mann aufmerksam wurde, die sich mit langsamen Schritten näherten, hüpfte sie ein Stück zur Seite. Die beiden hatten ihre Blicke auf den Boden gerichtet, vielleicht suchten sie diese gelben Steine, die nach einer Flut häufiger zu finden waren. Die Silbermöwe hatte schon öfter gesehen, dass die Menschen bei deren Fund geradezu in Entzücken gerieten.

Die Frau bückte sich und begann mit einem Stock im Schwemmgut herumzustochern, bis sie bei dem großen Gebilde angelangt war, wo sie jäh aufhörte und den Stock fallen ließ. Auf den gellenden Schrei, der nur Sekunden später folgte, war die Silbermöwe nicht vorbereitet. Erschrocken flatterte sie auf und ließ sich in einigen Metern Entfernung wieder auf dem Strand nieder.

Der Mann kam herbeigeeilt und stützte die Frau, die zu fallen drohte. Sie keuchte und deutete auf das Teil vor ihren Füßen. Als sie zu sprechen begann, klang ihre Stimme hysterisch. Der Mann redete beruhigend auf sie ein und begutachtete dann den Fund, der die Frau so erschreckt hatte.

Als er wieder aufblickte, war sein Gesicht aschfahl …

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Drei Tage später

Dienstag, 15. Dezember

Facebook-Post

Hallo, wie geht es dir heute, ich hoffe, es geht dir gut und wie war dein Tag, du hast ein wirklich schönes Profil, deshalb mag ich deinen Beitrag und kommentiere ihn. Ich habe versucht, dir eine Freundschaftsanfrage zu senden, aber es funktioniert nicht. Ich hoffe, es macht dir nichts aus, wenn du mir eine Freundschaftsanfrage schickst, damit wir Freunde sein können. Ich möchte wirklich, dass wir Freunde sind, ich hoffe, du bist nicht sauer deswegen??

Die Besucherin hieß Inken Peters und hatte, abgesehen von ihrem Namen, so gar nichts von einem typisch norddeutschen Gewächs an sich. Von kleiner und zarter Statur machte sie auf Anna Wagner den Eindruck, als würde der erste Windhauch sie umpusten. Wie sehr man sich allerdings von Äußerlichkeiten täuschen lassen konnte, wurde der Kommissarin schon nach ihren ersten Worten bewusst, die darauf schließen ließen, dass sie eine willensstarke und durchsetzungsfähige Frau vor sich hatte.

Inken Peters war vor einer Viertelstunde in der Polizeistation erschienen und hatte darum gebeten, mit Anna sprechen zu können, da sie eine Vermisstenanzeige aufgeben wolle. Sie sei durch einen Zeitungsartikel auf sie aufmerksam geworden.

Dieser blöde Artikel lag Anna noch heute quer im Magen, obwohl er schon vor drei Monaten im Lokalblatt erschienen war. Sie war niemand, den es in die Öffentlichkeit drängte, ganz im Gegenteil. Da man aber an höherer Stelle und auch in der Bevölkerung mittlerweile auf die Erfolge der Soko St. Peter-Ording aufmerksam geworden war, hatte sie sich nicht querstellen können, als die Obrigkeit sie freundlich, aber bestimmt aufgefordert hatte, Interviewwünschen nachzukommen. Ihr Einwand, dass es für so etwas doch den Pressesprecher gebe, war abgewiegelt worden. Ein persönliches Gespräch sei schließlich viel interessanter für die Leserinnen und Leser und wichtig für das Renommee der Polizei. Zum Glück hatte sie bisher nur zwei Interviews geben müssen. Eines für eine überregionale Zeitung und eines für das Lokalblatt, dessen Reporter einen für ihren Geschmack viel zu reißerischen Artikel geschrieben hatte.

Anna hatte Inken Peters in ihr Büro gebeten und die Angaben der vermissten Person aufgenommen. Jetzt war sie gerade dabei, Frau Peters, die die Hände aneinander rieb und einen ziemlich durchgefrorenen Eindruck machte, eine Tasse Tee einzuschenken.

»Milch, Zucker?«

»Nein, danke, Tee muss man pur trinken.« Inken Peters pustete in ihren Becher und nahm dann einen vorsichtigen Schluck. »Oh, das tut gut.« Weitere Schlucke folgten. »Mir ist so was von kalt, das ist aber heute auch wieder ein elendes Wetter.«

Anna pflichtete ihr insgeheim bei. Im Dezember sollte Schnee fallen, erst recht, wenn Weihnachten vor der Tür stand. Stattdessen hatte sich das nasskalte Novemberwetter fortgesetzt, und laut Wettervorhersage sollte es auch erst einmal so bleiben. Das war es dann wohl wieder mal mit White Christmas.

