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Nordwestzorn

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Lange Sandstrände und menschliche Abgründe: Der zweite Fall für die Soko St. Peter-Ording

Der neue Fall von Kommissarin Anna Wagner entspringt dem Albtraum aller Eltern: Vor mehr als 15 Jahren verschwand ein Junge aus einem Sommercamp bei St. Peter-Ording, eine Leiche wurde nie gefunden. Im Fokus der Ermittlungen standen damals drei Männer, von denen allerdings nur der Leiter des Camps angeklagt und nach einem öffentlichkeitswirksamen Indizienprozess freigesprochen wurde. Den Verdacht, sich an dem Jungen vergangen zu haben, konnte jedoch keiner der Männer je wieder vollständig abstreifen. Als der damalige Camp-Leiter nach vielen Jahren im Ausland nach St. Peter-Ording zurückkehrt und nach kurzer Zeit spurlos verschwindet, ist der Soko schnell klar: Nur wenn sie den alten Fall lösen, haben sie vielleicht eine Chance, den Mann lebend zu bergen …


  • Erscheinungstag: 25.05.2021
  • Aus der Serie: Ein Fall Für Die Soko St. Peter Ording
  • Bandnummer: 2
  • Seitenanzahl: 384
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749950720
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Dieses Buch ist ein Roman. Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden.
Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen wäre rein zufällig und nicht von mir beabsichtigt.

PROLOG

August 2004

Kriminalkommissar Hark Thomsen hatte sich gerade auf den Weg in die Küche gemacht, um den dritten Kaffee des Morgens zu holen, als ihm auf dem Flur sein Kollege entgegengehumpelt kam.

»Kaffee is nich, wir müssen los.«

Pieter Johannsen stand wie immer unter Strom, daran würde auch ein beim Tennis verstauchter Knöchel nichts ändern. Thomsen hatte ihm geraten, ein paar Tage kürzer zu treten, im Moment sei doch sowieso nicht viel los. Aber natürlich hatte er sich bloß eine dumme Antwort abgeholt und insgeheim geärgert, dass er so dämlich gewesen war, seinem Kollegen einen wohlgemeinten Ratschlag zu erteilen.

Ein Kriminalhauptkommissar Johannsen ließ sich doch von einer solchen Lappalie nicht außer Gefecht setzen, der käme auch noch mit dem Kopf unterm Arm zum Dienst, wenn es seiner Karriere förderlich wäre.

Wie immer häufiger in der letzten Zeit war Thomsen nach dieser Abfuhr froh gewesen, dass sein Kollege auf dem Absprung ins LKA nach Kiel war und ihre knapp einjährige Zusammenarbeit damit endlich zu einem Abschluss käme. Johannsen war nie einfach gewesen, aber seitdem er sich auf dem Karrieretrip befand, war die Arbeit mit ihm teilweise unerträglich geworden. Ja, er war hier der Dienstälteste und Erfahrenste und hatte Thomsen somit einiges voraus, was aber nun wirklich kein Grund war, ihm seine angeblichen Unzulänglichkeiten ständig unter die Nase zu reiben. Schließlich war er mit neunundzwanzig Jahren kein Frischling mehr. Kleines Ego, große Klappe, hatte eine Kollegin, die Johannsens Anwürfen stets mit stoischer Ruhe begegnete, seinerzeit gemeint. Nimm’s dir nicht zu Herzen, du bist hier im Moment der Neue, und die nimmt er sich nun mal besonders gerne zur Brust.

»Wohin geht’s?«, fragte Thomsen, als er Johannsen in das Büro folgte, das dieser mit dem Kollegen Arndt Lürssen teilte. Lürssen war vor einem Dreivierteljahr von der WaPo, der Wasserschutzpolizei, zu ihnen gewechselt, und es ging das Gerücht, dass Johannsen sich für seine Versetzung auf den höher dotierten Posten in ihrer Abteilung starkgemacht hätte. Was nach Meinung aller überhaupt nicht zu ihm passte, war er doch normalerweise nur an seinem eigenen Aufstieg interessiert. Thomsen hatte sich schon häufiger Gedanken über das Verhältnis der beiden Männer zueinander gemacht, die so gar nichts gemein zu haben schienen. Weder äußerlich noch vom Charakter her. Neben dem groß gewachsenen und durchsetzungsstarken, um nicht zu sagen rücksichtslosen, Johannsen verblasste Lürssen mit seiner schmalen Statur, dem häufig unsicheren Blick und der Eigenschaft, besonders schnell einzuknicken, geradezu. Zuerst hatte Thomsen gedacht, dass Johannsen wieder nur ein Opfer für seine Machtspielchen gesucht hatte, was wohl auch nicht gänzlich von der Hand zu weisen war, aber mit der Zeit war ihm aufgefallen, dass eine Art Vertrauensverhältnis zwischen den beiden Männern zu bestehen schien, dessen Basis er sich nicht erklären konnte. Obwohl erst kurz in ihrer Abteilung, war auch Lürssen schon wieder auf dem Absprung und sollte in einer Woche seinen Dienst in der Flensburger Mordkommission antreten. Thomsen war überzeugt davon, dass Johannsen bei diesem Aufstieg ebenfalls seine Finger im Spiel gehabt hatte.

»Nach St. Peter-Ording.« Johannsen griff nach seinem Handy und den Autoschlüsseln auf seinem Schreibtisch. Thomsen wartete auf eine Erklärung, was denn in St. Peter passiert sei, das den Einsatz der Kripo erforderlich mache, aber es kam keine. Verdrossenheit machte sich in ihm breit, als er Johannsen und Lürssen Richtung Ausgang folgte.

Als sie ins Freie traten, hingen tiefe Wolken über der grauen Stadt am Meer, wie Theodor Storm Husum einst in einem Gedicht beschrieben hatte; und wenn die Wettervorhersage recht behalten sollte, würde es heute noch kräftige Regenschauer geben. Die gehörten zu einem typisch norddeutschen Sommer dazu.

Thomsen versuchte es noch einmal. »Kann mir vielleicht mal jemand sagen, was in St. Peter los ist?« Er starrte auf Johannsens Rücken. Selbst in seinem lädierten Zustand setzte sein Vorgesetzter noch alles daran, dass seine beiden Kollegen nicht zu ihm aufschlossen, sondern möglichst zwei Schritte hinter ihm blieben, damit auch jedem klar wurde, wer hier der Anführer war. Thomsen hätte mühelos zu ihm aufholen können, aber dieses infantile Gebaren war nicht sein Ding.

»In einem Jugendheim wird ein Kind vermisst, das sich dort auf einer Klassenfahrt befindet«, klärte schließlich Lürssen ihn auf, der mit Johannsens Stechschritt nicht mithalten konnte.

Thomsen verlangsamte seinen Schritt. Eine Gänsehaut überzog seinen Körper, und für einen kurzen Moment begann es vor seinen Augen zu flimmern.

»Jetzt komm endlich in die Puschen!« Johannsen hatte sich umgedreht und warf ihm einen verärgerten Blick zu. »Wir haben nicht ewig Zeit.«

Thomsen holte tief Luft, um die Kontrolle über seinen rasenden Herzschlag wiederzuerlangen. Aber es wollte ihm nicht gelingen. Das wird ein Scheißtag, dachte er in plötzlicher Verzweiflung. Ich will da nicht raus.

