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Silent Death - Du entkommst mir nicht

Als Buch hier erhältlich:

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Wer stirbt als nächstes?

Die Profilerin Holly Wakefield und Detective Inspector Bishop arbeiten an einem neuen Fall. Eine Prostituierte wurde brutal erstochen und verstümmelt. Geht es um eine Rachetat im Rotlichtmilieu? Holly erkennt schnell, dass der Fall einen anderen Hintergrund hat. Der Täter hat eine Strichmännchenzeichnung neben der Leiche zurückgelassen. Sofort denkt Bishop an zwei ungelöste Fälle vor mehreren Jahren. Damals wurden zwei Männer ähnlich brutal ermordet und dazu noch kastriert. Bei den Leichen wurden ebenfalls Zeichnungen von Strichmännchen gefunden. Doch der Killer konnte nie gefasst werden. Holly ist sich sicher: Sie haben es mit demselben bestialischen Serienkiller zu tun.


  • Erscheinungstag: 21.07.2022
  • Aus der Serie: Holly Wakefield
  • Bandnummer: 3
  • Seitenanzahl: 400
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749904174
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Ein großartiger Englischlehrer ist schwer zu finden, und man vergisst ihn niemals.
Für Vater Jeff Risbridger, der eine meiner Kurzgeschichten im Unterricht vorgelesen und mich dazu ermutigt hat, mit dem Schreiben weiterzumachen.

Eins

Mit ihren neununddreißig Jahren glaubte Vee immer noch an Märchen.

Sie glaubte daran, dass ein Mensch erst geliebt werden muss, um liebenswert zu sein, dass die Güte der Seele am Ende immer über das Böse triumphiert und dass die Prinzessin genauso gut Heldin einer Geschichte sein kann wie der Prinz. Doch vor allem halfen ihr die Märchen dabei, dem Alltag zu entfliehen und in eine andere Welt einzutauchen.

Beim letzten Freier war ihr der Stretchrock bis zur Hüfte hochgerutscht. Sobald sie fertig waren, schob sie ihn wieder herunter und sah dem Mann dabei zu, wie er seine Hose hochzog und den Gürtel schloss. Als er hastig das Weite suchte, schaute sie ihm nach, bis die Dunkelheit des Parkplatzes ihn verschluckte.

»Gute Nacht, mein Prinz«, flüsterte sie. Vee arbeitete seit über fünfundzwanzig Jahren als Prostituierte und hatte schon eine Million Frösche geküsst.

Der Rotlichtbezirk der Küstenstadt Brighton im Süden Englands war eher klein. Einige der anderen Mädchen rauchten und unterhielten sich, die Arme untergehakt, ein zusätzlicher Schutz in den späten Nachtstunden. Wieder an ihrer Laterne angekommen, putzte sich Vee die Zähne und steckte sich eine Zigarette an. Ihr fiel ein dunkler Volvo auf, der schon die ganze Nacht seine Runden drehte. Er bremste ab, die Scheibe wurde heruntergelassen, dann fuhr er weiter.

»Alles klar, Vee?«

Vee drehte sich um. Sie hatte ihre junge Kollegin nicht kommen hören. Knochige Beine und Arme, schulterlange platinblonde Perücke, roter Lippenstift.

»Haste ’ne Kippe?«, fragte sie.

»Sogar zwei. Aber die brauche ich für den Heimweg.«

»Leck mich doch.«

Vee betrachtete das Mädchen. Denn nichts anderes war sie – ein Mädchen von vierzehn, vielleicht fünfzehn Jahren. Sie hätte ihr gerne einen Kaugummi geschenkt, stattdessen gab sie ihr ein Päckchen Kondome und Feuchttücher.

»Sag nicht, dass du nie was von mir kriegst«, meinte sie.

Ulyana war Ukrainerin. Sie wechselte ihre Perücken alle zwei Tage, und ihr Akzent klang mal hart, mal weich. Das r allerdings wurde ausnahmslos gerollt.

»Er ist wieder da«, sagte Vee.

»Der Volvo?«

Vee nickte. »Hast du was zu deinem Schutz dabei?«

Ulyana zog ein kleines Springmesser aus ihrer Handtasche.

»Das wird ihn zwar nicht umbringen, aber danach überlegt er sich zweimal, ob er mir dumm kommen will.«

Der Volvo drosselte wieder das Tempo und hielt am Straßenrand. Eine der Frauen ging hin, steckte den Kopf durchs offene Fenster und wechselte ein paar Worte mit dem Fahrer, ehe sie sich wieder aufrichtete, dem Mann den ausgestreckten Mittelfinger zeigte und ihm empfahl, sich ins Knie zu ficken.

»Ally, wer war das?«, rief Vee ihr über die Straße zu.

Doch die Frau zuckte bloß mit den Schultern, ehe sie zu ihrer Freundin zurückkehrte und eine neue Zigarette aus der Handtasche fischte.

»Ich mache Schluss und gehe nach Hause«, verkündete Vee.

»Bleib doch noch. Leiste mir ein bisschen Gesellschaft«, bat Ulyana sie.

»Keinen Bock mehr. Hast du Lust, morgen was zusammen zu unternehmen?«

»Klar.«

»Wie wär’s, wenn ich für uns koche? Sonntagsbraten.«

»Morgen ist Freitag.«

»Na und?«, sagte Vee. »Ich habe gestern bei Aldi ein Hühnchen gekauft, ein richtig fettes kleines Ding. Ich hole es nachher aus der Tiefkühltruhe und schiebe es morgen in den Ofen. Um wie viel Uhr willst du kommen?«

»Irgendwann am späten Nachmittag – dann können wir hinterher zusammen zur Arbeit gehen.«

»Perfekt.«

Das Mädchen lächelte sie an. Vee versuchte zurückzulächeln, doch ihr tat der Kiefer weh.

»Wer gut aussieht, fühlt sich auch gut, stimmt’s?«, meinte sie.

Das Mädchen nickte, und die beiden umarmten sich zum Abschied, ehe Vee sich umdrehte und ging.

Es war ein heißer Tag gewesen, aber die Nächte am Meer waren kühl. Während Vee die Marine Parade entlanglief, lauschte sie dem Rauschen der Wellen, die sich am Strand brachen. Ihre erste Zigarette reichte bis nach Rottingdean, und als sie Telscombe Cliffs erreichte, hatte sie auch die zweite aufgeraucht. Sie wohnte in der Wellington Road, in einem kleinen weiß gestrichenen Zweizimmer-Bungalow mit einer Veranda vorne und einem großen quadratischen Fenster rechts daneben. Die Vorhänge waren zugezogen, nur in der Mitte ließen sie einen schmalen Spalt. Das Gartentor quietschte, als es aufschwang, doch ansonsten war es still in der Straße, ihre Nachbarn schliefen.

Sie steckte den Schlüssel ins Schloss, stieß die Haustür auf und knipste das Licht an. Auf dem Tischchen im Flur lag ihr Nüchternheits-Tagebuch. Sie schrieb »Tag 278« hinein, machte ein x daneben und sagte laut zu sich selbst: »Alles, was ich brauche, sind Glauben und Selbstvertrauen.«

Im Schlafzimmer öffnete sie die Riemchen ihrer hochhackigen Schuhe, zog sich das Top aus und warf ihren Rock aufs Bett. Dann ging sie duschen. Hinterher wischte sie den beschlagenen Badezimmerspiegel trocken und betrachtete ihr Spiegelbild. Sie zupfte eine Weile an ihren zerzausten roten Haaren herum, dann putzte sie sich noch mal die Zähne.

Sie holte das Hähnchen aus dem Tiefkühlfach und schaute in die Gemüseschublade ihres Kühlschranks. Karotten, Steckrüben, Kartoffeln. Morgen früh konnte sie noch Tiefkühlerbsen besorgen. Sie brühte sich einen Kaffee auf. Dass die Tasse angeschlagen war, störte sie nicht. Sie machte es sich auf dem Secondhandsofa in ihrem rosa gestrichenen Wohnzimmer bequem. Früher hatte sie sich oft einsam gefühlt, wenn sie nach Hause gekommen war. Sie hatte geglaubt, nur mit einem anderen Menschen, einem Partner, glücklich sein zu können, was aber wohl vor allem damit zusammenhing, dass sie sich selbst immer als minderwertig betrachtet hatte. Inzwischen wusste sie es besser. Sie hatte sich geändert. Sie war dabei, ihr Leben in Ordnung zu bringen. Diesmal würde sie endgültig aussteigen.

Den Ellbogen auf die Armlehne gestützt, eine Zigarette zwischen Zeige- und Mittelfinger, starrte sie aus dem Fenster. Nach etwa einer Stunde merkte sie, dass sie kurz davor war einzunicken. Zeit, ins Bett zu gehen. Ihre Hände wurden langsam kalt.

Als sie den Flur durchquerte, hörte sie ein Klopfen an der Haustür. Weil es halb vier Uhr morgens war, zögerte sie.

»Es ist schon spät«, sagte sie leise. »Wer ist da?«

Von draußen kam undeutlich eine fremde Stimme zurück.

»Wer?«

Auch beim zweiten Mal war die Antwort nicht zu verstehen. Vee öffnete die Tür.

Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Kennen wir uns?«, fragte sie.

Im nächsten Moment durchzuckte sie eine Erinnerung. Ein lichterloh brennendes Prinzessinnenkleid.

