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Claude allein zu Haus

hier erhältlich:

Ein einsames Bellen hallt durch den winterlichen Maple Drive. Die französische Bulldogge Claude kann es nicht glauben, dass seine Familie ihn einfach vergessen hat. Dabei ist in ein paar Tagen Weihnachten! Fähre, Frankreich, Château waren die letzten Worte, die seine Ohren erlauschen konnten. Auf der Suche nach einem Zuhause stolpert Claude in das Leben von Holly, ihrer Katze Perdita und dem Postboten Jack. Für die vier beginnt ein Weihnachtsabenteuer, das Herzen zum Schmelzen und Hundeaugen zum Strahlen bringt.


  • Erscheinungstag: 09.10.2017
  • Seitenanzahl: 368
  • ISBN/Artikelnummer: 9783955767433
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Sam
Du bist für mich wie das schönste Weihnachtsfest überhaupt.

CLAUDE

Von der Kiste auf dem Tisch wehte ein wirklich interessanter Duft zu mir herüber. Wahrscheinlich steckten viele leckere Sachen darin.

Schnuppernd hob ich die Nase, während ich mit dem Hinterteil über den Fliesenboden am Küchentisch vorbeirutschte und dabei heftig mit dem Stummelschwanz wedelte. Zwar war ich ein ausgesprochen gut aussehendes Exemplar von einem Hund, aber leider nicht besonders groß. Und egal, wie sehr ich mich auch abmühte, ich konnte die Kiste nicht aus der Nähe begutachten und sie mir erst recht nicht schnappen.

Ich musterte die Stühle. Ein Hund mit athletischerer Statur hätte vielleicht versucht, darauf zu springen, aber meine Beine waren einfach zu kurz dafür. Der Gedanke, dass ich bei dem Versuch flach auf der Schnauze landen könnte, war demütigend und gefiel mir kein bisschen.

Der interessante Duft gefiel mir hingegen sehr. Es roch köstlich.

Ich hatte mich gerade auf meine Hinterbeine gesetzt, um meine Möglichkeiten durchzugehen, als mich ein Fuß in die Seite traf. Voller Empörung jaulte ich auf und wich zurück.

„Oh!“, rief Daisy, einer meiner Menschen, und stolperte. Der Geschenketurm fiel ihr aus den Händen, und die Päckchen purzelten über den Tisch. Und auf den Boden. Und auf einen Stuhl. Überall sah ich rotes und golden glänzendes Papier. Glitzer rieselte herab, funkelnd und schimmernd, aber nicht besonders schmackhaft. Das hatte ich bereits geprüft.

„Claude! Was machst du denn hier? Du hast wirklich ein Gespür dafür, dir immer den ungünstigsten Platz auszusuchen. Oliver!“

Daisy wirkte sauer. Das kam nicht oft vor, deshalb spitzte ich meine Ohren besonders aufmerksam. Gewöhnlich klang Daisy fröhlich, lachte viel und sah so aus, als ob sie mich gleich mit einem Leckerli belohnen würde, weil ich nicht auf ihre neuen Schuhe gesabbert hatte. Das war mir letzte Woche versehentlich passiert.

Heute jedoch schien Daisy nicht in der Stimmung zu sein, mir ein Leckerli – oder gar etwas von den interessant duftenden Sachen in der Kiste – zuzustecken.

Das konnte nichts Gutes bedeuten.

Oliver, Daisys Mann, tauchte im Türrahmen auf. Er hatte offenbar genauso schlechte Laune wie Daisy. „Was ist denn?“

„Bringst du Claude bitte in seine Box im Auto. Er ist eine echte Nervensäge.“ Pah, die Person, die mich in der Küche versehentlich getreten und überall Geschenke und Glitzer verteilt hatte, war ganz sicher eine viel größere Nervensäge, fand ich. Mit einem lauten Bellen tat ich meine Verärgerung kund, aber Daisy warf mir nur einen finsteren Blick zu. „Außerdem ist dann wenigstens einer abreisefertig, und es gibt ein Hindernis weniger, über das ich in diesem verflixten Haus stolpern kann.“

Ich mag meine Box nicht. Für eine Weile kann ich es zwar darin aushalten, aber sie ist nicht annähernd so gemütlich wie mein Körbchen.

Ich schenkte Oliver meinen treuherzigsten Blick und ließ die Ohren hängen, in der Hoffnung, dass er Mitleid mit mir bekommen würde.

„Schon? Sollten wir damit nicht warten, bis wir alle fertig sind?“ Braves Herrchen.

„Wir sind fertig!“, blaffte Daisy. Oliver betrachtete die verstreuten Geschenke mit vielsagendem Blick. „Oder wir wären es zumindest, wenn ich nicht alles allein einpacken müsste“, ergänzte Daisy.

„Ich bringe Claude ins Auto“, sagte er schnell. Sein Selbstschutzmechanismus hatte offenbar über sein Mitleid gesiegt. Das konnte ich ihm nicht einmal verdenken. Und draußen war ich zumindest vor Daisy und ihrer üblen Laune sicher.

Sehnlichst fieberte ich dem Tag entgegen, an dem dieses ganze Weihnachtschaos vorüber sein würde und Daisy wieder zu dem liebenswerten Frauchen werden würde, das ich kannte. Am besten ein liebenswertes Frauchen, das mich mit Leckerlis fütterte. Sosehr ich Weihnachten auch mochte – mit all den Geschenken und interessanten Gerüchen und Lichtern am Baum –, ich fand es jedes Jahr furchtbar, dass Daisy kurz vor dem Fest immer so grummelig wurde.

„Gut. Und danach holst du den Korb mit den Weihnachtsdelikatessen.“ Daisy deutete auf die interessant riechende Kiste. „Und vergiss das Geschenk für die Zwillinge nicht! Ich bringe die restlichen Geschenke raus, und anschließend trommeln wir die Kinder zusammen und verfrachten sie ebenfalls ins Auto.“

„Wenn dann überhaupt noch Platz für sie ist“, murmelte Oliver.

