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Nordwesttod

Als Buch hier erhältlich:

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Mord an der idyllischen Nordseeküste? Der erste Fall für die Soko St. Peter-Ording

Aus der Landeshauptstadt Bayerns ins ferne Kiel: Kommissarin Anna Wagner braucht nach ihrer Scheidung einen Tapetenwechsel. Sie zieht in den Norden, um im Landeskriminalamt Schleswig-Holstein eine Stelle aufzubauen, die auf Vermisstenfälle spezialisiert ist. Gleich ihr erster Fall führt sie nach St. Peter-Ording an die Nordseeküste: Nina Brechtmann, eine junge Umweltaktivistin aus einer einflussreichen Hoteliersfamilie, wird vermisst. Hat ihr Verschwinden etwas mit den aggressiven Expansionsplänen ihrer Familie zu tun, wurde sie vielleicht entführt? Oder hütete die junge Frau ein Geheimnis? Anna Wagner und der örtliche Dienststellenleiter Hendrik Norberg ermitteln unter Hochdruck, denn niemand weiß, wann genau Nina Brechtmann verschwunden ist … und jede Minute zählt.

»Mit viel Liebe zum Detail und mit dem nötigen Schuss Lokalkolorit hat […] Svea Jensen einen leicht zu lesenden Krimi-Cocktail komponiert […].« Hamburger Abendblatt, 16.02.2021


  • Erscheinungstag: 16.02.2021
  • Aus der Serie: Ein Fall Für Die Soko St. Peter Ording
  • Bandnummer: 1
  • Seitenanzahl: 352
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749950041
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Dieses Buch ist ein Roman. Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen wäre rein zufällig und nicht von mir beabsichtigt.

PROLOG

Die beiden Schutzpolizisten hatten schon so manches in ihrem Leben gesehen, aber der Anblick, der sich ihnen in dieser regennassen Nacht kurz vor ein Uhr auf der Koogstraße bot, würde sie noch lange Zeit bis in ihre Träume hinein verfolgen.

Die nächtliche Routinefahrt, die sie auf unterschiedlichen Wegen über Teile der Halbinsel Eiderstedt geführt hatte und die gegen zwei Uhr am Morgen in St. Peter-Ording enden würde, war bis zu diesem Zeitpunkt ereignislos verlaufen. Vor einer halben Stunde hatte ein feiner Sprühregen eingesetzt, der den Staub der Straße in einen gefährlichen Schmierfilm verwandelt hatte.

Sören Rohde und Lars Klüver fuhren jetzt seit zehn Jahren gemeinsam Streife. Die beiden Oberkommissare waren ein eingespieltes Team und auch privat miteinander befreundet. Ihre Zusammenarbeit wurde von keinerlei Konkurrenzkampf beeinträchtigt; sie wussten, dass sie sich blind aufeinander verlassen konnten. Nur an einem Punkt kamen sie in der letzten Zeit so gar nicht zusammen.

»Der Neue wird frischen Wind reinbringen«, davon war Rohde überzeugt. »Claas ist doch ziemlich behäbig geworden in letzter Zeit und hat sich nur noch mit seinem bevorstehenden Ruhestand beschäftigt. Außerdem hat er den Biss verloren und schiebt wichtige Entscheidungen ewig vor sich her.«

»Aber bei Claas wusste man immer, woran man ist und was man bekommt«, erwiderte Klüver und regulierte das Intervall der Scheibenwischer, als der Regen an Stärke zunahm. Ein schabendes Geräusch bei jedem zweiten Schlag ließ ihn seine Entscheidung wieder korrigieren. »Wer weiß, was da mit dem Neuen auf uns zukommt! Ein Mordermittler aus Itzehoe, der sich zur Schutzpolizei versetzen lässt, wann hat es so was schon mal gegeben? Der wird doch den ganzen Laden umkrempeln.«

»Mensch, Lars, du kennst doch die Hintergründe für diese Versetzung. Der Mann hat nun wirklich einiges durchgemacht. Ich habe jedenfalls Respekt vor seiner Entscheidung, denn die dürfte ihm mit Sicherheit nicht leichtgefallen sein.«

Klüver schnaubte und setzte zu einer Antwort an, als die Scheinwerfer ein Objekt erfassten, das vor ihnen auf der Straße lag. Er bremste abrupt, die Reifen blockierten, aber der Wagen kam rechtzeitig zum Stehen.

Der Mann war noch jung, sein Körper lag merkwürdig verdreht auf der Fahrbahn. Der rechte Arm war angewinkelt, der linke ausgestreckt, die Beine übereinandergeschlagen. Auf seiner Stirn klaffte eine große Wunde, das Gesicht und das ehemals weiße T-Shirt waren blutverschmiert. Ohne zu zögern, stürzten die Polizisten aus dem Wagen. Atemlos überprüfte Rohde die Vitalfunktionen des Mannes, auch wenn ihm die weit aufgerissenen Augen verrieten, dass hier jede Hilfe zu spät kam.

»Scheiße!« Er blickte auf die Gegenfahrbahn, wo im Licht der Autoscheinwerfer in knapp drei Metern Entfernung ein weiterer menschlicher Körper lag, neben dem sein Kollege gerade niedersank.

»Das ist ein Kind!«, rief Klüver, und Rohde hörte die Erschütterung in dessen Stimme.

»Lebt es noch?« Rohde sprang auf und lief zu seinem Kollegen hinüber.

Klüver hatte sich zu dem Körper hinuntergebeugt, jetzt richtete er sich wieder auf und begann mit einer Herzdruckmassage. Der Junge war vielleicht zehn Jahre alt, mit blonden Locken, Jeans und einem Batman-Shirt. Auf den ersten Blick konnte Rohde keine äußeren Verletzungen entdecken.

»Ruf einen RTW, er lebt noch!«, rief Klüver ihm zu.

Rohde rannte zum Streifenwagen zurück und machte Meldung bei der Leitstelle, bevor er mit der Absicherung der Unfallstelle begann und das zerbeulte Mofa am Straßenrand sicherstellte. Im Licht seiner Taschenlampe begann er die Straße abzusuchen, die Grasstreifen und die dahinterliegenden mit Schilf bewachsenen schmalen Wasserläufe zu beiden Seiten. Vorwärtsgetrieben von der verzweifelten Hoffnung, irgendwelche Gegenstände zu finden, die ihnen etwas über den Unfallverursacher verraten würden. Doch das Licht durchdrang die Dunkelheit nur unvollständig, und der Regen, der sich mittlerweile zu einem Wolkenbruch entwickelt hatte, tat ein Übriges, um die Sicht zu erschweren. Rohde fluchte. Allein würden sie es nicht schaffen. Da mussten die Scheinwerfer der Spurensicherung ran. Denn irgendetwas fand sich immer nach einem Autounfall mit Personenschaden. Teile eines kaputten Scheinwerfers oder Blinkers, Absplitterungen einer Stoßstange, wichtig waren auch Reifen- oder Bremsspuren. Allerdings hatte er aufgrund des Regens wenig Hoffnung, was Letzteres betraf.

Während er zu seinem Kollegen zurücklief, überkam Rohde eine heiße Wut auf den Menschen, der das hier verursacht hatte, und er schwor sich, alles daranzusetzen, um dieses elende Schwein zu finden.

Klüver saß jetzt auf dem nassen Asphalt, der Kopf des Jungen lag in seinem Schoß. Unaufhörlich strich er über das feingliedrige Gesicht und die Haare, die sich vor Nässe kräuselten.

»Ist er …?« Rohde brachte die Frage nicht über die Lippen.

Klüver nickte, und als er aufblickte, sah Rohde Tränen in seinen Augen schimmern.

Eine Woche später

Sonnabend, 27. Juni

Mit dem Setzen des Grabsteins würde es wohl noch ein bisschen länger dauern als ursprünglich erwartet, hatte der Steinmetz gerade am Telefon gesagt. Er hätte sich das Grab gestern angeschaut und dabei festgestellt, dass die Erde noch längst nicht so verdichtet sei, wie er gehofft habe. Und man wolle ja nicht, dass der Stein in eine Schieflage geriete oder womöglich sogar umfiele. Dann lieber noch ein, zwei weitere Monate warten.

Hendrik Norberg hatte sich diese Aussage zunächst kommentarlos angehört, dann brach es aus ihm heraus.

»Die Beerdigung meiner Frau liegt jetzt drei Monate zurück, und Sie hatten mir seinerzeit versichert, dass bei einem Sandboden innerhalb von sechs Monaten der Stein gesetzt werden kann. Und jetzt gilt das auf einmal nicht mehr?« Seine Stimme war laut geworden, die linke Hand zur Faust geballt.

»Ja, nun«, erwiderte der Steinmetz, »davon war ich auch ausgegangen, aber man steckt halt nicht drin.«

Norberg sparte sich eine Antwort, denn was hätte sie gebracht? Er beendete das Gespräch und feuerte das Smartphone in die Sofaecke.

