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James Patterson Bookshots - Teil 4-6

DIR BLEIBT DER TOD

Wer macht Jagd auf Obdachlose? Schon wieder wurde in London eine verstümmelte Leiche gefunden. Niemanden scheint es zu kümmern - bis auf Ex-SAS-Captain David Shelley. Denn das jüngste Opfer war sein Kamerad. Und die Leiche weckt einen schrecklichen Verdacht: Offenbar betreibt jemand ein mörderisches Geschäft, bei dem Menschen zu Gejagten werden. Um die Hintermänner zur Strecke zu bringen, bleibt Shelley nur eine Wahl: Er selbst muss an dem grausamen Spiel teilnehmen, bei dem es keinen Sieger gibt …

AM UFER LAUERT DER TOD

Eine junge Frau liegt ermordet am Flussufer. Detective Harriet Blue ist überzeugt: Der Serienkiller, der Sydney seit Monaten in Atem hält, hat wieder zugeschlagen! Harriet beginnt zu recherchieren und erkennt, dass nichts so ist, wie es scheint - und dass sie selbst mehr mit dem Mord zu tun hat, als ihr lieb ist!

TÖDLICHER RAUSCH

San Franciscos berüchtigster Drogenboss soll zum Tode verurteilt werden! Doch Staatsanwälte, Geschworene und Ermittler haben den gefährlichen Auftragskiller und Bandenchef Kingfisher unterschätzt. Wie gelähmt reagieren sie auf seinen brutalen Rachefeldzug, der die ganze Stadt in Angst versetzt. Ein Fall für Detective Lindsay Boxer und ihre besten Freundinnen aus dem Club der Ermittlerinnen.

Ein Justizkrimi, der Sie packen wird und in dem nichts ist, wie es scheint!


  • Erscheinungstag: 25.12.2017
  • Aus der Serie: E Bundle
  • Seitenanzahl: 360
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959677844
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

James Patterson

James Patterson Bookshots - Teil 4-6

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IMPRESSUM

BookShots erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,
Valentinskamp 24, 20354 Hamburg
The BookShots Name and logo are a trademark of JBP Business, LLC.

Copyright © 2017 by HarperCollins Germany GmbH
Deutsche Erstveröffentlichung

Titel der englischen Originalausgabe:
Hunted
Copyright © 2016 by James Patterson
Erschienen bei: BookShots, London,
part of the Penguin Random House Group.
James Patterson has asserted his right to be identified as the author of this Work.
Redaktion: Bettina Lahrs

Umschlaggestaltung: Birgit Tonnn
Umschlagmotiv: mauritius images / Avalon / Miguel Sobreira
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783959676991

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Alle handelnden Personen in dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.

1. KAPITEL

Zwei Männer bewegten sich vorsichtig zwischen den Bäumen entlang auf der Suche nach ihrer Beute. Glockenblumen und Bärlauch breiteten sich unter ihren Füßen aus. Ringsum ragten Buchen und Kiefern auf, und der Morgennebel hing noch über den feuchten Hängen. Irgendwo hier im Wald versteckte sich das Ziel.

Lord Oakleigh, der voranging, fühlte sich dank des morgendlichen Sherrys, des Purdey-Repetiergewehrs und des Sicherheitsmannes, der ihm Rückendeckung gab, ziemlich mutig. Er war Kronanwalt mit makelloser Ausbildung, beeindruckenden Einträgen im Debrett’s, dem britischen Who is Who des Adels, ließ seine Roben bei Ede & Ravenscroft maßanfertigen und hatte schon vor Längerem festgestellt, dass all diese Errungenschaften im Vergleich mit dem, was er im Moment verspürte, total verblassten – diese besondere Mischung aus Adrenalin und Angst, dieses Gefühl, dem Tod so nahe zu sein.

Dies hier, fand er, war das echte Leben. Und er würde es auskosten.

Der Wagen hatte ihn um vier Uhr morgens abgeholt. Oakleigh hatte die Augenmaske, die man ihm gereicht hatte, angelegt, es sich auf der Rückbank des Bentleys gemütlich gemacht und die Chance genutzt, noch ein wenig zu schlafen. Gut zwei Stunden später war er auf dem Anwesen angekommen. Er erkannte einige der versammelten Jäger, aber nicht alle – ein paar Amerikaner und einen Japaner hatte er noch nie gesehen. Man begrüßte sich mit einem kurzen Nicken. Curtis und Boyd von The Quarry Co. machten die Männer miteinander bekannt. Sämtliche Waffen wurden gecheckt, um sicherzustellen, dass sie smart-modifiziert waren, bevor sie ins Netzwerk eingebunden und mit der Zentrale verlinkt wurden.

Die in Tweed gekleideten Engländer beobachteten amüsiert, wie der Assistent dem japanischen Teilnehmer half, einen offenbar maßgeschneiderten Tarnanzug anzuziehen. Unterdessen bewunderten die Sicherheitsleute das TrackingPoint-Präzisionsgewehr, das er mitgebracht hatte. Es war wie bei Frauen und Neugeborenen: Alle wollten es einmal halten.

Als der Beginn der Jagd näherrückte, wurden die Spieler schweigsam. Techniker mit Headsets luden die Überwachungsdrohnen aus einem Transporter. Männer in schwarzer Livree und mit regloser Miene reichten Sherry auf silbernen Tabletts. Curtis und Boyd brachten einen Toast auf die Jäger und – in Abwesenheit – auf das Ziel aus. Abschließend wurde jedem Spieler ein Sicherheitsmann zugeteilt – Oakleighs war wie immer Alan –, ehe die Jagd für eröffnet erklärt wurde. Bis an die Zähne bewaffnet und zitternd vor Erwartung, marschierten die Spieler anschließend über den Rasen in Richtung Wald.

Jetzt, mitten im Wald, hörte Oakleigh in der Ferne das Brummen der Motoren der Land Rover und Quads, das von einer leichten Brise zu ihnen herübergeweht wurde. Von oben erklang hin und wieder das Surren einer Drohne, aber ansonsten herrschte mehr oder weniger Stille, vor allem, als sie immer tiefer in den Wald vordrangen. So mochte er es am liebsten. Nur er und das Ziel.

„Vor Ihnen, Sir“, ertönte Alans Stimme, dringlich genug, dass Oakleigh sich auf ein Knie fallen ließ und leicht hektisch die Purdey von der Schulter riss. Der Wald wirkte riesig in seinem Fadenkreuz, das Unterholz voller Geheimnisse.

„Nichts zu sehen“, rief er über die Schulter zurück, bevor er sich räusperte und es noch einmal versuchte, diesmal mit nicht ganz so zittriger Stimme. „Vor uns ist nichts zu sehen.“

„Warten Sie bitte einen Moment, Sir“, erwiderte Alan, und Oakleigh hörte, wie er sein Sturmgewehr über die Schulter warf und nach dem Walkie-Talkie griff. „Hier ist Team Rot. Erbitte Lagebericht …“

„Neuigkeiten, Alan?“, fragte Oakleigh über die Schulter gewandt.

„Nein, Sir. Keine optische Bestätigung von den Drohnen. Kein Spieler meldet irgendwelche Aktivitäten.“

„Dann versteckt er sich noch.“

„So scheint es, Sir.“

„Wieso versucht er nicht, zur Spielfeldgrenze zu gelangen? Das machen sie doch meistens.“

„Die erste Regel im Kampf lautet, das Gegenteil von dem zu tun, was der Feind erwartet, Sir.“

„Aber das hier ist kein Kampf. Das ist eine Jagd.“

„Ja, Sir.“

„Und es ist keine richtige Jagd, wenn sich das Ziel versteckt, oder?“ Oakleigh hörte den Anflug von Entrüstung in seiner Stimme und fürchtete, es klang weniger nach echter Verärgerung als nach Angst, also richtete er den Blick wieder nach vorn und schwenkte den Gewehrlauf von rechts nach links und versuchte, seine Nerven zu beruhigen. Er suchte eine Herausforderung. Doch er wollte nicht sterben.

