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Schule der Meisterdiebe 2: Das vergessene Labyrinth

hier erhältlich:

Freunde im Kampf gegen das Böse

Gabriels zweites Jahr an der Schule der Meisterdiebe beginnt mit einer verblüffenden Entdeckung: Über eine Geheimtreppe gelangt man in das unterirdische Labyrinth, das einst die schwierigste Schulprüfung bildete. Längst wurde das Labyrinth stillgelegt – was sich die Namenlosen zunutze gemacht haben! Denn dort unten hat Penelope in den Ferien einen Hinweis auf sie gefunden. Gabriel und seine Freunde folgen der Spur und wollen ins Zentrum des Labyrinths gelangen. Doch das können sie nur im Geheimen. Und sie müssen Hindernisse überwinden, die jede ihrer Gaunerfähigkeiten auf die Probe stellt. Das Unmögliche hat Gabriel zum glück noch nie aufgehalten; schon gar nicht, wenn er dem Rätsel um seine Eltern so näher kommt.

Das zweite Buch der »kriminell« guten Schule-der-Meisterdieb-Reihe, in der Schüler außergewöhnliche Fähigkeiten entwickeln, um eines Tages die Welt in Ordnung zu bringen


  • Erscheinungstag: 21.05.2024
  • Aus der Serie: Meisterdiebe
  • Bandnummer: 2
  • Seitenanzahl: 304
  • Altersempfehlung: 9
  • Format: Hardcover
  • ISBN/Artikelnummer: 9783505151866

Leseprobe

Für Mary Williams, die Frau, die mich zu Gabriels Grandma inspiriert hat – du bist genauso liebevoll und großherzig wie sie. Du hast mir beigebracht, das Gute auf der Welt zu sehen, Grandma, und jetzt versuche ich das Gleiche mit meinen Geschichten.

Es war 01:32 Uhr, und Gabriel Avery brauchte seine Freunde.

Er saß auf dem hässlichsten der vier Wasserspeier, die aus den grauen Steinwänden der Mercier-Villa ragten, und er war allein. Er war schon den ganzen Sommer allein. Er hatte Taschendiebstähle in den umliegenden Dörfern begangen und dann so getan, als hätte er die Brieftaschen oder Handys auf dem Bürgersteig gefunden, um sie zurückzugeben. Er war in Häuser in ganz Torbridge eingestiegen, hatte aber nie etwas gestohlen. Das alles hatte er getan, um sich und seine Fähigkeiten auf die Probe zu stellen. Er hatte sich Bücher eingeprägt, in denen alle erdenklichen Taschenspielertricks standen. Hatte Italienisch gelernt, um sich besser mit Amira unterhalten zu können. Wann immer Grandma und Harry ihn nicht im Café brauchten, hatte er gebüffelt. Denn trotz ihres Versprechens war Penelope Crook nicht gekommen.

Nur ein einziges Mal hatte Gabriel von seiner Freundin gehört, und zwar in Form eines kleinen braunen Päckchens, das eine Woche zuvor in Grandmas Briefkasten gelegen hatte. Es hatte einen USB-Stick aus Perlmutt und eine Nachricht enthalten, die lautete:

Gern geschehen. P. _\_(o≈o)_/_

Mit einem seltsamen kleinen Männchen aus Sonderzeichen daneben.

Dieser USB-Stick war der Grund dafür, dass Gabriel jetzt auf einem hässlichen, moosbewachsenen Albtraumgeschöpf balancierte, umgeben von dichtem Nebel. Die Merciers hatten nach dem Wasserschaden an Weihnachten endlich ihre Sicherheitsvorkehrungen verbessert, sodass Gabriel für seinen Einbruch auf eine mondlose Nacht hatte warten müssen. Der Nebel hatte allerdings nicht nur zur Folge, dass die Überwachungskameras keine Chance hatten, ihn aufzuzeichnen, sondern auch, dass er selbst die eigene Hand nicht vor Augen sehen konnte. Und das wiederum hatte zur Folge, dass sein Aufstieg doppelt so lange dauerte wie geplant.

Gabriel schüttelte den Kopf, um sich wieder zu konzentrieren, und atmete tief ein. Es war Ende August, und die Luft war warm, feucht und stickig. Aber das hatte auch eine gute Seite.

Bestimmt haben sie das Badezimmerfenster im obersten Stock offen gelassen. Er lächelte, wischte sich den Schweiß vom Gesicht und hangelte sich am Wasserspeier entlang.

Die Merciers waren so dumm gewesen, nur die Fenster im ersten und im zweiten Stock mit einer Alarmanlage auszustatten, nicht die im Dachgeschoss. »Wer soll denn da hochklettern?«, hatte Edmond Mercier gesagt, als die Sicherheitsfirma ihn darauf angesprochen hatte. Um Geld zu sparen, hatte das Familienoberhaupt also eine Lücke im System gelassen. Eine Lücke, von der Gabriel, der rein zufällig in der Nähe gewesen war, gehört hatte und die er nun ausnutzen würde.

Von seinem Platz auf dem Wasserspeier spähte er nach oben in Richtung des Fensters, von dem er wusste, dass es dort war – auch wenn er es durch den Nebel nicht sehen konnte. Efeu rankte an der Villa hinauf, dicht und ungepflegt. Amira könnte da in Sekunden hochklettern, dachte Gabriel. Er selbst war schwerer als sie und nicht annähernd so ein begnadeter Kletterer. Trotzdem …

Gabriel streckte die Hand aus, packte einen dicken Ast und zog daran. Er rührte sich nicht.

Gut, dachte Gabriel, der wird halten.

Er begann zu klettern, seine Hände griffen nach oben und umklammerten alles, was dick genug war, um ihn zu tragen. Durch die dichte weiße Wand glitt er in die Höhe, Feuchtigkeit drang in seine Kleidung und legte sich auf sein Gesicht. Jetzt hätte er einen Spruch von Ade und Ede gebrauchen können. Er hätte sogar eine spöttische Bemerkung von Penelope begrüßt. Irgendetwas von seinen Freunden aus Crookhaven, das ihn ablenken würde …

Er erspürte eine Glasscheibe. Gabriel blinzelte. Dann grinste er.

Das Fenster im obersten Stock war einen kleinen Spalt geöffnet. Gabriel steckte einen Finger hinein und schob es langsam und geräuschlos auf. Mit der anderen Hand umklammerte er den Fensterrahmen und spähte in den dunklen Raum.

Leer, dachte er. Jetzt muss ich nur –

In diesem Moment ging die Badezimmertür auf, und grelles Licht durchflutete den Raum. Gabriel duckte sich und klammerte sich an die dicken Efeuranken unter dem Fenster.