Ihr Lächeln erlosch, auf einmal bekam sie keine Luft mehr, und dann merkte sie nur noch, wie sie fiel.

Zwei

Holly Wakefield starrte auf den kleinen Bungalow mit dem leuchtend gelben Flatterband davor.

Er lag am Ende einer Sackgasse. Zu beiden Seiten der leicht ansteigenden Straße standen ähnliche Häuser, dahinter erstreckten sich eine Neubausiedlung mit Sozialwohnungen sowie eine etwa anderthalb Hektar große Brachfläche.

Ihr Mobiltelefon klingelte – DI Bishop. Er würde sich verspäten.

»Ich musste noch was aus dem Polizeiarchiv holen«, sagte er. »Der Verkehr ist ziemlich dicht, ich brauche noch zwanzig Minuten. Geh ruhig schon mal rein – du musst nicht auf mich warten.« Eine Pause. »So kannst du schon mal ein Gefühl für den Tatort bekommen.«

Er legte auf.

Holly trug keine Handtasche bei sich. Alles Nötige befand sich in ihren Jackentaschen, darunter auch ein Paar Latexhandschuhe, die sie sich im Gehen überstreifte. Sie hob das Absperrband vor dem Gartentor an und zeigte dem Polizisten an der Haustür ihren Ausweis.

»Holly Wakefield«, sagte sie.

»Alles klar, DI Bishop hat Sie bereits angekündigt. Brauchen Sie irgendwas?«

»Bloß Ruhe, danke.«

Er nickte, als hätte er mit dieser Antwort gerechnet, dann öffnete er ihr die Tür und ließ sie eintreten. Holly hörte, wie sie hinter ihr wieder ins Schloss fiel. Sie hatte keine Ahnung, was sie im Innern des Hauses erwartete. Bishop war ungewöhnlich sparsam mit Informationen gewesen. Zunächst stand sie einen Moment lang einfach nur da und atmete tief ein.

Der metallische Geruch von Blut, vermischt mit dem schalen von Parfüm.

Auf dem Tisch im Flur lag ein Notizbuch. Holly schlug es auf – ein Nüchternheits-Tagebuch für Alkoholiker oder Drogenabhängige. Der letzte Eintrag stammte vom Donnerstag: die Zahl 278 und ein Kreuzchen daneben. Zwischen den Einträgen standen Telefonnummern, Großbuchstaben – offenbar die Initialen von Personen – und Termine für Treffen mit Sponsoren, wie man bei den Anonymen Alkoholikern die Paten nannte.

Das kleine Badezimmer auf der linken Seite war blau gestrichen und tadellos aufgeräumt. Wohnzimmer und Küche zur Rechten des Flurs hatten rosa Wände. Auf dem Kaminsims stand ein ebenfalls rosafarbenes Vintage-Radiogerät, daneben ein paar Muscheln und eine leere Vase. Regale mit Büchern: Lark Rise to Candleford, Shakespeare und ein Band über Ballett von Darcey Bussell. Keine Fotos, nicht ein einziges.

Über dem Heizkörper hingen einige Wäschestücke, in der Küchenspüle fand Holly benutzte Teller und Besteck. Fliegen summten, und allmählich fing es an zu riechen.

So kannst du schon mal ein Gefühl für den Tatort bekommen, hatte Bishop gesagt.

Die Tote hieß Vee, und ein Profil des Opfers war genauso wichtig wie das des Täters – manchmal sogar noch wichtiger. Und wenn man das Opfer verstehen wollte, musste man sich in es hineinversetzen.

Vee hatte die letzten vier Jahre als Prostituierte in Brighton gearbeitet und war polizeibekannt.

Holly schaltete das Radio ein, um zu sehen, welchen Sender die Tote zuletzt gehört hatte. Heart FM – erst die Stimme eines Moderators, dann Johnny Cash mit dem Song »Hurt«. Sie hockte sich auf die Armlehne des verschlissenen und durchgesessenen Sofas und ließ den Blick durch den Raum schweifen. Hierher war Vee also nach Hause gekommen: billige Drucke an den Wänden, eine Handvoll Muscheln vom Strand, Zigarettenstummel mit Spuren von Lippenstift im Aschenbecher auf dem Couchtisch.

Wie bist du hier gelandet, Vee?

Holly war im Heim aufgewachsen, nachdem ihre Eltern ermordet worden waren, sie wusste, wie schnell Mädchen in die Prostitution rutschten, hatte es hautnah miterlebt. Und sie kannte die quälende Sehnsucht nach Intimität und Nähe und das Gefühl, nicht mal zu wissen, wo man danach suchen sollte. Im Laufe der Jahre hatte sie viele Versionen der ewig gleichen Geschichte gehört, und es machte sie jedes Mal aufs Neue traurig: diese Kombination aus Armut, Verzweiflung, Missbrauch und Einsamkeit – und niemand, dem man sich anvertrauen konnte. Ob Vee als Kind davon geträumt hatte, Ballerina zu werden? Ging sie zu Trainingsstunden nach der Schule, Vortanzterminen und Proben? Später war sie wohl irgendwie an die falschen Freunde geraten. Aus Gras wurde Koks, aus Koks Heroin, und irgendwann spielte nichts mehr eine Rolle. Holly fragte sich, wie oft Vee auf diesem Sofa gesessen und darüber nachgegrübelt hatte, was aus ihrem Leben geworden war.

Sie stand auf und betrat den Flur. Hinweise auf einen Kampf gab es keine, es deutete also alles darauf hin, dass Vee ihren Mörder selbst ins Haus gelassen hatte. Vielleicht ein Stammkunde? Oder zumindest jemand, den sie kannte? Im Haus war nirgendwo Blut gefunden worden, mit Ausnahme des Schlafzimmers, also beschloss sie, sich als Nächstes dort umzusehen. Sie versetzte der Tür einen kleinen Schubs. Weil die Vorhänge zugezogen waren, schaltete sie das Licht ein.

Dutzende leuchtend gelber Nummerntafeln standen überall im Raum verteilt. Die Leute von der Spurensicherung hatten das Bettzeug mitgenommen. Übrig waren lediglich die blutgetränkte Matratze und das Bettgestell aus Messing, dekoriert mit einer Lichterkette und Plüschtieren: bunte Teddys, Delfine, ein Einhorn. Dies war nicht das Bett einer abgestumpften Sexarbeiterin, sondern das einer Frau, die so tat, als wäre sie immer noch dreizehn Jahre alt und lebte zu Hause bei ihren Eltern. Wechselnde Männer, wechselnde Laken. Wie oft wohl war Vee alleine schlafen gegangen, hatte den Tag in ihrem Notizbuch abgestrichen und sich die Tränen aus den Augen gewischt?

An den Wänden, auf dem Teppich und an der Decke über dem Bett waren Blutspritzer zu sehen, die bereits eine bräunliche Färbung angenommen hatten. An der Wand hinter dem Bett prangte der Teil eines roten Handabdrucks. Vee war noch am Leben gewesen, als der Täter auf sie eingestochen hatte.

Holly besann sich kurz, dann kletterte sie aufs Bett und blickte auf die Stelle, wo sich Vees Kopf befunden hatte. So musste der Mörder über ihr gekniet haben. Ihre Position erlaubte es ihr, ihm gewissermaßen über die Schulter zu schauen. Auf einmal spürte sie seine Gegenwart und das, was in diesem Zimmer passiert war. Sie hörte die Musik aus dem Radio, fühlte die Wut, die Angst und roch das Blut.

Die Plüschtiere beobachteten sie mit ihren starren Plastikaugen. Vorsichtig stieg sie vom Bett herunter und ließ den Blick durchs Zimmer schweifen. Auch hier keine Fotos, dafür jede Menge Funkelndes: paillettenbesetzte Kleider, in denen sich der Schein der Straßenlaternen gespiegelt hatte. Die Kommode war vollgestopft mit Röcken, BHs, Slips und Jeans. Holly setzte sich auf den Holzstuhl vor Vees Frisiertisch. Die Lippenstifte und Lidschatten auf der Ablage waren in Metallic-Farbtönen gehalten, sie sahen aus wie Glitzerkleber. Dann zog sie die Schubladen auf. In der einen lagen Sexspielzeuge, Handschellen, Kondome und Tic Tacs. In der anderen Schublade stieß Holly auf das erste Foto. Die Spurensicherung hatte es markiert. Es zeigte Vee als junges Mädchen mit ihrem kupferroten Haar Arm in Arm mit einem etwa gleichaltrigen Jungen. Die beiden lächelten in die Kamera. Sie trugen Kostüme, vielleicht für eine Theateraufführung oder für eine Mottoparty. Auf der Rückseite des Fotos war nichts vermerkt.

Holly horchte in sich hinein, um zu ergründen, was genau sie sah und wie sie sich dabei fühlte.

Einsam. Traurig.

Sie blickte auf. Schaute in den Frisierspiegel und auf das Bett, das darin reflektiert wurde. Sie stellte sich einen kräftigen Mann vor, der sich über Vee beugte. In einer Hand ein Messer. Sie hörte tiefe, heisere Atemzüge und das Quietschen der Federkernmatratze, während er wieder und wieder zustieß.

Sie blinzelte die Bilder weg und stand auf.