Inken Peters stellte ihren Becher auf den Tisch und blickte Anna an. »Stimmt es, dass Sie erst nach vierundzwanzig oder sogar achtundvierzig Stunden anfangen zu suchen? Die wären ja eventuell schon verstrichen, weil ich nicht weiß, wann genau Frau Hensel verschwunden ist.«

»Das hängt von den jeweiligen Umständen ab«, erklärte Anna. »Die von Ihnen vermisst gemeldete Person ist eine erwachsene Frau und somit frei in der Wahl ihres Aufenthaltsortes. Es ist nicht ungewöhnlich, dass sich Menschen absetzen. Und wenn bei diesen Personen nicht davon auszugehen ist, dass sie Opfer einer Straftat geworden sind, und auch keine gesundheitlichen Beeinträchtigungen vorliegen, wird in den meisten Fällen erst einmal abgewartet. Das Gros der Vermissten taucht in der Regel nämlich nach einigen Tagen wieder auf.« Sie musterte ihr Gegenüber aufmerksam. »Sie sagten, dass Sie am vergangenen Sonnabend den letzten Kontakt zu Frau Hensel hatten. Kam Ihnen in dem Gespräch irgendetwas merkwürdig vor? Wirkte Frau Hensel aufgeregt auf Sie? So, als ob sie vor etwas Angst hätte?«

Inken Peters schüttelte den Kopf. Sie war eine aparte Person, mit ihrem blonden Lockenkopf und den ausdrucksvollen dunklen Augen.

»Nein, ganz im Gegenteil, Frau Hensel wirkte geradezu euphorisch, das konnte man selbst am Telefon hören. Sie ist normalerweise eher der zurückhaltende Typ, und dass sie anderen Personen gegenüber Freude oder Begeisterung zeigt, habe ich nur selten erlebt. Dabei sehen wir uns ja fast täglich.« Sie zögerte. »In der letzten Zeit hat sie allerdings unter ziemlichen Stimmungsschwankungen gelitten. Das ging von himmelhoch jauchzend bis zu Tode betrübt und machte den Umgang mit ihr nicht gerade einfach.«

»Kennen Sie den Hintergrund?«

Inken Peters schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Hat die Buchhandlung noch weitere Mitarbeiter, die etwas wissen könnten?«

»Nein, Frau Hensel und ich sind allein. Nur wenn Not am Mann oder einer von uns in Urlaub ist, springt ein Student ein. Das ist manchmal sehr eng, vor allen Dingen im Sommer, aber Frau Hensel wollte keine zusätzliche Kraft einstellen.«

Anna notierte sich den Namen und die Kontaktdaten des Studenten und warf dann noch einmal einen kurzen Blick auf ihre bisherigen Notizen. Bei der Vermissten handelte es sich um die fünfundfünzigjährige Buchhändlerin Karla Hensel, die vor einem Jahr von Heide nach St. Peter gezogen war und im Ortsteil Böhl die Buchhandlung ihrer verstorbenen Tante übernommen hatte, in der Inken Peters seit fünfzehn Jahren arbeitete. Geschieden, keine Kinder, vor der Scheidung und dem Umzug nach St. Peter als Pflegekraft im Westküstenklinikum Heide angestellt gewesen. Abgängig irgendwann in den letzten drei Tagen.

»Warum war Frau Hensel am Sonnabend nicht in der Buchhandlung?«

»Sie hatte gesagt, dass sie etwas vorhätte.« Inken Peters zuckte die Schultern. »Was, hat sie mir allerdings nicht anvertraut.« Ihre Stimme klang schnippisch, ihr Gesicht war spitz geworden.

»Worum ging es in dem Telefonat?«, wollte Anna wissen.

»Frau Hensel hatte angerufen, weil sie noch eine Buchbestellung erweitern wollte. Das Telefonat war kurz, aber, wie gesagt, sie klang sehr aufgekratzt.«

»Was war denn mit gestern? Ist die Buchhandlung am Montag nicht geöffnet?«

»Um diese Jahreszeit haben wir montags geschlossen. Dafür arbeiten wir in der Saison durch.« Inken Peters verschränkte die Hände im Schoß und blickte Anna mit einem schwer zu deutenden Ausdruck an. »Ich will hier ja keine Gerüchte in die Welt setzen, aber ich habe eine Vermutung, was Frau Hensels gute Laune ausgelöst haben könnte und warum sie freigenommen hatte. Aber dazu müsste ich etwas weiter ausholen.«

Anna machte eine auffordernde Handbewegung.