Ich hoffte inständig, dass er nur einen Scherz machte. Als Daisy die Kinder erwähnte, hatte ich die Ohren gespitzt. Ich liebte Daisy und Oliver zwar sehr, aber mit den Kleinen konnte man viel mehr Spaß haben. Vor allem mit Jay, der mit seinen sechs Jahren endlich nicht mehr auf mir reiten wollte und ein paar wirklich tolle Spiele kannte. Die Zwillinge waren noch zu klein, um mit mir toben zu können, aber ich freute mich darauf, sie aufwachsen zu sehen. Ich hoffte, dass ich mit ihnen später genauso viel erleben würde wie mit Jay. Dann gab es noch Bella. Sie war älter als Jay, aber manchmal ging sie mit mir spazieren – gewöhnlich dann, wenn sie Abstand von ihren Eltern brauchte. Gelegentlich redete sie auch mit mir, wenn wir zusammengerollt auf dem Sofa lagen und sie sich unbeobachtet fühlte. Ich glaube, es gefällt ihr, dass ich ihr nicht widersprechen, sondern nur zurückbellen kann.

Trotz allem muss ich zugeben, dass Jay mein Lieblingsmensch ist.

„Komm mit, Claude, alter Junge.“ Oliver hob mich hoch und steuerte die Küchentür an. Als wir am Wohnzimmer vorbeikamen, sah ich die glitzernden Lichter am Weihnachtsbaum und hörte leise das Lieblingsspielzeug der Zwillinge, das immer wieder dieselben Geräusche von sich gab. Vermutlich spielte Jay damit. Mit ihren fünf Monaten interessierten sich die Kleinen noch nicht sonderlich für ihre Spielsachen. Jay dagegen fand sie toll. Ich hab mal an dem ein oder anderen geknabbert, aber Oliver und Daisy haben es mir immer sofort wieder weggenommen.

Was mir nichts ausmachte. So gut schmeckte das Plastikding dann doch nicht.

Draußen war es sehr viel kälter als in der Küche. Die Haustür fiel hinter uns zu, und der Kranz aus Blättern und Beeren, den Daisy zur Dekoration aufgehängt hatte, schlug mit Schwung gegen das Holz. Unser Auto parkte mit weit geöffneten Wagentüren und aufgerissener Kofferraumklappe in der Einfahrt. Vor einer Weile schon war mir aufgefallen, dass wir ein viel größeres Auto besaßen als die meisten anderen in der Straße. Vielleicht deshalb, weil in unserem Haus mehr Leute wohnten als in den anderen Häusern im Maple Drive.

Meine Box stand im Kofferraum, vor mir waren die Sitze von Jay und Bella, die sich wiederum hinter der Bank mit den Kindersitzen befanden, und die waren hinter Oliver und Daisys Plätzen. Meine rote Decke lag auf dem Boden der Box ausgebreitet und darauf entdeckte ich ein paar Kauspielzeuge, mit denen ich mir die Zeit vertreiben konnte. Ich fragte mich, wie weit wir heute wohl fahren würden.

Schließlich war es Weihnachten, und das bedeutete gewöhnlich, dass wir ein paar Tage in Omas und Opas Haus am Meer verbringen würden. Es gefiel mir dort – der Sand fühlte sich komisch unter meinen Pfoten an, und es machte großen Spaß, den Wellen hinterherzujagen, auch wenn sie sich nie fangen lassen wollten. Doch dieses Mal schien irgendetwas anders zu sein. Zunächst einmal fehlte jede Spur von guter Laune. Und manche Sachen, die ich bei Daisys Reisevorbereitungen aufgeschnappt hatte, ergaben keinen Sinn. Fähre. Frankreich. Château. Die Wörter hatte ich noch nie in meinem Leben gehört.

Aber sie sprach auch von Oma und Opa, das war also schon mal ein gutes Zeichen. Ohne die beiden wäre es kein richtiges Weihnachtsfest. Sie hatten immer Leckerlis für mich, und ihre Hündin Petal teilte gern ihre Spielzeuge mit mir. Und ihre Menschen.

Ich hingegen teilte meine Menschen überhaupt nicht gern, aber Jay hatte mich sowieso lieber als jeden anderen Hund, daher hatte ich nichts zu befürchten.

Oliver schloss die Tür meiner Box. Ich machte es mir gemütlich und wartete darauf, dass meine Familie zu mir ins Auto stieg. Vorzugsweise mit ein paar Snacks.

Ich musste mich nicht lang gedulden.

„Claude!“ Jay flüsterte meinen Namen in einer Lautstärke, in der die meisten Menschen etwas riefen. Beim Klang seiner Stimme sprang ich auf. „Tut mir leid, dass du in deiner Box festsitzt. Ich hab dir was mitgebracht, damit dir auf der Fahrt nicht langweilig wird.“ Er fummelte an der Tür herum und schob mir ein Kuscheltier zu. Ich schnaubte meinen Dank. Es war nicht irgendein Kuscheltier, sondern der besondere Plüschhund, der wie eine Französische Bulldogge aussah. Oma und Opa hatten es für Jay gekauft, weil sie fanden, dass es mir bis aufs Haar glich.

Ich sah das anders. Mein schwarz-weißes Fell glänzte viel eleganter als das des Stoffhundes.

„Jay!“, rief Daisy aus dem Haus. Ihre Stimme klang streng und ungeduldig. Der kleine Junge riss erschrocken die Augen auf.

„Bis später, Claude!“ Er schlug die Tür zu und war weg, bevor ihm auffallen konnte, dass das Schloss nicht richtig eingerastet war.

Interessant.

Aber eigentlich wollte ich nirgendwohin. Daher legte ich mich wieder auf meine Decke und schaute in Gesellschaft des Kuscheltiers zu, wie die Familie kam und ging und Kisten und Koffer ins Auto lud. Ein voluminöser Behälter wurde auf dem Dach befestigt. Oliver trat aus dem Haus und kämpfte mit einer riesigen Geschenkschachtel, die größer war als meine Box, und stopfte sie in den Kofferraum neben mich. Auf dem Geschenkpapier waren Bilder von rot-weiß gestreiften Zuckerstangen und goldfarbenen Gebäckmännchen, die köstlich aussahen.