»Hark!« Johannsen kam zu ihm zurückgehumpelt und baute sich in seiner vollen Größe von ein Meter neunzig vor ihm auf. Seine grauen Augen funkelten angriffslustig. »Was ist denn los mit dir? Brauchst du ’ne Extraeinladung?«

Thomsen riss sich zusammen, auch wenn er am liebsten davongerannt wäre und sich irgendwo versteckt hätte, wo ihn niemand finden konnte. »Nein, natürlich nicht!« Er folgte seinen Kollegen und stellte mit Erleichterung fest, dass die Bewegung seinen Körper zu entkrampfen begann.

Sie steuerten auf den Dienstwagen zu, und als Thomsen sah, was sich in dessen offen stehendem Heck befand, runzelte er die Stirn. »Hältst du das für richtig? Er ist nicht mehr im Dienst.«

Johannsen öffnete die Transportbox, woraufhin der Belgische Schäferhund heraussprang und schwanzwedelnd auf Thomsen zulief, um ihn mit einem freudigen Bellen zu begrüßen.

»Das ist doch vollkommen egal. Ich trainiere Athos noch immer in jeder freien Minute. Der Junge ist fit wie ein Turnschuh.«

Athos. Thomsen hatte sich ein Grinsen nicht verkneifen können, als er den Namen des Hundes zum ersten Mal gehört hatte, dann aber von Kollegen erfahren, dass Johannsen Alexandre Dumas verehrte und sich bestimmt einmal im Jahr die Verfilmungen seiner Werke reinzog, wobei die Musketier-Filme von Richard Lester zu seinen absoluten Favoriten zählten. Das Geständnis war der weinseligen Laune eines Betriebsfests entsprungen, im nüchternen Zustand ließ Johannsen wenig bis gar nichts über sein Privatleben verlauten.

Thomsen hockte sich hin und kraulte den Hund ausgiebig. Vor drei Monaten war der zehnjährige Athos nach acht Jahren im Polizeidienst in den Ruhestand geschickt worden. Johannsen hatte ihn während seiner Zeit als Schutzpolizist zum Fährtensuchhund ausgebildet und nach seinem Wechsel zur Kripo mitgenommen. Dies war nicht die Norm; da sich Johannsen aber nicht von seinem Hund trennen wollte, hatte er diesen Wechsel durchgesetzt. Athos’ Einsätze in den nachfolgenden Jahren waren ausschließlich bei Fällen erfolgt, in denen Johannsen ermittelte, und hatten die Kritiker schließlich verstummen lassen.

Auf der Fahrt informierte ihn Johannsen über das, was er und Lürssen bisher erfahren hatten. »Der Junge heißt Florian Berger, ist neun Jahre alt und kommt aus Hamburg. Er schläft mit zwei Mitschülern in einem Dreibettzimmer. Die haben sich zunächst nichts dabei gedacht, als er heute Morgen nicht in seinem Bett lag, weil er wohl häufig früh aufgestanden und zum Deich gegangen ist. Das Jugendheim liegt direkt dahinter im Ortsteil Dorf. Als Florian dann nicht beim Frühstück auftauchte, hat der Heimleiter seine Abwesenheit in der Polizeistation gemeldet. Die dortigen Kollegen haben daraufhin auch die Bereitschaftspolizei und eine Hundestaffel angefordert. Du kennst ja die Örtlichkeiten, allein die Absuche am Strand wird einige Zeit in Anspruch nehmen.«

Das stimmte, Thomsen kannte die Örtlichkeiten gut, da er während seiner Zugehörigkeit zur Schutzpolizei für eine Saison als Bäderdienstler in St. Peter eingesetzt gewesen war. Manchmal träumte er davon, den Job hinter sich zu lassen und seine Zelte dort aufzuschlagen. Alles zu vergessen, sich frei wie ein Vogel von einem Tag zum nächsten treiben zu lassen. Besonders in Momenten wie diesen.

Vierzig Minuten später trafen sie in der Polizeistation in St. Peter-Ording, einem eingeschossigen Doppelhaus aus rotem Backstein, das im Deichgrafenweg beheimatet war, ein. In einem ersten Gespräch mit Claas Hoyer, dem Dienststellenleiter, erfuhren sie, dass die Suche nach Florian bereits in vollem Gange war. Sie hatten sich ursprünglich als Erstes den Heimleiter und die Lehrer von Florians Klasse vornehmen wollen, aber nachdem ihnen Hoyer mitteilte, dass sich Florians Vater im Besprechungsraum aufhielt, beschlossen sie, erst einmal mit diesem zu sprechen.

»Haben wir schon gemacht«, sagte Hoyer, dessen Gesicht einen sorgenvollen Ausdruck trug. »Er hat die Vermutung geäußert, dass Florian weggelaufen ist, weil seine Frau darauf gedrungen hat, dass der Junge heute wieder mit ihnen nach Hause fährt, obwohl die Klassenfahrt noch eine weitere Woche dauert. Das wollte Florian aber nicht, und darüber ist es zum Streit zwischen ihm und seinen Eltern gekommen.«

Etwas in Hoyers Bemerkung irritierte Thomsen. »Wohnt die Familie in der Nähe, weil die Eltern schon hier sind?«, fragte er, als sie dem Dienststellenleiter zum Besprechungsraum folgten.

»Die kommen aus Hamburg, waren aber schon die ganze Zeit vor Ort, weil sie sich eine Ferienwohnung genommen hatten.«

»Warum das denn?« Johannsen war stehen geblieben und blickte Hoyer überrascht an.

Der Dienststellenleiter seufzte. »Florian hat einen angeborenen Herzfehler, und laut Aussage von Klaus Berger würde seine Frau den Jungen am liebsten in Watte packen. Aus diesem Grund hatte sie der Klassenfahrt auch nicht zugestimmt, aber Berger hat sich dann durchgesetzt. Sie hat jedoch darauf bestanden, dass sie und ihr Mann während dieser Zeit ebenfalls hierherkommen, damit sie sofort da sind, falls Florian etwas passieren sollte. Gestern hat sich der Junge beim Volleyballspielen übernommen und ist zusammengeklappt. Das war aber nicht weiter dramatisch, er hat sich schnell wieder berappelt, und der herbeigerufene Arzt hat ihn ermahnt, es nicht mehr zu übertreiben. Laut Herrn Berger ist seine Frau allerdings ausgeflippt, als sie davon erfahren hat. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als ihr zu versprechen, dass sie Florian heute wieder mit nach Hause nehmen.«

»Wo ist Frau Berger jetzt?«, fragte Lürssen.