Er musste hier raus. Noch eine Sekunde länger in dem Haus, das ihm so viele Jahre Geborgenheit gegeben hatte, und er würde durchdrehen. Zum Deich war es nicht weit, dann runter durch die Salzwiesen an den Strand, wo selbst jetzt in der Hochsaison nie so viel los war wie an den Stränden in Bad oder Ording.

Das Joggen strengte ihn an. Er war aus der Übung und wechselte in einen schnellen Schritt. Trotzdem war er vollkommen erschöpft, als er den Südstrand erreichte und die Stufen zum Pfahlbaurestaurant Strandhütte erklomm. Er hatte Glück und ergatterte einen Platz im Außenbereich, wo sich gerade ein Pärchen von einem Zweiertisch erhob. Hoffentlich würde der Stuhl neben ihm frei bleiben, ihm stand nämlich nicht der Sinn nach Gesprächen, die einem Touris, erst recht solche, die allein unterwegs waren, häufig aufzudrängen versuchten.

Das erste Glas Wasser leerte er in einem Zug, vorsichtshalber hatte er eine Flasche bestellt, um den Flüssigkeitsverlust wieder auszugleichen. Er lehnte sich im Stuhl zurück und streckte die Beine aus.

Die Angelegenheit mit dem Grabstein setzte ihm zu, und der Anpfiff, den er dem Steinmetz verpasst hatte, zeigte deutlich, dass seine Nerven noch immer blank lagen. Der Mann konnte ja nichts für die Umstände, aber, verdammt noch mal, Norberg wollte, dass Kathrins Grab endlich in Ordnung kam und mit den Blumen bepflanzt werden konnte, die sie geliebt hatte. Er sehnte sich verzweifelt nach einem Ort, an dem er trauern konnte. War das denn zu viel verlangt?

»Hendrik!«

Norberg war so in seine Gedanken vertieft, dass er zusammenschrak, als er die Stimme neben sich vernahm. Sobald er aufblickte und sah, wer dort stand und ihn mit leichter Verunsicherung anschaute, überfiel ihn das schlechte Gewissen mit Macht.

»Philipp.« Norberg erhob sich, zögerte einen Augenblick und drückte den langjährigen Freund dann etwas ungelenk. Er deutete auf den freien Stuhl, obwohl ihm auch nicht nach einem Gespräch mit Philipp war. Aber er konnte ihn nicht länger abwimmeln. »Setz dich doch.«

Philipp Hartwigsen kam der Aufforderung nach. »Wie geht es dir?«, fragte er, als sich das Schweigen dehnte und unangenehm zu werden drohte.

»Geht so.«

»Ich hab gehört, dass du ab nächster Woche in unserer Polizeistation arbeitest.«

Falsches Thema. »Hat sich das schon rumgesprochen?« Als Norberg sich des verständnislosen Ausdrucks in Hartwigsens Gesicht gewahr wurde, hob er die Hand in einer entschuldigenden Geste. »Sorry, Philipp, ich wollte dich nicht anraunzen … Es ist nur …« Er brach ab, weil sich wieder dieser elende Kloß in seiner Kehle formte, der seit Kathrins Tod nahezu jedes Gespräch im Keim erstickte.

»Ich weiß nicht mehr weiter, Hendrik«, sagte Hartwigsen, nachdem ein Kellner ihm einen Kaffee gebracht hatte. In seinen dunklen Augen stand die pure Hilflosigkeit. »Seit Kathrins Tod schottest du dich ab und gibst keinem deiner Freunde eine Möglichkeit, dir beizustehen. Das kann doch nicht ewig so weitergehen.«

»Es tut mir leid«, stieß Norberg hervor, und er meinte es auch so. Aber es gelang ihm einfach nicht, über seinen Schatten zu springen. »Woher weißt du es?«, brachte er schließlich heraus.

»Finn hat es Daniel erzählt. Dein Sohn scheint vor Stolz zu platzen, dass du bald in Uniform rumläufst und er mit dir angeben kann.« Hartwigsen schmunzelte. »Ein Polizist in Zivil scheint für ihn kein echter Bulle zu sein.«

Norberg bemühte sich, das Lächeln zu erwidern, aber der Versuch misslang kläglich. Vom erfolgreichen Mordermittler zum Schupo, was für ein Abstieg! Er hielt nach wie vor die größten Stücke auf die Kollegen der Schutzpolizei und hatte sie nie als Zuarbeiter der Kripo gesehen, wie andere es taten. Schließlich hatte er vor seinem Wechsel zur Kripo ja auch einmal zu ihnen gehört. Trotzdem machte es ihn fertig, dass er ab Montag wieder in Uniform herumlaufen würde. »Dann gefällt es ja wenigstens einem in der Familie.«

»Du hast es wegen der Jungs gemacht, oder?«

Norberg starrte auf das Wattenmeer, das glitzernde Wasser der Nordsee in der Ferne. Es war Ebbe, da musste man ein ganzes Stück laufen, bis man das Wasser erreichte. »Ich wollte den beiden keinen Ortswechsel zumuten. Kathrins Tod setzt ihnen schwer zu, da sollen sie wenigstens in ihrer vertrauten Umgebung bleiben.« Ihm wurde bewusst, dass er bisher mit keinem seiner wenigen Freunde über den beruflichen Wechsel gesprochen hatte. Wie bei so vielem hatte er auch diese Angelegenheit wieder mit sich allein ausgemacht. Eine Angewohnheit, mit der Kathrin häufig nicht glücklich gewesen war.

»Es ist die richtige Entscheidung, Hendrik. Solange Kathrin noch lebte, war es nicht so schlimm, wenn du unter der Woche aufgrund der Arbeit mal nicht nach Hause kommen konntest. Aber jetzt brauchen die Jungs dich mehr denn je. Das können Kathrins Eltern nicht auffangen.«

Norberg nickte. Das alles war ihm vollkommen klar, aber trotzdem würde er noch lange mit dieser Entscheidung hadern. In einem Monat hätte er zum Leiter der Itzehoer Mordkommission ernannt werden sollen, ein Posten, auf den er lange hingearbeitet hatte. Alles für die Katz, stattdessen würde er jetzt die Polizeidienststelle in St. Peter-Ording leiten, wo ihn fünf Kollegen erwarteten, die er während der Übergabe in den vergangenen Wochen bereits kennengelernt hatte.

»Willst du nicht mal wieder zu uns kommen?«, fragte Hartwigsen nach einer Weile des erneuten Schweigens.

»Ich weiß nicht …« Norberg zögerte, seinem Freund eine Abfuhr zu erteilen, aber er fühlte sich einfach noch nicht gewappnet für ein Treffen, bei dem sie unweigerlich auf Kathrins Tod zu sprechen kämen. Auf die endlosen Monate, die diesem vorangegangen waren, in denen er sich bemüht hatte, seinen Beitrag zu ihrer Pflege zu leisten und gemeinsam mit ihr der Diagnose ALS die Stirn zu bieten, und doch Tag für Tag aufs Neue das Gefühl gehabt hatte, kläglich zu versagen. »Gib mir noch ein bisschen Zeit, okay?« Er erhob sich, auch wenn er wusste, dass Hartwigsen nicht weiter in ihn dringen würde, aber plötzlich wurde ihm wieder alles zu viel. »Ich muss nach Hause und mich um das Mittagessen kümmern. Finn hat heute noch ein Abschlusstreffen mit seiner Klasse, aber zum Essen steht er immer pünktlich auf der Matte.« Mit Lasse sah das anders aus, aber Norberg hoffte trotzdem, dass sie heute mal wieder alle zusammen essen würden.

»Wir sind die ersten beiden Ferienwochen noch hier, weil Beate noch arbeiten muss. Ich wollte mit Daniel einige Tagesausflüge unternehmen. Ist es okay, wenn wir Finn mitnehmen?«

Norberg fiel ein Stein vom Herzen, denn er hatte schon überlegt, was er mit seinem Jüngsten in den am Montag beginnenden Sommerferien machen sollte. Lasse war in der Hinsicht kein Problem, der beschäftigte sich am liebsten mit sich selbst, aber Finn wollte ständig etwas unternehmen. »Das wäre eine große Erleichterung für mich. Corinna wird sich zwar tagsüber erst einmal weiter um die Jungs kümmern, aber ich möchte ihr jetzt nicht auch noch die tägliche Bespaßung von Finn zumuten. Du weißt ja selber, wie anstrengend er manchmal sein kann.«

»Prima, dann ist das abgemacht.«

»Danke, Philipp!« Norberg legte seinem Freund kurz die Hand auf die Schulter.

»Ich bleib noch einen Augenblick. Das Wetter ist so schön, das muss man ausnutzen.« Hartwigsen deutete auf die Wasserflasche. »Ich übernehm das.«

Norberg nickte ihm dankbar zu und machte sich auf den Heimweg.