»Frau Hensel ist seit zwei Jahren geschieden und tut sich mit dem Alleinsein wahnsinnig schwer. Da sie aber ein sehr zurückhaltender Mensch ist, der nicht leicht mit anderen warm wird, hat sie lange gebraucht, ihrem Wunsch nach einem neuen Partner nachzugeben. Aber irgendwann ist sie dann über ihren Schatten gesprungen und hat Kontaktanzeigen in Zeitschriften aufgegeben. Mir war gar nicht bekannt, dass das heute noch möglich ist, ich dachte, das läuft jetzt alles über das Internet.« Inken Peters seufzte. »Frau Hensel hat mir erzählt, dass es auch einige Treffen gab, bei denen aber nichts rausgekommen war, weil sie einfach zu verklemmt war, wenn sie jemandem gegenübersaß und über sich reden sollte. Deshalb hat sie es dann im Internet probiert. Sie hat sich auf einigen Datingportalen registriert, und da waren auch mehrere interessante Männer dabei, wie sie mir sagte.«

Hier hakte Anna ein. »Wie ist denn Ihr Verhältnis zu Frau Hensel, dass sie Ihnen diese Dinge erzählt hat, die ja doch sehr privat sind? Zumal Sie anfangs sagten, dass Frau Hensel der zurückhaltende Typ sei. Dann sind Sie befreundet, oder?«

»Befreundet würde ich das jetzt nicht nennen«, kam die zögerliche Antwort. »Frau Hensel hat aber hier in St. Peter kaum Kontakte, und da jeder Mensch ja mal mit einem anderen reden muss, hat sie es mir dann irgendwann erzählt.«

»Wissen Sie, ob es Treffen zwischen Frau Hensel und den Männern gab, die sie über das Internet kennengelernt hatte?«

»Nein, das weiß ich nicht. Ich habe Frau Hensel gewarnt, dass sie nicht leichtsinnig sein soll, weil sie über das Internet offensichtlich mehr von sich preisgab. Aber da hat sie dichtgemacht, und seitdem ist unsere Beziehung ziemlich abgekühlt.« Inken Peters blickte Anna mit einem resignierten Gesichtsausdruck an. »Ich wollte doch bloß, dass sie vorsichtig ist, aber sie hat meine Bedenken als Eingriff in ihr Leben bezeichnet.«

»Dann besteht also die Möglichkeit, dass sie einen Mann kennengelernt hatte und ihre gute Stimmung mit einem Treffen zusammengehangen haben könnte.«

Inken Peters nickte. »Das ist auch meine Vermutung, ich habe Frau Hensel aber nicht darauf angesprochen, weil ich mir nicht wieder eine Abfuhr holen wollte.« Ihr rechtes Bein hatte unruhig zu zucken begonnen, was auch dann nicht aufhörte, als sie ihre Hand drauflegte. Sie wirkte jetzt extrem aufgeregt. »Was, wenn sie auf irgendeinen verrückten Typen gestoßen ist, der ihr etwas angetan hat? Oder sie irgendwo festhält und quält? Wir können doch nicht einfach die Hände in den Schoß legen und abwarten!«

Anna versuchte sie zu beruhigen. »Sie sollten jetzt nicht das Schlimmste vermuten, Frau Peters. Falls sich Frau Hensel mit einem Mann getroffen haben sollte, den sie über das Internet kennengelernt hat, muss das ja nicht zwangsläufig etwas Schlimmes bedeuten. Vielleicht hat es da bereits häufiger Verabredungen gegeben, von denen Sie nichts wissen. Sie erwähnten ja, dass das Thema zwischen Ihnen auf Eis gelegt wurde, und da wird sie Ihnen natürlich nichts von solchen Treffen erzählt haben. Vielleicht ist Frau Hensel aber auch nur zu irgendwelchen Bekannten oder Verwandten gefahren, von denen Sie nichts wissen. Und hat es aus irgendeinem Grund noch nicht zurück nach St. Peter geschafft.«

Inken Peters schüttelte energisch den Kopf. »Wenn dem so wäre, hätte sie mich auf jeden Fall angerufen, Frau Hensel ist nämlich ein äußerst korrekter Mensch!«

»Wie ist denn das Verhältnis zu ihrem geschiedenen Mann? Könnte sie bei ihm sein?«

»Das halte ich für unwahrscheinlich. Frau Hensel hat einmal gesagt, dass sie keinen Kontakt mehr zu ihm hätte. Die Scheidung war wohl ziemlich unschön.«