Anschließend hatte er bestimmt das Bedürfnis verspürt, sein Werk zu bewundern. Das Gefühl der Macht zu genießen, ehe es sich verflüchtigte wie ein Schatten. Er hatte keine Eile gehabt, war ganz ruhig und beherrscht gewesen. Und kurz bevor er gegangen war, hatte er unter einigen Nylonstrümpfen auf der Kommode seine Visitenkarte hinterlegt. Holly zuliebe hatte die Polizei sie liegen lassen – eine kindlich anmutende Zeichnung zweier Strichmännchen, mit bunten Wachsmalstiften flüchtig aufs Papier geworfen.

Sie nahm das DIN-A4-Blatt in die Hand. Der Kopf des Strichmännchens auf der linken Seite war groß und rund wie ein Luftballon. Es grinste breit und hielt ein Messer in der Hand. Das rechte Strichmännchen stellte sein Opfer – Vee – dar. Es hatte lange rote Haare und Wimpern und trug ein grünes Kleid in Form eines Dreiecks. Mit gespreizten Armen und Beinen lag es auf dem Bett. Das Gesicht war ein Durcheinander aus verschiedenen Rottönen, und wo die Augen hätten sein sollen, klafften krakelige schwarze Löcher.

Holly fuhr mit dem Finger über die wächserne Oberfläche. Noch nie hatte sie etwas Vergleichbares gesehen. Die Figuren strahlten eine Lebendigkeit aus, die verstörend war. Kindlich und unbeholfen, ja – aber diese Brutalität …

Sie runzelte die Stirn, blickte jedoch auf, als sie plötzlich ein Geräusch vernahm. Offenbar hatte jemand die Haustür geöffnet. Dann hörte sie Schritte im Flur, und einen Moment später tauchte ein großer Schatten im Türrahmen auf.

»Holly?«

Es war Bishop. Etwa eins achtzig groß, ehemaliger Soldat. Der Geruch seiner Schuhcreme stieg ihr in die Nase.

»Hallo, Bishop«, sagte sie.

Er gesellte sich zu ihr an den Frisiertisch und holte zwei große Asservatenbeutel aus durchsichtigem Plastik aus dem Innern seiner Jacke hervor. In jedem befand sich ein Wachsmalbild mit zwei Strichmännchen. Links der grinsende Killer, rechts das blutüberströmte Opfer. Holly betrachtete die beiden Bilder eine Zeit lang und wartete auf eine Erklärung.

»Wo hast du die her?«, fragte sie, als keine kam. »Bishop?«

Bishop sagte lange kein Wort. Es war, als hätte jemand bei ihm auf die Pausetaste gedrückt.

»Er ist wieder da«, murmelte er irgendwann.

»Wer ist wieder da, Bishop? Wer?«

Doch er konnte nicht antworten.

Er starrte bloß auf die Bilder, als hätte er sich in der Vergangenheit verirrt.

Drei

»Wer ist er?«, fragte Holly.

Sie und Bishop saßen in Fat Jack’s Burger Bar an der Promenade und hatten sich einen üppigen Brunch bestellt. Ihr Platz am Fenster bot einen guten Blick auf Strand und Pier. Familien mit Picknickkörben und Liegestühlen staksten über die Kiesel, und das Meer war ein trübes Grün.

»Wir sind ihm nie auch nur ansatzweise nahe gekommen«, sagte Bishop. »Ich war damals Sergeant und erst vier Jahre bei der Met, als die erste Leiche auftauchte. Das war im Mai 2013. Das Opfer hieß Stephen Freer. Fünfundsechzig Jahre alt, ein pensionierter Hausarzt, der eine Frau und zwei fast erwachsene Kinder hinterließ. Seine Leiche wurde im Schlafzimmer seines Hauses in Croydon gefunden. Er war mit Chloroform und GHB, landläufig als K.-o.-Tropfen bekannt, betäubt worden und hatte insgesamt zehn Stichverletzungen im Gesicht, hauptsächlich im Bereich der Augen. Außerdem war er kastriert worden. Das abgetrennte Geschlechtsorgan ist nie wiederaufgetaucht.«

»Mein Gott.«

»Es gab keine Videoaufnahmen, keine DNA- oder Faserspuren, lediglich ein Wachsmalbild, das am Tatort zurückgelassen wurde. Das war Leiche Nummer eins. Die Sonderkommission ging allen möglichen Theorien in Bezug auf den Täter nach. Wir haben Freers Vergangenheit und seine Patientenakten unter die Lupe genommen, aber nichts gefunden. Er war allseits beliebt gewesen. Kollegen, Freunde und Verwandte wurden vernommen, niemand kam als Täter infrage. Wir haben jeden ehemaligen Häftling, der vom Tatmuster her irgendwie ins Bild passte, zum Verhör einbestellt, aber es gab weder konkrete Hinweise noch einen wirklichen Tatverdächtigen, die Ermittlungen traten auf der Stelle. Nach einem Monat verloren die Medien das Interesse an dem Fall, und nach acht Monaten wurde die Sonderkommission auf eine Kernbesetzung reduziert, zu der auch ich gehörte. Ich habe mich noch nie so hilflos gefühlt. Jeden Tag, wenn ich zur Arbeit ging, dachte ich: Heute kommt der große Durchbruch. Aber er kam nie. Es war, als würden wir darauf warten, dass der Täter erneut zuschlägt und diesmal vielleicht einen entscheidenden Fehler macht. Zwei Jahre vergingen, ohne dass es irgendwelche neuen Erkenntnisse gab, danach wurde der Fall als ungeklärt zu den Akten gelegt. Ich wurde einem Mord im Bandenmilieu zugeteilt, konnte den Fall aber nie vergessen. Ich glaube, so ging es allen, die damit zu tun hatten. Wir haben uns eingeredet, dass es höchstwahrscheinlich eine einmalige Sache war, und sind wieder zur Normalität zurückgekehrt – bis es im Sommer 2016 die nächste Leiche gab.«

»Dieselbe Vorgehensweise?«

Er nickte.

»Das Opfer war Mike Thomas, fünfunddreißig Jahre alt, Inhaber einer Kunstgalerie in Sunbury. Er wurde im Schlafzimmer seiner Wohnung ermordet, die fußläufig etwa dreißig Minuten von der Galerie entfernt lag. Auch er war mit Chloroform und GHB betäubt und ebenfalls kastriert worden. Zwanzig Stichwunden in jedem Auge, und der Mörder hinterließ wieder ein Wachsmalbild am Tatort. Auch diesmal gab es keine Zeugen, keine DNA und keine verwertbaren Bilder von den Überwachungskameras. Die Sonderkommission wurde reaktiviert, und man hat den alten Fall wieder aufgerollt. Wir haben versucht, eine Verbindung zwischen den beiden Opfern herzustellen, aber jede Spur erwies sich als Sackgasse.«

»Ihr habt gar nichts rausgefunden?«

»Fünfzig Leute haben an dem Fall gearbeitet, die Berichterstattung in den Medien war massiv, wir haben Fallanalytiker und Psychologen hinzugezogen – sogar Lehrer, die mit uns über Kinderbilder gesprochen haben. Ein Psychologe meinte, die Kastration würde auf einen sexuellen Sadisten als Täter hindeuten.«

»Da ist was dran«, sagte sie. »Die zwei Männer wurden auf zutiefst erniedrigende Weise verstümmelt. Als wollte der Täter sie über den Tod hinaus bestrafen.«

»Mag sein. Aber was uns am meisten Rätsel aufgab, war die brutale Gewalt gegen die Augen. Kennst du die drei weisen Affen? ›Nichts Böses sehen‹ und so weiter … so interpretierte es jedenfalls die Presse.«

Jetzt fielen Holly einige Details der alten Fälle wieder ein. Wahrscheinlich hatte sie zu Hause in einem ihrer vielen Ordner die Zeitungsartikel abgeheftet. Ihre Privatbibliothek über historische und zeitgenössische Serienmörder war recht umfangreich.

»Wir haben jeden befragt, der irgendwann mal Anzeichen einer Besessenheit von Augen gezeigt hatte«, fuhr Bishop fort. »Manche Leute stehen auf so was, weißt du? Sie schminken sich Teddybär- oder Puppenaugen. Cartoonaugen, Clownsnaugen – das waren verstörende Vernehmungen, das kann ich dir sagen. Mir war gar nicht klar gewesen, dass es so viele Menschen gibt, die sich für Kinderpartys als Clown verkleiden. Wir haben sogar einen Spezialisten kommen lassen, damit der uns über Ommetaphobie aufklärt – weißt du, was das ist?«

»Die Angst vor Augen.«

»Nicht nur vor den Augen selbst, auch vor Blickkontakt. Vor Situationen, in denen man andere Menschen anschauen muss. Davor, die eigenen Augen anzufassen oder etwas ins Auge zu bekommen. Bei den Betroffenen löst das regelrecht Übelkeit aus. Wir haben uns gefragt, ob das der Grund für diese regelrechten Massaker an den Augen der Opfer sein könnte – die Augen als Fenster zur Seele und der ganze Quatsch. Ob der Mörder vielleicht die Quelle seiner Angst vernichten wollte.«

»Gab es jemals einen Verdächtigen?«, wollte Holly wissen.