Auf der gekiesten Einfahrt stand der rote Polo seiner Schwiegermutter, Heckklappe und Türen weit geöffnet. Der Kofferraum war vollgepackt mit Einkaufstüten, als erwarte Corinna Heckler demnächst eine Belagerung des weiß verputzten Einfamilienhauses in der Deichstraße, in dem jetzt nur noch Norberg und seine beiden Söhne lebten. Er hatte von Anfang an ein gutes Verhältnis zu seinen Schwiegereltern gehabt, vor allen Dingen zu Corinna, und hätte die letzten Monate ohne deren Unterstützung wohl nicht überstanden. Beide trauerten unendlich um ihre Tochter, hatten sich in seiner Gegenwart aber nie zu Gefühlsausbrüchen hinreißen lassen, wofür er ihnen sehr dankbar war, weil er diesen nichts hätte entgegensetzen können.

»Ja, sag mal, wo warst du denn?« Corinna kam ihm aus der offen stehenden Haustür entgegen. Sie war eine attraktive Frau, die im letzten Jahr ihren fünfundsechzigsten Geburtstag gefeiert hatte. Blond, blauäugig und von schlanker Statur war Kathrin ihr Ebenbild gewesen. »Wir wollten doch zusammen zum Einkaufen fahren.«

Norberg starrte sie einen Augenblick sprachlos an, dann fiel es ihm wieder ein. Sie hatten sich am Vortag verabredet, aber nach dem Gespräch mit dem Steinmetz war er so von seiner Wut beherrscht gewesen, dass er Corinna und den Einkauf total vergessen hatte. »Oh Mann, ich … Tut mir leid.«

Seine Schwiegermutter strich leicht über seinen Arm. »Ist schon okay, ich hab’s ja auch allein geschafft.« Sie ging zum Wagen. »Hilf mir mal. Ich hab einiges an Tiefkühlsachen gekauft, die Truhe war ja fast leer. Dann ist erst mal wieder ein bisschen Vorrat im Haus.«

Nach einer Viertelstunde waren Kühlschrank und Tiefkühltruhe wieder aufgefüllt. Nach Kathrins Tod hatte Corinna vorgeschlagen, sich fürs Erste nach der Schule um Finn und Lasse zu kümmern. Sie und sein Schwiegervater wohnten im Ortsteil Böhl, nur wenige Minuten entfernt. Die beiden Jungen kamen zu unterschiedlichen Zeiten aus der Schule, da Finn mit seinen sieben Jahren zur Utholm-Schule ging, der dreizehnjährige Lasse aber auf den Gymnasialteil der Nordseeschule. Norberg hatte sich aber trotzdem vorgenommen, mittags wenigstens mit einem seiner Jungen eine Mahlzeit einzunehmen, vorausgesetzt sein Dienst ließ dies zu. Falls am Abend Not am Mann sein sollte, wollte Corinna ebenfalls einspringen, aber er würde alles daransetzen, dass er pünktlich in den Feierabend gehen konnte. In der Saison wurden die Badeorte an Nord- und Ostsee durch Bäderdienst-Beamte verstärkt, ihre Dienststelle hatte drei zugewiesen bekommen, also standen die Chancen gut.

Während Corinna Kaffee aufsetzte, suchte Norberg die Zutaten für Spaghetti bolognese heraus. Zum Glück konnte er kochen und achtete darauf, dass sich Finn und Lasse gesund ernährten, aber unter den jetzigen Umständen drückte er beide Augen zu, wenn sie nach ihren Lieblingsgerichten verlangten. Norberg setzte das Nudelwasser auf und hörte, wie die Haustür aufgeschlossen wurde. Nur Sekunden später polterte sein Jüngster in die Küche.

»Wann gibt’s Mittagessen?«

»Dauert nicht mehr lange.« Norbergs Herz weitete sich, als er den erwartungsvollen Ausdruck in Finns Augen sah. Der Stöpsel, wie er ihn bei sich nannte, hatte immer Hunger, blieb aber dank seiner sportlichen Aktivitäten ein Strich in der Landschaft. Fußball, Schwimmen, Tennis: Finns Interessen waren vielseitig. Norberg war dankbar dafür, erst recht nach Kathrins Tod, da sie Finn auf andere Gedanken brachten. Aber nachts hörte er seinen Sohn häufig weinen, einige Male war Finn sogar zu ihm ins Bett gekrochen und hatte sich schluchzend an ihn geklammert.

Lasse hingegen machte seine Trauer mit sich allein aus. Er ließ nicht einmal sein engstes Umfeld an sich heran, hielt jeden, der ihm zu nahe kam, mit schroffen Worten auf Distanz. Genauso wie auch Norberg es allen gegenüber tat – mit Ausnahme seiner Schwiegereltern. Es schmerzte ihn, seinen Sohn so zu erleben, aber er fand einfach keinen Zugang mehr zu ihm. Wenn dieses Verhalten anhielt, müssten sie sich Gedanken über psychologische Unterstützung machen, zumal Lasses schulische Leistungen nach Kathrins Tod extrem nachgelassen hatten.

Während des Mittagessens plapperte Finn munter vor sich hin und gab einige Geschichten aus dem morgendlichen Treffen zum Besten. Seine Leistungen waren zum Glück stabil, hier hatte Norberg eine Sorge weniger. Nicht zum ersten Mal dachte er, wie sehr sich seine beiden Söhne voneinander unterschieden. Finn war ein Sonnenschein, ging, ebenso wie Kathrin es getan hatte, offen und freundschaftlich auf Menschen zu. Lasse hingegen geriet ganz nach ihm, worüber Norberg nicht immer glücklich war. Verschlossen, distanziert, zwei Menschen, die nicht so leicht mit anderen warm wurden.

»Sag mal, Papaaa …« Wenn Finn dieses Wort so dehnte, plante er normalerweise etwas. Norberg schob den leeren Teller zur Seite. Er bemerkte das Lächeln in Corinnas Gesicht, sie kannte ihren Enkel gut.

»Jaaa …?«

»Du arbeitest doch ab Montag in unserer Polizeistation …«

Norberg ahnte, was jetzt kommen würde.

»Da kannst du mich doch bestimmt mal mit dem Streifenwagen zur Schule bringen, oder …?«

Kathrin und er hatten sich nie als Elterntaxis betätigt, da die Jungen selbstständig erzogen wurden und die Entfernungen in St. Peter-Ording nicht weit waren. Aber die Verlockung, vor den Augen seiner Mitschüler aus einem Streifenwagen zu steigen, war natürlich sehr groß für Finn, der jetzt schon allen verkündete, dass er auch einmal zur Polizei gehen würde.

Norberg konnte nicht anders, er musste lachen, als er in das erwartungsvolle Gesicht seines Sohnes schaute. »Darüber reden wir dann noch mal.«

»Och, Papa, das wäre so cool! Wie die mich beneiden würden!«

Davon war Norberg nicht ganz so überzeugt, da sich die Vorbehalte gegen die Polizei mittlerweile durch alle Bevölkerungsschichten und Altersgruppen zogen. Aber es würde schwierig werden, dies einem siebenjährigen Kind zu erklären. Zu Norbergs Erleichterung klingelte es an der Haustür, was ihn einer Antwort enthob.

»Das ist Daniel!« Finn sprang auf und sauste auf den Flur. Kurze Zeit später steckten zwei Blondschöpfe ihre Köpfe zur Küche herein, und Norberg begrüßte Philipp Hartwigsens Sohn. Finn und Daniel waren seit frühester Kindheit dicke Freunde, und beim Anblick der Tennistasche über Daniels Schulter fiel Norberg ein, dass heute Training auf dem Programm stand. Er sah, wie Daniel Finn in die Seite stupste und ihm etwas zuflüsterte.

»Daniel möchte übrigens auch mitfahren«, verkündete Finn lautstark.

Norberg mimte den Ungehaltenen und deutete mit dem Finger Richtung Haustür. »Abmarsch, ihr beiden!«

»Och, Papaaa …«

»Wir werden darüber sprechen, Finn, aber nicht jetzt!«

Sein Jüngster zog einen Flunsch, Daniel guckte bedripst. Nach einigen Sekunden, in denen Finn sichtlich mit sich rang, das Thema erneut anzusprechen, zogen die beiden dann doch wortlos von dannen.

»Mach ihm doch die Freude«, sagte Corinna und begann, das schmutzige Geschirr in die Spülmaschine zu räumen.

»Ich kann ihn ja verstehen«, sagte Norberg, »aber ich weiß nicht, ob ich ihm damit einen Gefallen tue. Du weißt selber, dass viele Menschen der Polizei gegenüber eher negativ eingestellt sind, und ich möchte vermeiden, dass Finn dadurch Stress mit seinen Mitschülern bekommt.«

Corinna hielt inne und blickte ihn nachdenklich an. »Da ist was dran, das habe ich nicht bedacht. Aber es wird schwer sein, ihm das zu erklären.«

»Das fürchte ich auch«, seufzte Norberg.

»Gehst du heute Abend eigentlich zur Verabschiedung deines Vorgängers?«, wollte Corinna wissen, nachdem sie den Geschirrspüler angestellt hatte.