„Das ist nichts zum Fressen“, erinnerte mich Oliver. „Wenn du das erste Weihnachtsgeschenk der Zwillinge zerrupfst, ist die Hölle los.“ Er ging ins Haus zurück, um weiteres Gepäck zu holen.

Als ob ich so blöd wäre. Außerdem hatte ich das schon im vergangenen Monat an Jays Geburtstag ausprobiert. Geschenkpapier schmeckte nur minimal besser als Glitzer.

Jedes Mal, wenn die Tür aufging, hörte man das Geschrei der Zwillinge. Unvermittelt war ich froh, dass ich im Auto warten musste, auch wenn mir noch niemand einen Vormittagssnack zugesteckt hatte.

Oliver balancierte die wunderbar duftende Kiste einen Augenblick neben meiner Box, stellte sie dann aber auf den Rücksitz. „Sicher ist sicher“, sagte er und schaute mich bedeutungsvoll an.

Ich schnaubte und drehte ihm das Hinterteil zu. Er musste ja nun wirklich nicht gleich beleidigend werden.

Und dann entdeckte ich noch jemanden vor dem Auto. Jemanden, der eindeutig nicht zu meiner Familie gehörte.

Perdita. Die lächerlich flauschige, unnötig hochnäsige Katze aus Nummer zwölf auf der anderen Straßenseite.

Neugierig reckte sie die Nase empor und schnupperte.

„Was riecht hier so fantastisch?“, miaute sie und schlenderte näher. „Oh, tut mir leid. Das kannst du ja nicht wissen. Du sitzt ja in dieser Box fest.“

Als ob sie nie in einer Box zum Tierarzt fahren müsste. Katzen. Sie halten sich immer für was Besseres.

„Ich weiß immerhin, dass es nicht dir gehört, ganz egal, was es ist“, knurrte ich.

Perdita sprang in den Kofferraum und kletterte vorsichtig über den Gepäck- und Geschenkeberg, um den Korb auf dem Rücksitz zu begutachten. „Riecht nach Fisch. Vielleicht Räucherlachs …“ Sie tastete mit einer Pfote auf der aromatischen Kiste herum.

Eine Pfote zu viel für mich.

Ohne Vorwarnung stieß ich die Boxentür auf und sprang bellend hinaus, worauf Perdita erschrocken aufkreischte. Sie machte einen Satz, weg von der Kiste, und schoss über das Weihnachtsgeschenk der Zwillinge hinweg aus dem Auto. Ich stieß ein zufriedenes Brummen aus, und sie fauchte mich an.

Sie wagte es tatsächlich, mich anzufauchen.

Tja. Auch ein Hund hat seinen Stolz. Das konnte ich ihr auf keinen Fall durchgehen lassen.

Ich landete hinter ihr auf dem Bürgersteig und jagte sie über die Straße, raus aus meinem Revier. Weg von meiner Familie.

Wir brauchten hier keine doofen Katzen.

Ich hatte nicht die Absicht, sie einzuholen, und das war eine gute Entscheidung, denn Perdita flog wie der Blitz über die Straße und machte einen Satz über den Zaun von Nummer zwölf. Trotzdem hatte ich ihr meinen Standpunkt wohl unmissverständlich klargemacht, dachte ich zufrieden.

Etwas langsamer trabte ich nun vor mich hin, und als ich an einem gemütlich aussehenden Fleckchen Gras im Schutz einer immergrünen Hecke vorbeikam, beschloss ich, mir eine kleine Pause zu gönnen, um mich von dem Sprint zu erholen. Rennen gehört nicht zu meinen Lieblingsbeschäftigungen. Auch Laufen ist mir eigentlich schon zu anstrengend. Ich stelle mir gern vor, dass ich dafür geschaffen bin, die Füße eines Menschen vor einem Kaminfeuer zu wärmen. Und fürs Fressen natürlich. Leicht keuchend schnappte ich nach Luft. Ich wollte mich nur einen Moment hinlegen, um mich auszuruhen. Dann würde ich zum Auto zurücktrotten. Schließlich wollte ich unbedingt herausfinden, was Fähre, Frankreich und Château bedeuteten.

Plötzlich hörte ich das Zuschlagen von Autotüren und das unverkennbare Geräusch eines startenden Motors. Und das war der Augenblick, in dem mein Abenteuer erst richtig begann.

DAISY

„Gut. Haben wir alles?“ Daisy schnallte Lara im Kindersitz fest und ignorierte dabei das empörte Gemecker ihrer kleinen Tochter, das die Weihnachtsmusik aus der Stereoanlage im Auto übertönte. Oliver kümmerte sich auf der anderen Seite um Luca. Die beiden waren noch so klein und sträubten sich schon gegen alles, was Daisy ihnen beibringen wollte. Wenn sie sich nicht irrte, hatte es bei Bella und Jay länger gedauert, bis sie diesen trotzigen Widerstand an den Tag gelegt hatten, oder? Vielleicht lag das daran, dass sie dieses Mal zwei Babys gleichzeitig versorgen musste. Chaos im Doppelpack nannte Oliver die Zwillinge, und das nicht ohne Grund.

In der Sitzreihe dahinter versuchte Jay, sich selbst auf seinem Sitzkissen anzuschnallen. Bella verdrehte die Augen so verächtlich, wie das nur eine Vierzehnjährige konnte, nahm ihm den Gurt aus der Hand und steckte ihn mühelos in die Halterung.

Wie schnell die Zeit doch verging. In ihrem Inneren fühlte sich Daisy kaum älter als ihre Teenager-Tochter. Tatsächlich hatte sie jedoch vier Kinder, einen aufmerksamkeitsbedürftigen Hund, ein lächerlich großes Auto und ihr stand eine Reise über den Ärmelkanal am Tag vor Heiligabend bevor. Nicht zu vergessen ihren Ehemann, der schon erschöpft und mürrisch wirkte, noch bevor das ganze Abenteuer überhaupt begonnen hatte.