»Haben Sie zufällig seine Kontaktdaten?«

»Nein, tut mir leid.«

»Sie erwähnten die Stimmungsschwankungen, die Frau Hensel in der letzten Zeit gezeigt hatte.« Anna musterte ihr Gegenüber aufmerksam. »Können Sie sich vorstellen, dass sie Suizid begangen hat?«

Inken Peters blickte sie erschrocken an. »Nein! Ganz bestimmt nicht! Dafür ist sie überhaupt nicht der Typ.«

»Nun ja«, sagte Anna vorsichtig, »wir können ja in niemanden hineinschauen.«

»Nein!«, wiederholte Inken Peters energisch. »Dass Frau Hensel heute nicht wieder hier ist, kann nur damit zusammenhängen, dass ihr etwas zugestoßen ist.«

Anna unterdrückte einen Seufzer. Sie verstand die Aufregung von Inken Peters, aber im Moment waren ihr einfach noch die Hände gebunden. Als sie genau das sagte, stand die Frau abrupt auf und funkelte sie wütend an. »Schon klar, es interessiert Sie nicht! Dann werde ich mich eben selbst auf die Suche nach meiner Chefin machen.« Sie stieß ein höhnisches Schnauben aus. »Von wegen, die Polizei, dein Freund und Helfer. Das ist ja wohl ein Witz!«

Bevor Anna etwas erwidern konnte, rauschte Inken Peters aus ihrem Büro, und nur Sekunden später hörte man die Eingangstür knallen.

3

Nach dem Anruf seines Itzehoer Kollegen starrte Hendrik Norberg eine Weile gedankenverloren aus dem Fenster, vor dem gerade ein kräftiger Regenschauer niederging und gegen die Scheiben prasselte, die diese Reinigungsaktion mittlerweile mehr als nötig hatten.

Es war ein merkwürdiges Gefühl, von einem alten Fall eingeholt zu werden, in dem bislang kein Tatverdächtiger hatte ermittelt werden können. So etwas nagte an jedem Ermittler, auch wenn man den Fall, so wie er, nur im Anfangsstadium bearbeitet hatte.

Norberg war so in seinen Grübeleien versunken, dass er nicht sofort reagierte, als er von der Tür her angesprochen wurde. Erst beim zweiten Mal bekam er mit, dass da jemand etwas von ihm wollte, und blickte auf.

»Na, da war jemand aber ganz weit weg«, meinte seine Kollegin Anna Wagner und betrat sein Büro. Sie blickte ihn forschend an. »Alles in Ordnung?«

»Ich weiß nicht recht.« Norberg seufzte. »Am Böhler Strand sind doch vor drei Tagen ein skelettierter menschlicher Oberschenkel und ein Schädel aufgefunden worden.« Er erinnerte sich noch an die schockierten Gesichter des Ehepaars, das nach der Sturmflut auf der Suche nach Bernstein gewesen war und stattdessen diesen grausigen Fund gemacht hatte. An die Maschinerie, die daraufhin in Gang gesetzt worden war und ihren normalerweise so geruhsamen Küstenort nach den Ereignissen im Mai ein weiteres Mal in Aufregung versetzt hatte. »Eben hat mich Mattes Hellmer, ein ehemaliger Kollege aus Itzehoe, angerufen, dass sie einer Frau namens Elke Färber zugeordnet werden konnten, die letztes Jahr im April verschwunden ist. Ich hatte den Fall damals als Ermittlungsleiter übernommen, als ich nach Kathrins Tod ins K1 zurückgekehrt war. Als dann der Wechsel nach St. Peter feststand, habe ich ihn an Mattes abgegeben. Irgendwann erfuhr ich, dass die Kollegen auf der Stelle traten. Sie hatten zwar von Freunden der Frau erfahren, dass sie auf mehreren Datingportalen registriert war und es auch immer wieder Treffen gegeben hatte. Einige dieser Männer waren ausfindig gemacht und befragt worden, allerdings ohne Ergebnis. Dann war Elke Färber offensichtlich auf Facebook einem Love-Scammer aufgesessen. Alle hatten sie gewarnt, waren aber auf taube Ohren gestoßen. Und Ende April war Elke Färber dann von einem Tag auf den anderen verschwunden.«

»Die Todesursache dürfte bei solch einem Fund wohl nicht mehr nachzuweisen sein«, überlegte Anna.

»Die Rechtsmedizin hat eine Verletzung an der rechten Schläfe festgestellt. Die kann von einem Schlag, aber ebenso von einem Sturz herrühren. Oder von irgendeinem harten Gegenstand, mit dem der Schädel im Wasser in Kontakt gekommen ist.«

»Kann man den Unterschied denn jetzt noch feststellen?«, fragte Anna zweifelnd.