»Muss ich wohl.«

Claas Hoyer hatte seine Kollegen in die Arche Noah, das traditionsreiche Pfahlbaurestaurant am Strand vom Ortsteil Bad, eingeladen. Norberg hatte noch immer nicht zugesagt, obwohl ihn Hoyer bereits zweimal dezent darauf hingewiesen hatte, dass es eine gute Gelegenheit wäre, die Kollegen einmal ganz zwanglos kennenzulernen. Norberg kannte Hoyer seit etlichen Jahren, nicht allzu gut, so wie man den Dienststellenleiter seines Wohnorts eben kennt, wenn man für denselben Verein arbeitete. Die anderen Kollegen waren ihm bis dato unbekannt gewesen.

Seine Schwiegermutter versetzte ihm einen aufmunternden Klaps auf die Schulter. »Geh hin, Hendrik! Du musst ja nicht lange bleiben, aber damit zeigst du den neuen Kollegen deinen guten Willen. Außerdem wird dich die Feier auf andere Gedanken bringen, und das hast du wirklich dringend nötig. Seit Kathrins Tod wirst du nämlich immer mehr zum Eigenbrötler.«

»Corinna, ich …«, Norberg schluckte und spürte voller Entsetzen, wie Tränen in seine Augen stiegen.

Seine Schwiegermutter nahm wieder ihm gegenüber Platz und musterte ihn mit ernstem Blick. »Kathrin würde nicht wollen, dass du dich so einigelst. Du musst wieder am Leben teilnehmen, Hendrik.«

Da auch bei ihrem heutigen Besuch niemand auf das Klingeln an der Gartenpforte reagierte, machte sich Kriminaloberkommissarin Anna Wagner wie bereits am Vortag daran, die Vorderseite des Grundstücks in Augenschein zu nehmen. Vielleicht deutete ja heute irgendetwas auf die Anwesenheit der Besitzerin hin. Gartengeräte zum Beispiel, die darauf schließen ließen, dass hier jemand am Werkeln war, auch wenn die Größe des Grundstücks eher dafür sprach, dass für die Pflege der Gartenanlage eine Firma zum Einsatz kam. Oder liegen gelassenes Spielzeug, das zum Beispiel auf den Besuch von Enkeln hindeutete, wenn es denn welche gab, was Anna noch nicht wusste. Zum Glück ermöglichte es ihr der schwarz mattierte Edelstahlzaun, der das inmitten eines gepflegten Gartens gelegene Friesenhaus umgab, das Haus von außen gut zu sehen. Die Aussicht auf die rückwärtige Seite des Grundstücks blieb ihr allerdings verwehrt, da dieses an ein Feld grenzte, auf dem sich eine Herde Galloways tummelte, von denen einige äußerst imposante Hörner aufwiesen. In deren Revier wollte sie besser nicht eindringen, man wusste ja nie.

Das Haus, in dem Constanze Brechtmann wohnte, lag in einer schmalen Einbahnstraße im Ortsteil Ording, dem Surf-Hotspot in St. Peter-Ording. Es war ein imposantes Domizil im Friesenstil mit einer weißen Außenfassade und dunklem Fachwerk. Der Farbe des Reetdachs nach zu urteilen, war es älteren Datums. Während sie es auch heute voller Bewunderung betrachtete, rief Anna sich in Erinnerung, was sie in den letzten beiden Tagen über die Familie Brechtmann herausgefunden hatte.

Eine bekannte Hoteliersfamilie, seit 1960 in St. Peter-Ording ansässig. Bescheidene Anfänge mit einer Pension, später der Neubau eines kleinen Hotels im Ortsteil Ording sowie die Übernahme eines größeren Hauses in St. Peter-Bad.

Ab 2010 dann die Expansion über St. Peter-Ording hinaus, mit Hotels in Büsum, Wyk auf Föhr sowie in Grömitz und Timmendorfer Strand an der Ostsee. Anna erinnerte sich an einen Artikel, in dem die Rede davon gewesen war, dass die Hoteliers an Nord- und Ostsee nach der Wiedervereinigung eine Reihe von Jahren tatenlos zugesehen hatten, wie ihnen Mecklenburg-Vorpommern den Rang ablief und die dortigen Übernachtungszahlen beständig stiegen. Dann waren sie aufgewacht und hatten sich darangemacht, den Mief der Siebzigerjahre, der noch in vielen ihrer Häuser hing, zu beseitigen, die Gebäude zu renovieren oder abzureißen und neue zu bauen. Mittlerweile nahmen die Gästezahlen von Jahr zu Jahr zu, und St. Peter-Ording war neben Sylt zu dem Hotspot an der Nordsee geworden.

Was die Brechtmanns offensichtlich für sich zu nutzen versuchten, bei denen nach dem Tod von Constanze Brechtmanns Mann im Jahr 2012 jetzt die Mutter und die jüngere Tochter Sophie das Sagen hatten. Anna hatte einige Artikel im Netz gefunden, in denen von einem Hotelneubau mit einhundertzehn Zimmern im Ortsteil Böhl die Rede gewesen war, der in der Nähe eines Naturschutzgebiets von einem dänischen Architekturbüro errichtet werden sollte. Die Baugenehmigung hatte die einschlägigen Instanzen trotz zahlreicher Einwände von Ortsansässigen und auch Touristen passiert, die der rasanten Entwicklung von St. Peter-Ording ebenso ablehnend gegenüberstanden wie eine Gruppe von Umweltschützern, die bereits eine Reihe von Protestaktionen durchgeführt hatte. Alles ohne Erfolg, im Herbst würden die Bauarbeiten beginnen. Auch in Eckernförde an der Ostseeküste war ein weiterer Neubau geplant.

Da Annas Bemühungen, Constanze Brechtmann ausfindig zu machen, auch heute kein Ergebnis brachten, beschloss sie der Aussage Glauben zu schenken, die sie vom Manager der beiden in St. Peter-Ording befindlichen Hotels erhalten hatte. Constanze und Sophie Brechtmann befänden sich auf einer viertägigen Geschäftsreise und würden erst am kommenden Tag zurückerwartet. Ab fünfzehn Uhr dürften sie entweder zu Hause oder im Seaview, dem Haupthaus in Bad, anzutreffen sein. Und nein, die Handynummern gebe man grundsätzlich nicht heraus, nicht einmal der Polizei – sie müsse sich gedulden, bis die Damen wieder vor Ort seien.

Anna konnte nicht sagen, warum sie die Worte dieses gelackten Typen mit dem eingefrorenen Lächeln angezweifelt und den Eindruck gewonnen hatte, dass die beiden Frauen sich verleugnen ließen. Es musste wohl das über bald zwanzig Dienstjahre gewachsene Misstrauen sein, dass sie Aussagen erst einmal infrage stellte und zu überprüfen versuchte. Was in diesem Fall besonders wichtig war.

Nina, die 32-jährige ältere Tochter der Brechtmanns, war vor zwei Tagen vermisst gemeldet worden. Allerdings nicht von ihrer Familie, sondern von einer Kollegin in der Seehundstation in Friedrichskoog, in der Nina seit zehn Jahren arbeitete. Da die junge Frau äußerst zuverlässig war, hatten sich die Arbeitskollegen große Sorgen gemacht, als sie nicht aus ihrem Urlaub zurückkehrte. Weil Anna von den Kolleginnen die Information bekommen hatte, dass sich Nina im Urlaub mit ihrer Familie treffen wollte, war Constanze Brechtmann ihre wichtigste Anlaufstelle.

Dieser Vermisstenfall war der Grund, warum man Anna nach ihrer Ankunft im LKA Kiel vor zwei Tagen sofort nach St. Peter-Ording geschickt hatte, um den Fall vor Ort zu bearbeiten. Claas Hoyer, der Leiter der dortigen Polizeistation, hatte durch einen Bekannten im LKA von ihrer Ankunft erfahren und um Unterstützung gebeten, da bei ersten Befragungen in Nina Brechtmanns beruflichem Umfeld keine Gründe für ein freiwilliges Untertauchen zutage getreten waren. Was das Treffen mit ihrer Familie betraf, war auch Hoyer nicht weitergekommen, da der Hotelmanager ihn mit der gleichen Antwort abgespeist hatte wie später auch sie.

Anna hatte die Entscheidung der Kieler LKA-Kollegen mit einiger Verwunderung, aber ohne Widerspruch zur Kenntnis genommen, einfach nur froh darüber, dass sie München und die vergangenen Monate, in denen in ihrem Leben kein Stein auf dem anderen geblieben war, endlich hinter sich lassen konnte. Außerdem war ein Küstenort, in dem sie als Kind einige Urlaube mit ihren Eltern verbracht hatte, ein hundertmal attraktiverer Arbeitsplatz als die nicht besonders schöne Landeshauptstadt von Schleswig-Holstein. Auch wenn sie nur für diesen einen Fall in St. Peter-Ording eingesetzt werden würde.