Weihnachten sollte doch eine Zeit der Familie, der Freude und des Feierns sein. Ohne Stress, Räucherlachs aus der Fertigpackung und ohne die geheime Sehnsucht, sich schon um elf Uhr morgens einen Gin Tonic zu genehmigen.

„Die Koffer sind im Auto. Claude ist in seiner Box.“ Oliver zählte an seinen Fingern ihre To-do-Liste ab. Er hatte die Stimme erhoben, um sich über das immer lauter werdende Geschrei der Zwillinge und der Musik von Slade, die die Ankunft von Weihnachten besangen, Gehör zu verschaffen. Wenigstens bestand die Chance, dass die Kleinen wie gewöhnlich einschliefen, sobald sich das Auto in Bewegung setzte. Sie mussten nur zusehen, dass sie endlich losfahren konnten. „Wir haben Windeln, Geschenke, Snacks und die Reisepässe. Fehlt noch was?“

„Hast du an den Korb mit den Weihnachtsdelikatessen gedacht?“ Dieselbe Frage hatte ihre Mutter ihr an diesem Morgen bei jedem ihrer Anrufe gestellt, zusammen mit der Frage, ob sie schon auf dem Weg nach Frankreich seien.

„Steht auf dem Rücksitz zwischen Bella und Jay. Ich fand, dort ist er sicherer als neben Claude.“

„Gute Entscheidung.“ Claude würden zwar weder der Räucherlachs noch die anderen Delikatessen aus dem Marks-und-Spencer-Geschenkkorb schmecken. Das hieß jedoch nicht, dass er sie nicht auffressen würde, nur um sich zu vergewissern, dass sie ihm nicht schmeckten. In der vergangenen Woche hatte er eine ganze Schüssel Cashewkerne verdrückt, und die Woche davor hatte er sich ein Stück Käsekuchen von ihrem Teller stibitzt. Sie war nur kurz nach oben gegangen, um nach den Zwillingen zu sehen, und als sie zurückkam, war der Kuchen weg. Der verflixte Hund war total verfressen.

„Sag mir noch mal, warum deine Eltern das Essen nicht in Frankreich einkaufen konnten“, bat Oliver. Nach einem genervten Blick auf die Lichterkette am Armaturenbrett setzte er sich auf den Beifahrersitz. Das hieß wohl, dass sie fahren sollte. Auch gut.

„Offenbar schmeckt es anders.“ Was eigentlich nach Daisys Auffassung der Sinn der Sache war. Warum sollte man überhaupt nach Frankreich umziehen wollen, wenn man dann doch nur Marks-und-Spencer-Delikatessen in einem etwas sonnigeren Klima genoss? Vielleicht wegen des Weins, schlussfolgerte sie. Das klang logisch.

„Ich verstehe immer noch nicht, warum wir überhaupt fahren müssen“, brummte Oliver. Daisy biss sich auf die Wange, um sich davon abzuhalten, ihm eine scharfe Antwort um die Ohren zu hauen. Schließlich war er es gewesen, der dem Vorschlag ihrer Eltern, Weihnachten in ihrem neuen Haus in der Normandie zu verbringen, so begeistert zugestimmt hatte. Wäre sie an diesem Abend ans Telefon gegangen, könnten sie jetzt ganz in Ruhe zu Hause sitzen und Mince Pies essen.

Zugegebenermaßen hätte das aber auch nicht unbedingt von Erfolg gekrönt sein müssen. Man konnte ihren Vater nur schwerlich von einer Idee abbringen, wenn er sie sich erst einmal in den Kopf gesetzt hatte. Als Einzelkind fühlte sie sich ihren Eltern gewissermaßen verpflichtet. Sie hätte aber zumindest versucht, es ihm auszureden. Welcher liebende Vater bestand schon darauf, dass seine Tochter mit vier Kindern und einem Hund im Schlepptau zwei Tage vor Weihnachten die lange Fahrt über den Ärmelkanal auf sich nahm?

Daisy atmete tief durch. Alles würde wunderbar werden. Ein richtiges, schönes Familienweihnachtsfest. Sie würden Zeit miteinander verbringen und Brettspiele oder Scharade spielen. Sie würde mit ihrer Mutter einen wunderbaren Weihnachtsbraten zubereiten, und alle würden viel zu viel Pudding essen. Claude und Petal würden um Truthahnhappen betteln, Jay würde alle Knallbonbons öffnen, und die Zwillinge würden endlich nachts durchschlafen.

Na, das vielleicht nicht. Selbst die Zeit der Wunder hatte ihre Grenzen.

Das Wichtigste war jedoch, dass sie kostbare Zeit zusammen verbringen würden.

Daisy lächelte leicht. Schön. Wenn sie sich auf die wirklich wichtigen Dinge konzentrierte, fühlte sie sich schon viel gelassener. Sie gab den Zwillingen einen Kuss, worauf die beiden mürrisch das Gesicht verzogen.

„Gut, Kinder, alles klar bei euch da hinten?“, rief sie. Keine Antwort. „Bella?“

Daisy blickte über die Sitzbank nach hinten. Natürlich. Bella hatte ihr Handy in der Hand und starrte auf den Bildschirm, die Kopfhörer im Ohr. Jay war bereits in irgendein Spiel auf seinem Tablet vertieft. In der Hoffnung auf Unterstützung schaute sie zu Oliver. Aber der spielte Candy Crush auf seinem Handy.

Noch einmal atmete sie tief durch, doch dieses Mal brachte es nichts.

„Okay!“, zischte sie, beugte sich zwischen den Sitzen nach vorn und riss Oliver das Handy aus der Hand.