Sei nicht albern. Du wirst nicht sterben.

Da ertönten aus der Ferne Schüsse, prompt gefolgt vom elektrostatischen Knistern des Walkie-Talkies.

„Ziel gesichtet. Wiederhole: Ziel gesichtet.“

Oakleighs Herz hämmerte wie verrückt, und er merkte, dass er im Zweispalt war. Einerseits wollte er mittendrin sein, dort, wo die Action stattfand. Letzte Nacht hatte er davon geträumt, der Gewinner zu sein, hatte sich vorgestellt, wie die anderen Spieler ihn bewundern würden, wie sich sein Ruhm bis nach London verbreiten würde, bis hinein in die Machtzentralen, hinein in seinen ehrwürdigen Privatclub und sogar in die Kammern des Oberhauses.

Andererseits wurde ihm jetzt, nachdem das Ziel es geschafft hatte, den Jägern und Drohnen so lange auszuweichen, doch ein wenig mulmig zumute.

Hinter sich hörte er ein Rascheln und dann einen dumpfen Schlag. Alan gab ein gurgelndes Geräusch von sich.

Zu spät erkannte Oakleigh, dass etwas nicht in Ordnung war. Er wirbelte herum, versuchte, das Gewehr in Anschlag zu bringen.

Ein Schuss ertönte, und Alans Walkie-Talkie knisterte.

„Team Rot, erbitte Bericht. Wiederhole: Team Rot, berichten Sie.“

2. KAPITEL

Cookie hatte sich in den unteren Zweigen einer Buche versteckt gehalten. Vom Baum hatte er sich einen passenden Ast ausgesucht und ihn nicht abgebrochen, sondern so abgedreht, sodass er eine Spitze bekam. Die war nicht wirklich scharf, aber auch nicht stumpf. Es war besser als nichts.

Er hatte den Spieler und seinen Bodyguard von oben beobachtet und auf den richtigen Moment gewartet, um zuzuschlagen.

Den nervösen alten Knacker konnte man vergessen. Der hatte zwar eine hübsche Purdey, aber er zitterte wie ein scheißender Hund. Der Bodyguard war gefährlich, aber kaum hatte Cookie mitbekommen, dass er sein Gewehr baumeln ließ, wusste er, der Kerl war Geschichte.

Und tatsächlich, der Bodyguard bekam nicht mal mit, was ihn traf. Keiner der beiden ach so überlegenen Jäger hatte sich die Mühe gemacht, nach oben zu schauen, daher konnte Cookie, der barfuß war, still und leise hinter Alan auf dem kühlen Moosboden landen. Mit dem linken Arm umschlang er Alans Hals, den Ellenbogen so abgewinkelt, dass die Halsschlagader seines Opfers prall hervortrat, und mit der rechten Hand stieß er den Stock in genau diese Ader.

Aber die Jahre des Drogen- und Alkoholkonsums sowie das Leben auf der Straße hatten ihren Tribut gefordert, und noch während er Alan zu Boden sinken ließ, damit der innerhalb weniger Sekunden verblutete, wirbelte der alte Kerl vor ihm herum und zielte mit seinem Gewehr auf Cookie. Und im Gegensatz zu früher, als er genauso schnell handeln wie denken konnte, stellte er jetzt fest, dass beides nicht mehr synchron funktionierte.

Oakleigh drückte ab. Cookie hatte bereits gesehen, dass er Linkshänder war, und wusste, wie die Waffe reagieren würde, daher hechtete er in die entgegengesetzte Richtung. Trotzdem war er zu langsam.

Er hörte, wie die Baumrinde abplatzte und sah nur Mikrosekunden später Splitter durch die Luft fliegen. Eine Sekunde später spürte er den Schmerz in seiner Seite und fühlte, dass sich Blut im Bund seiner Jeans sammelte.

Noch immer hielt er den Ast in der Hand, also machte er einen Schritt nach vorn und rammte ihn dem Alten in die Kehle, während er ihn im Stillen als Feigling verfluchte. Im nächsten Moment sackte Oakleigh mit dem Stock im Hals zu Boden.

„Team Rot, erbitten Bericht. Team Rot, erstatten Sie Bericht“, quäkte es aus dem Walkie-Talkie. Aber obwohl Cookie wusste, dass gleich noch mehr Leute auftauchen würden, brauchte er einen Augenblick, um sich zu sammeln. Er lehnte sich an einen Baum und presste die Handfläche auf die Stelle, wo die Kugel ihn getroffen hatte. Vorsichtig zog er sein Sweatshirt hoch, um die Wunde zu inspizieren. Es sah nicht gut aus, aber er wusste aus schmerzhafter Erfahrung, dass es nichts war, warum er sich ernsthaft Sorgen machen musste. Blutverlust und die Tatsache, dass er nun leichter aufzuspüren war, waren die unangenehmsten Folgen.

Er machte Bestandsaufnahme. Der Alte zuckte noch. Alan war tot. Cookie griff nach dem Sturmgewehr des Bodyguards, aber als er sich den Griff näher ansah, stellte er fest, dass dort eine Art Sensor eingebaut war. Er fluchte leise, als er vergeblich versuchte, die Waffe zu entsichern. Das konnte nur eins bedeuten: Smart-Technology, die auf den Handabdruck des Benutzers programmiert war. Und wenn er richtig vermutete …

Verdammt! Die Purdey des Alten war mit der gleichen Sicherung ausgestattet. Er warf die Waffe zur Seite und nahm stattdessen Alan das Jagdmesser ab. Der alte Typ hatte zwar noch eine Faustfeuerwaffe, die jedoch ebenfalls gesichert war und daher nutzlos.

Immerhin hatte er das Jagdmesser, das würde reichen müssen. Aber jetzt wurde es Zeit herauszufinden, ob diese Typen von The Quarry Co. ihren Teil des Abkommens erfüllen würden. Er presste eine Hand auf die Seite und begann zu laufen. Blätter stachen ihm in die Augen. Zweige schlugen ihm ins Gesicht. Er stolperte über Baumwurzeln und versuchte mit einer Hand, die Äste zur Seite zu drücken, während er auf der Suche nach Zuflucht weiterrannte.

Hinter ihm ertönten Gewehrschüsse. Über ihm wurde das Surren der Drohnen lauter. Jetzt hatten sie ihn entdeckt. Das Versteckspiel hatte ein Ende. Er konnte nur hoffen, dass er mittlerweile genügend Verwirrung gestiftet hatte und dass die beiden Opfer die Verfolger ausbremsen würden.

Die Zähne zusammengebissen und von Hass getrieben, lief er weiter. Der Wald begann sich langsam zu lichten. Vor ihm erstreckte sich ein sanft ansteigender Hügel, den er so schnell es ging erklomm. Als er keuchend oben angekommen war, wurde ihm bewusst, dass er hier zu einer Zielscheibe wurde, doch er war schon so nahe. Ganz nahe an der Ziellinie.

„Wenn Sie die Straße erreichen, gewinnen Sie. Dann gehört das Geld Ihnen.“

„Egal, wen ich auf dem Weg dorthin umbringen muss?“

„Unsere Spieler erwarten Gefahr, Mr. Cook. Und nur wer wagt, gewinnt.“

Er hatte ihnen geglaubt, und verdammt, warum auch nicht?

Und da war sie – die Straße. Sie trennte ihn von einem weiteren Waldstück, aber es war definitiv die richtige Straße. Eine Drohne flog über ihn hinweg. Von links hörte er das Geräusch eines sich nähernden Wagens und sah im nächsten Moment einen Land Rover Defender um die Kurve biegen und mit hohem Tempo auf ihn zukommen. Vorn saßen zwei Männer.

Sie sahen nicht so als, als wollten sie seinen Sieg feiern. Cookie verspannte sich. Hinter ihm kamen die Jäger immer näher.