»Im Krankenhaus in Heide. Sie ist ohnmächtig geworden, als sie erfuhr, dass ihr Sohn verschwunden ist. Ihr Mann hat daraufhin den Notarzt gerufen, und der hielt es für besser, sie zur Beobachtung ins Krankenhaus bringen zu lassen.«

Klaus Berger war keine große Hilfe. Er zerfleischte sich mit Selbstvorwürfen, weil er den Ängsten seiner Frau nachgegeben hatte und damit Florian in den Rücken gefallen war. Was seiner Meinung nach dann letztendlich zu dessen Verschwinden geführt hatte, denn Berger war überzeugt davon, dass sein Sohn weggelaufen war, um ihnen eins auszuwischen. »Flori war so glücklich hier«, sagte er mit Tränen in den Augen. »Endlich mal weg von Mama, hatte er mir noch zugeraunt, als wir ihn im Jugendheim abgeliefert haben.« Er wischte sich über die Wangen. »Verstehen Sie das bitte nicht falsch. Flori liebt seine Mutter über alles, aber ihre Übervorsorge ist für ihn ein großes Problem. Für mich übrigens auch. Ich habe Karola immer wieder gebeten, den Jungen nicht in Watte zu packen und nicht ständig hinter ihm herzuhökern, weil er so doch niemals selbstständig werden kann. Gerade beim Thema Schulsport ist es immer wieder zu Differenzen zwischen uns gekommen. Floris Kinderarzt hat uns stets darauf hingewiesen, dass wir den Jungen hier nicht ausgrenzen sollen, weil ihm der Sport über die körperliche Betätigung hinaus auch Selbstvertrauen und ein Gefühl für den eigenen Körper vermitteln würde. Bei mir ist auch immer die Angst im Hinterkopf, dass Flori etwas passieren könnte, aber im Gegensatz zu Karola versuche ich, mich nicht von ihr beherrschen zu lassen.«

»Sie sagten, dass es zu einem Streit gekommen sei, weil Florian nicht früher mit Ihnen zurückfahren wollte«, sagte Johannsen. »Wie ist der abgelaufen?«

»Nach dieser Sache beim Volleyball bin ich mit meiner Frau wieder in unsere Ferienwohnung gefahren. Sie war außer sich, und ich habe dann irgendwann schweren Herzens zugestimmt, dass wir Flori am nächsten Tag wieder mit nach Hause nehmen. Als ich losgehen wollte, um ihm Bescheid zu geben, stand er mir plötzlich im Flur gegenüber. Ich hatte offensichtlich die Tür nicht richtig geschlossen, deshalb hatte er alles mitgekriegt. Karola hatte ja schon im Jugendheim in seinem Beisein davon gesprochen, deshalb war er gekommen, um sie umzustimmen. Als er jetzt hören musste, dass ich ihr nachgegeben hatte, ist er wütend geworden und hat uns angeschrien. Ich wollte es ihm erklären, aber er hat gar nicht zugehört, sondern ist wieder nach draußen gelaufen. Karola wollte ihm hinterher, aber es ist mir gelungen, sie davon abzuhalten.«

Klaus Berger erzählte, dass es ihn einige Mühe gekostet hatte, seine Frau zu beruhigen und ihr klarzumachen, dass die Situation eskalieren könnte, wenn sie Florian nicht für einige Zeit in Ruhe ließen. Als sie dann am Morgen die Nachricht von Florians Verschwinden erhalten hatten, wäre er fast verrückt geworden.

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Januar 2020

Sonntag, 05. Januar

Eine solche Begrüßung hätte sich Anna Wagner im Leben nicht träumen lassen.

WELCOME BACK

Die farbenfrohe Girlande prangte über der Eingangstür des ansprechenden Hauses, das sie bereits im vergangenen Jahr für kurze Zeit bewohnt hatte und das jetzt ihr neues Heim werden würde. Lichterketten zierten Haustür und Fenster; im Vorgarten stand ein Rentiergespann mit einem Schlitten dahinter, dessen warmes Licht einen sanften Schimmer auf die schneebedeckte Umgebung warf.

Als im Dezember des vergangenen Jahres die Festanstellung erfolgt war, verbunden mit dem Hinweis, dass sie ihren Job künftig in St. Peter-Ording ausüben würde, war Annas Freude groß gewesen, und sie hatte sich sofort an das Ehepaar Heckler gewandt, in der Hoffnung, das Haus dauerhaft mieten zu können. Die Zusage war umgehend erfolgt, und das Glücksgefühl, das sie seitdem durch die Tage getragen hatte, verstärkte sich angesichts des Begrüßungskomitees, das jetzt vor ihr stand. So fühlt sich Heimkommen an, dachte sie, und im nächsten Moment, jetzt fang bloß nicht an zu heulen.

Der Vorsatz geriet ins Wanken, als Corinna Heckler, die mit ihrem Mann und Nils Scheffler auf der Einfahrt stand, sie fest in die Arme schloss und ihr versicherte, wie sehr sie und ihr Mann sich freuen würden, sie als neue Nachbarin begrüßen zu können. Beim Händedruck ihres Mannes Peter, der es nicht so mit dem Ausdrücken von Gefühlen hatte, wäre Anna fast in die Knie gegangen.

»Schön, dass Sie zurück sind! Hat irgendwie was gefehlt nebenan«, grummelte er, was Anna wie einen Ritterschlag empfand. In dem Haus hatte Kathrin, die im März des Vorjahres verstorbene Tochter der Hecklers, bis zu ihrer Heirat mit Hendrik Norberg gewohnt. Nach ihrem Auszug vor bald neunzehn Jahren hatten die Hecklers es hin und wieder als Ferienhaus vermietet oder Freunde und Verwandte von außerhalb dort wohnen lassen.

»Darf ich jetzt auch endlich mal?« Nils Scheffler warf den Hecklers einen gespielt strengen Blick zu und rückte die wattierte Uniformjacke zurecht, um die Anna ihn aktuell heftig beneidete. Sie war zwar auch nicht gerade dünn angezogen, aber der eisige Wind, der hier an der Nordseeküste tobte, war eine ganz andere Nummer als die vergleichsweise lauen Lüftchen in der Landeshauptstadt.

»Ich vertrete hier schließlich das Gesetz und hätte unsere Heimkehrerin ja wohl als Erstes begrüßen müssen.« Auch Nils schloss sie fest in die Arme. »Mann, bin ich froh, dass du wieder da bist«, raunte er. »Ohne dich ist das hier doch alles nichts mehr.« Er schob sie wieder von sich, und sie dachte, dass er sich kein Stück verändert hatte. Noch immer der herzliche und unbekümmerte große Junge mit den blonden Haaren und den strahlenden blauen Augen, für den sie seit ihrer ersten Zusammenarbeit fast so etwas wie Muttergefühle empfand, auch wenn sie mit achtunddreißig Jahren nur zehn Jahre älter war als er.

»Norberg lässt herzlich grüßen, er musste nach Husum. Aber er kommt später noch vorbei.«

Anna nickte, sie hatte sich schon gefragt, wo der Dienststellenleiter der Polizeistation, dem sie einiges zu verdanken hatte, abgeblieben war. Ihr war nämlich inzwischen bekannt, dass sich Norberg in den vergangenen Monaten tatkräftig dafür eingesetzt hatte, dass das Stellenprofil ihres bis vor Kurzem noch befristeten Jobs überarbeitet wurde und ihr durch die damit verbundene Festanstellung die Rückkehr an ihre alte Wirkungsstätte in München erspart blieb. Das Heimweh hatte sie zwar in der Zwischenzeit mehrere Male nach St. Peter-Ording getrieben, mit Norberg hatte es allerdings nur zwei Zusammenkünfte gegeben, bei denen er seine unterstützende Einmischung sowie den Hinweis, dass ihr zukünftiger Job in St. Peter angesiedelt sein würde, mit keinem Wort erwähnt hatte. Ein typisches Verhalten für einen Mann, den sie bei ihrer ersten Zusammenarbeit schätzen gelernt hatte und von dem sie mittlerweile wusste, dass es dauerte, bis er Dinge preisgab. Sowohl beruflich als auch privat.

Ihr neuer Job hätte vielversprechender nicht sein können. Als Leiterin der neu gegründeten Vermisstenstelle würde sie die vier Mordkommissionen des Bundeslandes bei zurückliegenden und aktuellen Vermisstenfällen unterstützen und darüber hinaus alte sowie neue Fälle eigenständig bearbeiten, wenn in den MK’s dafür die Zeit fehlte. Das war genau ihr Ding, umso mehr, als sie ihrem Job jetzt von St. Peter aus nachgehen konnte. In der Schleswig-Holsteinischen Landespolizei war eine Reihe von Dingen im Umbruch begriffen, was zur teilweisen Auflösung veralteter Strukturen geführt und den Weg für Neuerungen in einigen Bereichen frei gemacht hatte.