Norberg zuckte die Schultern. »Gute Frage. Ich bin da nicht allzu zuversichtlich und Mattes ebenfalls nicht.«

Annas Blick war nachdenklich geworden.

»Was ist?«, fragte Norberg.

»Ich hatte gerade Besuch von einer Inken Peters, die ihre Chefin vermisst melden wollte. Da es nach dem, was sie mir erzählt hat, keine Auffälligkeiten bei der vermissten Person gibt, musste ich Frau Peters leider mitteilen, dass mir im Moment noch die Hände gebunden sind, was das Einleiten einer Suche betrifft.« Anna nahm auf dem Stuhl vor seinem Schreibtisch Platz und schlug die Beine übereinander. »Der Fall weist gewisse Ähnlichkeiten auf. Die vermisste Person, Karla Hensel, ist Buchhändlerin hier in St. Peter und ebenfalls auf Datingportalen unterwegs.«

Aufmerksam hörte Norberg sich Annas weiteren Bericht an.

»Internetdating ist ja nichts Ungewöhnliches mehr«, schloss sie, »aber vielleicht sollte man mal überprüfen, ob in diesem Zusammenhang noch weitere Fälle vorliegen, in denen Frauen vermisst werden. Ich dürfte ja nicht jeden Fall von vermissten Personen in Schleswig-Holstein gemeldet bekommen, weil ich davon ausgehe, dass einige Kollegen mir gegenüber immer noch Vorbehalte haben und deshalb eine Zusammenarbeit ablehnen.«

Norberg nickte bestätigend. »Gut möglich, dass es damit zusammenhängt. Es gibt immer noch eine Reihe von Kollegen, die der Meinung sind, dass sie keine Unterstützung brauchen, obwohl sie mit ihrem Latein am Ende sind. Dabei sollte es doch immer um die Aufklärung eines Falls gehen, aber dieser Erkenntnis steht eben häufig ein allzu großes Ego im Weg.«

»Fällt Mattes Hellmer denn ebenfalls in diese Kategorie? Immerhin liegt der Fall ja auch schon einige Zeit zurück.«

»So hat er damals nicht getickt. Ich habe seit meinem Wechsel hierher allerdings keinen großen Kontakt mehr zu ihm gehabt, aber das kann ich mir nicht vorstellen.«

Anna zückte ihr Smartphone. »Gib mir doch bitte mal seine Telefonnummer.«

Norberg nannte sie und schaute zu, wie seine Kollegin Hellmers Namen und Nummer eingab und abspeicherte. »Was hast du vor?«

Anna erhob sich. »Ich möchte mich über den alten Fall informieren und denke, dass es am besten ist, wenn ich dazu nach Itzehoe fahre.«

Norberg unterdrückte einen Seufzer. Er hätte Anna gerne begleitet, aber sein Schreibtisch quoll über, was vor allen Dingen mit einer seit zwei Wochen andauernden Autodiebstahlserie zusammenhing. Er würde sich bis zu ihrer Rückkehr gedulden müssen, um mehr zu erfahren. Mattes Hellmer war nämlich in Eile gewesen und hatte ihn am Telefon nur über die Tatsache informiert, dass die aufgefundenen Skelettteile von Elke Färber, der damals vermissten Person, stammten, für Informationen, was sie in der Zwischenzeit ermittelt hatten, war keine Zeit mehr gewesen. »Nimmst du Nils mit?«

Anna schüttelte den Kopf und erhob sich. »Er hat einen Termin und kommt später.«

»Wieder beim Psychologen?«

»Ja. Aber es wird«, fügte Anna hastig hinzu, »er kommt wieder auf die Füße, Hendrik. Ganz bestimmt!«

Was das anbelangte, hegte Norberg Zweifel, und er vermutete, dass auch Anna nicht so zuversichtlich war, wie sie sich in der letzten Zeit den Anschein gab.