»Nein«, zischte eine Stimme im Inneren des Raums. »Nein. Das interessiert mich nicht, Grieves. Mich interessiert, was er gefunden hat … Das wissen Sie noch nicht? Na, dann finden Sie es heraus!«

Etwas Hartes – ein Handy, vermutete Gabriel – wurde auf die Fensterbank geknallt. Edmond Mercier – denn von ihm stammte die Stimme – fluchte und zeterte wild vor sich hin, während er durch den Raum tigerte.

»Ich wusste doch, dass mit dem was nicht stimmt. Wie konnten sie nur so dumm sein? … Ich werde sie schon finden … Die glauben im Ernst, das könnten sie mit mir machen?« Seine Schritte wurden langsamer, und er stieß einen langen Seufzer aus. Einen Moment lang war das Einzige, was Gabriel hörte, das Klopfen seines Herzens. Dann: »Wer hat das Fenster offen gelassen?«

Gabriel erstarrte unter dem Sims, kniff die Augen zu und hielt den Atem an.

Der Boden knarrte, als Mercier einen Schritt näher kam. Und noch einen.

Merciers Handy vibrierte, und Gabriel hätte fast den Halt verloren. Er klammerte sich noch fester an den Efeu. Sein Gesicht war verzerrt vor Anstrengung und nass von Schweiß und Nebel.

Drinnen schnappte sich Mercier sein Handy und knurrte: »Was, Grieves?« Eine Pause. »Jetzt mal langsam, ja? Lassen Sie mich erst mal in mein Büro gehen, bevor Sie mir die Ohren vollquasseln.«

Das Licht ging aus, und im Bad wurde es still.

Gabriel schnappte nach Luft und hob den Kopf. Das Fenster stand nach wie vor einen Spalt offen, und nachdem er einen Moment gewartet hatte, um sicher zu sein, dass Mercier nicht zurückkam, öffnete er es mühelos, schlüpfte hindurch und landete leise auf dem Boden. Er wischte sich das feuchte Gesicht mit dem Ärmel ab und schaute aus dem Fenster. Er konnte keinen Meter weit sehen. In dem Nebel hatte ihn garantiert niemand bemerkt.

Gabriel huschte durch den Raum, drehte den Türknauf und öffnete die Tür wenige Zentimeter. Aus dem zweiten Stock drang ein schwaches Licht herauf. Das war schlecht, denn genau da musste er hin.

Gabriel zog den USB-Stick hervor, den Penelope ihm geschickt hatte. Als er den Inhalt zum ersten Mal durchgesehen hatte, hatte er den Eindruck gehabt, dass es sich um die Finanzgeschäfte einer Firma namens Spire Limited handelte. Nur stimmten die Zahlen nicht. Zumindest behauptete das Penelope. Sie hatte ihm eine kurze, nüchterne Videobotschaft auf dem Stick hinterlassen, in der sie ihm mitteilte, dass ihre Schulleiterin Whisper schon seit Langem gegen Spire Limited ermittelte und dass er, Gabriel, ein besonderes Interesse an dem dritten Ordner mit dem Titel Beitragszahler haben könnte.

Sie hatte recht gehabt, denn der Hauptbeitragszahler dieses vermutlich korrupten Unternehmens war ein Name, den Gabriel nur zu gut kannte: Mercier & Co.

Aber die Beweise für die Betrügereien, die Whisper gefunden hatte, reichten nicht aus, um die Merciers endgültig zu Fall zu bringen. Sie brauchten mehr – weshalb Gabriel sich nun wieder in dem Badezimmer befand, das ihm in der Vergangenheit unzählige Albträume beschert hatte. Die Familie fertigzumachen, die seine Grandma in seiner Abwesenheit auf die Straße gesetzt hatte – tja, das wäre die Kirsche auf dem Sahnehäubchen dieser Gaunertorte.

Wütendes Geflüster drang durch das Haus. Weiß er, dass Whisper ihn gehackt hat?, überlegte Gabriel. Nein, Mercier hatte gesagt: »Ich wusste, dass mit dem was nicht stimmt …«

Auf Zehenspitzen schlich Gabriel zum Geländer und spähte nach unten. Unter der Bürotür drang Licht hervor. Mist. In diesen Raum musste er, und dafür musste er Mercier irgendwie da rausholen.

Gabriel grinste. Zeit für ein Ablenkungsmanöver.

Er schlich sich zurück ins Bad und sah sich nach einem geeigneten Gegenstand um … eine beinahe leere Dose Deodorant. Perfekt. Er stellte sie auf die Fensterbank, bedenklich nahe an den Rand, wo selbst der kleinste Luftzug sie auf den Fliesenboden wehen würde, dann öffnete er das Fenster ein bisschen weiter. Auf Zehenspitzen schlich er durch die Tür, schwang sich auf das stabile Treppengeländer und rutschte langsam in den zweiten Stock hinunter.

Besser als die knarrende Treppe, dachte er und schlich in den Schatten der lebensgroßen Marmorstatue der römischen Göttin Fortuna (Gabriel hatte sie einmal gegoogelt, nachdem er sie so aggressiv geschrubbt hatte, dass ihr kleiner Finger abgebrochen war).

Dort wartete er.

Zehn Minuten vergingen – nichts. Gabriel runzelte die Stirn. Es ist zwar windstill heute Abend, aber ich hätte doch gedacht …

Mit einem Klirren landete die Deo-Dose auf dem Fliesenboden, und das Gemurmel im Büro verstummte abrupt. Dann: »Seien Sie still. Ich habe gerade etwas gehört … ja, im Haus.« Pause. »Nein, nicht den Sicherheitsdienst. Schon vergessen, was die mir letztes Mal für den Einsatz berechnet haben, als es falscher Alarm war? Ich werde selbst hinaufgehen. Und Sie …« Merciers Stimme schwankte. »… bleiben dran.«

Die Bürotür öffnete sich lautlos, ein Paar glänzende Schuhe traten heraus. Gabriel spähte um die Statue herum. Merciers graue Augen blickten in den dritten Stock, und er legte lauschend den Kopf schief. Als er nichts hörte, stieg er langsam die knarrende Treppe hinauf. Kaum war er außer Sichtweite, huschte Gabriel aus seinem Versteck und schlüpfte ins Büro.

Drinnen roch es nach alten Büchern und frischem Schweiß, aber Gabriel konzentrierte sich mehr auf seine Augen als auf seine Nase. Bücherregale auf der einen Seite und der größte Spiegel, den er je gesehen hatte, auf der anderen, sodass Gabriel sich fühlte, als sei er von Büchern umgeben. Ein bisschen wie in der Bibliothek von Crookhaven.