„Hey!“

„Gebt mir Handy und Tablet.“ Fordernd streckte sie die Hand nach Bellas und Jays Geräten aus. Die beiden sahen sie entsetzt an. „Wir machen Familienferien. Der Sinn der Sache ist, dass wir Zeit miteinander verbringen und als Familie wieder zusammenwachsen. Dass wir miteinander reden, unsere Gedanken austauschen und zusammen spielen. Nicht, dass jeder für sich auf irgendeinen Bildschirm starrt, bis wir in drei Tagen wieder nach Hause fahren.“

„Und was hast du jetzt vor? Willst du unsere Handys einschließen?“ Bella hob die Augenbrauen. „Echt jetzt?“

„Wenn es nötig ist.“ Konnte sie die Dinger überhaupt irgendwo wegsperren? Daisy ließ den Blick durchs Auto schweifen und entdeckte auf dem Boden vor der Sitzbank den alten Schminkkoffer ihrer Mutter, den sie in einen Erste-Hilfe-Kasten umgewandelt hatte. Der würde für ihre Zwecke schon genügen.

„Aber dann verpass ich ja alles!“, jammerte Bella. „Wie soll ich denn erfahren, was zu Hause bei meinen Freunden los ist?“

„Du kannst sie ja fragen, wenn du zurück bist“, erwiderte Daisy. Das Quieken der Babys ignorierend lehnte sie sich über den Sitz und schnappte sich Jays Tablet und Bellas Handy. Beides legte sie zusammen mit Olivers Handy in den Schminkkoffer, direkt auf eine halb volle Pflasterpackung und eine antiseptische Wundsalbe, die sich am Deckel grün verfärbt hatte.

„Und was ist mit deinem Handy?“, fragte Bella mit Gewittermiene. „Wenn wir unsere nicht benutzen dürfen …“

„Schon gut!“ Daisy zog ihr Handy aus der Tasche und legte es zu den anderen auf den Stapel. Dann fischte sie den Schlüssel aus der Innentasche im Kofferdeckel und verriegelte das Schloss. „Erledigt.“ Das Gemotze von der Rückbank ignorierte sie. „Alle angeschnallt?“

„Ja“, kam es trotzig zurück. Daisy schob sich rückwärts aus dem Auto und stieß ein stummes Stoßgebet aus, dass die Zwillinge bald einschlafen würden und sich nicht ausnahmsweise entschlossen, auf der Fahrt wach zu bleiben. Oder dass sie zumindest endlich mit dem Geheule aufhörten. Bei dem Lärm war es schwierig, einen klaren Gedanken zu fassen.

Sie schob den winzigen silbernen Schlüssel in die Tasche ihrer Jeans und warf einen Blick auf die Armbanduhr, während sie mit der anderen Hand die Kofferraumklappe schloss. Für einen Moment zumindest verstummte der Lärm. Verflixt, sie waren spät dran. Die Fahrt nach Portsmouth dauerte mindestens eine Stunde, und die Fähre wartete nicht. Sie würde Gas geben müssen, wenn sie es noch rechtzeitig schaffen wollte. Flüchtig warf sie durch die schmutzige Heckscheibe einen Blick auf Claude. Neben dem riesigen Geschenk für die Zwillinge sah er winzig aus. Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Tja, die Antwort darauf kannte sie natürlich. Sie hatte das Geschenk schon im Oktober gekauft und gedacht, dass sie Weihnachten ausnahmsweise mal zu Hause verbringen würden, statt durchs ganze Land zu fahren, um die Familie zu besuchen. Sie hatte gedacht, dass sie zur Abwechslung mal ein friedliches, ruhiges Weihnachtsfest erleben würden, nur zu sechst. Na gut, zu siebt, wenn man Claude mitzählte.

Sie hatte nicht damit gerechnet, dass ihre Eltern anrufen und verlangen würden, dass sie Weihnachten bei ihnen in Frankreich verbringen.

Daisy seufzte und wiederholte ihr Mantra. Alles würde gut werden. Claude schien zu schlafen. Sie hoffte nur, dass er vor Portsmouth nicht raus musste, um sein Geschäft zu erledigen …

„Können wir jetzt endlich los?“, rief Oliver vom Beifahrersitz. Aus seinem Ton schloss Daisy, dass er wenig begeistert darüber war, dass sie sein Spielzeug einkassiert hatte. Tja, Pech gehabt.

„Ja“, antwortete sie, so fröhlich, wie sie konnte. Sie schnallte sich an, steckte den Schlüssel in die Zündung und stellte die Weihnachts-CD lauter. „Also, wie soll ich am besten fahren?“

Oliver zuckte mit den Schultern. „Woher soll ich das wissen? Das Navi hab ich auf dem Handy. Das du weggesperrt hast.“

Himmel, er war ein noch größerer Schmollkopf als Bella. Daisy hätte nicht gedacht, dass das überhaupt möglich war.

Sie griff unter ihren Sitz und zog den uralten Straßenatlas heraus, den sie seit Bellas Babyzeit nicht mehr benutzt hatten. „Dann müssen wir den Weg eben auf die altmodische Art finden, oder?“, sagte sie und schenkte Oliver ein zuckersüßes Lächeln, als sie ihm den Straßenatlas reichte. „Wie wäre es mit einem Spiel? Ich fang an. Ich sehe was, was ihr nicht seht, und das fängt mit M an.“

„Muh, muh, muh“, rief Luca kläglich, und Lara jammerte zur Antwort.

„Miese Laune“, riet Bella.

„Mein Tablet“, antwortete Jay traurig.

„Mordsmäßig viele Meilen mit diesem Mist vor uns“, murmelte Oliver.

Daisy vermutete, dass sie bis Portsmouth wohl noch einige Male tief durchatmen musste. Und dass sie einen großen Gin Tonic brauchen würde, sobald sie auf der verdammten Fähre waren.

JACK

Jacks Blick fiel auf den traurig herabhängenden Stechpalmenzweig am Türklopfer von Nummer dreizehn, und er kam zu dem Schluss, dass der Maple Drive die Straße auf seiner Route war, die am wenigsten Festtagsstimmung ausstrahlte. Es schien fast, als hätten die Anwohner Weihnachten vergessen und erst im letzten Moment gemerkt, dass es so weit war, und dann keine Lust mehr gehabt, sich die Mühe mit dem Schmücken noch zu machen. Den ein oder anderen Kranz entdeckte er zwar und hinter einigen Fenstern auch einen geschmückten Weihnachtsbaum, aber das war auch schon alles. Abgesehen von der schönen Eiszapfen-Lichterkette, die ein Fenstersims im oberen Stock von Nummer zwölf zierte. Doch selbst die wirkte im grauen fahlen Winterlicht etwas verloren.