»Eine Zeit lang hatten wir einen Mann namens Ralph McQuarrie im Visier. Ein homosexueller Vergewaltiger, der wegen versuchten Mordes sieben Jahre in Broadmoor gesessen hatte.«

»War eins der Opfer denn homosexuell?«

»Nein. Es gab auch nur Indizien gegen McQuarrie – er wurde eine Stunde vor dem Mord am Bahnhof Sunbury gesehen und kurz danach in der Nähe von Hampton Court. Er konnte nicht erklären, wo er in der Zwischenzeit gewesen war. Dem Staatsanwalt hat das für eine Anklage nicht ausgereicht – verständlicherweise. Aber in erster Linie ist er in den Fokus der Ermittlungen geraten, weil er Handwerker war.«

»Wieso das?«

»Wegen der Werkzeuge, die er zu Hause hatte. Die Kastrationen waren laut Rechtsmediziner mit einer elektrischen Säge vorgenommen worden. Alles aus McQuarries Werkstatt wurde ins Labor geschickt, aber er hat seine Sachen penibel sauber gehalten. Wir haben nur eine winzige Blutspur an einem Schleifgerät gefunden, und die stammte von ihm selbst.«

»Wo ist er jetzt?«

»Sitzt in Feltham. Wurde vor drei Jahren wegen Vergewaltigung verurteilt. In sechs Monaten kommt er frei.«

Beide hatten ihr Essen noch nicht angerührt.

»Keinen Appetit?«, fragte Bishop.

»Nein.«

»Ich auch nicht.« Er knüllte seine Serviette zusammen. »Komm. Ich weiß gar nicht mehr, wann ich zuletzt einen Strandspaziergang gemacht habe.«

Sie mischten sich unter die Menschen, die in Richtung Meer strömten.

»Was waren deine ersten Eindrücke vom Tatort?«, fragte er.

Holly schwieg einen Moment und versetzte sich im Geist noch einmal in Vees Schlafzimmer.

»Er hat keine Angst, eine Sauerei anzurichten. Was darauf hindeutet, dass es sich um einen extrem gut organisierten Täter handelt, der seine gesamte Ausrüstung einschließlich Latexhandschuhen mitbringt. Vielleicht hat er auch einen Overall wie die Kollegen von der Kriminaltechnik oder was Vergleichbares. Und einen Satz Wechselsachen. Es sieht so aus, als wäre er ziemlich schnell mit ihr ins Schlafzimmer gegangen.«

»Um Sex mit ihr zu haben?«

»Um sie so rasch wie möglich zu töten. Ich glaube nicht, dass wir es hier mit jemandem zu tun haben, der vor der Tat Zeit mit Small Talk vergeudet.«

»Er hätte sie überall im Haus töten können. Warum ausgerechnet im Schlafzimmer?«

»Aus demselben Grund wie bei den vorherigen Fällen. In einem kleinen, abgeschlossenen Raum kann man sein Opfer leichter kontrollieren. Aber vermutlich wählt er auch deshalb das Schlafzimmer, weil es sich dabei um einen zutiefst persönlichen Bereich handelt. Es ist der Ort in unserem Zuhause, wo wir uns am sichersten fühlen.«

Schweigend setzten sie ihren Weg fort.

»Was ist mit der Toten?«, fragte Bishop nach einer Weile.

»Kennen wir schon ihren vollständigen Namen?«

»Nur Vee, mehr nicht.«

»Ich glaube, sie hat den Großteil ihres Lebens gegen Dämonen gekämpft. Sie hat versucht, das Beste aus einer beschissenen Situation zu machen. Sie war stark und unabhängig, und ihrem Tagebuch zufolge ist sie regelmäßig zu Treffen der Anonymen Alkoholiker gegangen. Sie schien auf einem guten Weg gewesen zu sein. Zweihundertachtundsiebzig Tage trocken. Weder im Tagebuch noch sonst wo im Haus gab es irgendwelche persönlichen Gegenstände – es war, als hätte sie gar nicht wirklich dort gelebt. Einzige Ausnahme war das Foto von ihr und dem jungen Mann in der Kommode.«

»Ein Freund? Ihr Bruder?«

»Denkbar wäre beides. Was sagen denn ihre Kolleginnen?«

»Eine verschworene Gemeinschaft mit den klassischen Horrorgeschichten. Sie waren kooperativ, haben aber alle Angst, sie könnten als Nächste dran sein. Die örtliche Polizei hat die üblichen Verdächtigen vernommen, bislang konnte jeder ein Alibi vorweisen. In der Mordnacht wurde im Rotlichtbezirk ein Volvo gesehen, dessen Halter noch nicht ermittelt werden konnte. Den Aussagen der Frauen zufolge hat er ein paar Runden gedreht und ist dann weggefahren.«

»Hat eine von ihnen das Fahrzeug früher schon mal bemerkt?«

»Nein, aber in der besagten Nacht muss es ziemlich auffällig gewesen sein. Sobald wir das Kennzeichen haben, schreiben wir es zur Fahndung aus. Eine der Prostituierten hat den Fahrer gesehen, ihn aber lediglich als einen dunkelhaarigen Mann mit Kapuzenpullover beschrieben. Sie meinte, auf dem Rücksitz hätte noch ein weiterer Mann gesessen.«

»Die Tat war gut durchgeplant, und der Tatort wurde vorher sorgfältig ausgespäht«, sagte Holly. »Der Täter folgte Vee von ihrem Arbeitsplatz nach Hause, und das nicht nur ein Mal, sondern mehrmals. Er musste wissen, wie ihre tägliche beziehungsweise nächtliche Routine aussieht, wo sie isst und ihre Lebensmittel einkauft, ob sie eine Mitbewohnerin hat oder vielleicht ein Haustier, das sie zwischendurch füttern muss.«

»Er hat sie im Vorfeld der Tat beobachtet?«

»Ja, und zwar sehr gründlich.«

»Glaubst du, er kannte sie?«

»Ja«, sagte sie. »Das glaube ich.«

Vier

Holly und Bishop standen in der Morley Street.

Zwei Detectives in Zivil sprachen gerade mit einer Gruppe Sexarbeiterinnen. Einige der Frauen rauchten, die anderen hatten die Hände in den Taschen ihrer Jacken vergraben. Eine schaute zu ihnen herüber. Ihr Blick kreuzte den von Holly, dann sah sie wieder weg.

»Sie sind nervös«, stellte Bishop fest.

»Sie denken, wir kommen von der Einwanderungsbehörde.«

Unter den Mädchen brach Unruhe aus. Etliche erlesene Ausdrücke und eindeutige Gesten folgten, dann kam eine von ihnen auf sie zu. Es war Ulyana, die heute eine schwarze Perücke trug, aber denselben roten Lippenstift aufgelegt hatte wie sonst. Seit drei Jahren arbeite sie in Brighton, davor habe sie in Portsmouth gelebt, erzählte sie. Und dass sie versuche, sich ohne Zuhälter durchzuschlagen.

»Ich wurde schon dreimal mit dem Messer angegriffen. Keine Ahnung, warum diese Typen es auf mich abgesehen haben. Nika, eins der Mädchen da drüben«, sie deutete mit der Zigarette über ihre Schulter, »hat sich letzte Weihnachten sogar ’ne Kugel eingefangen. Verfickter chuilo

»Chuilo?«, fragte Bishop.

»Schwanzgesicht.« Sie schlang sich die Arme um den Leib, und ihr Achselzucken ging in ein Zittern über. »Wir haben alle Angst, wissen Sie?«

»Das verstehe ich«, sagte Bishop. »Wie gut kannten Sie Vee?«

»Sie war wie ’ne Mutter für mich, hat sich immer um mich gekümmert. Hat mir Gummis gegeben und mir gesagt, wie viel ich verlangen kann und was ich lieber nicht machen soll. Ich kann echt nichts Schlechtes über sie sagen.«

»Kennen Sie ihren richtigen Namen?«

»Sie war immer nur Vee.«

»Wie lautet denn Ihr vollständiger Name?«, wollte Holly wissen.

Ulyana zuckte mit den Schultern.

»Dieser Volvo, den Sie gesehen haben«, fuhr Bishop fort, »können Sie uns mehr darüber erzählen?«

»Vee meinte, er wäre die ganze Nacht immer wieder vorbeigekommen. Aber es war keiner ihrer Stammfreier.«

»Vee hatte Stammfreier?«

»’n paar schon.« Ulyana verlagerte das Gewicht von einem Stöckelschuh auf den anderen.

»Wissen Sie, wer sie waren?«

»Nein. Wir schauen uns ja nicht gegenseitig dabei zu. Wir nehmen unsere Freier und gehen irgendwohin, wo wir ungestört sind.«

»Wohin denn?«

»Um die Ecke. Da drüben hinter die Bank.« Ulyana deutete mit dem Finger in die Richtung. »Da ist es dunkel, so mögen es die Männer lieber. Sie wollen nicht gesehen werden.«

»Hat Vee jemals von ihrer Vergangenheit erzählt? Wo sie herkam?«, fragte Holly.

»Nee, hat sie nicht, aber sie war ziemlich schlau.«

»Schlau?«

»Sie hätte ’nen Job haben können. ’nen richtigen. Sie wusste Sachen, von denen ich noch nie gehört habe.«

»Was denn zum Beispiel?«

»Gedichte und so ’n Zeug. Manchmal hat sie total schöne Sachen gesagt. Hat über die Liebe geredet. Romeo und Julia. Sie war ’ne echte Romantikerin. Manchmal hat sie mir sogar Kerzen für meine Wohnung geschenkt.«

»Wissen Sie, ob sie einen Freund hatte?«

»’nen Freund? Nein. Sie war seit Jahren Single. Es ist schwer, jemanden zu finden, der kein Arsch ist, wissen Sie? Irgendwann hatte sie mal was mit ’nem Dealer, aber ich glaube, der ist inzwischen tot.«

»Wissen Sie, wie er hieß?«, fragte Bishop.