Konzentrier dich, ermahnte er sich und ging zum Computer hinüber, der uralt war. Er war nicht mit dem Internet verbunden, zweifellos um zu verhindern, dass sich Leute wie Whisper und die Brüder Crim einhacken konnten.

Gabriel steckte den USB-Stick in den Computer. Mein Stick erledigt den Rest, hatte Penelope ihm in dem Video versprochen. Und das tat er. Sobald er angeschlossen war, begann der Download.

3 % heruntergeladen.

Gabriel schlich zur Tür und lauschte. Der Holzboden knarrte, als Edmond Mercier sich vorsichtig über den Treppenabsatz bewegte.

Erleichtert, dass er vorerst in Sicherheit war, schaute Gabriel sich im Raum um und speicherte alles in seinem tresorartigen Gehirn ab, falls er je wieder herkommen musste. Keine Fenster. Eine Tür. Dicke Steinwände.

26 %

Ganz rechts im Regal ragte ein abgewetztes Buch etwas hervor. Es sah aus, als könnte man daran ziehen, um eine geheime Kammer zu öffnen. Leider hatte Gabriel keine Zeit, um es auszuprobieren.

48 %

Auf dem Tisch lag ein zweites Handy, aber Gabriel traute sich nicht, es in die Hand zu nehmen.

69 %

Oben war Mercier im Bad angekommen. Gabriel hörte, wie er wieder ins Handy sprach. »Eine verdammte Deo-Dose. Charles, dieser Trottel, muss das Fenster offen gelassen haben. Können wir wieder zur Sache kommen? … Was soll das Geflüster, Grieves? Den Lärm muss sogar die Belegschaft des Friedhofs gehört haben!«

94 %

95 %

Schritte auf der knarrenden Treppe.

97 %

98 %

Komm schon. Gabriel konnte den Blick nicht vom Bildschirm losreißen.

99 %

Das letzte Prozent schien eine Ewigkeit zu dauern.

100 %!

Gabriel zog den Stick heraus und schoss durch den Raum. Er war gerade wieder neben Fortuna in Deckung gegangen, als Mr. Mercier um den Treppenabsatz bog.

»Es ist mir egal, ob Ihre Mutter da begraben ist, Grieves, jetzt machen Sie endlich Ihren Job und besorgen mir Antworten!« Das war das Letzte, was Gabriel hörte, bevor die Bürotür zuklappte.

Achtunddreißig Sekunden später war Gabriel Avery draußen und rannte über den perfekt gepflegten Rasen. Hätte in diesem Moment zufällig jemand aus dem Fenster geschaut, so hätte er kaum mehr als einen schwarzen Fleck gesehen, der im Nebel verschwand.

Noch zwei Tage, dachte Gabriel ein paar Wochen später aufgeregt, während er die Stehtische vor Benson’s Café abwischte.

Genau genommen gehörte der Laden immer noch Harry, aber jetzt hatte Grandma das Sagen. Das war ganz allmählich passiert, angefangen mit kleinen Vorschlägen wie: »Ich frage mich, wie es aussähe, wenn wir die Theke streichen würden … oh, wäre das nicht hübsch, Harry?«, die bald in Befehle umgeschlagen waren: »Morgen lackieren wir die Stühle um, Harry. Warum, fragst du? Warum? Weil kotzgrüne Stühle die Leute nicht gerade dazu bringen, ein Bacon-Sandwich zu kaufen, darum!«

Was Harry gewöhnlich so kommentierte: »Mit wir meint sie dich und mich, nicht wahr, Gabriel? Kommt ja nicht infrage, dass die alte Ziege mal einen Finger krummmacht.«

Gabriel lächelte dann nur und ergriff für niemanden Partei. Trotz ihres ständigen Gezänks waren Grandma und Harry wahnsinnig glücklich miteinander. Und außerdem war Gabriels Kopf in den letzten zwei Wochen hauptsächlich mit seiner Rückkehr zur Schule beschäftigt gewesen.

Nur noch zwei Tage, bis er seine Freunde wiedersehen würde und sich endlich wieder voll und ganz in die Welt von Crookhaven stürzen konnte.

»Hallo, Sir«, rief eine melodische Stimme direkt vor dem Bahnhof. »Sie sehn aus, als hätten Se ’n bisschen Grips im Kopf. Was sagen Se, wolln Se ma versuchen?«

Der schon wieder. Der blasse, erstaunlich gut gekleidete Junge, der sich vor dem Bahnhof niedergelassen hatte, um Passanten zu verschiedenen Spielen herauszufordern. Gabriel hatte ihn den ganzen Sommer über beobachtet. Er war ein oder zwei Jahre jünger als er selbst, hatte aber eine flinke Zunge und ein ausgeprägtes Talent für Taschenspielertricks. Und obwohl er nur um Kleingeld spielte, verlor er nie. Allerdings hatte Gabriel schnell festgestellt, dass es dem Jungen nicht ums Gewinnen ging – er wollte die Leute nur zu sich locken, damit er sie bestehlen konnte, was er so unverfroren tat, dass er eigentlich schnell hätte auffliegen müssen. Trotzdem war er jetzt, einen Monat später, immer noch hier.

Gestern hatte der Junge Kümmelblättchen gespielt. Heute war er zu seiner Lieblingsbeschäftigung zurückgekehrt, dem Becherspiel.

»Sie glauben, dass die Kugel hier drunter is, was, Sir?«, fragte er mit der Selbstsicherheit, die Gabriel an den Tag legen konnte, wenn es nötig war. Der Junge hob den Becher an. »Oh, so’n Pech, Sir! Dabei warn Se sich so sicher, stimmt’s? Er war sich ganz sicher, was?«, fragte er die umstehenden Zuschauer. Alle kicherten, sie wussten wohl, dass sie betrogen wurden, und waren doch froh über die Unterhaltung, die ihnen die Wartezeit verkürzte.

Gabriel grinste und legte den nassen Lappen weg. Soll ich? Sollte er dem Jungen zeigen, dass es auch bei Gaunereien ein gewisses Niveau gab? So wie Caspian es ihm vor einem Jahr gezeigt hatte, als er Gabriel bestohlen hatte.

Gabriel schlenderte zum Tisch des Jungen hinüber. Der Mann, der gerade verloren hatte, wollte sein Glück noch einmal versuchen, und der Junge machte sich über ihn lustig. »Sir, ich denke, es is Zeit, dass Se wen anners verlieren lassen! Na schön, dann eben nochma!«

Natürlich verlor der Mann wieder. Aber so, wie er lächelte, als er ging, sah man es ihm nicht an.