Jack fand keineswegs, dass auf jedem Dach ein beleuchteter Weihnachtsmann mit acht unheimlich im Dunkeln leuchtenden Rentieren thronen sollte. Dennoch hätte er gegen ein bisschen mehr festlichen Glanz nichts einzuwenden gehabt. Er hatte sogar angefangen, auf seiner Postrunde Weihnachtslieder zu summen, nur um die Stimmung in der Straße zu heben. Aber ganz offensichtlich war man im Maple Drive an der falschen Adresse, wenn man Festtagsstimmung und Weihnachtsfreude suchte.

„Schauen Sie sich nur diese geschmacklose Dekoration von Nummer zwölf an. Man kommt sich vor wie im Rotlichtviertel.“ Mrs. Templeton schüttelte missbilligend den grauhaarigen Kopf. Sie erinnerte Jack an die Direktorin seiner Vorschule, die furchteinflößender und strenger gewesen war als alle seine Vorgesetzten beim Militär zusammengenommen. Wer hätte gedacht, dass es nach zehn Jahren als Berufssoldat immer noch Situationen gab, die seine Knie zum Schlottern bringen konnten.

Mrs. Templeton deutete empört mit dem Zeigefinger auf Nummer zwölf, und Jack fühlte sich verpflichtet, auch hinzusehen, in der Hoffnung, dass sie ihm dann endlich den Erhalt des Päckchens gegenzeichnete. Er konnte jedoch nur die Eiszapfenlichterkette unter dem Fenstersims erkennen. Ein kleiner Lichtfleck an einem dunklen Wintertag.

„Mir gefällt sie eigentlich“, sagte er sanft und erntete einen bösen Blick von Mrs. Templeton.

„Das wundert mich nicht.“ Sie musterte ihn von Kopf bis Fuß, und Jack fragte sich, was sie sah. Einen gutmütigen Postboten oder den Ex-Corporal Tyler? An manchen Tagen war er sich selbst nicht ganz sicher, wer er war.

Mrs. Templeton rümpfte die Nase. „Das Mädchen ist wohl auch ganz hübsch. Wenn auch auf eine übertrieben kitschige Art und Weise.“

Ah. Das dachte sie also. Nun, zum Teil hatte sie recht. Die junge Frau von Nummer zwölf war wirklich hübsch. Sehr hübsch sogar. Aber auf eine traurige einsame Art, wie er fand.

In den vergangenen Monaten hatte er zahlreiche Päckchen bei ihr abgeliefert und dabei ausreichend Gelegenheit gehabt, sich eine Meinung zu bilden. Holly Starr aus dem Maple Drive Nummer zwölf schien alles, was sie zum Leben brauchte, online zu bestellen.

„Und ihre schreckliche Katze erst! Da ist sie schon wieder, rennt wie angestochen durch die Gegend!“ Jack drehte sich um und entdeckte ein flauschiges schwarz-weißes Etwas, das über die Straße schoss. In einigem Abstand folgte ihr ein schwarz-weißer Hund. Seine überdimensional großen Ohren flatterten beim Laufen.

„Oh, von den Hunden in der Straße will ich gar nicht erst anfangen“, sagte Mrs. Templeton, als der Kleine die Verfolgung aufgab und umkehrte. Wahrscheinlich machte er sich auf den Heimweg, vermutete Jack.

„Wenn Sie bitte hier unterschreiben würden“, unterbrach er Mrs. Templetons Schimpftirade und hielt ihr das Unterschriftenpad erneut unter die Nase. Nur mühsam verkniff er sich ein Seufzen, als Mrs. Templeton schniefte.

„Dieser moderne Kram.“ Sie nahm den Kunststoffstift geziert zwischen Daumen und Zeigefinger. „Warum kann man nicht bei Stift und Papier bleiben? frage ich mich.“

Jack schenkte ihr ein, wie er hoffte, geduldiges Lächeln. Das fasste sie leider als Ermutigung auf.

„Genau das läuft heutzutage falsch. Alle hängen viel zu sehr an diesen elektronischen Geräten. Vor allem die Kinder. Sogar mein Enkel Zach klebt nur noch vor seinem Computerdings. Aber das liegt daran, dass seine Mutter keine Ahnung hat, wie sie ihn erziehen soll. Bei mir spielt er mit diesem Ding jedenfalls nie.“ Fast schon drohend, wie Jack fand, deutete sie mit dem Stift auf ihn. „Ich kann mich noch gut daran erinnern, als es all diesen Kram noch nicht gab. Die Kinder haben auf die Erwachsenen gehört und waren zum Spielen draußen auf der Straße. Sie haben nie so altklug getan, als wüssten sie, was gut für sie ist. Und es gab nicht diese kitschige … Amerikanisierung des Weihnachtsfests.“ Sie deutete mit dem Stift auf die Eiszapfenlichterkette. „Unmöglich! Lichterketten. Außen am Haus!“

Jack konnte nicht widerstehen. „Sie sollten mal die Häuser in der Cedar Avenue sehen“, flüsterte er verschwörerisch. „Auf einem Dach steht ein beleuchtetes Schneewittchen mitsamt den sieben Zwergen.“

Mrs. Templeton schnappte sichtlich entsetzt nach Luft. „Aber … das ist doch überhaupt nicht weihnachtlich!“

Jack zuckte mit den Schultern. „Es gibt auch eins mit einer Krippenszene. Vielleicht würde Ihnen das ja besser gefallen.“

„Das bezweifle ich stark.“

Jack ebenfalls. „Jedenfalls …“ Er blickte vielsagend auf den Stift, mit dem Mrs. Templeton immer noch jede ihrer Äußerungen untermalte. „Wenn Sie jetzt bitte …“ Er wedelte mit dem Gerät vor ihrer Nase.