Allerdings hatte sie ihre Kindheitserinnerungen bisher noch nicht auffrischen können, da sie die Arbeit von der ersten Minute an in Anspruch genommen hatte und sie nach zwei sehr späten Feierabenden erst einmal versucht hatte, sich in der Ferienwohnung einzurichten, die von Claas Hoyer für sie angemietet worden war. Anna hatte aus München zwar nur eine Reihe von Kleidungsstücken mitgenommen und alles andere erst einmal eingelagert, aber die Wohnung hier in St. Peter war viel zu klein, der Platz reichte hinten und vorne nicht. In München hatte sie bis vor der Scheidung in ihrem geräumigen Elternhaus gewohnt, sie war ein Mensch, der einfach Platz um sich herum brauchte, selbst wenn sie sich, wie im Moment, nur mit wenigen Dingen belastete. Hier musste also dringend Abhilfe geschaffen werden, denn schließlich bestand die Möglichkeit, dass der Fall sie länger vor Ort halten würde. Und selbst wenn nicht: In dieser winzigen Wohnung würde sie keine Sekunde länger als nötig verbringen. Es war allerdings die Frage, ob sie jetzt in der Hauptsaison auf die Schnelle eine andere Unterkunft finden würde.

Als sie in die Polizeistation zurückkehrte, stellte sie fest, dass bis auf Claas Hoyer alle ausgeflogen waren. Er hatte heute seinen letzten Arbeitstag, für den Abend war seine Abschiedsfeier in einem der Pfahlbaurestaurants geplant. Am Montag würde sein Nachfolger den Dienst antreten, den sie noch nicht kennengelernt hatte. Sie bedauerte, dass Hoyer in den Ruhestand ging, denn er war ihr vom ersten Augenblick an sympathisch gewesen. Gerne hätte sie ihn weiter an ihrer Seite gehabt, auch weil ihr der norddeutsche Menschenschlag doch noch so manches Rätsel aufgab. Allein dieses Moin, mit dem man hier nicht nur am Morgen, sondern rund um die Uhr grüßte. Wohingegen Moin, Moin schon wieder als Gesabbel – noch so ein Wort – galt und Guten Moin den Touristen auswies, wie Hoyer ihr schmunzelnd beigebracht hatte. Wer weiß, wie zugänglich der Neue sein wird, hatte sie gedacht, als Hoyer ihr von dessen Hintergrund erzählt hatte. Ein ehemaliger Mordermittler aus Itzehoe, der sich nach dem Tod seiner Frau an den Wohnort der Familie nach St. Peter-Ording hatte versetzen lassen, damit seine beiden Söhne in ihrer gewohnten Umgebung bleiben konnten. Das sprach ja für ihn; Anna konnte sich allerdings schwer vorstellen, dass er mit dieser Entscheidung glücklich war. Von der Schutzpolizei zur Kripo war bei den meisten der ersehnte Weg, umgekehrt eher nicht.

»Und? Bist du weitergekommen?«, fragte Hoyer, als sie sein Büro betrat, in dem bereits ein Umzugskarton mit persönlichen Dingen auf den Abtransport in sein Haus wartete. An der hellgrau gestrichenen Wand zeugten zwei hellere Rechtecke von den Bildern, die dort gehangen hatten und jetzt auf dem Karton lagen. Gletscher und Eisberge, zwei atemberaubende Aufnahmen. In der kommenden Woche sollten die Wände neu gestrichen werden, hatte Hoyer Anna erzählt und dabei schelmisch gegrinst. »Damit mein Nachfolger dann seine Spuren hinterlassen kann.«

Er sieht aus wie ein Seebär, dachte Anna jedes Mal bei Hoyers Anblick. Kurz getrimmtes eisgraues Haar, ein gepflegter Vollbart im wettergegerbten Gesicht, dessen zahlreiche Augenfältchen von einem Menschen zeugten, der viel und gerne lachte. Ein Mann, der sich unbändig auf den Ruhestand freute und auf die Reisen, die er mit seiner Frau unternehmen wollte. Grönland war ihr vorrangigstes Ziel – »Bevor die Eisberge dort wegschmelzen, Anna!« – und dann Touren mit dem neu erstandenen Wohnmobil durch Skandinavien.

Anna ließ sich auf den Stuhl vor Hoyers Schreibtisch fallen. »Nein, auch heute war niemand zu Hause.«

»Dann musst du die Aussage dieses Managers jetzt wohl glauben, mir blieb ja auch nichts anderes übrig«, sagte er. »Warum so misstrauisch, junge Frau?«

Junge Frau, nein, die war sie mit ihren 37 Jahren ganz bestimmt nicht mehr, worauf sie ihr Spiegelbild jeden Tag aufs Neue gnadenlos hinwies. Eine Reihe zusätzlicher Falten, die ersten grauen Haare, die letzten Monate hatten sie ausgelaugt. »Jobbedingt«, sagte sie und fühlte auf einmal wieder diese allumfassende Müdigkeit, die sie jedes Mal überfiel, wenn sie an die zurückliegende Zeit dachte. »Kennst du doch sicher auch, oder?« Sie hatte Hoyer nicht erzählt, wie es zu ihrer Versetzung von Bayern nach Schleswig-Holstein gekommen war, dazu kannten sie sich noch nicht gut genug. Vielleicht, wenn er geblieben wäre, aber so hatte keine Veranlassung dazu bestanden.

»Klar«, meinte Hoyer, »man sollte aber aufpassen, dass man sich davon nicht zu sehr vereinnahmen lässt.«

Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück, und Anna dachte wieder einmal, wie tiefenentspannt dieser Mann wirkte. Sicher hatte es in seinem Leben eine Reihe von Momenten gegeben, in denen das Gegenteil der Fall gewesen sein mochte, aber trotzdem schien diese Gelöstheit ein Wesenszug von ihm zu sein. Sie beneidete ihn glühend darum, war sie doch selber das genaue Gegenteil.

»Wie willst du denn jetzt weitermachen?«, wollte Hoyer wissen.

Das hatte sie auf dem Rückweg auch überlegt. »Ich werde noch mal nach Friedrichskoog fahren und mir die Wohnung von Nina Brechtmann vornehmen. Vielleicht finde ich ja doch irgendwas, was ich gestern übersehen habe.«

Die Kollegen von Nina hatten ihre Wohnung aufgesucht, nachdem sie nicht zum Dienst erschienen war. Nina hatte einer von ihnen einen Schlüssel für den Notfall gegeben, und da hatten sie natürlich erst einmal dort nachgeschaut, bevor sie die Polizei alarmiert hatten. Es war ihnen allerdings nichts Ungewöhnliches aufgefallen.

Anna hatte den Schlüssel am Vortag erhalten und eine ansprechende Zweizimmerwohnung mit einem kleinen Balkon vorgefunden, in der nichts darauf hindeutete, dass hier ein Verbrechen geschehen war. Trotzdem hatte sie die Wohnung wie einen Tatort behandelt und sie in entsprechender Schutzkleidung betreten. Was ihr aufgefallen war, war das Fehlen jeglicher Fotos, auf denen Familienmitglieder oder Freunde zu sehen waren. Ob es einen Mann in Ninas Leben gab, hatten ihre Kollegen nicht gewusst. Was ihr Privatleben anbelangte, sei sie immer sehr zurückhaltend gewesen, hatten sie Anna erzählt, wie sie überhaupt eine eher stille Person gewesen sei, die sich aber durch große Zuverlässigkeit auszeichnete. Selbst die Kollegin, der Nina seinerzeit den Schlüssel anvertraut hatte, hatte nichts zur Aufklärung beitragen können. Das Einzige, was Anna erfahren hatte, war der Umstand, dass sich Nina stark für den Umweltschutz engagierte.

»Ich muss unbedingt Freunde von Nina Brechtmann auftreiben«, sagte Anna. »Da konnte mir bisher nämlich noch niemand weiterhelfen.« Sie blickte Hoyer an. »Ihre Kollegen hatten mir ja erzählt, dass Nina im Umweltschutz aktiv ist, allerdings wussten sie nicht, ob sie sich einer Gruppe angeschlossen hat. Gibt es hier überhaupt solche Gruppen?«

Hoyer legte seine Stirn in nachdenkliche Falten. »Ich hab da kürzlich was von einer Bewegung gehört, die sich gegen Hotelneubauten an unserer Nordseeküste engagiert. Ob das nun aber so ein loser Zusammenschluss oder eine richtig organisierte Gruppe ist, weiß ich nicht.«

»Wo hast du das gehört?«

Hoyer grinste. »Das hat mir der Bäcker meines Vertrauens erzählt.« Er griff zum Telefonhörer. »Ich frag ihn mal eben, vielleicht kann er sich noch erinnern.«

Das Gespräch war kurz und brachte ein Ergebnis.