»Wer will als Nächstes?«, rief der Junge, richtete den Kragen seines dunkelgrünen Hemds und fuhr sich mit der Hand durch sein kurzes schwarzes Haar. »Was is mit Ihnen, Miss? Ich wette, Sie –«

»Ich«, sagte Gabriel und trat an den Tisch.

Ganz kurz wurde das Lächeln des Jungen unsicher. Dann hellte sein Gesicht sich wieder auf, und seine dunkelbraunen Augen blitzten schelmisch. »Recht ham Se, Sir. Wie viel soll’s sein? Zehn Pence? Zwanzig?«

»Ein Pfund«, sagte Gabriel und legte die Münze lässig auf den Tisch.

Der Junge blinzelte. Ein gieriges Grinsen überzog sein Gesicht. »Hier spielt einer mit hohen Einsätzen, meine Damen un Herrn!« Die versammelte Menge kicherte erneut. »Ein Pfund also.« Er hob den mittleren Becher, legte die rote Kugel darunter und begann alle drei Becher zu bewegen, erst langsam, dann immer schneller. Schließlich hielt er inne und zeigte wieder sein unbeschwertes Lächeln. »Wo isse jetz, Sir?«

Ohne zu zögern, tippte Gabriel auf den Becher ganz links. »Darf ich?«

»Klar doch.« Der Junge machte eine kleine Verbeugung. »Ich werd ’nen Gentleman wie Sie doch nich verärgern. Hier spieln nich viele mit hohen Einsätzen, das kann ich Ihnen sagen.«

Gabriel hob den Becher an … und da war die rote Kugel.

Die Augen des Jungen huschten zum mittleren Becher, wo sie eigentlich hätte sein sollen, und dann wieder dorthin, wo sie war. Einen Moment herrschte verwirrtes Schweigen, dann lachte der Junge und schob Gabriel fünf 20-Pence-Münzen zu. »Schön, Sir. Sehr schön. Wie wär’s mit dem doppelten Einsatz?«

Gabriel überlegte. »Wie wäre es, wenn wir um alles spielen, was du heute verdient hast?«

Der Junge sah auf den kleinen Haufen neben sich – 9,60 Pfund, wie Gabriel schnell ausrechnete – und lachte wieder, diesmal nervös. »Sir, woher weiß ich, dass Sie –«

»Ich arbeite in dem Café da drüben«, sagte Gabriel und deutete hinter sich. »Ich kann in etwa vierunddreißig Sekunden zehn Pfund besorgen. Wenn du gewinnst, versteht sich.«

Der gierige Blick kehrte zurück, die Augen leuchteten angesichts dieser seltenen Gelegenheit. »Abgemacht.«

Der Junge deckte die rote Kugel wieder zu und begann, die Becher umeinander zu schieben, diesmal ein bisschen langsamer, damit er keinen Fehler machte. Nur hatte er beim ersten Mal gar keinen Fehler gemacht. Er hatte nur zufällig gegen einen Schüler aus Crookhaven, der Schule der Meisterdiebe, gespielt. Als Gabriel dieses Mal den mittleren Becher anhob, lag dort wieder die rote Kugel.

Der Junge starrte ihn verständnislos an. Auch die Menge war still.

»Genau genommen«, sagte Gabriel, beugte sich vor und hob den rechten Becher hoch, »ist hier auch eine.« Und so war es.

Die Menge jubelte, und der Junge legte sprachlos den Kopf schief.

»Ich frage mich, ob hier auch eine ist.« Gabriel hob den Becher ganz links an und enthüllte eine dritte rote Kugel. »Ja, tatsächlich! Und da ist noch etwas.« Unter der roten Kugel, sanft im Sonnenlicht glänzend, lag eine verkohlte 2-Pence-Münze. Gabriels Münze. Das Zeichen der Namenlosen – der skrupellosesten Verbrecherbande der Welt, deren Anführer seine Eltern waren. »Wie kommt die denn dahin? Ich habe sie schon überall gesucht«, sagte Gabriel und ahmte das lässige Lächeln des Jungen nach. Er sammelte seine Münze und den Gewinn des Jungen ein, steckte alles in seine Tasche und drehte sich um. »Vielen Dank, es war mir ein Vergnügen.«

Dann machte er sich auf den Rückweg zum Café.

»Clever, Kumpel«, sagte eine Stimme neben ihm, deren Charme verflogen war. »Du bist also auch ’n Trickbetrüger? Hätt ich nich gedacht.«

»Das denkt niemand.«

»Ich hab dich aber schomma gesehn«, sagte der Junge, immer noch an Gabriels Seite. »Wenn du so gut bist, warum schuftest de dann in einem Café?«

»Ist besser bezahlt als Straßenspiele.«

»Glaub ich kaum«, sagte der Junge. »Du denkst doch wohl nich, dass ich alle meine Einnahmen aufn Tisch leg, wo alle se sehn können. Ich hab heut dreima so viel verdient, wie du mir abgenommen hast.«

Gabriel blieb stehen und drehte sich um. »Ich weiß. Aber ich weiß auch, dass das, was du tust, es nicht wert ist. Du ziehst die falsche Art von Aufmerksamkeit auf dich.«

»Nee. Wenn de jemand zum Lächeln bringst, selbst wenn er sein Geld verliert, wird ihn das nich weiter jucken.« Der Junge zuckte mit den Schultern. »Jedenfalls nich, solang de um Pennys spielst.«

»Und wenn sie wüssten, dass du ihre Taschen plünderst?«

Der Junge grinste. »Das haste gesehen, was?«

»Ja, und ich bin nicht mal annähernd so gut wie die Besten von uns.«

»Uns?«, fragte der Junge. Als Gabriel schwieg, schüttelte er den Kopf und sagte: »Wie auch immer. Hör zu, ich brauch die Kohle zurück.«

Gabriel verschränkte die Arme und sah ihn einen langen Moment an. »Wie alt bist du?«

»Das geht dich nichts an …«

»Meinetwegen.« Gabriel drehte sich um und machte sich auf den Weg zurück zum Café.

»Okay!«, rief der Junge ihm nach. »Ich bin zwölf, okay?«

Gabriel grinste und drehte sich um. »Dann wissen sie wahrscheinlich schon von dir.«

Der Junge runzelte die Stirn. »Hört sich spooky an, Kumpel. Wer soll von mir wissen?«

Gabriel zuckte mit den Schultern. »Wenn du gut genug bist … und aus den richtigen Gründen handelst … wirst du es früh genug erfahren.« Er drehte sich um und ging zurück zum Café. Er hielt nur inne, um ihm zuzurufen: »Das Geld ist in deiner Tasche. Gern geschehen.«

Endlich war der Morgen gekommen, an dem Gabriel nach Crookhaven zurückkehren würde.