»Das war, bevor ich nach Brighton gekommen bin. Kann ich jetzt gehen?« Das Mädchen zog die Nase hoch und musterte Bishop. »Und ich will mein Messer wiederhaben«, fügte sie hinzu. »Die da haben es mir weggenommen, bevor sie mich zu Ihnen geschickt haben.«

Bishop winkte die beiden Polizisten zu sich und ließ sich das Messer geben. Er ließ es aufschnappen, klappte es wieder zusammen und legte es in Ulyanas kleine Hand.

»Aber niemanden damit umbringen«, mahnte er.

Fünf

Holly und Bishop trafen sich mit Vees Sponsor zu einem Gespräch in dessen Wohnung.

Robbie Sweep lebte in einem Zwei-Zimmer-Apartment in der Manchester Street, drei Gehminuten vom Strand entfernt. Er war schätzungsweise Anfang fünfzig, gut eins fünfundachtzig groß, von massiger Statur und hatte sandblondes Haar. Er trug Jeans und ein Clash-T-Shirt und lächelte unbeholfen, als er sie in sein Wohnzimmer bat, wo Tee und Kaffee bereitstanden.

»Das ist so unfassbar traurig«, sagte er, als sie sich setzten. »Ich kannte Vee seit dreieinhalb Jahren und würde sie als gute Freundin bezeichnen. Sie war bei den Anonymen Alkoholikern und bei Narcotics Anonymous, und ja, ich war in beiden Gruppen ihr Sponsor. Ich habe mit zwölf angefangen, Crack zu rauchen, und fast fünfzehn Jahre lang jeden Tag eine Flasche Jack Daniels geleert. Irgendwann habe ich den Absprung geschafft. Ich bin einer von denen, die Glück hatten.«

»Wussten Sie, was sie beruflich macht?«

»Ich erlaube mir darüber kein Urteil. Sie war ein guter Mensch. Als Vee zu uns kam, hat sie das gemacht, was die meisten beim ersten Treffen machen: Sie hat einen Kaffee getrunken, sich einen Keks genommen, und danach hat sie sich eine Woche oder sogar einen Monat lang nicht mehr blicken lassen. Diesen Prozess müssen viele erst durchlaufen, ehe sie sich dazu überwinden, regelmäßig zu kommen.«

Holly hatte nichts dagegen, Bishop die Gesprächsführung zu überlassen. Währenddessen beobachtete sie Robbie. Er saß mit gespreizten Beinen, die Arme im Schoß, scheinbar ganz entspannt da.

»Wie genau gestaltete sich Ihre Aufgabe als Vees Sponsor?«

»Wir haben drei- bis viermal die Woche miteinander gesprochen, manchmal nur fünf Minuten, manchmal auch zwanzig. Sie hat mir erzählt, wie es ihr geht und was sie so treibt.«

»Und wie ging es ihr? Ist Ihnen in den letzten Monaten eine Veränderung an ihr aufgefallen?«

»Veränderung?«

»Wirkte sie nervöser als sonst oder in irgendeiner Weise besorgt?«

»Nein. Es sah alles danach aus, als würde sie es diesmal wirklich durchziehen. Sie war seit mehr als neun Monaten trocken, das war eine fantastische Leistung für sie, deshalb dachten wir alle, sie hätte es endlich geschafft.«

»Was ist mit einem Partner?«, fragte Bishop. »Wissen Sie, ob es jemanden in ihrem Leben gab?«

»Nein, tut mir leid.«

»Wann haben Sie sie zuletzt gesehen?«

»Mittwochmorgen. Um elf Uhr ist immer ein Treffen in St. Peter’s, gleich die Straße runter.«

»War das Treffen gut besucht?«

»Etwa fünfzehn bis zwanzig Leute, so wie meistens.«

»Gab es einen neuen Teilnehmer oder jemanden, der sich mit ihr unterhalten hat und den Sie vorher noch nie gesehen hatten?«

»Nein, nicht dass ich wüsste. Na ja, man sieht oft neue Gesichter, wissen Sie? Manchen gefällt die Leitung der Treffen nicht, andere fühlen sich in Gesellschaft bestimmter Teilnehmer unwohl, weil sie sie aus einer anderen Gruppe kennen … Deshalb wechseln die Leute häufig.«

»Aber sie fühlte sich wohl mit Ihnen als Sponsor und in der Gruppe?«

»Ja. Wir haben uns auch mit ihr sehr wohlgefühlt.«

Bishop zögerte einen Moment, ehe er fortfuhr. »Ich weiß, Sie legen Wert auf Anonymität, und die Frage ist eventuell etwas indiskret, aber gab es in den Gruppen Männer, die wussten, womit sie ihr Geld verdiente, und die sich ihr auf unangemessene Weise genähert haben?«

Zum ersten Mal nahm Holly in Robbies Gesicht eine Regung wahr. Es war nur das kurze Aufflackern einer Emotion, aber dennoch nicht zu übersehen.

»Ich glaube, dann hätte sie was gesagt«, antwortete er. »Viele Leute bei diesen Treffen haben in der Familie oder in ihrer Beziehung Missbrauch erlebt und sind es nicht gewohnt, sich anderen gegenüber zu behaupten. Aber Vee hatte damit keine Probleme. Von daher: Nein, mir ist nie aufgefallen, dass sich ihr jemand auf unangemessene Art und Weise genähert hätte. Und wenn, hätte sie sich schon zu wehren gewusst.«

»Danke, Mr. Sweep.« Bishop stand auf. Die drei schüttelten einander die Hand, und Robbie brachte sie zur Tür.

»Ich weiß ja nicht, wie lange Sie in der Stadt sind«, sagte er. »Aber morgen Abend veranstalten wir eine kleine Gedenkfeier für sie. Jeder, der möchte, ist herzlich eingeladen. Wir wollen ein paar Kerzen anzünden und für sie beten.«

Draußen schlugen Holly und Bishop wieder den Weg zum Strand ein. Die Sonne brannte heiß von einem wolkenlosen Himmel.

»Lust auf ein Eis?«, fragte Bishop.

Sie kauften sich jeder ein Vanille-Softeis mit Borkenschokolade, dann verließen sie den steinigen Strand und gingen in Richtung Pier.

»Die Polizei von Brighton und Hove hat Robbie überprüft. Er ist sauber. Ich werde sie trotzdem bitten, ein paar Kollegen in Zivil zu der Feier zu schicken. Für den Fall, dass der Mörder auftaucht. Man weiß nie, vielleicht haben wir ja Glück.«

Das war sein Standardsatz, aber Holly widersprach ihm dennoch. »Er wird nicht zurückkommen, Bishop. Was er hier tun wollte, hat er erledigt.«

Ihr Blick ging zum Strand, als plötzlich Wind aufkam und sie das Meer riechen konnte. Das letzte Mal war sie mit neun Jahren hier gewesen, zusammen mit ihren Eltern, sieben Monate bevor sie ermordet wurden. Sie waren zum Palace Pier gegangen. Holly hatte ein Prinzessinnenkleid und Flipflops getragen und so viel Zuckerwatte gegessen, dass ihr davon schwummerig geworden war.

»Für wann ist die Autopsie angesetzt?«, wollte sie wissen.

»Neun Uhr Sonntag früh.«

Sechs

Holly war froh, zu Hause zu sein.

Sie lebte im fünften Stock eines georgianischen Altbaus in Balham im Londoner Südwesten. Zwei Schlafzimmer, zwei Badezimmer und eine offene Küche mit angeschlossenem Essbereich. Sie mochte das Viertel. Es gab ein Literaturfestival, ein Comedy-Festival und den Bedford Pub, der so etwas wie eine lokale Institution war, gingen doch einst Eddie Izzard und die Mitglieder von The Clash dort ein und aus. Es gab IPA vom Fass und sonntags einen phänomenalen Braten.

Dies war der dritte Fall, bei dem Holly von der Metropolitan Police um Hilfe gebeten worden war. Normalerweise gab sie montags Seminare über Forensische Psychologie und Kriminologie am King’s College, und den Rest der Woche arbeitete sie im Wetherington Psychiatric Hospital, wo sie versuchte, in die Gedankenwelt von Männern und Frauen einzutauchen, die der normalen Welt den Rücken gekehrt hatten. Es gab keine Pille gegen die Lust am kaltblütigen Morden, kein Medikament, das ihnen dabei helfen könnte, Richtig von Falsch zu unterscheiden, doch Holly hatte es sich zur Lebensaufgabe gemacht, die verborgene Wahrheit zu finden, die sich hinter der Stirn von Psychopathen verbarg. Nach ihrem letzten Fall, bei dem sie einem Jungen das Leben gerettet hatte, war sie von der Presse als »Psychopathenflüsterin« betitelt worden, ein Spitzname, den sie weder kultivierte noch besonders gut leiden konnte.