Der Defender blieb mit quietschenden Reifen stehen, die Beifahrertür wurde aufgestoßen. Einer der Sicherheitstypen, der das gleiche Heckler-&-Koch-Sturmfeuergewehr trug wie Alan, sprang heraus und bezog Stellung hinter der Wagentür.

„Wo ist mein Geld?“, rief Cookie und warf hektisch einen Blick über die Schulter zurück in den Wald. Vage konnte er die Silhouetten der Spieler und deren Bodyguards zwischen den Bäumen ausmachen, hörte das Knacken der Walkie-Talkies. „Ihr habt gesagt, wenn ich die Straße erreiche, habe ich gewonnen“, fuhr er drängend fort.

Ohne auf seine Worte zu achten, hatte der Beifahrer seine Waffe auf die Oberkante der Wagentür gelegt und sprach in sein Walkie-Talkie. Er sagte etwas, was Cookie nicht verstehen konnte. Anscheinend erhielt er weitere Befehle.

„Kommt schon, ihr Arschlöcher. Ich habe diese verdammte Straße erreicht, wo ist jetzt also mein Geld?“

Der Beifahrer beendete sein Gespräch am Walkie-Talkie, und Cookie hatte schon oft genug unter Beschuss gestanden, um zu erkennen, dass es gleich wieder so weit sein würde. Es gab kein Preisgeld. Keinen Gewinn. Kein Überleben. Es gab nur Jäger und ein Ziel. Nur einen alten Idioten und einen Mann, der ihn über den Haufen schießen würde.

Der Beifahrer drückte ab, und Cookie flogen die Kugeln um die Ohren. Er duckte sich und hastete den Abhang wieder hinunter.

Ich schaffe das, dachte er. Er hatte in Afghanistan gekämpft. Er hatte mit den Besten gekämpft, gegen die Besten. Da würde er es doch wohl mit einem Haufen reicher, altersschwacher Typen auf Abenteuersuche aufnehmen und als Gewinner hervorgehen können – egal, ob die ihre Aufpasser dabei hatten oder nicht. Ja. Er würde hier rauskommen, und dann würde er es diesen verdammten Wichsern heimzahlen.

Er konnte es schaffen. Wer wagt, gewinnt.

Dann riss eine Kugel Cookie den oberen Teil seines Kopfes weg – eine Kugel, die aus einem Präzisions-Repetiergewehr mit Zielfernrohr stammte.

„Oh, guter Schuss, Mr. Miyake“, sagten die Spieler, als sie aus dem Unterholz hervortraten, um den Abschuss zu begutachten.

Sie freuten sich bereits auf das Essen nach der Jagd.

3. KAPITEL

Es war dunkel, und Shelley war genervt, weil er stundenlang vergeblich durch verschiedene Londoner Dreckslöcher gestreift war. Und jetzt würde der Typ an der Bar ihm auch noch Ärger machen.

Es war das letzte Pub, das er für heute auf der Liste hatte: das Two Dogs am Exmouth Market, eine Kneipe, die immer geöffnet hatte und immer düster wirkte. Außer den frühmorgendlichen Händlern, den Postmitarbeitern, die nachmittags vom nahegelegenen Mount Pleasant hereinschauten, und den Gruppen von Gleisbauarbeitern, die nachts auftauchten, traute sich hier kaum jemand her.

Ohne große Hoffnung hatte Shelley den Blick über sie schweifen lassen und sofort gespürt, dass von den Leuten hier nichts Gutes zu erwarten war. Die meisten waren ziemlich angetrunken und würden ihn nur zum Spaß an der Nase herumführen.

Also ein vergeudeter Tag. Das einzig Positive war, dass Lucy stolz auf ihn sein würde. Sie waren sich beide der Gefahr bewusst gewesen, dass er schon im ersten Pub, den er ansteuerte, der Versuchung erliegen und am nächsten Tag mit einem Kater und dem üblichen schlechten Gewissen eines Trinkers aufwachen würde. Aber nein. Er hatte es geschafft, sämtlichen Versuchungen und sogar der einen oder anderen Einladung zu widerstehen. Er hatte seine Runde stocknüchtern gemacht. Ein Mann auf einer Mission.

Was sich anscheinend inzwischen herumgesprochen hatte, so wie der Typ, der an der Bar lehnte, ihn ansah.

„Du suchst jemanden, wie ich höre?“, sagte er jetzt mit einer Stimme wie ein Zementmischer.

Shelley starrte in tränende, vom Alkohol gerötete Augen und ahnte sofort, dass der Kerl ihn erpressen wollte. Wenn man wie er einen schwarzen Wollmantel und eine leicht schräg auf dem Kopf sitzende Ballonmütze trug, stach man deutlich aus der Menge hervor. Das war Kalkül. Aber genau diese Aufmachung, die ihn als seriösen Kunden erscheinen ließ, machte ihn gleichzeitig zum Ziel von Erpressern, und so wie es aussah, dachte der Typ hier an weit mehr, als nur einen Drink für weitere nutzlose Informationen spendiert zu bekommen. Ein Indiz war zum Beispiel das Messer, das er dabeihatte.

„Stimmt, ich suche jemanden“, erwiderte Shelley lächelnd.

„Deinen Bruder, richtig?“, krächzte der Trunkenbold. Er trug eine Adidas-Sportjacke, deren Reißverschluss bis zum Hals hochgezogen war. Von dem Mann ging eine spürbare Gefahr aus, die für Shelley genauso markant war wie der Geruch von Scheiße.

„Nein, er ist nicht mein Bruder. Ein Freund.“

Bester Freund, dachte er. Ich geb’ dir immer volle Rückendeckung.

„Aber Waffenbrüder, oder? Ihr wart doch zusammen beim Militär – du und dieser Kumpel, nach dem du suchst.“

Das war interessant. Der Typ ließ sich von Shelleys Hintergrund und Vergangenheit nicht beeindrucken. Das bedeutete entweder, dass er ausgesprochen dumm war oder irgendwo Verstärkung bereitstand.

Shelley beugte sich zu ihm vor. „Da hast du recht, Kumpel, wir waren tatsächlich zusammen beim SAS. Cookie und ich waren in Afghanistan Teil eines geheimen dreiköpfigen Teams. Wir haben Auftragsmorde ausgeführt, Geiselnahmen verhindert, Verdächtige verhört. Unser Team hatte eine Spezialausbildung in Überwachung, Spionageabwehr, Risikoerkennung sowie Schusspräzision. Jeder von uns war Experte im unbewaffneten Nahkampf – dazu gehörten Filipino Kali, Krav Maga und Jeet Kune Do, gespickt mit ein bisschen ordinärem Straßenkampf, einfach, weil wir Spaß dran hatten. Wir waren anti-fragil. Weißt du, was das bedeutet? Es bedeutet, je schlimmer wir in der Scheiße steckten, desto effizienter wurden wir.

Nimm zum Beispiel das Messer in deiner Jeans. Dagegen würde Cookie schon mal präventiv vorgehen. So wie ich ihn kenne, und ich kenne ihn wirklich gut, würde er ein Bierglas als Waffe benutzen. Er würde es dir über den Schädel ziehen, dir das Messer abnehmen, und während du dir die Glasscherben aus der Kehle pulst, würde er dich zusammenscheißen, weil du die Klinge nicht ordentlich geschärft hast.

Die Sache ist die, Cookie war immer impulsiver als ich. Schlag zuerst zu, schlag kräftig zu und stell sicher, dass sie wissen, wessen Schlag sie getroffen hat, das war immer sein Motto. Ich gehöre eher zu denen, die sich an die Regeln halten. Ich würde warten, bis du das Messer ziehst, ehe ich es dir abnehme und dir dabei den Arm breche, und dann würde ich dich zusammenscheißen, weil deine Klinge nicht scharf genug ist.