Unglaublicherweise hatte Grandma Gabriel den ganzen Sommer kein einziges Mal nach seiner mysteriösen neuen Schule ausgefragt. Solange ihr Enkel glücklich war, war sie zufrieden. Harry hingegen stellte viele Fragen, und jedes Mal wies Grandma ihn mit den Worten zurecht: »Ach, lass ihn in Ruhe, du alter Dummkopf. Wenn er dort glücklich und gut aufgehoben ist, was spielt es dann für eine Rolle, wo sie liegt?«

»Ich hab doch nur gefragt, weil ich wissen will, wohin wir sein Geburtstagsgeschenk schicken sollen«, entgegnete Harry, gekränkt von ihrem barschen Ton.

»Ach so«, sagte Grandma entschuldigend. »Das ist lieb von dir, aber ich bin mir sicher, dass dein wie auch immer von Bacon inspiriertes Geschenk bis Weihnachten warten kann. Nicht wahr, mein lieber Junge?«

Harrys Augenbrauen wanderten nach oben. »Woher weißt du … Hast du etwa wieder in meinen Sachen herumgeschnüffelt? Ich habe dir schon einmal, ach was, schon tausend Mal gesagt –«

»Ich gebe euch die Adresse«, unterbrach Gabriel ihren Streit, woraufhin die beiden ihn verblüfft ansahen. Er nannte ihnen das Postfach, von dem die Gärtner alle paar Tage die Post abholten. »Es ist nicht in der Nähe, damit könnt ihr die Schule also auch nicht ausfindig machen.« Er lächelte und fügte hinzu: »Aber alles, was mit Bacon zu tun hat, ist mir recht.«

»Siehst du!«, sagte Harry triumphierend. »Er ist ein heranwachsender Junge, er braucht alles, was er kriegen kann.«

Grandma versetzte dem großen Mann einen Klaps. »Also gut. Und jetzt ab mit dir. Gabriel muss fertig packen, und du musst das Café aufmachen.«

Harry murmelte etwas überhaupt nicht Freundliches und stapfte die Treppe hinunter.

»Also«, sagte Grandma und stemmte die Hände in die Hüften. »Hast du deinen blauen Mantel eingepackt, den dicken? Und den warmen grauen Pullover, den ich dir zu Weihnachten geschenkt habe? Es soll diesen Winter kalt werden, habe ich gehört. Wegen der Erderwärmung. Mrs. Evans hat gesagt, dann müsste es doch wärmer werden, aber ich habe zu ihr gesagt – du weißt ja, wie ich zu dem Thema stehe, mein Lieber –, nur weil es Erderwärmung heißt, heißt das nicht, dass es einfach nur wärmer wird. Es kommt überall auf der Welt zu Verwüstungen – Tornados, Unwetter, Überschwemmungen, lange Winter. Du musst dich also warm einpacken, Gabriel. Gabriel Avery, hörst du mir zu?«

Gabriel nickte. »Ich muss mich warm einpacken. Wird gemacht, Grandma.« Er schloss den Reißverschluss seines Rucksacks und warf ihn sich über die Schulter.

Grandma schaute auf die Uhr über dem Kühlschrank.

»Gut. Sag mal, wann fährt dein –«

»8:56 Uhr«, wiederholte Gabriel zum gefühlt fünfhundertsten Mal an diesem Morgen.

»Ach ja, richtig.« Grandma biss sich auf die Unterlippe.

»Das sagtest du.«

Gabriel machte zwei Schritte nach vorne und umarmte sie. Er war jetzt einen ganzen Kopf größer als sie, und all die Kletterpartien und Einbrüche in diesem Sommer hatten seine Rücken- und Armmuskeln so trainiert, dass ihm Grandma in seinen Armen klein und zerbrechlich vorkam. Aber sie roch immer noch nach Tee und Karamellbonbons und Potpourri.

Wie sein Lieblingsmensch auf dieser Welt eben roch.

Ein paar Minuten später stieg Gabriel in den 8:56-Uhr-Zug nach Südwesten. Grandma und Harry beobachteten ihn von der Tür des Cafés aus, hielten sich aneinander fest und winkten ihm nach. Gabriel winkte zurück und hörte erst damit auf, als sie kaum mehr als winzige Pünktchen in der Ferne waren.

Als Gabriel kurze Zeit später auf dem Gelände von Crookhaven ankam, wartete Penelope Crook nicht auf ihrem Baum im Wald auf ihn wie beim letzten Mal. Er hatte ihr zwar nicht gesagt, wann er ankommen würde, aber aus irgendeinem Grund war er trotzdem enttäuscht, sie dort nicht mit einem Tannenzapfen in der Hand anzutreffen, den sie ihm unbedingt an den Kopf werfen musste.

Er beschloss vorsichtshalber noch eine Weile zu warten und seinen ersten Blick auf die Schule nach den wochenlangen Ferien zu genießen. Sie sah beinahe magisch aus. Das riesige weiße Hauptgebäude war frisch gestrichen und glänzte im Sonnenschein. Die Dachziegel waren gereinigt worden, und die Efeu-Kaskaden, die von den Balkonen herabhingen, waren zurückgeschnitten worden, sodass kleine gelbe Blumen zwischen dem Grün hervorlugten. Sanfte Sonnenstrahlen glitzerten auf dem Wasser des Sees und den Fenstern der Villa, und es wehte eine warme Brise, wie ein letzter Abschiedsgruß des Sommers.

Ist das schön, wieder hier zu sein.

Gabriel lächelte zwei vorübergehenden Meriten aus dem Verbrecherjahr – der vorletzten Klasse – zu, aber sie wirkten nicht annähernd so glücklich wie er, wieder in Crookhaven zu sein. Wortlos eilten sie den gewundenen Pfad zum See hinunter.

Nach weiteren zehn Minuten schlug auch Gabriel diesen Weg ein. Er war ganz sicher, dass Penelope, wenn sie nicht hier oben auf ihn wartete, am krummen Steg sein würde, an dem sie sich zum ersten Mal begegnet waren, irgendeine neue Sprache lernte und so tat, als wäre sie nicht aufgeregt, ihn wiederzusehen.