Die Rückkehr nach Brighton hatte sie innerlich stärker aufgewühlt als gedacht, und nachdem sie geduscht hatte, nahm sie sich ein altes Familienalbum vor. Fotos ihrer Eltern am Brighton Pier und am Strand, wie sie lachend in die Kamera schauten. Ihre Mutter trug ihr Lieblingsschmuckstück, die silberne Halskette mit den Emaille-Schmetterlingen, die ihr Vater ihr zum ersten Hochzeitstag geschenkt hatte. Am Tag des Mordes war sie gestohlen worden. Unwillkürlich fasste Holly sich an den Hals. Ihre Finger streiften ihr Schlüsselbein, als könnten sie die Kette dort ertasten.

Sie legte das Album weg und trat zu den drei hohen Regalen im Wohnzimmer, die voll mit Büchern über Forensik, Kriminologie und Psychologie waren. Darunter auch mehrere Aktenordner mit Zeitungsartikeln und Aufsätzen über Serienmörder, mit denen sie sich im Laufe der Jahre besonders beschäftigt hatte: Dr. Crippen, Hugo Schenk, Mary Ann Cotton, Jack the Ripper – die dunkelsten Träume und Abgründe von Menschen, die scheinbar kein Gewissen hatten. Behutsam strich sie über die Rücken einiger Ordner. Bei dem mit der Aufschrift Die Bestie hielt sie kurz inne. Einen Moment später wanderten ihre Finger weiter, bis sie bei Nicht identifizierte Serienmörder in GB angelangt waren.

Sie zog die dicke Akte aus dem Regal, setzte sich damit an den Esstisch und blätterte sie durch. Die Seiten waren mit Dutzenden körniger Zeitungsfotos von verschiedenen Tatorten beklebt, mit Presseberichten und Bildern schemenhafter Gestalten. Als sie auf einen Artikel vom 24. Mai 2013 stieß, begann sie zu lesen.

Nichts Böses sehen

Metropolitan Police nimmt nach Mord an Fünfundsechzigjährigem Ermittlungen auf

Nachdem Beamte, die zu einem Einfamilienhaus im Süden Londons gerufen worden waren, dort eine männliche Leiche entdeckt hatten, hat die Polizei nun offiziell Ermittlungen aufgenommen. Über die Identität des Toten wurde bislang nichts bekannt gegeben, auch hat die Polizei bisher keine Einzelheiten über die Todesursache preisgegeben, allerdings ließ sie verlauten, dass es sich um ein ungewöhnlich brutales Verbrechen gehandelt habe. Ein Obduktionstermin sei bereits angesetzt.

Aussagen von Detective Chief Inspector Eddie Walker von der Mordkommission bei Scotland Yard zufolge werden die Angehörigen des Opfers von eigens ausgebildeten Beamten betreut. Die Polizei sucht derzeit die unmittelbare Umgebung des Tatorts ab und befragt Nachbarn, während die Straße bis auf Weiteres abgesperrt wurde. Festnahmen gab es bisher keine.

Der nächste Artikel stammte aus der darauffolgenden Woche:

Bei dem fünfundsechzigjährigen Mann, der vergangene Woche in seinem Haus getötet wurde, handelt es sich um den Croydoner Arzt Stephen Freer. Ihm wurde mehrmals in Gesicht und Augen gestochen, und er wurde auf brutale Weise kastriert. Detective Chief Inspector Eddie Walker sagte, es sei die verstörendste Tat, mit der er während seiner fünfzehnjährigen Arbeit bei der Met je zu tun gehabt habe, und versicherte, dass alles getan werde, um den geistesgestörten Mörder zu fassen. Ein Mann, der aus juristischen Gründen ungenannt bleiben muss, unterstützt die Behörden bei den Ermittlungen. Der Verstorbene hinterlässt seine Frau Anne und zwei Kinder.

Im Verlauf der nächsten drei Monate folgten noch weitere Berichte und Reportagen, doch dann wurde es still um den Fall – bis nach drei Jahren wieder eine Leiche gefunden wurde.

13. Juni 2016

Nachdem am gestrigen Sonntagvormittag ein Mann tot im Schlafzimmer seiner Wohnung in Sunbury-on-Thames aufgefunden worden war, hat die Polizei Ermittlungen aufgenommen. Bei dem Toten handelt es sich um Mike Thomas, einen fünfunddreißig Jahre alten Kunsthändler, der in Sunbury eine Galerie betrieb. Beamte der Mordkommission der Metropolitan Police kamen gegen elf Uhr an den Tatort, nachdem sie einen Anruf von Thomas’ Ehefrau erhalten hatten, die von einem Besuch bei ihren Eltern in Cheshire zurückgekehrt war und ihren toten Mann entdeckt hatte. Anwohner wurden über die erhöhte Polizeipräsenz in der Gegend unterrichtet.

Ersten Berichten zufolge weist der Fall geradezu gespenstische Parallelen zu dem ungelösten Mord an dem Croydoner Arzt Stephen Freer aus dem Jahr 2013 auf. Beide Männer wiesen zahlreiche Stichverletzungen auf und waren kastriert worden. Noch unbestätigten Angaben zufolge konnte an beiden Tatorten eine kindliche Zeichnung sichergestellt werden. Beide Zeichnungen wurden einer forensischen Analyse unterzogen, und man geht davon aus, dass sie vom Täter stammen.

Wer Informationen zu einem der beiden Fälle hat, wird gebeten, die Metropolitan Police unter der Nummer 101 zu kontaktieren und sich auf »Operation Devon« zu beziehen.

Zwei Wochen später:

Ein Polizeisprecher hat bestätigt, dass die Morde an Stephen Freer 2013 und an Mike Thomas nach Auffassung der beteiligten Ermittler von demselben Täter verübt wurden. Eine Verbindung zwischen den beiden Opfern konnte bisher nicht hergestellt werden, weshalb momentan alles darauf hindeutet, dass es sich um reine Verbrechen aus Gelegenheit handelt. Detective Chief Inspector Eddie Walker, der bereits vor drei Jahren die Sonderkommission leitete, hat seinen Eintritt in den Ruhestand verschoben, um auch den aktuellen Fall zu übernehmen.

Holly brühte sich einen Kaffee auf und entdeckte noch einen Rest gebratenes Hühnchen im Kühlschrank. Sie gab es in eine Schüssel mit Salat und begann zu essen. Über dem Kamin in ihrem Wohnzimmer hing das gerahmte Original eines Harland-Miller-Stücks: Death – What’s In It For Me? Sie nahm es ab und lehnte es gegen die Rückseite des Sofas. An die nun frei gewordene Wand klebte sie die Zeitungsausschnitte und Tatortfotos in chronologischer Reihenfolge. Erst Stephen, dann Mike, dann Vee. Darüber notierte sie mit dickem schwarzem Filzstift die Daten der einzelnen Morde, ehe sie einen Stadtplan von Brighton sowie einen von London ausdruckte und sie ebenfalls an der Wand befestigte. Über jedes Opfer klebte sie außerdem noch eine Kopie des dazugehörigen Wachsmalbildes und verglich sie mit den entsprechenden Familienfotos der Opfer und ihrer Angehörigen. Im nächsten Moment fiel es ihr wie Schuppen von den Augen:

Das Strichmännchen, das Stephen Freer darstellen sollte, hatte eine Glatze, genau wie der echte Freer. Mike Thomas trug einen Ziegenbart – sein Strichmännchen ebenfalls. Vee hatte krauses rotes Haar und ein grünes Dreieckskleid.

Er malt sie so, wie sie in der Realität aussehen. Das warf eine Frage auf: Hatte er sich selbst auf den Zeichnungen auch wirklichkeitsgetreu dargestellt?

Zumindest sah er auf allen Bildern gleich aus: Immer stand der Mörder links und hatte einen runden Kopf, große Zähne und lange Arme. Und er hielt das Messer in der rechten Hand. Die Rechtsmedizinerin würde ihr sagen können, ob der Täter Rechts- oder Linkshänder war.

Sie machte sich Notizen an der Wand:

Rechtshänder?

Mobilität – eigenes Auto? Volvo?

Junge auf dem Foto mit Vee – wer ist das?

AA & NA – morgen Abend Gedenkfeier in Brighton

3 Jahre Zeit zwischen den Morden seltsam – Täter im Gefängnis?

Dann zeichnete sie ein Rechteck von der Größe eines DIN-A4-Blatts und malte ein großes Fragezeichnen hinein. Darüber schrieb sie das Wort MÖRDER. Sie starrte es einige Sekunden lang an, dann notierte sie darunter:

Tief sitzender Hass auf Männer, jetzt auch auf Frauen. Geschlechterwechsel der Opfer ungewöhnlich.

Kastration der männlichen Opfer = Emaskulation; er behält ihre Geschlechtsorgane als TROPHÄE: Macht über seine Opfer.

Was hat er von Vee mitgenommen? Wurde sie sexuell missbraucht? Erniedrigung?

Leid.

Sie hielt inne und trat einen Schritt zurück. Irgendwie hatte sie immer noch den Geruch von Blut in der Nase.

»Sexuelle Befriedigung? Ja.« Sie hob den Stift und trat erneut an die Wand.

Masturbation? Wahrscheinlich, aber mit Handschuhen und Kondom.

»Du kennst den Alltag deiner Opfer. Du weißt, wo sie wohnen, und sobald du bei ihnen zu Hause bist, schlägst du ohne Zögern zu.« Wohlorganisiert, schrieb sie und unterstrich das Wort zweimal.