»Tja, wenn er dann nichts mehr zu essen kriegt, hat er Pech gehabt«, meinte Peter Heckler grinsend. »Ich hab nämlich einen Mordshunger.«

Scheffler lachte und ging zu seinem Privat-Pkw, wo er vier Gläser aus einer großen Einkaufstasche zutage förderte, die er an alle ausgab. Mit einem weiteren Griff holte er eine Sektflasche heraus, die er mit einem lauten Knall entkorkte, bevor er die Gläser mit dem sprudelnden Nass füllte. Er prostete ihr zu. »Auf deine Rückkehr!«

Als die Hecklers in seinen Trinkspruch einfielen, war es dann doch um Anna geschehen. Dicke Tränen liefen über ihre Wangen, und die Dankesworte gingen in einem gestammelten Schniefen unter. So war sie heilfroh, als Corinna Heckler alle in ihr benachbartes und ebenfalls noch weihnachtlich beleuchtetes Wohnhaus bat, wo im Esszimmer eine zünftige bayerische Brotzeit aufgebaut war.

»Dann langt mal zu«, forderte Norbergs Schwiegermutter sie auf, nachdem sie den Raum betreten hatten. Corinna war schmal geworden, ihre Freundlichkeit wirkte bemüht, ihre Stimme klang heiser. Das sah nach dem Beginn einer Erkältung aus, aber als Anna sie darauf ansprach, winkte Corinna ab. »Halb so schlimm. Unkraut vergeht nicht.« Sie deutete auf den Esstisch. »Lassen Sie es sich schmecken.«

»Wow!«, hörte Anna Nils hinter sich rufen, und auch sie geriet angesichts des üppigen Büfetts ins Staunen. Frisch gebackenes Brot, das einen herrlichen Duft verströmte, Brezen, Wurstsalat, Leberkäse, Weißwürste und süßer Senf, Speckkartoffelsalat, Radieschen, Radi und dann noch etwas, das sie heiß und innig liebte. Sie sah, dass Scheffler neugierig die gelbliche Masse beäugte, die in einem blauen Tontopf angerichtet war.

»Was ist das denn?«

»Obazda«, sagte Anna, der bereits das Wasser im Mund zusammenlief. »Das ist eine Käsezubereitung aus Camembert, Butter, Frischkäse und Zwiebeln, die mit Salz, Pfeffer, Paprika und Kümmel gewürzt wird. Wir tun häufig noch einen Schuss Bier dazu.«

»Hab ich auch gemacht«, sagte Corinna Heckler. »Ich habe das Rezept aus dem Internet. Hoffentlich schmeckt es euch.«

Es schmeckte ihnen. Sehr sogar. Und so war das Gros der Köstlichkeiten bereits verputzt, als Hendrik Norberg anderthalb Stunden später zu der munteren Runde stieß.

Es entstand ein kurzer, verlegener Moment, als er Anna begrüßte. Sie hätte ihm am liebsten sofort für seine tatkräftige Unterstützung gedankt, wollte es aber nicht vor versammelter Mannschaft tun, da sie davon ausging, dass die anderen nichts darüber wussten. Selbst Nils Scheffler, der ihr fest zugeordnet worden war, dürfte ahnungslos sein. So kam es erst später dazu, als die Runde sich aufzulösen begann und sie mit Norberg und Scheffler ins Freie ging, nachdem sie sich von den Hecklers verabschiedet und Corinna noch einmal ihren Dank für diese tolle Überraschung ausgesprochen hatte.

Der Wind hatte zugenommen und peitschte düstere Wolkengebilde über den Himmel, zwischen denen hin und wieder ein milchiger Vollmond zum Vorschein kam, der die Umgebung gespenstisch ausleuchtete. Der Wetterbericht hatte für die kommende Nacht erneuten Schneefall angekündigt.

Nils Scheffler deutete auf Annas Wagen, der vor der Doppelgarage der Hecklers parkte, in der sie auch jetzt wieder den leeren zweiten Platz nutzen konnte. »Sollen wir dir noch beim Auspacken helfen?«

Anna winkte ab. »Da ist nur eine Reisetasche mit Klamotten drin. Der Rest kommt in den nächsten Tagen aus Kiel und München.«

»Ich kann doch aber trotzdem …«

»Nein, kannst du nicht«, unterbrach sie ihn lächelnd. »Schwirr ab.« Sie gab ihm einen spielerischen Stups auf den Arm. »Ich habe einen komplizierten Fall am Wickel und brauche dich morgen früh ausgeschlafen.«

»Ja dann, Chefin …« Nils verabschiedete sich mit einem Winken, stieg in seinen Wagen und preschte davon.

Als Norberg ebenfalls Anstalten machte, sich zu verabschieden, hielt Anna ihn auf. »Ich wollte mich bei Ihnen bedanken.«

»Bedanken?« Sein Gesicht war ausdruckslos.

»Ja, bedanken!«, sagte Anna mit Nachdruck. »Ich weiß, dass Sie Ihre Finger bei der Umstrukturierung meines Stellenprofils und der damit verbundenen Versetzung im Spiel hatten. Leugnen nützt also nichts.«

Ein feines Lächeln kräuselte Norbergs Mundwinkel und verlieh seinem meist ernsten Gesicht einen kurzen, unbeschwerten Ausdruck. »Reiner Eigennutz.«

Ja klar, dachte Anna, jetzt versuch nur, dich rauszureden. Bei ihrem ersten Fall im Sommer des vergangenen Jahres hatte sie tatkräftige Unterstützung durch Scheffler, aber vor allen Dingen durch Norberg erhalten, dem sein Wechsel vom Mordermittler in Itzehoe zur Schutzpolizei in St. Peter-Ording mächtig zugesetzt hatte. Er hatte in St. Peter zwar die Dienststellenleitung übernommen, und der Wechsel war aufgrund des Todes seiner Frau auch auf eigenen Wunsch hin erfolgt, weil er seinen beiden Söhnen nach dem Tod ihrer Mutter keinen Ortwechsel zumuten wollte. Aber glücklich war er damit nicht gewesen, und deshalb hatte er sie mit großem Einsatz bei der Aufklärung des Falles unterstützt. Dass er sich allerdings nur deshalb für sie eingesetzt hatte, damit er auch weiterhin an Vermisstenfällen mitarbeiten konnte, glaubte sie keine Sekunde. Sie wusste, dass er etwas von ihr hielt und sie ein gutes Gespann gewesen waren.

Sie grinste ihn an. »Sowieso, und im Himmel ist Jahrmarkt.«

Er streckte ihr die rechte Hand entgegen. »Hendrik.«

Überrascht schlug sie ein. »Anna.«

»Auf gute Zusammenarbeit, Anna.«

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In den zwei Monaten, die sie und Carsten jetzt zurück in St. Peter-Ording waren, hatte Sabine Borchert sehr schlecht geschlafen. Angstzustände hatten sie auch des Nachts gepeinigt und immer wieder schweißgebadet hochschrecken lassen. Die Furcht, dass ihre Rückkehr ein großer Fehler gewesen war und alles wieder von vorne beginnen würde, hatte sie keine Sekunde aus den Klauen gelassen. Dazu erinnerte sie sich noch viel zu gut an alles, auch wenn es mittlerweile sechzehn Jahre zurücklag …

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Der kleine Obst- und Gemüseladen in Böhl war wie immer gut besucht. Sabine war heute vorbeigekommen, weil sie ein neues Kuchenrezept ausprobieren wollte und dafür Aprikosen benötigte, und ein schneller Blick auf das Regal hinter dem Verkaufstresen hatte ihr gezeigt, dass noch jede Menge da waren.