Aber dort war sie auch nicht. Dafür war jemand da, von dem Gabriel nicht erwartet hatte, ihn je wiederzusehen – Mickey Jones schwebte in seiner Gondel über den See wie ein braun gebrannter Geist. Es war erst kurz nach zehn Uhr morgens, doch der arme Kerl sah jetzt schon müde aus. Als er Gabriels verwunderten Blick bemerkte, schüttelte er den Kopf und sagte: »Frag nicht, Gabriel.« Er stieß einen langen, dramatischen Seufzer aus und machte die Gondel am Steg fest.

Also fragte Gabriel nicht, aber das hielt den Bootsmann nicht davon ab, ihm ausführlich zu berichten.

»Onkel Tommy hat sich einfach aus dem Staub gemacht, kannst du dir das vorstellen? Hat mich einfach hiergelassen, damit ich den Job noch ein Jahr lang mache. Auf Kreuzfahrt, hat er gesagt. So eine Frechheit!« Er reckte den Hals, um zu sehen, ob noch jemand den Waldweg hinunterkam, und bedeutete Gabriel mit einer müden Geste, an Bord zu gehen. »Fünf Fahrten habe ich heute Morgen schon gemacht. Verrückt, was? Man sollte meinen, dass sie an den Tagen vor Schulbeginn einen Fahrplan aufhängen, damit alle wissen, wann die nächste Überfahrt stattfindet, aber nein – angeblich ist das verdächtig, sollte jemand zufällig vorbeikommen.« Mickey löste den Knoten und stieß die Gondel vom Steg ab. »Wie auch immer, schön dich zu sehen, Gabriel. Wie war dein Sommer?« Bevor Gabriel antworten konnte, fuhr er fort: »Besser als meiner, wette ich. Ich war tagein, tagaus hier draußen in der prallen Sonne. Und als ich versucht habe vernünftig zu sein und mich mit meiner Kapuze zu schützen – ich habe nämlich sehr helle Haut, Gabriel –, hat deine kleine Freundin angefangen mich Sensenmann zu nennen!«

Gabriel musste sich das Lachen verkneifen. Der Gedanke war ihm bisher nicht gekommen, aber Mickey war groß und blass und trug die meiste Zeit Schwarz, sodass er tatsächlich nur eine Kapuze davon entfernt war, der Sensenmann zu sein.

»Penelope?«, fragte Gabriel. »Was hat sie so getrieben?«

Mickey stöhnte. »Unhöflich, fordernd und eingebildet sein, das hat sie getrieben.«

Diesmal lachte Gabriel laut auf. »Also alles wie immer?«

»Nee«, sagte Mickey und stieß sein Ruder tief ins ruhige Wasser. »Anders. Sie läuft immer noch ihre Runden, macht dieses HIIT-Zeug und so weiter, aber sie ist immer schlecht gelaunt. Als wäre sie … ich weiß auch nicht. Eine Löwin im Käfig oder so.«

Gabriel legte den Kopf schief. Ist sie sauer auf mich, Ade, Ede und Amira, weil wir sie nicht besucht haben?

Als er auf der Insel ausstieg, bedankte sich Gabriel bei Mickey, aber der Bootsführer stöhnte bereits beim Anblick der kleinen Gruppe von Meriten, die sich am anderen Ufer versammelt hatte und auf seine Rückkehr wartete.

Gabriel marschierte durch den Wald, bog an der Hauptvilla rechts ab und drehte eine Runde um das Gelände, wobei er nur innehielt, um durch die Fenster der kleinen umliegenden Gebäude zu spähen. Alle bis auf eines waren leer. In der Krimnastikhalle hatte Friedrich einen Parcours aufgebaut, der so schwierig aussah, dass Gabriel keinen klaren Weg zum Ende erkennen konnte. Sie selbst stand an der Ziellinie, schweißtriefend und irgendwie noch kompakter als im letzten Schuljahr. Als Gabriel sich abwandte, hörte er, wie sie jemandem auf der anderen Seite des Raums zurief: »Und jetzt du!«

Schließlich kam er zur Fälscherwerkstatt. Als er sich näherte, trat ein Mädchen seiner Größe heraus, dessen Haar mit einem vertrauten violetten Band zusammengebunden war.

»Penelope!«, rief er.

Penelope blieb stehen und sah ihn mit großen Augen an. Sie schaute über beide Schultern und wich langsam zurück. »Gabriel Avery. Hallo. Ich … ähm, habe einen Termin … in der Bibliothek. Und zwar genau … jetzt. Die neue Bibliothekarin – die sehr genau überprüft wurde, was dich sicher freut – hilft mir, Augenzeugenberichte über den Raub von Jefren Creek zu finden, deshalb, äh … mach ich mich mal lieber auf den Weg.«

Gabriel runzelte die Stirn. »Es gibt keine Augenzeugenberichte über …« Aber da war sie schon weg. »Was war das denn?«, murmelte er vor sich hin.

Gabriel stand da und starrte ins Leere, bis dicht neben seinem Ohr ein Summen ertönte. Er wedelte mit der Hand, aber Sekunden später war es wieder da, nur dass diesmal Worte inmitten des Gesummes zu hören waren: »Mach dir nichts draus, Gabe. Uns hat sie auch so behandelt, und jeder weiß doch, dass Crook uns lieber mag als dich.«

Gabriel drehte sich um und sah ein silbernes Objekt von der Größe einer Erbse neben sich schweben. Dahinter kamen die Brüder Crim zwischen den Bäumen hervor. Ade war fast unverändert, aber Edes Haare waren länger und wilder geworden. Beide strahlten, als sie auf ihn zugingen. Ohne auch nur ein »Na, wie war dein Sommer?« platzten die Zwillinge heraus:

»Weißt du noch, wie wir letztes Jahr mit dem Jollof-Reis abgegangen sind?«, fragte Ede.

»Tja, dieses Jahr machen wir etwas Größeres«, verkündete Ade.

»Viel größer. So läuft das bei Entrepreneuren«, fügte Ede hinzu.