So, nachdem du das alles weißt, nachdem du weißt, mit wem du es zu tun hast, wie wäre es, wenn du mir jetzt erzählst, was du für Informationen hast? Wenn sie nützlich sind, dann zeige ich mich erkenntlich. Andernfalls solltest du lieber dein Messer nehmen und dich verpissen, bevor ich mir überlege, die Sache doch auf Cookies Art anzugehen.“

Der Trunkenbold tat empört. „Tja, wenn du mir so kommst, dann kannst du mich mal am Arsch lecken“, blubberte er, bevor er sich von der Bar abstieß und sich davonmachte.

Shelley seufzte und wandte sich an den Barkeeper, dem er den gleichen Schnappschuss von Cookie zeigte, den er wohl schon einem Dutzend anderer Barkeeper heute gezeigt hatte. Der Typ guckte sich das Foto kaum an, ehe er mit den Schultern zuckte und sich ans andere Ende der Bar verzog.

Dieses Schulterzucken gehört anscheinend zur Grundausbildung eines Barkeepers, dachte Shelley. Sein Blick wanderte zum Spiegel hinter der Bar, und er sah gerade noch, wie der Trunkenbold sich zur Tür hinausschlich. Den hab ich nicht zum letzten Mal gesehen, dachte Shelley.

Und er sollte recht behalten.

4. KAPITEL

Sein Telefon schrillte, als er hinaus in die Kälte auf den Exmouth Market trat.

„Ja?“

„Captain David Shelley?“

„Ist schon eine Weile her, dass mich jemand so angeredet hat.“

„Es ist ja auch schon eine Weile her, seit Sie den SAS verlassen haben.“

„Drei Jahre.“

„Sie haben den SAS vor zwei Jahren verlassen. Vor zwei Jahren, drei Monaten und ein paar Tagen, um genau zu sein.“ Die Stimme des Mannes klang neutral, war schwierig einzuordnen. Das war sicher beabsichtigt. Shelley hatte sich schon gefragt, ob seine Anfrage im Verteidigungsministerium nach Cookies derzeitigem Wohnsitz (Antwort: keine feste Adresse) in Whitehall einen Stein ins Rollen bringen würde. Vielleicht war das hier der rollende Stein.

„Okay, ich höre. Was wollen Sie wissen?“

„Mir ist zu Ohren gekommen, dass Sie nach Major Paul Cook suchen, Ihrem ehemaligen kommandieren Offizier.“

„Wer sind Sie?“

„Wer ich bin, kann warten. Sie müssen diesbezüglich Geduld mit mir haben. In der Zwischenzeit gibt es etwas, was ich Ihnen erzählen muss.“

„Er ist tot, oder? Cookie ist tot?“ Er hatte es schon fast erwartet, aber trotzdem … Sein Magen zog sich zusammen. Er verspürte die Art von schlechtem Gewissen und Scham, die man vermutlich mit einem Drink verdrängen konnte, aber er kämpfte gegen diese widerstreitenden Gefühle an: das Bedürfnis zu trinken und die Trauer.

„Es tut mir leid“, sagte der Anrufer.

„Wie? Wie ist er gestorben?“

„Das ist etwas, worüber wir reden müssen. Sind Sie zufällig in der Nähe von Chelsea und dem Westminster Hospital?“

„Da könnte ich relativ schnell sein.“

„Können Sie jetzt dorthin kommen?“

„Kann ich.“

„Gut. Ich spreche Sie dort an. Ach ja, Mr. Shelley? Ich muss wissen, wie lange Sie brauchen – so genau wie möglich, bitte.“

Shelley blickte hinüber, wo die skelettartigen Träger der Marktstände die Dunkelheit auf dem Exmouth Market unterbrachen und scannte mit geübtem Blick mögliche Verstecke. Und tatsächlich, der Unruhestifter aus dem Two Dogs lauerte dort hinten im Schatten.

„Sagen wir, in einer Stunde“, meinte er.

„Sehr gut. Wir sehen uns dann.“

Shelley beendete das Telefonat und schlenderte in Richtung Yardley Street, bis der Typ aus dem Pub aus dem Eingang von Greggs hervortrat. Shelley blieb stehen. Die Hände in den Taschen seines Mantels vergraben, umschloss er sein Telefon.

„Ich dachte, wir hätten uns geeinigt“, rief er. „Du lässt mich in Ruhe, und ich lasse deine Knochen heil. Schien mir eigentlich ziemlich einfach.“

Das Mondlicht spiegelte sich in der Messerklinge. „Macht dir Spaß, mich von oben herab zu behandeln, was?“, meinte der Typ. „Du hältst mich wohl für blöd.“

„Nein, Kumpel, ich glaube, du bist verzweifelt, und das ist ein Unterschied. Okay, letztes Angebot. Steck das Messer weg, und Schwamm drüber. Ich spendiere dir sogar ’nen Drink. Vielleicht auch deinen beiden Freunden hinter mir.“

Der Typ riss die Augen auf. Da er das Überraschungsmoment nun nicht mehr auf seiner Seite hatte, schien er zu überlegen, ob ein Drink nicht vielleicht doch ein gutes Angebot war. Aber seine Freunde sahen das anders. Sie hatten Shelley noch nicht kennengelernt. Hatten nicht direkt gespürt, welche Gefahr von ihm ausging. Und daher griffen sie an.

Shelley hielt sich zwar fit, aber es gab ein paar Übungen, die er seit dem Verlassen des SAS hatte schleifen lassen. Liegestütze auf den Fingerknöcheln gehörten nicht mehr zu seinem Trainingsprogramm, genauso wenig wie Schläge gegen Reissäcke, um seine Fäuste abzuhärten. Daher benutzte er sein Telefon, um dem ersten Typen die Nase zu brechen.

Mit – im wahrsten Sinne des Wortes – durchschlagendem Erfolg: Kaum auszuhaltende Schmerzen, Verwirrung und Benommenheit sorgten dafür, dass der Angreifer außer Gefecht war. Shelley gab ihm den Rest. Er packte ihn an den Haaren, rammte ihm einen Ellenbogen in die Schläfe, ehe er den schlaffen Körper vor sich zog, um sich vor dem zweiten Angreifer zu schützen. Der hatte ein Messer gezogen, doch Shelley schlug ihm mit dem rechten Handrücken auf die Nase. Ein wenig härter, und er hätte den Typen getötet. So schlug er ihn nur nieder und bückte sich dann, um das Messer aufzuheben.

„Verfluchte Scheiße“, rief er dem Kerl aus dem Pub hinterher, der inzwischen Fersengeld gegeben hatte, „ihr Typen könnt echt keine Messer schärfen.“

5. KAPITEL

„Captain Shelley.“ Der Mann, der neben einer niedrigen Mauer vor dem Krankenhaus stand, trug, ähnlich wie Shelley, einen Wollmantel und schwarze Jeans, fast so, als wollte er ihn imitieren. „Mein Name ist Claridge“, sagte er und streckte die Hand aus.

Shelley ließ den Blick über den Mantel des Mannes wandern, nahm jedoch an, wenn er eine Waffe trüge, wäre sie wohl geschickter versteckt. „Sie sind vom Verteidigungsministerium, oder?“

„Nein, Spionageabwehr, MI5. Wenn Sie mir jetzt nach drinnen folgen würden, und gehen Sie bitte exakt hinter mir.“

„Ach so? Wir wollen unseren TV-Auftritt auf ein Minimum beschränken, was?“

Claridge nickte. Er war in etwa so alt wie Shelley, sie gingen beide auf die vierzig zu, aber er wirkte äußerlich genauso akkurat und unscheinbar wie seine Stimme. „Ich war bereits drinnen und habe uns sozusagen den Weg geebnet. Wir müssen unsere Zeit gut nutzen, also reden wir in der Leichenhalle weiter.“

Sie betraten das Krankenhaus, Shelley folgte in Claridges Schatten. Als sie die Treppe hinunter zur Leichenhalle gingen, verspürte er wie früher einen Anflug von Aufregung, bis ihm wieder einfiel, warum sie hier waren: weil Cookie tot war; weil das Ehrenwort Ich geb dir immer Rückendeckung auf einmal ein leeres Versprechen war.