Sie warf einen freundlichen Gruß zu den Kundinnen hinüber, die in einer Ecke des Ladens standen und bei ihrem Anblick im Gespräch innehielten. Jede der vier Frauen war ihr vom Sehen bekannt, mit einigen hatte sie sogar hin und wieder einen kleinen Klönschnack gehalten. Wie man das eben so machte in einem Ort mit nicht mal viertausend Einwohnern, wo nahezu jeder jeden kannte.

An diesem Morgen aber blieb ihr Gruß unerwidert, verächtliche Blicke streiften sie, die Frauen wandten sich ab. Ein Gefühl der Beklemmung machte sich in ihr breit, als sie zum Verkaufstresen trat und die dahinterstehende Frau ansprach.

»Moin, Frauke, pack mir doch bitte zwei Pfund Aprikosen ein.« Sabine bemühte sich um einen munteren Ton. »Ich hab ein neues Kuchenrezept entdeckt, das muss ich unbedingt ausprobieren. Wenn er mir gelingt, bring ich dir morgen ein Stück vorbei.«

Sie und Frauke Wiemers kannten sich ebenfalls schon seit einer Reihe von Jahren. Häufig hatten sie Rezepte ausgetauscht, und so manches Mal hatte Sabine ein Stück Kuchen in den kleinen Laden mitgebracht, wenn sie gerade mal wieder etwas Neues ausprobiert hatte. Umgekehrt war auch sie bei ihren Einkäufen immer wieder mit Neukreationen verwöhnt worden.

Ein ausdrucksloser Blick aus grünen Katzenaugen traf sie. »Aprikosen sind alle.«

Irritiert blickte Sabine sie an und deutete auf die volle Obstkiste hinter ihr. »Wieso, da sind doch noch jede Menge drin.«

»Die sind vorbestellt.«

Frauke Wiemers’ Blick war hart, und in diesem Moment fiel der Groschen bei Sabine. Ihr wurde eiskalt. »Du willst sie mir nicht verkaufen.«

»Wie ich schon sagte, die sind vorbestellt.« Frauke hielt ihrem Blick mit unbewegter Miene stand.

»Das glaube ich dir nicht!« Hieß es nicht immer, dass Angriff die beste Verteidigung war? Sabine schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass sie mit ihrer Vermutung falschlag, aber tief im Inneren wusste sie, dass sie sich nicht irrte. »Das hat mit Carsten zu tun, oder? Deshalb willst du mir die Aprikosen nicht verkaufen. Weil du glaubst, dass er schuldig ist, und deshalb auch nichts mehr mit seinem Umfeld zu tun haben willst.«

»Jeder hier weiß, dass er schuldig ist«, zischte Frauke, und ihr sonst so freundliches Gesicht war verzerrt, »sonst würden sie das ja wohl kaum in der Zeitung schreiben. Und du gibst dich weiterhin mit ihm ab, pfui Teufel!« Sie sah aus, als wenn sie im nächsten Moment vor ihr ausspucken wollte. »In meinem Laden bekommst du jedenfalls nichts mehr.«

»Sie sollten sich schämen, Frau Borchert!«

Als Sabine die Stimme hinter sich hörte, fuhr sie herum. Die Frauen waren näher gekommen, und eine von ihnen hatte das Wort ergriffen.

»Wie können Sie noch zu so einem Mann halten? Das ist doch krank.«

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FUCKING KINDERSCHÄNDER / MÖRDER

VERSCHWINDE, DU HAST NICHTS MEHR

BEI UNS VERLOREN

Die Worte waren mit schwarzer Farbe auf die linke Außenwand des Hauses geschmiert worden. Sabine hatte sie beim Hinausgehen nicht gesehen, weil sie zur Garage auf der anderen Seite gegangen war, um ihr Fahrrad herauszuholen. Erst jetzt wurde sie darauf aufmerksam.

Tränen schossen in ihre Augen. Hörte das denn nie auf? Schon vor dem Prozess war es einige Male vorgekommen, dass Unbekannte über Nacht die Hauswand oder den steinernen Gartenzaun beschmiert hatten, aber nachdem Carsten freigesprochen worden war, hatten diese Aktionen zugenommen. Jedes Mal hatten sie die Polizei gerufen, die den Vorgang aufgenommen und Fotos gemacht hatte, aber herausgekommen war dabei nicht das Geringste. Sie hatte sich so manches Mal gefragt, ob die Beamten überhaupt den Vorgängen nachgegangen waren, oder sie gleich zu den Akten gelegt hatten. Carsten war ein Aussätziger in St. Peter geworden, dem mit Abscheu begegnet wurde, und dieses Gefühl dürfte auch vor Polizisten nicht haltmachen.

Irgendwann hatte sie aufgehört, die Tage zu zählen, an denen sie und Carsten sich abgemüht hatten, die Farbe wieder von der weißen Hauswand herunterzubekommen. Die Reinigungsaktionen waren stets im vollen Bewusstsein erfolgt, dass es nicht lange dauern würde, bis die nächste Schmiererei angebracht wurde. Es hatte den Eindruck gehabt, als wenn der Mensch oder die Menschen, die ihnen dies antaten, geradezu darauf warteten, dass die Hauswand wieder sauber war, um ihre nächste Verunglimpfung dort anzubringen.

»Wir müssen uns auf die Lauer legen«, hatte sie zu Carsten gesagt. »Oder eine Kamera anbringen, damit die Verantwortlichen nicht immer ungeschoren davonkommen.« Aber dem Mann, der einmal so tatkräftig und lebenslustig gewesen war, waren irgendwann im Laufe der schrecklichen Zeit die Kräfte abhandengekommen, und er hatte den Kopf geschüttelt und sie gefragt, was das denn bringen würde. Lass es bitte, hatte er sie gebeten, ich möchte nicht, dass du in Gefahr gerätst. Denn wie ich dich kenne, rennst du doch sofort raus, wenn sich da draußen jemand rumtreibt, und stellst ihn zur Rede. So aufgeheizt, wie die Stimmung zurzeit ist, kann dann alles Mögliche passieren.

Sie hatte dagegen aufbegehrt, seiner Bitte aber schließlich entsprochen, weil er am Ende war und sie nicht wollte, dass er jetzt auch noch ihretwegen Angst ausstehen musste.

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Zu Sabines großer Erleichterung hatten sich diese Vorfälle nicht wiederholt, seitdem sie zurück in St. Peter-Ording waren, und so hatte sie langsam damit begonnen, sich nicht ständig das Schlimmste auszumalen und die Rückkehr zu akzeptieren. Zumal sie der Gedanke, dass es irgendwann dazu kommen würde, in all den Jahren nicht verlassen hatte.