Ade nickte. »Das Wort hat er letzte Woche gelernt, Gabe, und jetzt sagt er es pausenlos

»Aber genau das sind wir, Ad, Mann. Pioniere. Sieh dir nur unsere neueste Erfindung an.«

Ade deutete auf die schwebende silberne Kugel. »Das ist Mücke. Sie heißt so, weil sie sich so anhört. Daran arbeiten wir übrigens noch. Sie kann sich schlecht an jemanden heranpirschen, wenn sie wie eine ganze Mückenhorde summt. Wir wissen zwar noch nicht genau, wie wir damit Geld verdienen können, aber –«

»Es heißt nicht Mückenhorde, Mann. Ich glaube, es heißt Mückenschwarm, oder vielleicht Mückenplage? Hast du dazu irgendwas in deinem Gedächtnis, Gabe? He, warum siehst du uns so an?«

Gabriel seufzte. »Ich bin einfach nur froh, euch zu sehen.«

Die Zwillinge wechselten einen Blick und zuckten mit den Schultern. Ade sagte: »Logisch. Wir sind ja auch kraaass

Ede nickte. »Ich wünschte, die Legatin würde sich auch freuen. Was hat sie eigentlich?«

Gabriel schaute über die Schulter in die Richtung, in der Penelope verschwunden war. »Das müssen wir herausfinden.«

Die Begrüßungszeremonie der neuen Strolche am nächsten Tag war für Gabriel deutlich entspannter als im letzten Jahr, da er nun ein Langfinger war und sich keine Sorgen mehr machen musste, von der ganzen Schule beobachtet zu werden.

Anders als im letzten Jahr, als es eine bitterkalte, stille und vom Vollmond erhellte Nacht gewesen war, war diese Nacht warm, dunkel und nass. Der Regen, der auf die Schirme der versammelten Menschenmenge prasselte, übertönte jedes Geräusch. Niemand wagte zu sprechen, alle beobachteten aufmerksam das andere Ufer und warteten darauf, dass der verräterische orangefarbene Schein zwischen den Bäumen auftauchte.

Gabriel hielt jedoch nach etwas anderem Ausschau. Links von ihm stand Penelope abseits der anderen Langfinger, ganz in Schwarz gekleidet, als wäre sie auf einer Beerdigung, unter einem riesigen schwarzen Schirm, der ihr Gesicht verdeckte. Er hatte mehrmals versucht, ihren Blick einzufangen, aber sie ging ihm eindeutig aus dem Weg. Den Zwillingen auch, und sie waren trotz ihrer lockeren Sprüche sichtlich gekränkt. Wie er hatten sie immer wieder zu Penelope hingeschielt, seit sie aufgetaucht war. Jetzt aber standen sie still neben ihm, starrten auf das gegenüberliegende Ufer und waren ungewohnt schweigsam.

Gabriel sah wieder zu Penelope hinüber. Warum ist sie nur so …

»Hallo!«, ertönte eine vertraute Stimme hinter ihm und unterbrach seine Gedanken. Ein leuchtend blauer Regenschirm erschien an seiner Seite. Seine Trägerin lugte darunter hervor, und wohlbekannte grüne Augen blitzten ihn an. »Ich bin froh, dass du wohlbehalten zurück bist.« Ihre Worte schienen trotz des strömenden Regens nachzuhallen.

Gabriel erwiderte ihr Lächeln. »Amira! Ich habe vorhin überall nach dir gesucht, aber ich konnte dich nicht finden. Wie schön, dich zu sehen.«

»Voll«, bestätigte Ade. »Echt schön, Eichhörnchen. Wir haben uns schon gefragt, wo du steckst.«

»Ich dachte, du wärst auf dem Mount Everest oder so«, kicherte Ede und boxte die Faust gegen ihre.

»Ich habe eure neue Erfindung gestern vorbeifliegen sehen«, erwiderte sie und musterte Mücke, die jetzt auf Ades Schulter ruhte. »Sehr hübsch.«

»Danke, Amira«, sagte Ade und warf Gabriel einen Blick zu. »Gut zu wissen, dass wenigstens eine unserer Freundinnen unsere Erfindung zu schätzen weiß.«

Gabriel verdrehte die Augen. Dann wurde ihm plötzlich etwas klar. »Amira, dein Englisch!«

»Ha!«, sagte Ede. »Sie lobst du … aber hey, du hast recht. Dein Englisch ist krass! Was ist passiert?«

Sie standen so dicht beieinander, dass sie, als Amira mit den Schultern zuckte, alle mitzuckten. »Ich bin eben clever.« Sie schenkte ihnen ein verschmitztes Lächeln, das alle zum Lachen brachte.

Ede sagte: »Also, ich mochte dich ja schon vorher, weil du quasi fliegen kannst, aber eine Mira, die Witze macht? Das ist next Level!«

In Gabriels Kopf fiel bereits der nächste Groschen. »Du hast gestern mit Friedrich in der Krimnastik-Halle trainiert, oder?«

Amira nickte. »Ich bin extra ein paar Tage früher angereist. Sie ist dieses Jahr meine Mentorin.«

»Ich habe gehört, dass sie dich förmlich angefleht hat, deine Mentorin zu werden«, sagte Ade. »Auf diese versteinerte, einsilbige Art …«

»Einsilbig?« Ede schnaubte. »Kein Vergleich zu Penelope Crook!«

Ade ignorierte seinen Bruder. »… die nur Friedrich beherrscht.« Ades Gesicht wurde ausdruckslos, er ahmte perfekt die Miene nach, die Friedrich im Unterricht zur Schau stellte, und sah Amira an. »Du. Ich. Trainieren?«

Amira prustete los, dann zuckte sie zusammen und ließ vorsichtig den Arm kreisen, der nicht den Schirm hielt. »Mir tut alles weh. Aber Penelope sagt, das ist normal.«

Gabriel und die Zwillinge sahen sich an. Gabriel fragte: »Du hast mit ihr gesprochen?«

Amira nickte. »Ja, natürlich. Jeden Tag. Sie hat mit mir Englisch gelernt. Aber einige Wörter, die sie benutzt …«

»Stammen aus dem Wortschatz einer Siebzigjährigen, das ist uns bekannt«, schloss Ede. »Aber warum spricht sie mit dir und nicht mit uns

Amira zog verwirrt die Augenbrauen hoch.

»Sie spricht nicht mit uns«, erklärte Gabriel. »Was, wenn … was, wenn es daran liegt, was letztes Jahr passiert ist? Dass wir Meriten uns mit euch Legaten zusammengetan haben, um den Einbruch zu gewinnen? Vielleicht bereut sie es.«

»Moment mal«, sagte Ade über eine besonders heftige Windbö hinweg. »Sie wollte sich mit uns zusammentun. Sie hat förmlich darum gebettelt. Und dieses Jahr wollten wir zusammen nach weiteren Informationen über die Namenlosen suchen, oder etwa nicht? Also was ist auf einmal mit ihr los?«

Gabriel nickte. »Ich verstehe es auch nicht.« Während er sprach, wanderte sein Blick zu Caspian Crook hinüber, der etwas erhöht über dem Ufer stand, flankiert von einigen Lehrerinnen und Lehrern. In seinen grauen Augen hatte sich seit dem letzten Jahr etwas verändert. Die Wärme, die Gabriel vor Monaten darin gesehen hatte, als der Co-Direktor ihm eine Führung durch Crookhaven gegeben hatte, war verschwunden. Die Erkenntnis, dass er fast ein ganzes Jahr lang unwissentlich eine Anführerin der Namenlosen direkt vor der Nase gehabt hatte, hatte Caspian schwer getroffen. Er hatte den Anschein der Unbesiegbarkeit verloren. Ganz zu schweigen davon, dass Gabriel und seine Freunde ihn bei dem Einbruch bloßgestellt hatten.