Polizeiobermeister Nils Scheffler war es trotz tatkräftiger Unterstützung von Norberg und Anna sowie der eines Psychologen noch nicht gelungen, die Ereignisse vom Mai gänzlich abzuschütteln. Der Verdacht auf eine Hirnblutung nach einem auf ihn erfolgten Angriff hatte sich zum Glück als Fehlalarm erwiesen, physisch war wieder alles in Ordnung mit ihm. Aber seine Psyche hatte mit der körperlichen Gesundung nicht Schritt halten können. Noch immer wurde Nils von Panikattacken heimgesucht, die ihn im Außendienst zu einer Gefahr für die Kollegen machen würden, mit denen er auf Streifenfahrt war. Deshalb hatte er sich freiwillig in den Innendienst begeben. Norberg war überzeugt davon, dass der Hauptgrund für Nils’ schlechte psychische Verfassung in den eklatanten Fehlern lag, die ihm seinerzeit unterlaufen waren und die er sich selbst nicht verzeihen konnte. Norberg und Anna hatten eine längere Suspendierung nicht verhindern können, es dann aber nach Abschluss der Untersuchungen mit vereinten Kräften geschafft, Nils in die Dienststelle und somit in die Soko zurückzuholen. Jedem war bewusst, dass eine weitere Verfehlung Nils das Genick brechen und seinen beruflichen Plänen den Garaus machen würde.

Anna hatte seine zweifelnde Miene bemerkt und klopfte zur Bekräftigung ihrer Aussage auf die Rückenlehne des Stuhls, auf dem sie bis eben gesessen hatte. »Ganz bestimmt!« Dann verließ sie sein Büro.

Norberg kam ihr Verhalten immer so vor, als müsste sie sich selbst Mut zusprechen. Pfeifen im dunklen Wald. Sie hatte von Anfang an ein wesentlich engeres Verhältnis zu Nils gehabt als er und auch mehr Verständnis für dessen Fehlverhalten aufgebracht. Es blieb zu hoffen, dass sie nicht irgendwann enttäuscht werden würde.

4

»Das Geburtstagsessen am Freitag wurde abgesagt.«

»Das ist nicht dein Ernst!« Aufgebracht blickte Axel Hofmann seine Frau Sonja an.

»Es tut mir so leid, Axel, reg dich jetzt bitte nicht auf.« Sonjas Stimme klang flehend, ihr schmaler Körper hatte sich während der Worte verkrampft, ihre dunklen Augen blickten ihn voller Angst an.

»Ich soll mich nicht aufregen? Tickst du noch richtig? Das ist doch eine verdammte Scheiße!« Voller Zorn schlug er mit der Faust auf den Tresen, hinter dem er gerade einige Flaschen sortiert hatte. Er hatte auch die andere Hand zur Faust geballt und atmete tief durch, um nicht die Kontrolle zu verlieren. Am liebsten hätte er die Flaschen in Sonjas Richtung geschleudert und mit hämischem Vergnügen dabei zugesehen, wie sie sich vor Entsetzen zusammenkrümmte. »Gab es eine Begründung?«, brachte er mit mühsam beherrschter Stimme heraus.

»Nein, die gibt es doch nie.«

Sonjas verängstigter Blick stachelte wie so häufig seine Wut an, aber dieses Mal gelang es ihm tatsächlich, sich zusammenzureißen und seinen Frust nicht an ihr auszulassen. Womit sie offensichtlich gerechnet hatte, so klein und unterwürfig, wie sie da herumstand. Als er nicht reagierte, verließ sie den Gastraum geradezu fluchtartig, während er nach einigen Sekunden hinter dem Tresen hervorkam und ans Fenster trat.

Das Il Tramonto lag am Tönninger Hafen, gegenüber dem historischen Packhaus, das wie jedes Jahr seit Ende November wieder festlich beleuchtet war. Fenster und Türen waren durch Zahlen von 1 bis 24 als ein großer Adventskalender in Szene gesetzt, der als längster der Welt sogar seit 1997 im Guinness-Buch der Rekorde verzeichnet war. Jeden Tag wurde symbolisch eine Tür geöffnet, hinter der sich an ausgewählten Tagen spannende Programmpunkte für die ganze Familie verbargen. An den Wochenenden fand im Inneren des Packhauses der beliebte Weihnachtsmarkt statt, auf dem Kunsthandwerker ihre Waren anboten und wo natürlich auch für das leibliche Wohl gesorgt war.

Diese großartige Lage und ein Stand auf dem Weihnachtsmarkt werden viele Gäste anziehen, hatte er beim Kauf des Restaurants gedacht und in Gedanken schon die Scheinchen gezählt, die demnächst in seiner Kasse landen würden. Aber da hatte er sich gewaltig geirrt.

Hofmann stieß einen wütenden Laut aus und schlug mit der Faust gegen das Fenster.