Alle Opfer von vorne attackiert und getötet, nicht mit dem Gesicht nach unten. Wolltest du sie während der Tat ansehen? Oder wolltest du, dass sie dich sehen?

Warum das Risiko eingehen, dass sie dich evtl. identifizieren können?

Weil es dir wichtig ist.

Sie starrte auf ihre Mindmap wie eine Künstlerin, die ihre ersten Skizzenversuche begutachtet.

»Du willst gesehen werden«, sagte sie leise. »Also zeig dich …«

Sieben

Im Leichenschauhaus herrschte eine Temperatur von konstant zwei Grad über null, und Holly hoffte, sie würde sich niemals an den Geruch gewöhnen.

Im Sektionssaal standen drei Stahltische, von denen einer mit einem weißen Laken abgedeckt war. Wände und Boden des Raumes waren gefliest, und in der Mitte des leicht abschüssigen Bodens befand sich ein Abflussgitter. Angela Swan betrat den Raum durch eine Schwingtür, die behandschuhten Hände hoch erhoben.

»Morgen, Bishop. Morgen, Holly. Den Großteil der Untersuchungen habe ich bereits gestern Abend durchgeführt, aber es gibt da ein paar Dinge, über die ich Sie in Kenntnis setzen wollte.«

Angela war die leitende Rechtsmedizinerin von West-London und hatte in beiden Fällen, bei denen Holly von der Polizei als Expertin hinzugezogen worden war, die Obduktionen durchgeführt. Sie war in ihren Fünfzigern, hatte ein ebenmäßiges Gesicht und braunes, von einzelnen grauen Strähnen durchzogenes Haar. Sie schaltete das Mikrofon ein, das von der Decke hing.

»Es ist Sonntag, 5. Mai 2019, neun Uhr fünf. Anwesend sind Rechtsmedizinerin Angela Swan, DI Bishop von der Abteilung für Schwerverbrechen der Londoner Metropolitan Police sowie die forensische Psychologin Holly Wakefield.«

Sie schlug das weiße Tuch zurück, und darunter kam Vees Leichnam zum Vorschein. Mit der bleichen, vom Waschen leicht glänzenden Haut erinnerte er an eine Statue aus Carrara-Marmor. Der säuberlich vernähte Y-Schnitt reichte von der Brust bis zur Taille. Das Gesicht war noch zusätzlich mit einem weißen Handtuch abgedeckt.

»Konnte sie schon identifiziert werden?«

»Nein«, sagte Bishop.

»Das Opfer wird fürs Protokoll als Vee bezeichnet. V-E-E, Nachname unbekannt. Kleidung und Schmuck, den sie zum Tatzeitpunkt trug, wurden sichergestellt und katalogisiert: Beweisstücke dreiundfünfzig bis neunundfünfzig, detaillierte Beschreibungen sind in meinen Aufzeichnungen zu finden. Eine Analyse des Mageninhalts hat ergeben, dass sie nach etwa zwanzig Uhr gestern Abend keine feste Nahrung mehr zu sich genommen hat, allerdings hat sie zu einem späteren Zeitpunkt noch Kaffee getrunken. Ihr Blutalkoholspiegel betrug null Promille. Den Urinproben nach hatte sie keine sexuell übertragbaren Krankheiten. Die Toxikologie hat Reste von Chloroform und GHB in ihrem Blut nachgewiesen.«

»Wir gehen davon aus, dass der Täter sie damit betäubt hat«, warf Bishop ein.

»GHB wird für gewöhnlich oral in Form von Tabletten oder flüssig verabreicht, manchmal auch gespritzt. In ihren Armbeugen und zwischen den Zehen habe ich Einstichstellen gefunden, die jedoch allesamt älteren Datums sind. Chloroform hat einen ganz charakteristischen, süßlich-stechenden Geruch, und man würde es niemals freiwillig trinken, deshalb wird es normalerweise auf ein Tuch gegeben und über Mund oder Nase eingeatmet. Allerdings konnten wir keine entsprechenden Faserspuren in ihrem Gesicht finden, auch keine Druckstellen im Bereich der Lippen oder Hämatome von Fingern hinten im Nackenbereich. Das bedeutet, dass der Täter es ihr womöglich auf anderem Weg verabreicht hat.«

»Welchen Effekt haben die Drogen denn gehabt?«, wollte Holly wissen.

»GHB kombiniert mit Chloroform?«

»Ja.«

»Das Chloroform diente zur ersten Betäubung, und das GHB hat eine Art komatösen Schlaf verursacht«, erklärte Angela. »In Wahrheit ist es kein Schlaf, sondern ein Zustand der Bewusstlosigkeit. GHB hemmt die Ausschüttung von Dopamin im Gehirn. In geringen Dosen führt es zu einem Gefühl der Euphorie, aber die Dosis, die unser Opfer verabreicht bekam, war so hoch, dass sie zu Schwindel, Zittern und Benommenheit geführt haben wird.«

»Wusste sie, was mit ihr geschieht?«

»Falls ja, hätte sie sowohl körperliche als auch psychische Angstsymptome empfunden, wäre aber vollkommen hilflos gewesen. Ihre Gliedmaßen hätten ihr nicht mehr gehorcht, und die Atmung wäre verlangsamt gewesen, weil nicht mehr so viel Luft in ihre Lungen gelangte.«

»Sie hätte also nicht um Hilfe rufen können?«

»Nein. Sie hätte höchstens innerlich geschrien«, sagte Angela und wandte sich wieder der Leiche zu. »Ich fahre nun mit der äußeren Leichenschau fort. Die Tote ist eine erwachsene Frau, eins siebzig groß, siebenundfünfzig Kilogramm schwer. Sie ist voll entwickelt, allerdings leicht mangelernährt. Ich würde ihr Alter auf vierzig bis fünfzig schätzen. Arthrose in beiden Hüftgelenken sowie im linken Bein, das Ergebnis unzureichender Ernährung und eines schlechten Allgemeinzustands. Leichenflecken in den rumpffernen Gliedmaßen; keine peripheren Ödeme der Extremitäten.«

Angela schaltete das Licht am Vergrößerungsglas ein und bewegte es über die Leiche. Sanft betastete sie mit den Fingern das weiße Fleisch an Vees Armen.

»Sie hat zwei tiefe vertikale Narben an den Handgelenken, höchstwahrscheinlich von einem früheren Suizidversuch stammend – ich würde sagen, er liegt mindestens ein Jahrzehnt zurück. Es gibt noch Dutzende weiterer Narben überall am Körper, hauptsächlich an Armen und Beinen, aber auch am Rücken und im Schulterbereich. Sie korrespondieren mit den typischen Anzeichen von selbstverletzendem Verhalten. Die Bandbreite reicht von eher oberflächlichen, etwa zwei Zentimeter langen Ritzungen bis hin zu tiefen Schnittwunden. Die längste befindet sich an der Innenseite der linken Wade und misst dreiundzwanzig Zentimeter. Wissen wir, was die Frau beruflich gemacht hat?«

»Sie war Sexarbeiterin«, antwortete Bishop.

Angelas Hände hielten auf Vees Arm inne.

»Erstaunlicherweise sind ihre Geschlechtsorgane in gutem Zustand. Weder Genitalverstümmelung noch andere Verletzungen. Sie hatte am Tag ihres Todes Geschlechtsverkehr, allerdings kann ich unmöglich sagen, ob ihr Mörder der Sexualpartner war oder nicht, da ich keinerlei Spuren gefunden habe.«

Sie richtete das Vergrößerungsglas so aus, dass Holly und Bishop sehen konnten, was sie ihnen als Nächstes zeigen wollte.

»Die frischen Schnittwunden und Abschürfungen an Handrücken, Unter- und Oberarmen sind Abwehrverletzungen, sie war also während der Tat die gesamte Zeit bei Bewusstsein. Man sieht Schnitte zwischen den Fingern der rechten Hand, in der Handinnenfläche und im Zwischenraum zwischen Daumenwurzel und Zeigefinger, wo sie versucht hat, die Messerklinge zu greifen. Darüber hinaus gibt es mehrere metakarpale Frakturen und Abschürfungen sowie fünf große Blutergüsse an ihren Knien. Vielleicht hat sie die Beine angezogen, um ihren Bauch zu schützen.«

Angela trat einen Moment lang vom Tisch zurück. »Jetzt machen wir mit dem Kopf weiter«, sagte sie und nahm das weiße Handtuch von Vees Gesicht.

Im ersten Moment musste Holly den Blick abwenden, doch dann zwang sie sich hinzuschauen.

Wo die Augen der Frau gewesen waren, klafften nur noch zwei schwarze Höhlen. Die Haut von den Wangen bis hinauf zur Stirn war großflächig verfärbt. Vees leuchtend rotes Haar war hinten am Kopf mit einem Haarnetz zu einem straffen Knoten zusammengefasst worden. Sie hatte das Gesicht einer starken Raucherin – eingefallen und übersät mit winzigen Narben und Pigmentflecken. Ihr schlaffer Mund war leicht geöffnet, die Zähne sahen gelb aus.

»Der Zustand ihrer Zähne deutet auf intensiven Nikotinkonsum hin. Darüber hinaus hat sie mehrere Füllungen, drei Zähne wurden gezogen. Ich habe Röntgenbilder an unseren forensischen Odontologen geschickt, vielleicht kann er bei der Identifizierung helfen.« Sie bewegte ihre Hände zu den Augenhöhlen des Opfers und warf Bishop einen Blick zu. »Das ist es, was Sie wirklich interessiert, richtig?«

»Richtig.«

»Zunächst einmal möchte ich Ihre Aufmerksamkeit auf die Reste von Klebstoff lenken, die ich am rechten oberen Wimpernkranz gefunden habe. Sie stammen vermutlich von Isolierband.«

»Isolierband?«, wiederholte Bishop.