„Hmpf.“ Mrs. Templeton krakelte ein paar Striche aufs Display, und Jack beschloss, dass ihm das als Unterschrift genügte. Er übergab ihr das Päckchen und dazu ein paar Umschläge in Weihnachtskartengröße. Sie betrachtete sie finster. „Sehen Sie sich nur diese Briefmarken an! Was ist aus den guten altmodischen Krippenszenen auf den Weihnachtsmarken geworden, frage ich Sie.“

Jack gefielen die Weihnachtsmänner auf den Marken, aber Mrs. Templeton hatte bereits die Tür zugeknallt, bevor er ihr das sagen konnte.

„Frohe Weihnachten, Mrs. Templeton“, rief er durch die geschlossene Tür. „Du alte griesgrämige Schachtel“, fügte er leise hinzu.

Als er in den Maple Drive gezogen war, hatte er völlig andere Erwartungen von dem Leben hier gehabt. Nach seiner Entlassung aus dem Militärdienst hatte er die Stelle als Postbote angenommen. Und als man ihm einen Vorortsbezirk mit netten kleinen, freundlich aussehenden Häusern und gepflegten Gärten zuteilte, hatte er gedacht, dass er genau das gefunden hatte, wonach er suchte. Einen friedlichen, freundlichen, durch und durch britischen Ort. Einen Ort, wo man sich gelegentlich gegenseitig auf eine Tasse Tee oder ein Stück Kuchen einlud. Oder zumindest einen Ort, wo er Freunde finden und Teil einer Gemeinschaft werden konnte, so wie bei seinen Kameraden zu Armyzeiten, die wie eine Familie für ihn gewesen waren.

Er war sich so sicher gewesen, dass dies der Ort seiner Träume sein könnte, dass er sich sogar eines der kleineren Reihenhäuser am Rande des Bezirks gemietet hatte. Die Straße, in der er lebte, grenzte direkt an den Maple Drive.

Doch schon bald war seine Traumblase geplatzt.

Der Maple Drive mochte zwar wirken wie eine Nachbarschaft, in der Freundschaft großgeschrieben wurde, aber der Anschein und die in Tierformen gestutzten Hecken täuschten. In der Straße lebten Menschen, die verstohlen hinter den Vorhängen hinausspähten, viel beschäftigte Berufstätige, die ihm per Haftnotiz mitteilten, dass er ihre Pakete an seltsamen Verstecken hinterlassen sollte, und Mrs. Templeton. Seit drei Monaten wohnte er schon hier, doch die Gespräche mit seinen Nachbarn konnte er an einer Hand abzählen. Und wenn es doch einmal zu einer Unterhaltung kam, drehte sie sich meistens um Fragen zum Prozedere der Post. Er bezweifelte, dass einer seiner Nachbarn im Maple Drive überhaupt gemerkt hatte, dass er auch dort wohnte.

Seufzend trottete Jack die Sackgasse hinunter. Er steckte ein paar Karten in den Briefkasten von Nummer elf, den der McCawleys, und wollte gerade die Straße überqueren, um das kleine Paket in seiner Posttasche an Holly Starr in Nummer zwölf auszuliefern – die Frau mit der Eiszapfenlichterkette –, als er etwas Glänzendes auf dem Weg entdeckte. Stirnrunzelnd hob er es auf. Es war ein kleiner silberner Schlüssel. Neugierig betrachtete er ihn. Er sah aus wie einer dieser Schlüssel aus einem Knallbonbon oder von einem Tagebuch. Vielleicht war er nicht wichtig, aber dennoch … Er drehte sich um und warf ihn in den Briefkasten von Nummer elf, wo er auf den Karten landete. Auf diese Weise würde die Familie ihn finden, falls sie ihn brauchte.

Nach einem zufriedenen Nicken marschierte er über die Straße zu Nummer zwölf. Es war Weihnachtszeit. Und die Freude, die es ihm bereitete, Holly Starr ein Päckchen zu überreichen, war wohl das einzige Geschenk, das er in diesem Jahr erhalten würde.

Vielleicht würde er ihr sogar sagen, dass ihm die Eiszapfenlichterkette gefiel.

CLAUDE

Ich flitzte hinter dem Auto her, aber da meine Beine so kurz sind, war die Wahrscheinlichkeit, es noch einzuholen, genauso gering wie die Chance, Perdita zu erwischen. Andererseits konnten Autos nicht auf Zäune klettern, so gesehen war die Chance wohl einen winzigen Hauch größer …

Wie dem auch sei, als ich endlich zu Hause ankam, war das Auto mitsamt meiner Familie weg. Auf dem Weg zu Fähre, Frankreich und Château. Sie hatten mich zurückgelassen.

Allein.

Das ging auf keinen Fall, fand ich. Seit meiner Welpenzeit war ich noch nie richtig allein gewesen. Am Anfang meines Lebens hatte ich meine Geschwister, meine Mutter und die Menschen meiner Mutter. Bald darauf traten Daisy, Oliver, Bella und der winzige Jay in seinem Buggy in mein Leben. Sie nahmen mich mit in den Maple Drive, und ich wusste, dass ich niemals allein sein würde. Na ja, abgesehen von den wenigen Stunden, wo alle aus dem Haus waren. Ehrlich gesagt fand ich es aber gar nicht so schlimm, wenn ich gelegentlich mal ein Stündchen für mich allein hatte, um ungestört ein Nickerchen zu machen. Meistens war jedoch jemand da, um mich hinter den Ohren zu kraulen, mir den Bauch zu streicheln oder meine Futterschüssel aufzufüllen. Jetzt war das anders. Sie hatten alles eingepackt – sogar die interessant duftende Kiste. Das machten sie auch immer, wenn wir Oma und Opa am Meer besuchen wollten. Ich kam mir vor wie damals beim Campingausflug. In der Woche hatte ich selbst in meinem flauschig weichen warmen Hundekörbchen gefroren. Jay hat schließlich mit mir darin geschlafen. Dass sie alles mitgenommen hatten, verriet mir jedenfalls, dass meine Familie nicht so bald zurückkommen würde. Sie hatten vorgehabt, mich mitzunehmen, dessen war ich mir sicher. Wieso war ihnen nicht aufgefallen, dass ich fehlte?