Es hatte sich schon länger abgezeichnet, dass Carsten Heimweh nach seinem Geburtsort hatte, sehr wahrscheinlich hatte es ihn nie verlassen, auch wenn er darüber erst in den letzten Monaten gesprochen und sie irgendwann gefragt hatte, ob sie sich eine Rückkehr vorstellen könne. Sie hatte in sich hineingehorcht und festgestellt, dass es ihr häufig ebenso erging, musste wohl mit dem Alter zusammenhängen, hatte sie gescherzt. Sie war zwar nicht in St. Peter geboren, sondern in Tönning, aber wer an der Nordseeküste zur Welt kam, den zog es eben immer wieder zurück.

»Na, was gibt’s denn da draußen zu sehen?« Sie ließ sich in dem Sessel neben Carsten nieder und griff nach der Hand des Mannes, den sie auf einer Silvesterfeier Ende der Neunziger kennengelernt hatte. Aus einer Freundschaft war irgendwann Liebe geworden, und so war sie schließlich zu ihm in das große Haus gezogen, das er seit seiner Scheidung allein bewohnte. Es war sehr geschmackvoll eingerichtet gewesen, aber trotzdem hatte sie ihm im Laufe der Jahre auch ihren Stempel aufgedrückt.

Carsten wandte sich ihr zu und erwiderte den Druck ihrer Hand. Sie sah sein Lächeln im Licht der Kerzen, die auf einem kleinen Beistelltisch zwischen den beiden bequemen Ohrensesseln standen und von Zeit zu Zeit leicht flackerten. Die bodentiefen Fenster des im ersten Stock gelegenen Wohnzimmers gaben den Blick in eine sturmumtoste Winternacht frei, in der die ersten Schneeflocken fielen. Hier war ihrer beider Lieblingsplatz im Haus, sie genossen den Blick in den schön angelegten Garten und über das dahinter gelegene Marschland, die Schafe, die darauf weideten, die Nonnengänse, die auf dem Weg in ihre arktischen Brutgebiete hier im März und April einen Zwischenstopp einlegten. Auch wenn die Dunkelheit hereingebrochen war, saßen sie gerne hier und blickten hinaus, während sie sich unterhielten, ein Buch lasen oder einfach in einvernehmlichem Schweigen ihren Gedanken nachhingen.

»Schnee«, antwortete Carsten, und sie hörte ein Glücksgefühl in seiner Stimme. »Ich kann mich überhaupt nicht mehr daran erinnern, wann ich das letzte Mal welchen gesehen habe. Hoffentlich kommt noch mehr und bleibt dann auch mal ein paar Tage liegen.«

Das stimmte, Schnee hatten sie schon lange nicht mehr gesehen. In der Zeit auf Mallorca sowieso nicht, aber auch in den Jahren davor waren richtige Schneewinter immer seltener geworden.

Carsten deutete auf die Teekanne, die auf einem Stövchen stand, und den leeren Becher daneben. »Möchtest du auch einen? Ich habe extra eine Kanne aufgebrüht, weil ich mir schon gedacht habe, dass du bald hochkommen wirst. Die ganze Zeit vor dem Computer, da wird man ja rammdösig.«

»Gerne.« Sie sah zu, wie Carsten den Becher füllte und dachte sich wieder einmal, wie viel Glück sie mit diesem Mann doch gehabt hatte. Sie hatte nie an seiner Unschuld gezweifelt, und die schreckliche Zeit, in der in ihrem Leben kein Stein auf dem anderen geblieben war, hatte sie noch enger zusammengeschweißt. Auch ohne Trauschein, der für sie beide nie eine Bedeutung gehabt hatte.

»Hast du denn etwas gefunden?«, wollte er jetzt wissen.

»Könnte sein. Morgen treffe ich mich mit dem Makler.« Sie hatte ihre langjährige Leidenschaft für die Fotografie bereits auf Mallorca zu einem Beruf gemacht und dort ein kleines Atelier gepachtet, das unweit des von einem Freund gemieteten Ferienhauses lag, in dem sie die Jahre auf der Insel verbracht hatten. Es war einige Zeit ins Land gegangen, bis sie sich etabliert hatte, aber dann hatte das Geschäft gebrummt. Sie hatte Mallorca vielfach aus einem anderen Blickwinkel betrachtet und auf diesen Fotos auch die hässlichen Seiten der Insel gezeigt, die in ihrer teilweisen Morbidität auf großformatige Schwarz-Weiß-Fotos gedruckt immer mehr Anhänger gefunden hatten. Außerdem hatte sie Fotoexkursionen über die Insel angeboten, die nicht nur in der Urlaubszeit gut gebucht gewesen waren. Etwas Ähnliches wollte sie jetzt auch in St. Peter-Ording auf die Beine stellen. Ein Studio mit Galerie und Workshops, die Ausflüge in den Nationalpark Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer beinhalteten.

»Was ist es denn?«, fragte Carsten interessiert. Sein mittlerweile weißes Haar war noch voll, das Gesicht erstaunlich glatt für einen Mann von vierundsechzig Jahren und angesichts der zurückliegenden Geschehnisse, die bei Menschen mit weniger guten Genen wohl eine zerklüftete Landschaft hinterlassen hätten. »Ein Haus oder ein Geschäft? Oder etwas, bei dem du mit einsteigen kannst?«

Sie zögerte mit der Antwort.

»Mensch, Sabine, nun lass dir doch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen! Ich bin neugierig!«

Sie seufzte. »Du weißt doch, wie abergläubisch ich bin. Ich rede halt nicht gerne über ungelegte Eier. Und nach den bisherigen Enttäuschungen erst recht nicht.«

Die Objekte, die sie sich in den letzten Wochen angeschaut hatte, waren allesamt untragbar gewesen. Zu klein, zu hinfällig, zu teuer. Bei dem morgigen Termin würde sie eine kleine Lagerhalle in Böhl besichtigen, die zumindest von der Miete her erschwinglich wäre. Die Fotos auf der Seite des Maklers hatten einen ansprechenden Eindruck gemacht, aber wie man das selbst bei einer Schrottimmobilie hinbekam, war ihr bekannt. Also deshalb besser nichts beschreien, sondern erst einmal anschauen.

»Du weißt, dass du dich auch jederzeit hier einrichten kannst«, sagte Carsten. »Wenn der Platz im Keller nicht ausreicht, können wir ein Atelier im Garten bauen lassen, von dem ein Bereich auch als Ausstellungsfläche genutzt wird.«

Er hatte ihr diesen Vorschlag schon einige Male gemacht, und sie hatte jedes Mal Skrupel gehabt, ihn abzulehnen, auch wenn sie wusste, dass er ihre Gründe nachvollziehen konnte. Sie wollte auf eigenen Beinen stehen, und außerdem widerstrebte ihr der Gedanke, dass sich Besucher oder Kursteilnehmer im Haus oder auf dem Grundstück aufhalten würden. Was, wenn es Menschen waren, die sich an die damaligen Vorkommnisse erinnerten und in ihrer Sensationsgier jetzt hofften, einen Einblick in das Leben des Mannes zu erhalten, dem sie damals das Leben so sehr zur Hölle gemacht hatten, dass er dem Ort, den er so liebte, nur noch hatte entfliehen können?

3

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Als Norberg gegen dreiundzwanzig Uhr nach Hause kam, waren die Fenster zur Straßenseite dunkel. Leise schloss er die Haustür hinter sich ab und stieg in den ersten Stock hinauf, wo Finn und Lasse ihre Zimmer hatten.