Der für die Leichenhalle zuständige Mitarbeiter saß schlafend an seinem Schreibtisch, ansonsten war kein Mensch zu sehen. Claridge schüttelte missbilligend den Kopf und hob eine Augenbraue. „Schläft tief und fest. Und das trotz des vielen Kaffees.“

„Wie lange ist er außer Gefecht?“

„Eine halbe Stunde. Mehr brauchen wir auch nicht.“

Sie passierten mehrere Doppeltüren, bevor sie in einen Raum kamen, der merklich kühler war. Claridge ging auf die Metallschränke zu und griff nach der Schublade, auf der „Cook, P.“ stand.

„Die Leiche wurde hinter Abfallbehältern in einer Seitenstraße der Tottenham Court Road gefunden. In seinen Taschen steckte Kokain. Die offizielle Version der Untersuchung lautet, dass Ihr Freund in einen Drogendeal verwickelt war, bei dem etwas schiefging.“

Cookie hat Drogen gehasst, dachte Shelley. Für ihn war das Teufelszeug. Aber natürlich konnte sich so etwas mit den Jahren ändern.

„Vielleicht möchten Sie sich Ihr Urteil aufsparen, bis Sie den Leichnam gesehen haben.“ Claridge zögerte, die Hand an der Schublade. „Ich muss Sie warnen, es ist kein schöner Anblick.“

„Er war noch nie das, was man eine Augenweide nennt.“

„Ich fürchte, jetzt sieht er noch deutlich übler aus.“ Als die Schublade aufglitt, bemerkte Shelley sofort die ungewöhnlichen Konturen unter dem Laken an der Stelle, wo sich der Kopf befand. Er nickte Claridge zu, der das Laken bis zum Hals hinunterzog.

Shelley biss die Zähne zusammen. Es war Cookie, aber kaum noch zu erkennen – Cookie, dem der Großteil des Kopfes fehlte und dessen Schädel wie eine zerklüftete Felsenlandschaft aussah, in dessen Tiefe sich nichts mehr befand, weil man die Reste des Gehirns entfernt hatte.

„Die Autopsie wurde schon durchgeführt?“, fragte er.

„Ich habe hier eine Kopie für Sie.“ Unter seinem Mantel zog Claridge einen braunen Schnellhefter hervor und reichte ihn Shelley.

Der blätterte ihn durch und ging um die aufgezogene Lade herum, um sich die Kopfwunde näher anzusehen. Ein Gedanke ließ ihn kurz innehalten. Das hier ist nicht nur irgendeine Leiche auf dem Schlachtfeld – das ist Cookie. Dann zwang er sich, sich wieder leidenschaftslos auf die Sachlage zu konzentrieren.

„Keine Verbrennungen, steht hier. Keine Pulver- oder Schmauchspuren an der Wunde. Sprich, der Schütze befand sich in einiger Entfernung.“ Er sah Claridge an. „Was sagt Ihnen das?“

„Ich bin nichts weiter als ein Schreibtischhengst. Ich will Ihre Meinung hören.“

„Es bedeutet, dass Ihre Theorie mit dem schiefgelaufenen Drogendeal vermutlich Unsinn ist.“

„Es ist nicht meine Theorie.“

„Irgendwelche Patronenhülsen am Tatort?“

„Nein.“

„Irgendwelche handfesten Beweise, dass dort Schüsse abgegeben wurden?“

„Nicht einmal Berichte darüber, dass jemand Schüsse gehört hätte.“

Shelley begutachtete die Wunde ein weiteres Mal ausgiebig, froh, dass die Augen des Leichnams geschlossen waren. Er warf noch einen Blick auf die Autopsieergebnisse und sprach dann ebenso mit sich selbst wie mit Claridge. „Keine Kugel sichergestellt, wie es aussieht.“

Claridge schüttelte den Kopf. „Was glauben Sie, hätten wir daraus schließen können?“

„Aus der Kugel? Na ja, kommt darauf an, ob die Waffe registriert war. Andernfalls nicht viel mehr als das, was wir auch anhand der Wunde herausfinden können. Ein derart heftiger Schaden wie dieser stammt mit Sicherheit von einem Präzisionssturmgewehr, und bei dieser Art Waffe ist es unerheblich, ob man ein lebenswichtiges Organ trifft, denn der Schock oder der Blutverlust erledigen den Rest.“ Er verstummte. Dachte nach. „Aber das hier war ein Kopfschuss. Der nicht spontan ausgeführt wurde. Der Schütze hat sich Zeit genommen und aus der Ferne geschossen. Welche Art Waffe benutzt man wegen ihrer Durchschlagskraft und Zielgenauigkeit auf höhere Entfernung?“

„Das hängt davon ab, was man plant zu erschießen.“

„Einen verdammten Elefanten, so wie es aussieht.“ Er sah Claridge an, nur um festzustellen, dass der MI5-Mann seinen Blick ungerührt erwiderte. Shelley zog das Laken weiter herunter, sodass die Y-förmige Autopsienarbe, die bis zur Leistengegend reichte, entblößt wurde. An der Seite hatte Cookie noch einen Streifschuss abbekommen. Shelley schaute in den Bericht. „Ein kleineres Kaliber. Offenbar hektisch abgefeuert. Hier finden sich Schmauchspuren, aber kein Ruß, was bedeutet, dass aus nächster Nähe gefeuert wurde, wahrscheinlich nur ein paar Schritte entfernt. Das war also der erste Schuss, der tödliche kam danach. Entweder hat der Schütze ihn verletzt und dann die Gewehre gewechselt, um seinen Job zu beenden, oder es gab mehr als einen Angreifer.

Was hatte er an, als er gefunden wurde?“

„Steht im Bericht. Einen Anorak, Jeans, Sweatshirt – nichts davon besonders wohlriechend. Wie Sie wissen, hatte Major Cook keinen festen Wohnsitz. Es scheint, als hätte er auf der Straße geschlafen.“

Shelley zuckte zusammen, weil ihn das schlechte Gewissen plagte. Es war länger als ein Jahr her, seit er zuletzt mit Cookie gesprochen hatte. Er hatte es auf Cookies alter Telefonnummer versucht und auch mit einer – wie sich herausstellte – ungültigen E-Mail-Adresse, und er hatte ihm eine Weihnachtskarte geschrieben. Aber er war so sehr damit beschäftigt gewesen, sich irgendwie den Lebensunterhalt zu verdienen, seine eigene Firma aufzubauen, das Leben mit Lucy zu meistern – und all das hatte ihn davon abgehalten, für seinen ehemaligen befehlshabenden Offizier da zu sein und sicherzustellen, dass es seinem Freund gutging, ihm Rückendeckung zu geben. Bis Shelley eines Tages aufgewacht war und ihm schlagartig bewusst wurde, wie lange es schon her war, seit sie miteinander geredet hatten. Da hatten auf einmal seine Alarmglocken geschrillt.

„Obdachlos also“, sagte er. „Und Scotland Yard hat ziemlich viele Fälle, in denen Obdachlose zwischen die Fronten eines Drogenkriegs geraten, stimmt’s?“

„Denken Sie dran: Es ist nicht meine Theorie.“

„Mageninhalt … Er hatte gut gegessen. Steak, Kartoffeln. Steak mit Pommes war sein Lieblingsessen. Keine Anzeichen von Alkohol oder Drogen. Passt irgendwie nicht so recht zu dem Leben, das er gelebt hat.“

Wieder blickte er zu Claridge, der weiterhin keine Miene verzog.