Das stimmte Gabriel nachdenklich. Versuchte Caspian, seine Macht wiederzuerlangen, indem er die einzige Person kontrollierte, die er kontrollieren konnte?

»Vielleicht«, sagte Gabriel, »vielleicht ist es ja gar nicht Penelope, die nicht mit uns reden will.« Er nickte diskret in Caspians Richtung.

»Du glaubst, Crook hat es ihr verboten?«, fragte Ade.

Ede packte seinen Bruder am Arm. »Ad, sind wir etwa ein … schlechter Einfluss?«

»Wir?« Ade schnaubte. »Natürlich sind wir ein schlechter Einfluss, Ed! Der Sinn dieser Schule ist es, Unrecht zu tun, um die Welt in Ordnung zu bringen. Sie lehren uns hier buchstäblich, ein schlechter Umgang zu sein.« Er schnalzte mit der Zunge. »Kein Wunder, dass Whisper dich für den Dummen von uns beiden hält.«

»Was? Das hat sie nicht gesagt!«

Ade verbarg sein Grinsen, sichtlich erfreut, seinen Bruder geärgert zu haben. Aber Gabriels Gedanken rasten, er hatte eine Idee. »Ist Mücke wasserdicht?«

»Das ist, als würdest du fragen: Ist Mr. Sisman verrückter als jeder andere Mensch auf dieser Welt? Logisch, Alter«, sagte Ade.

»Ich wünschte, du würdest aufhören, an uns zu zweifeln, Gabe«, sagte Ede und schnalzte mit der Zunge. »Langsam wird es beleidigend.«

»Ist ja gut«, sagte Gabriel schnell. »Nächste Frage: Kann Mücke auf der Schulter einer Person landen, ohne dass sie es merkt?«

Die Zwillinge wechselten einen Blick und waren plötzlich ein ganzes Stück weniger zuversichtlich. Dann sagte Ede mit zusammengebissenen Zähnen: »Wenn es sich um einen Innenraum handelt, über eine kurze Distanz, dann ja, ich denke schon.«

»Und was ist hier draußen, über eine mittlere Distanz, im strömenden Regen?«, fragte Gabriel. »Zum Beispiel jetzt gleich?«

Ede zog eine Augenbraue hoch. »Hast du deshalb gefragt, ob sie wasserdicht ist?«

Gabriel nickte. »Geht das?«

Ade lachte. »Das Problem ist nicht, ob sie wasserdicht ist, Gabe, sondern dass Mücke nicht größer als eine Murmel ist und die Regentropfen sie umhauen würden. Nee, das wird nix.«

»Ich habe eine Idee. Setz sie auf meine Schulter«, sagte Amira zu Ede.

Ede blinzelte, dann gehorchte er. »Und jetzt?«

»Jetzt warten wir«, sagte sie und zeigte mit dem Finger. »Auf sie.«

Auf der anderen Seite des Sees schwankte Fackellicht durch den Wald, gefolgt von einer Prozession kastanienbrauner Regenschirme. Der Regen peitschte weiter – auf das grasbewachsene Ufer, das plätschernde Wasser und die versammelte Menge. Ihr Empfang im letzten Jahr war magisch gewesen, eine unvergessliche Zeremonie, bei der Gabriel Gänsehaut bekommen hatte. Aber das hier war lausig. Gabriel hatte Mitleid mit den Strolchen, die im strömenden Regen von Crookhaven und den stirnrunzelnden Gesichtern ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler in Empfang genommen wurden, die die Sekunden zählten, bis sie sich wieder ins Trockene verziehen konnten.

Ein Knistern ertönte, und Caspian Crook hob ein Walkie-Talkie an den Mund. »Sind alle anwesend und wohlauf, Schulleiterin Whisper?«

»Entschuldige die Verspätung, Crook«, antwortete eine vertraute Stimme. »Ein oberschlauer Strolch ist an der falschen Haltestelle ausgestiegen. Wie auch immer, lass die Brücke hoch, ja? Dieses Wetter ruiniert meine Frisur.«

Caspian lächelte und ließ die Brücke hoch.

Gabriel lehnte sich zur Seite und flüsterte: »Hoffentlich rutscht keiner aus.« Er wollte nach Amira sehen, aber sie war weg. Gabriel warf einen Blick über die Schulter und entdeckte sie dicht neben Penelope. Er stupste Ede an und zeigte mit dem Kopf in Richtung der Mädchen.

»Ha!«, sagte Ede. »Wie kann sie sich so lautlos bewegen? Sind wir sicher, dass sie kein Geist ist?«

»Das ist deine Chance, Ed«, sagte Ade. »Für Mücke ist es jetzt nur noch ein kleines Stück von Amira zu Crook.«

Ede zog eine Fernsteuerung aus der Jacke. Er blinzelte im Regen, tippte auf eine Taste und manövrierte mit dem Joystick. Sekunden später grinste er. »Touchdown! Wer möchte zuerst mit ihr sprechen?«

Gabriel nahm die Fernbedienung und raunte in das Mikrofon: »Penelope, kannst du mich hören?«

Penelope zuckte zusammen und sah sich um. Gabriel hörte ihre Stimme über den Ohrhörer. »Gabriel? Wo bist du?«

»Die Zwillinge haben eine Miniaturausgabe von Schleichi erschaffen, das Ding sitzt auf deiner Schulter. Schau weiter nach vorne.«

»Erstens ist es keine Miniaturausgabe von Schleichi –«, korrigierte Ede.

»Sie ruhe in Frieden«, warf Ade ein.

»Ruhe in Frieden«, wiederholte Ede. »Und zweitens: Mücke ist eine Sie und kein Ding

Gabriel ignorierte sie. »Penelope, wir müssen uns treffen. Ich habe den USB-Stick für dich. Kannst du dich irgendwann wegschleichen?«

Penelope starrte geradeaus auf die Strolche, die die Brücke überquerten, wobei jeder von ihnen beim Gehen vorsichtig einen leuchtenden Kieselstein aufhob. Einen langen Moment sah es so aus, als hätte sie nicht die Absicht, zu antworten. Alle vier beobachteten sie angespannt.

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