Sein Verhältnis zu Lasse hatte sich noch nicht wieder normalisiert, aber sie arbeiteten mittlerweile zumindest daran. Nach Kathrins Tod im vergangenen Jahr war an den Dreizehnjährigen kein Herankommen mehr gewesen. Jeder Versuch eines Gesprächs hatte zu einer Eskalation geführt, und als Lasse es schließlich nicht mehr zu Hause ausgehalten hatte, war er in den Sommerferien zu seinem Großvater nach Stockholm geflüchtet. Nach seiner Rückkehr hatten Norberg und er einen Psychologen aufgesucht, und in den folgenden Dreiergesprächen hatte Lasse zum ersten Mal über die Ängste gesprochen, die ihn seit dem Tod seiner Mutter umtrieben. Verlustängste, die sich in erster Linie auf seinen Vater bezogen und sich in einem aggressiven und ablehnenden Verhalten diesem gegenüber äußerten. Reiner Selbstschutz, hatte der Psychologe in einem Einzelgespräch mit Norberg gemeint. Norberg war natürlich auch psychologisch geschult, aber das Ausmaß von Lasses Ängsten hatte ihn dann doch erschüttert.

»Hey, noch wach?« Norberg hatte ein kurzes Ja auf sein Klopfen vernommen und daraufhin Lasses Zimmer betreten. Sein Sohn saß vor dem Computer, aber wie nahezu sonst immer in der Vergangenheit klickte er die Seite, die er gerade anschaute, dieses Mal nicht weg. Norberg sah, dass er sich auf Facebook herumtrieb.

»Ja, aber ich geh jetzt zu Bett.« Lasse fuhr den PC herunter und erhob sich. »Hab morgen früh wieder Mathe-Nachhilfe.«

Lasses schulische Leistungen hatten nach Kathrins Tod stark nachgelassen, aber mittlerweile war er dank regelmäßiger Nachhilfe wieder auf einem guten Weg. »Und? Hattest du da nicht ein paar haarige Aufgaben erhalten?«

Lasse nickte.

»Alles hinbekommen?«

»Denk schon.«

Sie fetzten sich nicht mehr an, verfielen aber immer wieder in eine Sprachlosigkeit, die Norberg zu schaffen machte. Auch jetzt schien Lasse keine Lust auf eine Fortsetzung des Gesprächs zu haben, wenn man das überhaupt ein Gespräch nennen konnte.

Norberg sah noch einen Augenblick unentschlossen zu, wie Lasse einige Utensilien von der Bettdecke aufhob und in seinen Rucksack steckte, dann wünschte er seinem Sohn eine gute Nacht und verließ das Zimmer, um nach Finn zu sehen.

Der Siebenjährige schlief tief und fest und hatte wie so häufig die Bettdecke weggestrampelt. Auch er hatte den Verlust seiner Mutter noch lange nicht verarbeitet, aber sein von Natur aus sonniges Gemüt stärkte ihn mit jedem Tag, der verging, ebenso wie der Kontakt zu seinen Freunden. Mein Stöpsel, dachte Norberg zärtlich und drückte einen Kuss auf seine Wange, bevor er ihn wieder zudeckte. Wenn Lasse nur ein bisschen mehr von deiner Leichtigkeit hätte.

Eine große Veränderung hatten die Dreiergespräche mit Lasse allerdings gebracht. Er hatte begriffen, dass er seinen kleinen Bruder nicht länger im Stich lassen konnte, weil der ihn nach dem Tod ihrer Mutter noch mehr brauchte als vorher. Seitdem kümmerte Lasse sich wieder um Finn, wie er das auch vorher getan hatte. Er hatte bei seinem Großvater in Stockholm kochen gelernt und sich seit seiner Rückkehr mit Corinnas Hilfe bemüht, seine Kenntnisse zu vertiefen, damit er Finn nach der Schule versorgen konnte und sie auch einmal wieder Zeit für sich und Opa Peter hätte. Dieser Umstand hatte Norberg zutiefst überrascht und ihm auch eine große Last von den Schultern genommen, da seine Schwiegermutter, die sich tagsüber noch immer um ihre beiden Enkel kümmerte, zumindest ein Stück weit entlastet war. Vor allen Dingen am Abend, wenn er aus dienstlichen Gründen keinen pünktlichen Feierabend machen konnte. Und das war leider häufig der Fall.

Norberg ging zur Tür zurück und warf einen Blick zum Fenster, gegen das dicke Schneeflocken peitschten. Laut diverser Vorhersagen sollte es mal wieder ein richtiger Winter werden, und für die kommende Nacht war die erste Sturmflut des Jahres angesagt worden.

Im Erdgeschoss holte er sich eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank und nahm sie mit ins Wohnzimmer. Der Wind heulte um das Haus, bei den Nachbarn klapperte ein Fensterladen.

Er lehnte sich auf dem Sofa zurück und dachte an die Willkommensfeier, die seine Schwiegereltern für Anna Wagner ausgerichtet hatten. Nachdem der Tag ihrer Ankunft feststand, hatte sich Corinna in die Essensplanung gestürzt, weil sie Anna mit einem schönen Büfett zu überraschen gedachte. Zuerst hatte sie etwas Norddeutsches im Auge gehabt, sich dann aber von ihrem Mann zu einem bayerischen Büfett überreden lassen. Norddeutsch kann Anna jetzt jeden Tag essen, hatte Peter Heckler gemeint, glaubst du nicht, dass sie mal wieder Bock auf handfeste bayerische Kost hätte? Dass er dieser ebenfalls nicht abgeneigt war, hatte er nicht erwähnt, sondern war ins Freie gestapft, um sich noch einmal den Garten von Annas zukünftigem Haus vorzunehmen, damit bei ihrer Ankunft auch alles picobello war.

Norberg freute sich, dass Anna jetzt dauerhaft in St. Peter-Ording arbeiten würde. Nicht aus Eigennutz, weil er ihren Job spannender fand als seinen, er hatte nur mal sehen wollen, wie sie auf seine Bemerkung reagierte. Entspannt, wie er vermutet hatte. Sie war eine Frau, die sich nicht so leicht aus der Ruhe bringen ließ und hinter jeder Bemerkung gleich eine Niederträchtigkeit vermutete. Es würde eine angenehme Zusammenarbeit werden, und er war froh, dass er mit seinen weitreichenden Beziehungen ein Stück dazu hatte beitragen können, dass sie jetzt dauerhaft in St. Peter arbeiten würde. Dasselbe galt für Nils Scheffler, der in den vergangenen Monaten mit großem Einsatz gezeigt hatte, was er draufhatte. Norberg hatte seine Entwicklung verfolgt und ihn unterstützt, und er hätte ihn ungern an eine andere Dienststelle verloren.

Was Norberg allerdings überhaupt nicht gefiel, war die Tatsache, dass Anna Wind von seinen Aktivitäten bekommen hatte. Er wusste noch nicht, wer es ihr gesteckt hatte, aber er würde versuchen, es herauszufinden. Nils Scheffler hingegen schien ahnungslos zu sein und würde es hoffentlich auch bleiben.

4

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Montag, 06. Januar

Anna traf um acht Uhr in der Polizeistation ein und stellte die mitgebrachten Süßigkeiten in der Teeküche ab, damit sich die Kollegen im Laufe des Tages davon bedienen konnten. Sie plante am kommenden Tag einen richtigen Einstieg mit einem schönen Frühstück, aber heute wollte sie erst einmal Norberg und Scheffler mit dem Vermisstenfall vertraut machen, den sie sich während ihrer letzten Tage in Kiel vorgenommen hatte.