„Schauen Sie sich das an“, sagte Shelley und wedelte mit dem Schnellhefter vor Claridges Nase herum. „Auf seiner Kleidung fanden sich keine Blutspuren. Keine Löcher, die mit seinen Verletzungen übereinstimmten. Was sagt uns das?“

„Dass er nicht diese Sachen anhatte, als er gestorben ist.“

Etwas in Claridges Stimme ließ Shelley abrupt aufschauen. „Das ist von Bedeutung, richtig?“

„Könnte sein. Vielleicht. Ich weiß es nicht. Fahren Sie fort“, sagte Claridge.

„Und schauen Sie sich diese Flecken an seinen Handgelenken und Händen an. Der Bericht spricht von unspezifischen Verletzungen an den Handgelenken, aber für mich sieht das nach Handschellen aus.“

„Sie hätten sich daraus befreien können“, meinte Claridge.

Shelley warf ihm einen verwirrten Blick zu. „Wie kommen Sie darauf?“

„Sie sind sehr gelenkig. Steht in Ihren Akten.“

Shelley runzelte die Stirn, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder auf Cookies Hände richtete und sich die kleinen Stellen ansah, an denen die Haut verletzt war. „An beiden Händen findet sich das hier … Sieht aus wie Verbrennungen.“

Er nahm Cookies Hände und legte sie so zusammen, wie sie gewesen wären, wenn er Handschellen getragen hätte. Noch einmal untersuchte er die Brandwunden.

„Sieht aus, als hätte er etwas festgehalten. Irgendeine Art von kleiner Explosion in seiner Hand.“ Er legte Cookies Hände wieder an dessen Seite. „Hier steht auch was von Splittern.“

„Ja, man hat sie ins Labor zur Untersuchung geschickt“, berichtete Claridge. „Seitdem sind sie verschwunden.“

Shelley hob eine Augenbraue. „Das scheint Sie nicht zu überraschen.“

„Nein, das tut es nicht.“

6. KAPITEL

Shelley folgte Claridge zu einem alten BMW, der in einer Seitenstraße geparkt war – fernab von neugierigen elektronischen Augen. Nachdem sie eingestiegen waren, saßen sie einen Moment schweigend da.

„Wie ist er dahin gekommen?“, fragte Shelley voller Schuldgefühle, weil er selbst keine Antwort darauf hatte. „Wieso ist er auf der Straße gelandet?“

„Seine Beziehung ist in die Brüche gegangen.“

Susan, dachte Shelley. Er hatte Cookies Freundin nie wirklich gemocht. Laut und ungehobelt, und die Art von Drogensüchtiger, die man Müllschlucker nannte. Jemand, der alles nahm, solange er davon high wurde.

„Sechs Monate lang ist er dann herumgereist“, fuhr Claridge fort. „Soweit wir wissen, ist er, als er zurückkam, aus seiner Wohnung in Hammersmith geflogen. Die meisten Obdachlosen gehen davon aus, nur vorübergehend kein Dach über dem Kopf zu haben und ihr Leben wieder auf die Reihe zu bringen. Erinnern Sie sich an den Sommer letztes Jahr? War keine schlechte Zeit, um draußen zu schlafen. Aber der Alkohol fordert seinen Tribut. Aus einer Nacht unter der Waterloo Bridge werden zwei Wochen, dann zwei Monate …“

„Dann ein Jahr.“

„Zehn Prozent aller Obdachlosen sind ehemalige Soldaten.“

Shelley überlegte, worauf der MI5-Mann hinauswollte, als Claridge nach einer Zeitung griff und sie ihm reichte. Die Schlagzeile lautete Lord bei mysteriösem Jagdunfall getötet.

„Das war vor zwei Wochen“, stellte Shelley fest.

„Und zwar am selben Tag, als auch Major Cook getötet wurde.“

„Nennen Sie ihn einfach nur Cookie. Er hat seinen Dienstgrad gehasst. Konnte es nicht ausstehen, wenn man ihn Captain Cook nannte. Und Major Cook fand er nicht besser. Major Cook, Major Puck.“ Shelley lachte kurz auf, als er sich daran erinnerte, und hatte auf einmal das grinsende Gesicht seines Freundes vor Augen und verdrängte dadurch das des Toten, den er gerade gesehen hatte. „Dieser Lord Oakleigh, der gestorben ist, was hat der mit dem Ganzen zu tun?“

„Offiziell hat Oakleigh sich während einer Jagd versehentlich selbst erschossen, aber ich habe einen unterdrückten Autopsiebericht zu Gesicht bekommen, in dem stand, dass er von einem Angreifer erstochen wurde, der einen Ast als Waffe benutzt hat. Ich vermute, dass Cookie dieser Angreifer war.“

„Okay.“ Shelley holte tief Luft. Sein durch jahrelange Zugehörigkeit zur Armee geschärfter Instinkt verriet ihm, was nun kommen würde. „Gut. Es gibt also eine offizielle und eine inoffizielle Version. Warum erzählen Sie mir die inoffizielle?“

„Weil Sie nach Cookie gesucht haben und weil ich mir Ihre Akte angeschaut habe. Sie gehören zum System, aber Sie besitzen auch Integrität, und beides zusammen ist leider so überaus selten. Hinzu kommt, dass Sie über exzellente Fähigkeiten auf Ihrem Gebiet verfügen. Sie sind, um es kurz zu machen, genau der Agent, den ich gesucht habe.“

Shelleys Stimme klang hart. „Na schön, erstens bin ich nicht Ihr Agent. Und ich gehöre auch nicht mehr zum System, habe ich eigentlich nie. Ich war Soldat, habe für die Queen gekämpft, für unser Land und für den Mann an meiner Seite. Aber ich war das – sprich, das ist Vergangenheit. Verstehen Sie? Ich bin nicht länger das Spielzeug von Leuten wie Ihnen, die mich irgendwo hinschicken können, wo es möglicherweise unangenehm werden könnte. Ich bin ein Typ, der zusammen mit seiner Frau und seinem Hund in Stepney Green lebt und einen Sicherheitsdienst betreibt, der leider nicht so recht in Schwung kommen will. Otto Normalbürger, wie man so schön sagt. Und je mehr ich von Ihnen höre, desto mehr drängt sich mir das unangenehme Gefühl auf, dass ich das alles schon allein aufs Spiel setze, weil ich hier mit Ihnen sitze.“

Das Licht im Wagen leuchtete auf, als Shelley die Tür öffnete, um auszusteigen.

„Sie können ihn rächen“, sagte Claridge hastig. „Sie können Ihrem Freund diesen letzten Dienst erweisen.“

Shelley schloss die Augen. Anscheinend waren Claridge seine Schuldgefühle nicht verborgen geblieben.

„Hören Sie, Sie haben recht“, drängte Claridge. „Allein dieses Wissen könnte genügen, dass man Sie umbringt. Aber ich garantiere Ihnen eins: Wenn Sie sich den Rest von dem anhören, was ich Ihnen zu erzählen habe, und Sie auch nur halb der Soldat sind, für den ich Sie halte, dann werden Sie etwas unternehmen wollen. Sie werden gar nicht anders können, als diesen Job zu übernehmen. Mehr noch, ich kann dafür sorgen, dass Sie für Ihre Mühen gut entlohnt werden. Dieser Sicherheitsdienst, den Sie da zum Laufen bringen wollen, zum Beispiel. Ich bin Abteilungsleiter beim MI5, Shelley, ich kann Ihnen eine Menge Aufträge zuschanzen.“

Shelley schloss die Tür wieder. Er wartete, bis das Licht im Inneren des Wagens langsam wieder erlosch, ehe er erneut sprach.