Das Geburtstagsessen für vierzig Personen hätte endlich mal wieder ein bisschen Geld in die Kasse gespült. Der Jubilar hatte sich vor zwei Wochen zuerst telefonisch gemeldet und war dann einen Tag später mit seiner Frau im Restaurant erschienen. Ein dem äußeren Anschein nach gut situiertes älteres Ehepaar, das im benachbarten Kotzenbüll wohnte und den siebzigsten Geburtstag des Mannes in einem stilvollen und anheimelnden Ambiente begehen wollte. Das Wort anheimelnd war aus ihrem Mund gekommen, und der Blick, mit dem sie sich in den Räumlichkeiten umschaute, hatte darauf hingewiesen, dass sie dieses Attribut nicht mit dem Il Tramonto in Verbindung brachte. Trotzdem hatten sie und ihr Mann sich nach einem längeren Gespräch, in dem Hofmann ihnen eine Reihe von Menüvorschlägen sowie weitere Empfehlungen für die Festivität unterbreitete, zu einer Buchung entschlossen. Was wohl auch mit seinem Hinweis zusammengehangen hatte, dass er für den bewussten Freitagabend bereits andere Anfragen erhalten habe und ihnen deshalb empfehlen würde, sich mit einer Entscheidung nicht mehr allzu viel Zeit zu lassen. Solche Lügen gingen ihm problemlos über die Lippen.

Und jetzt die Absage. Offensichtlich hatte sie ihren Mann bearbeitet und sich auf die Suche nach etwas Anheimelndem begeben.

Es war zum Kotzen, und Hofmann begriff es einfach nicht. Eine bessere Lage als die am historischen Hafen von Tönning, in dem in der Saison eine Vielzahl kleinerer Boote ihre Liegeplätze hatte, konnte man in dem Bade- und Luftkurort nicht bekommen, aber das Il Tramonto wollte ums Verrecken nicht laufen. Die ersten Monate nach der Eröffnung vor vier Jahren hatten sie ihnen zwar auch nicht die Bude eingerannt, aber sie waren gut besucht gewesen und hatten eine Reihe positiver Bewertungen in den einschlägigen Portalen erhalten.

Aber irgendwann waren die Besucherzahlen zurückgegangen und stagnierten seitdem auf einem niedrigen Niveau. Über den Grund zerbrach Hofmann sich bis heute den Kopf.

Zuerst hatte er vermutet, dass sie Opfer eines Restaurantkritikers geworden waren. Das Il Tramonto hatte eine überschaubare Speisekarte, immer ein Indiz für ein erstklassiges Restaurant, und die Gerichte waren exzellent, schließlich hatte er einen ausgezeichneten Koch angeheuert, der ihn ein Vermögen kostete. Das schützte allerdings nicht vor einem Verriss, da brauchte der Kritiker bloß einen miesen Tag zu haben, und alles war für die Katz. Aber schlechte Bewertungen waren nicht erfolgt, also konnte das nicht der Hintergrund für das schleppend laufende Geschäft sein.

Vielleicht ist die Einrichtung zu stylisch und euer Essen zu überkandidelt, hatten Bekannte gemeint. Das hier ist Tönning und keine Großstadt. Hier wollen die Menschen, und vor allen Dingen die Touristen, eine bodenständige Küche mit norddeutschen Spezialitäten und keinen italienischen Schickimicki-Schnickschnack mit Lebensmitteln, die vom anderen Ende der Welt eingeflogen werden.

Pangasius ut Asien, minsch Jung, we heppt hier noog Fisch, de mutt doch nich ut’n Utland ween, hatte ein Fischhändler gemeint und ihn mit einem vernichtenden Blick gestraft, als Hofmann seine Auslagen auf dem Marktstand kritisch kommentiert hatte.

Du solltest diese abstrakten Bilder von den Wänden nehmen, mit denen kein Mensch etwas anfangen kann, hatte ein anderer geraten. Mach ’ne maritime Einrichtung, damit kannst du immer punkten. Und denk dir ’nen norddeutschen Namen für das Restaurant aus, Il Tramonto passt in den Süden aber doch nicht in die norddeutsche Tiefebene.

Hofmann hatte geflucht, als er all diese Vorschläge vernommen hatte. Sollte er hier etwa Fischernetze und irgendwelches Plastikgedöns in Form von Meerestieren in die Gegend hängen? Oder jeden Tag dieselben öden Matjes-, Seelachs- und Schollengerichte mit wahlweise Brat-, Salzkartoffeln oder, der Super-GAU!, kann ich Pommes dazu haben, servieren? Mit was für elenden Spießbürgern hatte er es eigentlich zu tun? Nach vielen Jahren als Teilhaber eines gut laufenden Restaurants in Itzehoe hatte er sich mit einer Fülle von Ideen endlich selbstständig gemacht und sofort zugeschlagen, als er auf das leer stehende Restaurant in Tönning aufmerksam geworden war. Er hatte ihre gesamten Ersparnisse investiert und einen hohen Kredit aufgenommen, den er niemals würde zurückzahlen können, wenn sich nicht bald etwas Entscheidendes tat.