»Die heißen KüstenFreunde SH und existieren seit zwei Jahren.« Er reichte ihr den Klebezettel, auf dem er während des Telefonats etwas notiert hatte. »Das ist ihre Website. Da findest du bestimmt Ansprechpartner.«

Anna griff nach dem Zettel. »Danke, das hilft mir doch schon weiter.«

»Hast du auch mal über einen Suizid nachgedacht?«

»Natürlich. Ninas Kollegen war aufgefallen, dass sie in der letzten Zeit häufig bedrückt wirkte. Sie haben da was in Richtung Liebeskummer vermutet. Einen Suizid konnte sich trotzdem niemand vorstellen, weil Nina wohl normalerweise ein sehr lebensfroher Mensch ist.«

»Ich hab ja vor deiner Ankunft überprüft, wie es in Bezug auf einen Unfall aussieht. Also Autounfall oder so«, sagte Hoyer. »Da war aber nichts in unserem Bundesland und auch nicht in Hamburg gemeldet. Willst du dir noch die anderen Bundesländer und Dänemark vornehmen?«

»Hab ich schon«, sagte Anna, »dabei ist aber auch nichts rausgekommen. Das Wichtigste sind deshalb jetzt die Gespräche mit ihrer Mutter und Schwester. Wenn Nina sie in ihrem Urlaub besuchen wollte, sind sie unter Umständen die Letzten, die sie gesprochen haben. Außerdem hoffe ich, dass sie mir etwas über Ninas private Kontakte sagen können. Es ist ja auch nicht auszuschließen, dass sie vor jemandem geflohen ist.«

»Oder dass jemand sie umgebracht hat«, vollendete Hoyer Annas Gedanken. »Da kommt noch ’ne Menge Arbeit auf dich zu. Aber du bist ja zum Glück die Expertin auf diesem Gebiet.«

Anna seufzte. Ja, das war sie, aber dieser Fall war kompliziert, weil das soziale Umfeld so schwer zu ermitteln war. Selbst die Gespräche mit Ninas Nachbarn waren nicht allzu ergiebig gewesen, obwohl gerade Hausgenossen in vielen Fällen geradezu sprudelnde Informationsquellen waren. Zwei Nachbarn hatten etwas von Herrenbesuchen erwähnt, der jeweiligen Beschreibung nach musste es sich allerdings um zwei unterschiedliche Männer gehandelt haben. Einige Male wären laute Stimmen aus Ninas Wohnung zu hören gewesen, hatte die direkte Nachbarin noch erwähnt, das hätte immer nach einem heftigen Streit geklungen. Hier musste sie einen Ansatz finden.

»Vergiss aber bitte meine Feier heute Abend nicht«, unterbrach Hoyer ihre Gedanken. »Ich zähle auf dich!«

Sie lächelte ihn an und erhob sich. »Ganz bestimmt nicht. Ich freue mich darauf, endlich wieder frischen Fisch aus dem Meer essen zu können. In Bayern kommen Fischfreunde ja eher zu kurz.«

»Bayerische Fischfreunde?«, wunderte sich Hoyer. »Das gibt es?«

»Ja, was glaubst du denn?«, gab sie zurück. »Dass wir nur Weißwurscht und Brez’n essen? Ich bin der absolute Fischfreak.«

Sein ungläubiges Lachen folgte ihr, als sie die Dienststelle verließ. Draußen fuhr gerade ein Streifenwagen vor, dem die Kollegen Nils Scheffler und Michael Paulsen entstiegen. Nils schien der Sonnenschein der Truppe zu sein, ging mit seinen achtundzwanzig Jahren locker für zehn Jahre jünger durch und war ein begeisterter Surfer. Er hatte sie bei ihrer Ankunft in Empfang genommen, und sie waren sofort miteinander warm geworden; bei den restlichen Kollegen, ausschließlich Männer, hatte sich bisher noch keine Möglichkeit für ein näheres Kennenlernen ergeben. Alle hatten aber einen sympathischen Eindruck gemacht, bis auf Michael Paulsen. Sie schätzte ihn auf etwa fünfzig, auch wenn er sich mit einem Undercut, dem silbernen Ohrstecker und einer etwas zu coolen Sonnenbrille alle Mühe gab, jünger auszusehen. Bei der Begrüßung hatte er ihre Hand ein wenig zu lange gehalten, und sein Blick war langsam und abschätzend über ihren Körper geglitten und hatte sie frösteln lassen.

»Ah, die neue Kollegin.« Paulsen schob die Sonnenbrille hoch und kam langsam auf sie zu. Unwillkürlich glitt Annas Blick wieder zu den drei blauen Sternen auf seiner Schulterklappe. Polizeiobermeister. Wie bereits bei der Begrüßung fragte sie sich, was in seiner Karriere schiefgelaufen sein mochte, dass er denselben Dienstrang aufwies wie sein zwanzig Jahre jüngerer Kollege Nils Scheffler.

»Hallo.« Sie wollte an Paulsen vorbeigehen, aber er trat ihr in den Weg.

»Ich hoffe doch, dass wir uns heute Abend auf Claas’ Abschiedsfeier sehen.«

Sie zwang sich keinen Schritt zurückzutreten und musterte ihn mit einem, wie sie hoffte, kühlen Blick. »Mal sehen, ob ich es einrichten kann.« Bevor er antworten konnte, ließ sie ihn stehen, warf Nils ein Lächeln zu, auch wenn ihr im Moment überhaupt nicht danach war, und ging zu ihrem Wagen, den sie am Straßenrand geparkt hatte.

»Ich freu mich auf dich!«, hörte sie Paulsens Stimme in ihrem Rücken, gefolgt von einem leisen und unangenehmen Lachen. Das war wieder einer dieser Momente, in denen ihr die unter Kollegen übliche Gewohnheit, dass jeder jeden duzte, selbst wenn man sich nur kurz kannte und überhaupt nichts über den anderen wusste, extrem auf den Wecker ging. Aber es war schwer, sich dem zu entziehen – besonders, wenn man neu an einer Arbeitsstätte und zudem noch eine Frau war. Mal sehen, wie der neue Dienststellenleiter das handhaben würde. Sie hatte jedenfalls entschieden, ihn erst einmal zu siezen.

Sie beschloss, sich auf der Feier blicken zu lassen. Claas Hoyer zuliebe, aber wenn Paulsen sie weiterhin so dämlich anbaggerte, würde dieser Besuch sehr kurz ausfallen. Außerdem ließ ihr das Verschwinden von Nina Brechtmann keine Ruhe. Dieses beharrlich im Hinterkopf pochende Wissen, dass bei einem Vermisstenfall jede Sekunde zählte, wenn es zum Beispiel um eine Entführung ging oder die vermisste Person in die Hände eines Gewalttäters geraten war. Aber traf etwas davon bei Nina Brechtmann zu? Anna hoffte inständig, dass Constanze und Sophie Brechtmann ihr am nächsten Tag weiterhelfen konnten.

Nach dem gemeinsamen Abendessen aller Teilnehmer hatte sich Bent Forsgren mit der Entschuldigung verabschiedet, dass er noch mit seiner Schwester verabredet sei. Was nicht der Wahrheit entsprach, da Saga mit Mann und Tochter vor einer Woche in den Urlaub nach Kreta geflogen war, aber er hatte einfach keinen Bock mehr auf den Abschiedsumtrunk gehabt, der unweigerlich in einem Besäufnis enden würde.

»Schade«, hatte Saga bei seinem Anruf vor zwei Wochen gesagt, »da kommst du endlich mal wieder nach Hause, und dann bin ich nicht da. Sieh doch zu, dass du es über die Weihnachtstage schaffst, dann feiern wir das Fest so, wie wir es von Mama und Papa kennen. Mit gemeinsamem Baumschmücken und Kochen und einem tollen Spieleabend. Ich hab zwei neue Spiele gekauft, die werden dir bestimmt gefallen.«

Eine jähe Trauer überfiel ihn, als er sich jetzt an diese Worte erinnerte. Er trat an das Wohnzimmerfenster der Altbauwohnung im Kopenhagener Stadtteil Frederiksberg, die er vor fünfzehn Jahren erworben und aufwendig restauriert hatte. Weihnachten mit den Eltern war immer groß gefeiert worden, und sie hatten stets viel Spaß miteinander gehabt, aber seitdem ihre Mutter vor acht Jahren verstorben und der Vater ihr ein Jahr später nachgefolgt war, waren die Weihnachtsfeste in der Familie Forsgren nicht mehr dieselben.

Überhaupt war nichts in seinem Leben mehr, wie es sein sollte. Weder beruflich noch privat.

Der Neubau des Einkaufszentrums in Malmö war vor drei Monaten geplatzt, und die Teilnahme an dem heute zu Ende gegangenen viertägigen Architektenkongress im Comwell Conference Center in Kopenhagen war ebenso für die Katz gewesen wie diverse Unternehmensbesuche, von denen er sich einiges erhofft hatte. Keine neuen Aufträge, mit denen er das Unvermeidliche noch hätte abwenden können.

»Na, hör mal, du hast doch nun wirklich keinen Grund, dich zu beklagen«, hatte ein Kollege mit einem unangenehmen Grinsen gemeint. »Schließlich hast du zwei begehrte Hotelneubauten in Schleswig-Holstein an Land gezogen, hinter denen auch noch andere von uns her waren. Aber im Gegensatz zu uns hast du eben die allerbesten Verbindungen in diese Familie, und deshalb wird dieser Auftrag mit Sicherheit nicht der letzte gewesen sein, den du von ihnen erhältst.«

Forsgren stieß einen gequälten Seufzer aus und goss sich einen doppelten Whisky am gut bestückten Barwagen ein, obwohl er fest entschlossen gewesen war, heute Abend nüchtern zu bleiben. Aber wie an allen Abenden zuvor blieb es auch dieses Mal bei dem guten Vorsatz.