»Normalerweise benutzt man das, um dem Opfer die Hände zu fesseln oder es zu knebeln, aber in diesem Fall scheint es so, als hätte der Täter ihr die Augen zugeklebt, bevor er sie getötet hat.«

»Nichts Böses sehen«, hörte Holly Bishop murmeln. Doch ihr war soeben ein ganz anderer Gedanke gekommen.

»Wäre es auch möglich, dass er das Gegenteil gemacht hat?«, fragte sie gedehnt.

»Wieso? Worauf wollen Sie hinaus?«

»Ich habe nur gerade überlegt, ob er vielleicht ihre Lider fixiert hat, damit sie offen bleiben.«

»Offen?«

»Damit sie ihn anschauen muss.«

Ein gespenstisches Schweigen trat ein, das Angela schließlich mit unnatürlich lauter Stimme brach. »Ich kann Ihnen nur die Fakten liefern, aber ja, grundsätzlich könnte das auch eine Interpretation sein. Weiter im Text. Es gibt Hinweise auf ein schweres Trauma des Nasenbeins, der Glabella, des oberen und unteren Orbitalrandes, des Foramen sowie der unteren Nasenmuscheln. Außerdem unregelmäßige Schnittmarken an den Innenrändern der Augenhöhlen, wo das Messer eingedrungen ist. Ich habe mindestens zwanzig Stichwunden in jedem Auge gezählt, der Täter könnte aber auch zwei- oder sogar dreimal in denselben Wundkanal gestochen haben. So was kommt vor, erst recht bei einer derart kleinen Fläche. Wir werden also vielleicht nie mit endgültiger Sicherheit sagen können, wie oft er zugestochen hat.«

»Rechts- oder Linkshänder?«, wollte Holly wissen.

»Rechtshänder«, antwortete Angela. »Die Stiche in Auge und Schädelhöhle haben zu einer Ruptur des Augapfels und einer sofortigen Ablösung der Retina geführt, zu Rissen in den extraokularen Muskeln und einem Abreißen des Sehnervs sowie der Tränendrüsen. Die Klinge ist durch den Sehnervkanal beider Augen bis in die Schädelhöhle eingedrungen und hat dabei massive Knochenfrakturen verursacht. Die linke Seite des Cortex wurde gequetscht, was eine Blutung zur Folge hatte. Ich habe die Überreste beider Augen einschließlich Glaskörper, Linse und Sehnerv entfernt, aber die Verletzungen waren so gravierend, dass ich nicht einmal mehr sehen konnte, welche Augenfarbe sie hatte.«

»Braun«, sagte Holly.

»Danke.« Angela nahm sich die Zeit, diese Einzelheit auf einem Formular zu vermerken. »Tatwaffe muss ein großes, schweres Messer gewesen sein. Möglicherweise ein Kochmesser, vielleicht auch etwas noch Größeres, etwa ein Jagdmesser oder dergleichen.«

Holly sah, wie Bishop neben ihr zusammenzuckte. Er hielt den Kopf gesenkt und starrte auf seine Füße. Dann holte er tief Luft und blickte auf.

»Ist er es?«, fragte er, an Angela gewandt.

»Die Verwendung von GHB und Chloroform ist kein eindeutiger Beweis, und das Isolierband lässt auf eine etwas andere Vorgehensweise schließen. Was ihn jedoch verrät, ist die Brutalität gegen die Augen. Die Riefen an den Knochen der Augenhöhlen sind exakt die gleichen wie bei den früheren Opfern, es scheint sich also um dasselbe Messer gehandelt zu haben. Und dasselbe Messer deutet auf denselben Killer hin.«

Angela trat einen Schritt vom Tisch zurück. Ihre Stimme war so eisig wie die Raumtemperatur.

»Ich bin nur ungern die Überbringerin schlechter Nachrichten, DI Bishop, aber ich fürchte, Ihr Mörder ist wieder aktiv.«

Acht

Bishop nahm Holly mit in den Einsatzraum, der in einem Großraumbüro untergebracht war. Anders als bei Hollys letztem Besuch strotzte er nur so vor Hightech-Equipment. Über die großen Bildschirme an den Wänden flimmerten Nachrichtenbilder in Dauerschleife, und überall herrschte hektische Betriebsamkeit. Laute Stimmen vermischten sich mit den Benachrichtigungstönen eingehender Mails und Textnachrichten. Sie entdeckte einige bekannte Gesichter, Frauen und Männer, die ihr zunickten oder ein flüchtiges Lächeln schenkten. Müde, aber entschlossen. Holly fragte sich, ob sie ihre Arbeit jeden Abend mit nach Hause nahmen.

»Dürfte ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten!«, rief Bishop. »Stephen Freer und Mike Thomas sind ungeklärte Mordfälle aus den Jahren 2013 beziehungsweise 2016, die wir neu aufrollen werden. Nun wurde Opfer Nummer drei gefunden, eine Sexarbeiterin namens Vee, die am Freitag in den frühen Morgenstunden in Brighton getötet wurde.« Ein Moment verstrich, während er nach einzelnen Kollegen Ausschau hielt. »Sergeant Ambrose, nehmen Sie sich ein paar Leute, gehen Sie runter ins Archiv und holen Sie alles rauf, was Sie über die beiden alten Fälle finden können – Stephen Freer und Mike Thomas. Ich will eine Zusammenfassung fürs Team.«

»Jawohl, Sir.«

Als Nächstes deutete er auf eine adrett gekleidete schlanke Frau Mitte vierzig mit perfekt sitzender Frisur.

»Janet – die Polizei in Brighton erwartet Ihren Anruf. In einer halben Stunde möchte ich ein Briefing zu Opfer Nummer drei.«

»Eine halbe Stunde!«, rief Janet, woraufhin sich alle in Bewegung setzten.

Einige Kollegen sprachen Bishop im Vorübergehen an. »Legen Sie mir alles auf den Schreibtisch. Danke, danke«, sagte er, während er nach den nächstbesten Akten griff. Er öffnete die Tür seines verglasten Büros und bat Holly hinein.

»Willkommen in meinem neuen Aquarium.«

»Gefällt mir.« Holly ließ sich in einem der beiden Eames-Ledersessel aus den Sechzigern nieder, die vor dem Schreibtisch platziert waren. Bishops reguläres Büro lag im zweiten Stock, hatte ein Fenster mit Ausblick auf eine Ziegelwand, einen uralten Schreibtisch und klapprige Stühle. Hier gab es jede Menge Tageslicht, und alles bestand entweder aus Glas oder aus Metall. Hinten im Raum stand ein hoher Aktenschrank, und neben dem Telefon lag ein Stapel Akten, der am Morgen vermutlich noch nicht da gewesen war. Das Einzige, was Bishop aus seinem alten Büro mitgebracht hatte, war die pinkfarbene Orchidee auf dem Schreibtisch – eine Erinnerung an seine Verlobte Sarah, die in Afghanistan getötet worden war. Bishop ließ sich auf seinen Stuhl sinken. Er überflog die Berichte, die er eben erhalten hatte, um sie dann zu den anderen auf den Stapel zu werfen.

»Magst du einen Kaffee?«, fragte er.

»Gern, danke.«

Er bestellte telefonisch eine frische Kanne Kaffee mit Milch. Nachdem er aufgelegt hatte, warf er einen Blick auf seine Armbanduhr und ließ die Schultern kreisen.

»Wie ist der Sessel?«, fragte er.

»Bequem. Ich finde das Büro hier besser.«

»Ich auch, aber ich darf mich nicht daran gewöhnen. Wenn das hier vorbei ist, muss ich bestimmt zurück nach unten in meine Hobbithöhle. Ich habe dreizehn Mordfälle auf dem Tisch«, fügte er hinzu, »und sieben Fälle von Totschlag. Einige liegen schon bei Gericht, andere sind noch in Bearbeitung, weil nicht alle Auflagen der Staatsanwaltschaft erfüllt sind. Aber für diesen Fall hier brauche ich alle verfügbaren Kräfte.«

Er hängte sich ans Telefon, sprach mit Kollegen und der Personalabteilung und forderte Gefallen ein, die man ihm noch schuldete. Währenddessen saß Holly da und ließ sich die Autopsie noch einmal durch den Kopf gehen. Falls ihre Theorie zutraf, hatte der Täter Vees Lider mit Klebeband fixiert, damit sie offen blieben. Er hatte es genossen, die Angst in ihren Augen zu sehen, während er ihr unvorstellbare Schmerzen zufügte. Allerdings hatte er ihr keine sexuelle Gewalt angetan, was vielleicht nahegelegen hätte, verdiente sie ihren Lebensunterhalt doch mit einer Arbeit, die viele als unmoralisch betrachteten. Der Täter war brutal und skrupellos, aber offenbar auch sehr komplex.

Es klopfte an der Tür, und ein Officer betrat das Büro. Er brachte ein Tablett mit einer Kaffeekanne, Tassen, Milch und einem Teller mit Keksen.

Bishop legte den Hörer auf.

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