Sie begrüßte die Kollegen der Tagesschicht, die sie alle schon kannte. Die Bäderdienstler waren um diese Jahreszeit natürlich nicht vor Ort, und sie fragte Norberg, ob bei den festen Kollegen Wechsel stattgefunden hätten. In erster Linie interessierte es sie, ob Michael Paulsen noch in der Station arbeitete, der sich als sehr unangenehmer Zeitgenosse entpuppt, und nach Ausfällen Norberg und ihr gegenüber auf Norbergs Abschussliste gestanden hatte.

»Der Kollege Paulsen hat uns verlassen«, sagte Norberg dann auch wie erhofft.

»Dann hast du dich um seine Versetzung bemüht?«

Norberg lehnte sich in seinem Stuhl zurück, sein Gesicht hatte einen grimmigen Ausdruck angenommen. »Wir hatten aufgrund eines Krankheitsfalls für zwei Monate eine junge Kollegin bei uns. Paulsen hat ihr in ihrer Freizeit massiv nachgestellt, und als sie sich mir endlich anvertraut und ihn angezeigt hat, habe ich für seine Entlassung gesorgt. Die Sache hat Kreise gezogen und dazu geführt, dass sich auch Kolleginnen aus anderen Dienststellen aus der Deckung getraut und ihn angezeigt haben.«

»Das sind ja gute Nachrichten.« Sie hatte zwar keine Probleme damit gehabt, sich Paulsen vom Hals zu halten, war aber nicht erpicht darauf gewesen, ihm hier weiterhin über den Weg zu laufen. Er war ein Mensch, der Unfrieden in einem Team säte, selbst wenn es ausschließlich aus Männern bestand.

»Na ja …«, sagte Scheffler gedehnt.

Fragend blickte Anna ihn an.

»So ganz los sind wir ihn noch nicht«, fuhr der Kollege fort. »Er hat nämlich vor zwei Monaten einen Sicherheitsdienst gegründet. In erster Linie Objektschutz, bei Bedarf stellt er laut seiner Website aber auch Bodyguards, speziell ausgebildete Hunde und so weiter zur Verfügung.«

Anna glaubte ihren Ohren nicht zu trauen. »Wie bitte? Bodyguards? Etwa hier in St. Peter?«

Scheffler nickte grinsend. »Jo. SPO wird ja langsam das neue Sylt, und die ganzen Promis, die dann demnächst hier einfallen, brauchen doch Schutz vor ihren zahlreichen Fans.«

Anna lachte auf. »Indem sie Bodyguards und speziell ausgebildete Hunde anheuern, die sich dann auf allzu aufdringliche Fans stürzen, oder was?«

»Logo! Man hat ja schließlich einen Ruf zu wahren.«

»Paulsen will uns offensichtlich Konkurrenz machen«, unterbrach Norberg das Geplänkel. »Der Leitspruch seiner neuen Firma lautet: Effizienter als es die Polizei erlaubt.« Er zuckte die Schultern. »Wenn sein Ego das braucht, meinetwegen.« Er deutete auf die drei dicken Ordner, die vor ihr auf dem Tisch lagen. »Ist das der neue Fall?«

Anna musste das Gehörte erst einmal sacken lassen, aber dann nickte sie und händigte Norberg und Scheffler jeweils einen Ordner und einen USB-Stick aus. »Ich hab alles für euch kopiert. Auf den Sticks sind eine Reihe von Notizen, die ich mir bisher gemacht habe.«

»Und worum geht es?«, wollte Scheffler wissen.

»Es geht um das Verschwinden des neunjährigen Florian Berger im Jahr 2004. Florian war auf Klassenfahrt in einem Jugendheim hier in St. Peter und wurde am Morgen des zehnten August vermisst. Es begann eine aufwendige Suche nach ihm, zuerst unter der Leitung der Husumer Kripo, dann wurde die Flensburger Mordkommission hinzugezogen, weil man von einem Tötungsdelikt ausging. Die Suche lief über vier Monate und wurde dann ergebnislos abgebrochen.« Sie blickte ihre beiden Kollegen an. »Ich muss dazu sagen, dass ich eine Reihe von Fällen auf dem Tisch hatte. Leider gab es bei keinem irgendwelche neuen Erkenntnisse, und als dann feststand, dass ich nach St. Peter versetzt werde und Claas Hoyer als damaliger Dienststellenleiter in den Fall involviert war, war für mich klar, was ich mir vornehme. Außerdem ist es der einzige Fall, bei dem ein Kind verschwunden ist, und so etwas sollte immer höchste Priorität haben. Man kann zwar nach all den Jahren davon ausgehen, dass Florian nicht mehr am Leben ist, aber es ist mir wichtig, dass die Eltern endlich Gewissheit bekommen.« Sie blickte Norberg an. »Du lebst doch seit bald zwanzig Jahren hier, wenn ich mich recht erinnere. Hast du damals etwas davon mitbekommen? Ich meine, wenn ein Kind verschwindet, erregt das doch ziemliches Aufsehen.«

Norberg schüttelte den Kopf. »Da muss ich gar nicht lange nachdenken. Zu dem Zeitpunkt sind Kathrin und ich drei Monate durch Australien getrampt. Das war so eine Art verspäteter Hochzeitsreise. Ich hatte meinen Jahresurlaub genommen und musste außerdem jede Menge Überstunden abbauen, und da haben wir uns gesagt, wenn schon so weit weg, dann nicht nur für ein paar Wochen. Wir sind erst Mitte Oktober zurückgekommen. Von daher habe ich nichts mitbekommen. Ich könnte aber meine Schwiegereltern fragen, vielleicht erinnern die sich noch an etwas.«

»Das ist eine gute Idee!«, warf Nils ein. »Dann horche ich mal meine Eltern aus. Ich war ja damals erst zwölf, da hab ich so was noch nicht mitbekommen.«

Norberg nickte zustimmend und blickte Anna an. »Wer waren die damaligen Ermittler?«

Sie warf einen Blick in ihre Unterlagen. »Arndt Lürssen von der Flensburger Mordkommission sowie Pieter Johannsen und Hark Thomsen von der Kripo Husum. Wobei Lürssen zu Beginn der Ermittlungen noch zur Husumer Kripo gehörte. Nach der ersten Woche erfolgte der schon länger geplante Wechsel in die Flensburger MK, von wo aus er den Fall weiter bearbeitet hat.« Anna blickte ihn an. »Ich gehe davon aus, dass du Lürssen kennst.«

»Ja, klar. Er hat sich all die Jahre darauf gespitzt, die Leitung der MK zu übernehmen, dazu kam es aber erst vor vier Monaten, als der bisherige Leiter einen tödlichen Autounfall hatte. Das war wohl so eine Art Bonus, bevor Lürssen in zwei Jahren in den Ruhestand geht. Denn geeignet ist er für diesen Posten definitiv nicht.«

»Warum nicht?«

»Mangelnde Führungsqualitäten, nicht durchsetzungsfähig, knickt bei der kleinsten Kleinigkeit ein. So jemand gehört nicht an die Spitze einer Mordkommission.«

»Und was ist mit den anderen beiden Männern?«

»Hark Thomsen sagt mir nichts, aber Johannsen ist mir wohlbekannt.« Über Norbergs Gesicht flog ein Schatten.

»Das hört sich an, als wenn ihr nicht die besten Freunde wärt.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass es irgendjemanden gibt, der Johannsen mag. Der Typ ist ein Kotzbrocken hoch drei. Aber mit Nettigkeit bringt man es ja auch nicht zum Leiter des LKA.« Er blickte Anna fragend an. »Der steht doch kurz vor der Pensionierung, wenn ich mich nicht irre.«

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