Ja, der Hotelneubau in St. Peter-Ording und ein weiterer in Eckernförde würden dafür sorgen, dass die Absage aus Malmö Forsgren Arkitekt nicht das Genick brach, sondern die Firma, die sein Vater gegründet hatte, weiterhin schwarze Zahlen schreiben würde.

Aber welchen Preis hatte er dafür zahlen müssen …

Hendrik Norberg hatte sich die mahnenden Worte seiner Schwiegermutter zu Herzen genommen, hegte aber bereits bei seiner Ankunft in der Arche Noah die ersten Fluchtgedanken. Das Restaurant war rappelvoll, fröhliche Stimmung an jedem Tisch, kein Wunder bei dem prachtvollen Wetter. Die Erinnerung an schöne Stunden an diesem Ort mit Kathrin und den Kindern hatte ihn bereits beim Erklimmen der ersten Stufen attackiert und ließ sich angesichts der glücklichen Gesichter um ihn herum kaum abschütteln. Aber dies ging ihm an vielen Plätzen in St. Peter so, schließlich wohnte er seit der Heirat mit Kathrin vor achtzehn Jahren hier. Er hoffte inständig, dass es ihm irgendwann gelingen würde, der Erinnerungen Herr zu werden und die Örtlichkeiten nicht mehr zu fliehen.

Claas Hoyer hatte einen Platz im Außenbereich reserviert, und als Norberg mit einer halben Stunde Verspätung eintraf, war die Stimmung bereits prächtig. Woran mit Sicherheit auch die farbenfrohen Cocktails ihren Anteil hatten, die vor sieben der insgesamt neun Anwesenden aufgereiht waren. Norberg guckte, wen der Bereitschaftsdienst getroffen hatte: Nils Scheffler und einen der Bäderdienst-Beamten, dessen Namen er vergessen hatte. Die beiden hielten sich an Wasser, machten aber keinen minder aufgeräumten Eindruck.

Hoyer hatte sich erhoben und begrüßte Norberg mit einem Handschlag. »Schön, dass du es einrichten konntest, dann sind wir jetzt ja fast vollzählig.« Er deutete auf den freien Stuhl neben sich.

»Fast?«, fragte Norberg, nachdem er die Kollegen, die in zwei Strandkörben und auf Holzstühlen um drei zusammengerückte Tische unter einem großen Sonnenschirm saßen, mit einem Nicken begrüßt hatte.

»Ja, es fehlt noch eine Kollegin, die hast du noch nicht kennengelernt. Sie hat mir aber gerade eine Nachricht geschickt, dass es bei ihr noch etwas dauern wird und wir nicht mit dem Essen auf sie warten sollen.« Hoyer winkte der Bedienung. »Was möchtest du trinken?«

»Gerne ein Bier.« Norberg hakte noch einmal nach, weil ihn Hoyers Bemerkung irritiert hatte. »Was für eine Kollegin? Hab ich da irgendwas verpasst?«

Der letzte Satz war schärfer herausgekommen, als beabsichtigt, was Hoyer aber nicht aus der Fassung brachte. Der 62-jährige Exdienststellenleiter schien ein umgänglicher Zeitgenosse zu sein, wie überhaupt das ganze Team einen entspannten und unaufgeregten Eindruck machte, was Norberg bereits an den Tagen der Übergabe hatte feststellen können. Zum ersten Mal streifte ihn der Gedanke, dass der neue Posten ihm vielleicht auch die Chance bieten könnte, sein inneres Gleichgewicht wiederzufinden. Mit netten Kollegen und ohne den ständigen Aufstiegskampf in einer Mordkommission, der ihm in den letzten Jahren doch so manches Mal zugesetzt hatte. Aber um dahin zu kommen, müsste er sich erst einmal mit der neuen Situation arrangieren …

»Nicht verpasst, ich bin nur noch nicht dazu gekommen, dich darüber zu informieren, weil du die letzten Tage ja in Itzehoe warst«, sagte Hoyer und bat die Bedienung, ihnen ein Bier und die Speisekarten zu bringen. »Wir haben einen aktuellen Vermisstenfall, der mir Grund zur Sorge bereitet, weil nichts auf ein freiwilliges Verschwinden hindeutet. Ich hatte die LKA-Kollegen um Unterstützung gebeten, weil mir zu Ohren gekommen war, dass sie eine Expertin auf dem Gebiet erwarten. Und wir sind in der Saison sowieso schon genug ausgelastet. Die Kollegin hat die Vermisstenstelle in München geleitet. Da ich den Fall dringlich gemacht habe, hat man sie uns sofort zugewiesen. Seit zwei Tagen ist sie bei uns.«

Eine Kripokollegin, die in seiner Dienststelle einen Vermisstenfall bearbeiten sollte? Wieso machte sie das nicht von Kiel aus?

Offensichtlich stand ihm seine Frage ins Gesicht geschrieben, da Hoyer sie im nächsten Moment beantwortete. »Wir hielten es für besser, dass Anna Wagner die Ermittlungen von St. Peter aus führt. Von Kiel hierher sind es pro Strecke mindestens anderthalb Stunden, das ist ja nun wirklich eine Gurkerei, die wir ihr ersparen können. Ich hab sie in der Ferienwohnung eines Bekannten untergebracht, denn die Wohnungen in unserer Dienststelle sind ja von den Bäderdienstlern belegt.«

Norberg war sich nicht darüber im Klaren, ob er Hoyers Idee gut finden und dessen Aussage, er hätte noch keine Zeit gehabt, ihn darüber zu informieren, glauben sollte. Aber er wollte die Abschiedsfeier jetzt nicht mit Querelen verderben, sondern sich diese Anna Wagner erst einmal anschauen und dann entscheiden, ob es wirklich erforderlich war, dass sie vor Ort blieb. Er fragte Hoyer, um wen es sich bei der vermissten Person handeln würde.

»Die Frau heißt Nina Brechtmann und arbeitet in der Seehundstation in Friedrichskoog. Sie hätte am 25. Juni aus dem Urlaub an ihren Arbeitsplatz zurückkehren sollen. Als sie nicht erschienen ist und weder telefonisch erreichbar noch in ihrer Wohnung anzutreffen war, hat sich eine Kollegin bei uns gemeldet, da Frau Brechtmann angegeben hatte, im Urlaub ihre Familie hier vor Ort besuchen zu wollen.«

»Die Hoteliersfamilie?«

»Ja.« Hoyer nickte.

»Und was haben die ausgesagt?«

»Noch nichts. Mutter und Tochter sind auf einer Dienstreise und kommen erst morgen zurück.«

Das Gespräch wurde unterbrochen, als die Bedienung mit den Speisekarten und Norbergs Bier kam.

»Prost, Kollegen«, sagte Hoyer, bevor er sich wieder an Norberg wandte. »Ich hatte die vergangenen Tage noch so viel auf dem Zettel, dass ich alles Anna überlassen habe. Sie kommt ja noch, da kann sie dich gleich auf den neuesten Stand bringen.«

Während des Essens entspannen sich unterhaltsame Gespräche, aus denen Norberg einiges über seine neuen Kollegen erfuhr. Sportbegeistert schienen alle zu sein, wobei Windsurfen und Strandsegeln an vorderster Stelle standen. Das Durchschnittsalter der Truppe lag in etwa bei dreißig. Der Ausreißer nach unten war der 22-jährige Polizeiobermeisteranwärter Bastian Werner, bei dem nach oben handelte es sich um den fünfzigjährigen Polizeiobermeister Michael Paulsen. Dass Letzterer es in seinem Alter zu keinem höheren Dienstgrad gebracht hatte, hatte Norberg bereits beim Kennenlernen gewundert. Hoyer hatte ihm keine Bewertungen der Kollegen an die Hand gegeben, da sich Norberg lieber ein eigenes Bild von jedem machen wollte. Paulsen allerdings war ihm vom ersten Augenblick an unsympathisch gewesen, was auf Gegenseitigkeit zu beruhen schien.

Beim Anblick des Fischtellers war Norberg tatsächlich das Wasser im Mund zusammengelaufen, und er hatte sich umgehend mit gutem Appetit über Rotbarsch, Kabeljau, Zander und die Riesengarnele hergemacht. Seit Monaten brachte er kaum etwas herunter, auch wenn Corinna, die gut und reichlich kochte, ihn stets zum Essen animierte. Dass er hier jetzt die Köstlichkeiten aus dem Meer bis auf den letzten Bissen verputzte, durfte sie auf keinen Fall erfahren, weil dies verständlicherweise an ihrer Hausfrauenehre kratzen würde.

Nachdem er seine Mahlzeit beendet hatte, entschuldigte er sich für einen Augenblick und stieg die Treppen zum Strand hinunter. Eine Möwe segelte fast schwerelos am Himmel über ihm und stieß von Zeit zu Zeit ein keckerndes Kreischen aus, während sie die Strandfläche unter sich aufmerksam nach etwas Essbarem absuchte.