„Na schön, sagen Sie, was Sie zu sagen haben.“

7. KAPITEL

„Das ist jetzt absolut inoffiziell, Shelley. Das ist nicht von oben genehmigt. Ich untersuche eine Organisation, die … Na ja, ich weiß nicht einmal, ob es wirklich eine Organisation ist, aber ich glaube, ich weiß, was sie tut. Ich verfüge über Material, das darauf hinweist, dass Lord Oakleigh und andere Spieler sich völlig klar darüber waren, dass sie an einer Jagd teilnahmen, mit echten Gewehren mit scharfer Munition. Und einem Menschen als Ziel.“

Spieler?“

„So nennen sie sich selbst.“

Ungläubig lachte Shelley kurz auf. „Dieses Material – was ist das?“

„Es ist eine Geschichte, die mit einer der Ehefrauen anfängt und mit ihrem Mann, der ein geradezu abnormales Interesse an seinem Telefon und Computer zeigt. Sie hat mit angehört, wie ein Treffen vereinbart wurde. Anfangs glaubte sie, er hätte eine Affäre. Wir waren zusammen in Cambridge, wir waren … wir standen uns damals nahe, also ist sie mit ihrer Vermutung zu mir gekommen, nicht in meiner Funktion als MI5-Agent, sondern, weil ich ein Freund bin. Ich tat ihr den Gefallen und habe eine kleine Überwachung gestartet. Was ich beobachtet habe, war, wie der Mann sich mit zwei geschniegelten Typen traf, sie alle in ein Laptop starrten und etwas diskutierten. Ich habe keinen von ihnen erkannt, habe ihr Bericht erstattet und mir keine Gedanken mehr darüber gemacht, sondern freute mich für sie, weil ihr Mann wohl irgendwelche Finanzgeschäfte durchführte, sie aber nicht betrog.

Aber dann kontaktierte sie mich wieder. Es hatte weitere Anrufe gegeben, noch mehr Geheimniskrämerei; er plante, übers Wochenende zu verreisen, angeblich zum Golfspielen, aber als sie ein bisschen nachgeforscht hat, stellte sich heraus, dass das gelogen war. Mit ihrer Erlaubnis habe ich daraufhin sein Telefon angezapft. Zum Glück, denn dabei habe ich gehört, dass die Spieler auf Wanzen abgesucht werden sollten. Ich konnte vielleicht zwei Minuten einer vagen Unterhaltung mit anhören, ehe sämtliche persönlichen elektronischen Geräte abgegeben werden mussten, und sehr viel Aufschlussreiches war nicht dabei. Sie haben über eine Jagd gesprochen, bei der ein SAS-Mann das Ziel sein würde. Ich wäre wohl von einem Paintball-Spiel ausgegangen, wenn nicht das Wort Todesschuss gefallen wäre.“

Shelley zuckte mit den Schultern. „Könnte auch Spielerjargon gewesen sein.“

„Natürlich. Das hatte ich auch gehofft. Aber vielleicht habe ich da was in ihren Stimmen rausgehört. Vielleicht war es auch nur aus einer Laune heraus. Wie auch immer, ich beschloss, mir alle kürzlich verstorbenen ehemaligen SAS-Männer anzuschauen. Zwei Tage nach diesem Telefonat tauchte Cookies Name auf. Nachdem Sie den Leichnam selbst gesehen haben, verstehen Sie sicherlich, warum ich zu einem anderen Schluss gelangt bin.“

„Also wirklich, kommen Sie. Das ist doch … Wahnsinn.“

„Ja, ist es. Aber sagen Sie mir eins. Wenn Sie ganz ehrlich sind, überrascht es Sie wirklich? Ist es tatsächlich völlig abwegig?“

Shelley dachte an die Waffen und Cookies Wunden, wanderte in Gedanken zu Oakleigh und stellte Verbindungen her. „Eine Jagd“, sagte er schließlich nachdenklich. „Er wurde mit einem Jagdgewehr erschossen …“ Er fügte die einzelnen Puzzleteile zusammen. „Oakleigh hatte ein kleineres Kaliber. Er war Cookie ziemlich nahe. War sich seiner Sache zu sicher. Er hat abgedrückt und Cookie gestreift. Cookie hat ihn erledigt. Aber dann … dann hat jemand anderes Cookie umgebracht?“

„Scheint so.“

„Mit einem Jagdgewehr. Schuss eines Scharfschützen.“

Oh Gott, dachte er, natürlich. Sie haben ihn gehetzt und dann erledigt.

„Sie haben definitiv von einer Jagd gesprochen?“

„Haben sie. Nach dem, was meine Freundin sagte, hat ihr Mann neuerdings wieder großes Interesse an der Jagd gezeigt.“

„Verdammt! Und das war’s? Damit haben Sie Ihre Untersuchung beendet? Was ist mit den zwei Typen, die Sie mit dem Mann Ihrer Freundin gesehen haben? Ich nehme mal an, Sie haben Bildmaterial von denen?“

Claridge öffnete ein Foto auf seinem Smartphone. Ein verschwommener Schnappschuss, aufgenommen durch das Fenster einer Anwaltskanzlei. Alle drei Männer waren nur undeutlich zu erkennen.

„Das ist alles?“

„Zu dem Zeitpunkt brauchte ich nichts weiter, um Sarah zu beruhigen.“

„Was ist mit öffentlichen Überwachungskameras?“

„Entweder haben sie sich zufällig oder absichtlich nur in toten Winkeln bewegt.“

„Mit Sicherheit absichtlich. Die wissen, was sie tun. Was ist mit der Anwaltskanzlei, konnten Sie checken, wer dort einen Termin hatte?“

„Ich habe mich in deren Computer gehackt. Die Identitäten der beiden Männer, die zu der Zeit angeblich dort waren, stellten sich als falsch heraus. Die Spur verläuft also im Sande, Shelley. Ich habe alles in meiner Macht Stehende getan. In der Zwischenzeit habe ich allerdings noch weitere Nachforschungen angestellt. Cookie war nicht der erste obdachlose Ex-Soldat, der unter diesen Umständen umgekommen ist. Im letzten Jahr gab es zwei weitere Vorfälle, die ebenfalls unter den Teppich gekehrt wurden. Da wurde mir langsam klar, wie weitreichend diese ganze Sache womöglich ist.“

„Dass der Leichnam hier auf die Straße geworfen wurde … das ist vorsätzliche Irreführung“, meinte Shelley nachdenklich und angewidert. „Sie könnten sie auch anderweitig entsorgen, aber sie wollen, dass die Leichen entdeckt werden. Auf diese Weise machen sie den Todesfall öffentlich. Damit beruhigen sie die Spieler. Die erleben sozusagen live, wie die Sache vertuscht wird.“

„Genau. Und die Tatsache, dass sie in der Lage dazu sind, deutet darauf hin, dass diese Verschwörung in ziemlich hohen Kreisen stattfindet. Alles, was ich unternehme, könnte deren Aufmerksamkeit erregen …“ Er verstummte, bevor er hinzufügte: „Um mehr zu erfahren, brauche ich einen V-Mann.“

„Und Sie glauben, der sollte ich sein, oder?“

„Ich hoffe es.“

„Vergessen Sie’s.“

„Shelley, kommen Sie. Wollen Sie keine Gerechtigkeit?“

„So einfach ist das nicht“, antwortete Shelley. „Selbst wenn ich an Ihre Theorie glauben würde, gibt es gewisse Überlegungen, gewisse Verpflichtungen. Es tut mir leid, Sie werden einen anderen Weg finden müssen.“

Claridge lachte trocken auf. „Was schlagen Sie vor? Soll ich eine Rundmail ans Thames House, Vauxhall Cross und das Parlament schicken? ‚Könnten sich bitte all diejenigen, die nicht auf die Jagd nach Obdachlosen gehen, bei mir melden?‘ Ich glaube, Sie verkennen das Problem, Shelley. Das Problem ist, dass ich nicht weiß, wem beim Geheimdienst ich trauen kann; das Problem ist, jemanden zu finden, der sauber ist, und im Augenblick habe ich die Wahl zwischen Ihnen und dem Briefträger. Wenn der Briefträger Ihre Fähigkeiten besäße, würde ich wahrscheinlich mit dem reden.“

„Dann starten Sie Ihre eigene Untersuchung. Sammeln Sie Beweise. Machen Sie es auf die altmodische Art.“

„Ich wäre schon nach fünf Minuten erledigt.“

„Suchen Sie sich einen mitfühlenden Journalisten. Machen Sie das Ganze publik.“

„Ich will diesem widerlichen Treiben ein Ende bereiten, nicht das ganze Land ins Chaos stürzen. Und das bedeutet, keine Öffentlichkeit, keine öffentliche Untersuchung, keine kleinen Sündenböcke, die für die Reichen und Mächtigen den Kopf hinhalten müssen. Es bedeutet, dass diesen Leute der Arsch dermaßen aufgerissen wird, dass sie sich nie wieder davon erholen.“

„Und ich soll derjenige sein, der ihnen den Arsch aufreißt. Das ist ein Job für einen Auftragskiller. Sich Zugang zur Organisation verschaffen und den beiden Männern, die sie leiten, den Garaus machen.“

„Was immer nötig ist. Auf jeden Fall ist es die geheimste aller verdeckten Ermittlungen, Shelley.“

„Nein. Es tut mir leid, aber die Antwort bleibt Nein.“

„Shelley, wir brauchen Sie.“

„Genau wie meine Frau. Und mein Hund.“

Shelley öffnete die Tür und stieg aus dem BMW aus.