Sonja hatte ihn gewarnt, natürlich, was sonst, dieses Mäuschen versuchte ja immer, auf Nummer sicher zu gehen. Es hatte einigen Druck von seiner Seite gebraucht, bis sie das von ihren verstorbenen Eltern geerbte Geld endlich rausgerückt hatte.

Elke hingegen hatte dichtgemacht, als er vor ihrer Tür gestanden hatte. Das lag jetzt mehr als drei Jahre zurück, und trotz ihrer Ablehnung hatte er seinen Stolz danach noch mehrmals heruntergeschluckt und sie erneut um Unterstützung gebeten. Nach dem Tod ihres Mannes, der erfolgreich mit Antiquitäten gehandelt hatte, hatte sie Kohle ohne Ende geerbt, die sie in ihrem Leben nicht mehr würde ausgeben können. Er hatte das Luxusleben gehasst, das sie und der Kerl geführt hatten. Die Färbers aus Itzehoe. Villa mit großem Park am Stadtrand, zwei dicke SUVs, edle Jacht in Brunsbüttel, Ferienwohnung an der Schlei, Ferienhaus auf Sylt. Designerklamotten aus der eigenen Luxusboutique in Hamburg, die auch einiges abwarf, teurer Schmuck, alles nur vom Feinsten. Die Viertelmillion, die ihm wieder auf die Füße helfen würde, hätte sie aus der Portokasse bezahlt.

Du bist ein Versager, Axel, hatte sie gesagt und ihn bei seinen Besuchen immer mit dieser unglaublich arroganten Miene an der Tür abgefertigt. Große Träume, aber nicht in der Lage, auch nur einen davon umzusetzen. Da kann ich mein Geld ja gleich im Schornstein verfeuern.

Ihm stieg die Galle hoch, als er sich an seinen letzten Besuch erinnerte …

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Nein, dieses Mal würde sie ihn nicht wieder an der Tür abspeisen …

Hofmann spürte sein Herz bis zum Hals hinauf schlagen, als er über den gepflegten Rasen ging, der offenbar erst vor Kurzem getrimmt worden war. Sein Unbehagen, eine Mischung aus Wut und Angst, war während der Fahrt immer stärker geworden, aber er musste da jetzt gegen angehen und durfte sich nichts anmerken lassen, denn nur so hatte er vielleicht noch eine Chance, etwas bei seiner Schwester zu erreichen. 

Glaubte er das wirklich? Wieso sollte er ausgerechnet heute die richtigen Worte finden, die Elke dazu veranlassen würden, ihn zu unterstützen? Auf Schmeicheleien würde sie nicht reinfallen, und die Familiennummer à la Ich bin doch dein kleiner, hilfloser Bruder, den du nicht einfach fallen lassen kannst war mittlerweile auch ausgelutscht.

Also, was dann? Wie, verdammt noch mal, sollte er es heute angehen? Denn eines war ihm klar. Wenn er es heute nicht schaffte, sie weichzuklopfen, war’s das für ihn gewesen. Und zwar endgültig.

Er hatte den Wagen in kurzer Entfernung geparkt und sich dann in einem unbeobachteten Moment im hinteren Bereich des weitläufigen Grundstücks über den Zaun geschwungen. Wenn er vorne an der Pforte geklingelt hätte, wäre er von der dort angebrachten Kamera erfasst worden, und dieses Mal hätte Elke ihn mit Sicherheit nicht einmal auf das Grundstück gelassen.

Der Garten mit seinem alten Baumbestand und den zahlreichen verschiedenfarbigen Rhododendren unterschiedlichster Größe war riesig und konnte schon als Park bezeichnet werden. Natürlich wurde er von einer Firma für Landschaftspflege instand gehalten, denn selbst Hand anlegen kam für seine Schwester, dieses Luxusweib, nicht infrage, da würde sie sich ja ihre manikürten Hände schmutzig machen.

Hofmann wurde bewusst, dass ihm schon wieder der Kamm schwoll. Bleib ruhig, beschwor er sich, bleib ruhig.

Die große Terrasse, die er bisher nur von fern bei seinem Auskundschaften des Grundstücks gesehen hatte, war einem überdimensionalen Wintergarten gewichen. Elke hatte Hitze noch nie gut vertragen, und Hofmann ging davon aus, dass dieses Luxusteil mit den heruntergelassenen Außenjalousien natürlich klimatisiert war.

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