Norberg ging einige Schritte Richtung Wasser und zog sein Smartphone aus der Hosentasche, um zu Hause anzurufen. Lasse hatte sich am Nachmittag nicht wohlgefühlt, und Norberg wollte hören, wie es ihm jetzt ging. »Scheint ein Magen-Darm-Virus zu sein«, hatte Corinna gemeint. »Der Junge hat sich hingelegt. Nein, du musst nicht kommen, ich hab alles im Griff.«

Natürlich hatte sie das, trotzdem beunruhigte ihre Aussage Norberg, und so überlegte er, ob er die Gelegenheit ergreifen und seine Zelte in der Arche abbrechen oder noch auf die angekündigte Kollegin warten sollte. Als er zu den Tischen zurückkehrte, wurde er auf eine Frau aufmerksam, die Hoyer gerade einen Blumenstrauß überreichte. Schlanke Figur, ein luftiges Sommerkleid, kinnlange braune Haare. Das musste dann wohl diese Anna Wagner sein, also konnte er das Kennenlernen jetzt auch gleich hinter sich bringen. Er trat an den Tisch heran.

»Ah, da bist du ja wieder«, sagte Hoyer. »Dann kann ich euch gleich miteinander bekannt machen. Anna Wagner, unser Neuzugang aus München, und das ist mein Nachfolger Hendrik Norberg. Ich habe ihm bereits von dem Vermisstenfall erzählt, den du bearbeitest.«

Ein interessierter Blick aus warmen braunen Augen traf Norberg, dem ein fester Händedruck folgte. »Grüß Gott, freut mich.«

Norberg erwiderte die Begrüßung, auch wenn sich die Freude auf seiner Seite in sehr engen Grenzen hielt. Grüß Gott, du lieber Himmel! Wenigstens schien sie keinen bayerischen Akzent zu haben. »Ganz meinerseits.« Er wandte sich an Hoyer. »Es tut mir leid, aber ich muss mich jetzt absetzen. Meinem älteren Sohn geht es nicht gut.«

Hoyer nickte verständnisvoll und legte ihm kurz die Hand auf die Schulter. Er und die Kollegen wussten von Kathrins Tod. Alle hatten kondoliert, das Thema dann aber nicht mehr angeschnitten, wofür Norberg dankbar war, da ihn Gespräche darüber noch immer sehr schnell aus der Fassung brachten.

»Kann ich Sie noch kurz sprechen, bevor Sie gehen?«, fragte Anna Wagner. »Es geht um den Vermisstenfall Nina Brechtmann, da würde ich gerne schon jetzt das weitere Vorgehen mit Ihnen abstimmen und nicht erst am Montag.«

Norberg hätte sie am liebsten abgewimmelt, aber dieser Fall ging jetzt auch ihn etwas an, weil die Kollegin, so wie es aussah, nicht ohne die Unterstützung der Dienststelle ermitteln konnte. Da gerade ein Tisch frei wurde, schlug er vor, dort Platz zu nehmen.

»Was hat Claas Ihnen bisher erzählt?«, kam Anna Wagner ohne Umschweife zur Sache.

Norberg gab die wenigen Infos wieder, die er von Hoyer erhalten hatte.

»Ich war bereits gestern in Ninas Wohnung und habe sie mir vorhin noch einmal angeschaut«, sagte die Kollegin. Sie wirkte sehr konzentriert und ließ sich weder von Kindergeschrei noch den lauten Unterhaltungen an den Nachbartischen ablenken. »Keinerlei Veränderung seit meinem ersten Besuch, nichts deutet darauf hin, dass Nina in der Zwischenzeit dort gewesen ist. Es sieht immer noch alles so aus, als wäre sie nur kurz weggegangen.«

»Keine Anhaltspunkte, die auf ein Verbrechen hindeuten?«

»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Keine Anzeichen von Kampfspuren, kein Blut, nichts.«

»Vielleicht hat sie sich abgesetzt. Aus welchen Gründen auch immer.«

»Das kann ich mir nicht vorstellen«, sagte Anna zweifelnd. »Unter dem Bett liegt ein leerer Koffer, und im Kleiderschrank sieht es nicht so aus, als wenn Dinge fehlen würden.«

»Haben Sie ihr Konto überprüft, ob Geld abgehoben wurde?«

»Ja, natürlich. Da waren nur die üblichen Kontobewegungen wie Gehaltseingänge und Abbuchungen von Versicherungen zu finden, und hin und wieder wurden zwischen zwei- und dreihundert Euro abgehoben, die wohl für den Lebensunterhalt gedacht waren.«

»Wie sieht es mit einem Verbindungsdatennachweis und einer Handyortung aus?«

»Der Nachweis ist beantragt, ich hoffe, dass ich ihn schnell bekomme. Die Ortung war ohne Ergebnis, was darauf schließen lässt, dass Akku und SIM-Karte entfernt wurden. Das könnte auf ein Verbrechen oder eine Entführung hindeuten.«

»Letzteres wäre tatsächlich eine Möglichkeit, immerhin sind die Brechtmanns eine sehr wohlhabende Familie.«

»Eine Anzeige ist nicht eingegangen, das habe ich überprüft. Ich werde die beiden aber auf jeden Fall dazu befragen.«

»Und ein Suizid?«

»Ihre Kollegen haben mich darauf hingewiesen, dass Nina in der letzten Zeit bedrückt gewirkt hätte. Da stand die Vermutung im Raum, dass sie Liebeskummer gehabt haben könnte. Einen Suizid konnte sich aber niemand von ihnen vorstellen.«

Norberg merkte, wie sein Interesse erwachte.

»Claas Hoyer hatte eine Anfrage an sämtliche Krankenhäuser in Schleswig-Holstein und Hamburg gerichtet, allerdings ohne Ergebnis«, fuhr Anna fort. »Ich habe das um weitere Bundesländer und Dänemark erweitert, dabei ist aber auch nichts rausgekommen. Laut Auskunft ihrer Kollegen fährt Nina Brechtmann einen Opel Corsa älteren Datums, der ebenfalls verschwunden ist. Er ist jetzt zur Fahndung ausgeschrieben. Eine Überprüfung bezüglich eines Bahn- oder Flugtickets hat auch nichts ergeben. Außerdem habe ich in der Rechtsmedizin in Kiel, Lübeck und Hamburg nachgefragt, auch nach unbekannten Toten, die dort eingeliefert wurden. Ebenfalls Fehlanzeige.«

Norberg musste sich eingestehen, dass ihn Anna Wagners Effizienz beeindruckte. Sie verstand ihr Geschäft, und es war beachtlich, was sie in der kurzen Zeit und ohne jegliche Unterstützung schon abgeklärt hatte. »Was sagt das Umfeld von Nina Brechtmann? Freunde, Bekannte, Nachbarn?«

Die Kollegin zuckte mit den Schultern und wirkte für einen Moment bedrückt. »Das ist im Moment ein großes Problem, weil ich da noch keinerlei Angaben habe. Laut ihren Kollegen ist Nina immer sehr verschlossen gewesen, wenn es um ihr Privatleben ging. Nachbarn haben vor längerer Zeit Streitigkeiten in ihrer Wohnung gehört und zu unterschiedlichen Zeiten zwei Männer herauskommen sehen, aber was einen Freundes- und Bekanntenkreis angeht, stehe ich noch vollkommen auf dem Schlauch.« Anna räusperte sich und nahm einen Schluck von ihrem Getränk, um dann fortzufahren: »Da sich Nina wohl sehr für den Umweltschutz engagiert, besteht die Möglichkeit, dass sie der Gruppe KüstenFreunde SH angehört, die gegen Hotelneubauten an der Nordseeküste angeht. Ich habe mir vorhin deren Website angeschaut, allerdings keine Ansprechpartner, aber zumindest eine Telefonnummer und eine Mailadresse gefunden und Nachrichten hinterlassen. Da dürfte sich aber vor Montag wohl niemand melden. Wenn überhaupt, da viele Umweltschützer ja mit unserem Berufsstand auf dem Kriegsfuß stehen. Ich bleibe auf jeden Fall an denen dran.«

»Falls Frau Brechtmann dort Mitglied sein sollte, hat sie sich unter Umständen auch gegen den Neubau ihrer eigenen Familie gewendet.« Norberg erinnerte sich an einen Artikel über das besagte Projekt, das im Ortsteil Böhl realisiert werden sollte. Er selbst stand dem Neubau ablehnend gegenüber, da ihm der Gedanke, dass sich St. Peter unaufhaltsam zu einem zweiten Sylt entwickelte, überhaupt nicht behagte.

»Das ist nicht auszuschließen.«

»Seit wann genau wird Frau Brechtmann denn eigentlich vermisst?«

»Selbst das können wir nicht mit Gewissheit sagen. Sie hatte vom 17. bis einschließlich 24. Juni Urlaub. Vermisst gemeldet wurde sie an ihrem ersten Arbeitstag am 25. Juni.«

Norberg überlegte. Das verkomplizierte die Sache. Ebenso wie bei Tötungsdelikten waren auch bei Vermisstensachen die ersten achtundvierzig Stunden die entscheidenden. »Haben Sie ein Foto von Frau Brechtmann, das wir notfalls in die Fahndung geben können?«

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