„Sie werden damit nicht leben können“, meinte Claridge. „Sie werden nicht damit leben können, davon zu wissen und nichts zu unternehmen.“

„Verfickten Dank auch“, seufzte Shelley und schlug die Tür zu.

In dieser Nacht lag Shelley wach, während Lucy neben ihm leise schnarchte. Seine Gedanken überschlugen sich geradezu, bis er schließlich hinüberlangte und Lucy sanft an der Schulter rüttelte.

Sie murmelte im Schlaf.

„Lucy, wach auf. Ich muss dich was fragen.“

Eine Stunde später rief er Claridge an.

„Versprechen Sie mir eins: Wenn mir irgendwas zustößt, kümmern Sie und Ihre Freundin sich darum, dass es Lucy gutgeht.“

„Darauf gebe ich Ihnen mein Wort.“

„Dann bin ich dabei“, sagte Shelley. „Ich spiele mit.“

8. KAPITEL

Der Obdachlose bahnte sich einen Weg durch die Commercial Street in Whitechapel, achtete aber darauf, immer auf Distanz zu dem Mann mit dem hageren Gesicht zu bleiben, den er verfolgte.

Der Hagere war unter dem Namen Colin bekannt. Der Obdachlose hörte auf den Namen Steve, benutzte diesen Namen allerdings erst seit vier Monaten. Vorher war er Shelley gewesen.

Colin ging ins Ten Bells, und Shelley blieb draußen bei den Rauchern stehen und genoss es, dass seine Anwesenheit die anderen nervös machte. Er spähte durch das Fenster des Pubs. Drinnen hatte Colin sich mit einem anderen Mann getroffen, der deutlich schicker gekleidet war. Er trug eine hellbraune Lederjacke und modische, teure Leder-Boots, die Shelley sofort auffielen.

Er beobachtete den Fremden, der ein Bier in der Hand hielt, nickte und Colin zuhörte. Der stand jedoch leider mit dem Rücken zum Fenster, sodass Shelley nicht von seinen Lippen ablesen konnte, was er sagte. Aber was auch immer Colin von sich gab, schien bei dem anderen auf Zustimmung zu stoßen.

Für Shelley bestand kein Zweifel daran, dass dies das nächste Glied in der Kette war.

Wie er so dastand, registrierte Shelley sein Spiegelbild im Fenster: alte Jeans, ein paar durchgelaufene schwarze Lederschuhe, ein Sweatshirt unter einer bis zum Hals geschlossenen Kapuzenjacke und ein Schal um den Hals. Sein Haar war strähnig und fettig, die Wangen eingefallen und voller Bartstoppeln. Er entsprach seiner Rolle, aber das war es auch – er spielte nur eine Rolle. Ihn plagte ständig das schlechte Gewissen, weil er wusste, dass sein Aussehen nur eine Tarnung darstellte, während es für Cookie bittere Realität gewesen war.

„Wir wissen, dass Cookie in der Obdachlosenunterkunft von St. Martin’s und einem Hostel der Heilsarmee in Westminster registriert war“, hatte Claridge ihm erzählt. „Die Sozialarbeiter haben der Polizei erzählt, er hatte eine Wohnung in Wood Green in Aussicht. Inzwischen vermute ich, dass diese Leute mit falschen Versprechungen locken, wahrscheinlich mit einer nicht unerheblichen Geldsumme am Ende der Jagd. Wahrscheinlich wollte Cookie das Geld für diese Wohnung, um wieder auf die Füße zu kommen.“

„Ich bräuchte eine neue Identität. Kriegen Sie das hin?“

Wie sich herausstellte, leistete Claridge hervorragende Arbeit. „Von nun an sind Sie Captain Steven Hodges, Soldat der Royal Marines. Er ist verstorben, aber Ihnen zu Ehren habe ich ihn wieder zum Leben erweckt. Er war in Ihrem Alter, hatte die gleiche Blutgruppe, und es gibt weder Fotos noch Fingerabdrücke von ihm in der Akte.“ Claridge hatte ihm die Mappe gereicht. „Hier, studieren Sie das ausgiebig.“

Das war das letzte Mal gewesen, dass sie sich getroffen hatten. Zwei Tage später, nachdem er sich seine neue Identität eingeprägt hatte, hatte Shelley sein Haus in Stepney Green verlassen, erst Lucy und dann Frankie, den Hund, geküsst, ehe er sich von beiden verabschiedete. Er war als David Shelley gegangen und hatte sein neues Leben auf der Straße als Captain Steve Hodges begonnen.

Es war schon fast beängstigend, wie schnell er sich angepasst hatte. Genau wie Claridge gesagt hatte, wimmelte es auf der Straße von Ex-Soldaten, und sie alle behaupteten gern, dass das Leben draußen bequem war im Vergleich zu den eisigen Nächten in Afghanistan. Dem konnte Shelley nur zustimmen: Afghanistan war die lebensfeindlichste Gegend, die er je kennengelernt hatte; brütend heiß am Tag und bitterkalt in der Nacht, die Landschaft geprägt von rasierklingenscharfen Felsen, Steinen und Disteln, die einem tief ins Fleisch schnitten.

Der Unterschied bestand darin, dass in Afghanistan alle mehr oder weniger gleich waren, ob man nun im Unterholz schlief oder den relativen Luxus eines Feldbettes in der Operationsbasis genoss. Man hockte nicht unter einer Brücke und versuchte einen Penner-Ofen in Gang zu bringen, während man das Knallen der Champagnerkorken aus einem schwimmenden Restaurant nur wenige Meter entfernt hören konnte. In der Armee kümmerte man sich um seinen Kameraden, das war praktisch der einzige Grund, warum man morgens aufstand; man trat nicht einfach über ihn hinweg, wenn man ihm auf dem Weg zur Arbeit an der U-Bahn-Station begegnete. Man ignorierte ihn nicht. Das war es, was das Leben auf der Straße härter machte als das Leben in der Armee. Die Männer und Frauen auf der Straße taten gern so, als gäbe es eine gewisse Solidarität, aber im Grunde wussten alle, dass es hieß, fressen oder gefressen werden. Auf der Straße warst du allein. In der Armee konntest du dich auf zwei Dinge verlassen: Dein Freund war dein Freund, und dein Feind war dein Feind. Als Obdachloser kämpfte man an allen Fronten, wobei der eigene Seelenkampf noch hinzukam.

Nach einigen Monaten kannte Shelley die Straßen-Teams. Das waren die Ehrenamtlichen, die nachts herumfuhren, sich um die Leute auf der Straße kümmerten und sie in die Unterkünfte brachten. Shelley versuchte, wann immer es ging, ein Bett im St.-Martin’s-Heim zu ergattern, um auf diese Weise mehr über die anderen Obdachlosen zu erfahren. Beobachten, warten, observieren.

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