Wie konnten sie mich einfach hier vergessen?

Mich! Claude! Ihr geliebtes Haustier!

Ich kauerte mich neben den Busch am Ende unserer Einfahrt und tat mir unglaublich leid. Ich fühlte mich einsam und ich wollte Jay. Sogar die Zwillinge wären mir jetzt als Gesellschaft willkommen gewesen.

Dann knurrte mein Bauch, und mir wurde klar, dass die Situation noch schlimmer war, als ich anfangs gedacht hatte.

Ich war nicht nur allein, ich hatte auch noch Hunger. Und da ich ja eigentlich gar nicht mehr hier sein sollte, hatten mir Daisy und Oliver natürlich auch kein Futter dagelassen!

Ich sprang auf, schlenderte die Einfahrt hoch und hopste die drei Stufen zur Haustür hinauf. Ich kratzte am Holz und winselte. Wider besseren Wissens hoffte ich, dass Daisy vielleicht vergessen hatte, die Haustür abzuschließen, und sie vielleicht durch den Druck meiner Pfote aufschwingen würde.

Aber ich hatte Pech.

Vielleicht die Hintertür … Ich rannte um das Haus herum, aber die massive Tür gab ebenfalls nicht nach. Auch die Terrassentüren waren fest verschlossen. Im oberen Stock stand eines der Fenster zwar einen winzigen Spalt offen, aber niemals würde ich so hoch springen können, um mich durchzuquetschen.

Das Haus hätte genauso gut eine Festung sein können, wie die große Holzburg, mit der Jay manchmal in seinem Zimmer spielte. Ich war gewöhnlich sein edles, gut aussehendes Ross. Ich wusste zwar nicht sicher, was ein Ross war, aber edel und gut aussehend traf durchaus auf mich zu.

Ich setzte mich auf die Stufe vor der Hintertür und schaute in den Garten. Wenn ich es schaffen würde, die Leiter hochzuklettern, könnte ich mich ins Baumhaus verkriechen. Allerdings hatte ich das schon ein oder zwei Mal vergeblich probiert, als sich Perdita dort oben versteckt hatte.

Moment mal. Perdita.

Sie allein trug die Schuld an meiner misslichen Lage. Ich wäre nie aus dem Auto gesprungen, wenn sie nicht herumgeschnüffelt und versucht hätte, an die interessante Kiste zu gelangen. Ja, das alles war ganz eindeutig Perditas Schuld. Und das hieß, dass Perdita es auch wieder in Ordnung bringen musste. Oder mir wenigstens etwas Futter beschaffen sollte.

Ich war mir sicher, dass Daisy, Oliver und die Kinder bald zurückkehren würden. Sobald ihnen mein Fehlen auffiel, würden sie sich schnellstens auf die Suche nach mir machen. Wir waren immerhin eine Familie, und Familien hielten zusammen. Sie würden mich an Weihnachten nicht allein lassen. Sie würden in Nullkommanichts zurück sein, vermutlich mit ein paar extra Leckereien als Wiedergutmachung. So wie der mit Kauknochen gefüllte Strumpf, den sie mir im letzten Jahr an Weihnachten geschenkt hatten. Ja, natürlich würden sie zurückkommen.

Ich musste nur geduldig warten. Und in der Zwischenzeit irgendetwas zu fressen finden, damit ich bei Kräften blieb.

Fröstelnd tapste ich zurück zur Straße. An so kalten Tagen wie diesen sehnte ich mich nach dem Mäntelchen, das Daisy mir gekauft hatte. Oliver hatte sie deswegen ausgelacht, deshalb holte sie es nur aus dem Schrank, wenn er es nicht sah.

Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich die Nummer zwölf – das Territorium meiner felligen Nemesis. Ich hatte das Haus noch nie zuvor betreten, aber durch meine Begegnungen mit Perdita wusste ich ungefähr, wie es dort aussah. Einmal hatte sie damit geprahlt, dass sich in der Hintertür eine spezielle kleine Klappe befand, die nur für sie angefertigt worden war, sodass sie kommen und gehen konnte, wie es ihr passte. Sie musste nicht warten, bis man sie rausließ, damit sie ihr Geschäft an einem hübschen Fleckchen erledigen konnte, oder darauf, dass man sie danach wieder reinließ. Sie musste auch nicht warten, bis ihr Mensch sie Gassi führte, und niemand konnte sie im Haus einsperren.

Katzen genossen eine Freiheit, von der wir Hunde nur träumen konnten. Aber ich hatte den Eindruck, dass ihnen dadurch auch die enge Beziehung entging, die wir mit unseren Menschen pflegten. Welcher Mensch wollte schon ein Haustier, das ihn nicht brauchte?

Gewöhnlich ging mir die Tatsache, dass Perdita kommen und gehen konnte, wie es ihr beliebte, sogar in meinen Garten, gehörig auf die Nerven. Heute war ich jedoch froh darüber. Denn heute würde ich mir ihren Katzenvorteil zunutze machen und durch ihre kleine Tür spazieren. So viel größer als sie war ich nicht, und ich konnte mich sicher hindurchzwängen, wenn ich es versuchte. Und wenn ich erst mal im Haus war …

Nun, so viel anders als Hundefutter konnte Katzenfutter doch wohl nicht sein.

DAISY

Daisy stieß erleichtert die Luft aus, als der Beamte sie nach einem kurzen Nicken auf die Fähre fahren ließ, nachdem er eine gefühlte Ewigkeit ihre Pässe begutachtet hatte. Eigentlich waren sie nur ein paar Sekunden zu spät dran. Na gut, vielleicht ein paar Minuten. Jedenfalls nicht mehr als eine halbe Stunde.

Ach, wem wollte sie etwas vormachen? Seit der Geburt von Bella haperte es bei ihr mit der Pünktlichkeit. Es kam ihr so vor, als hätten die Kinder ihr die Fähigkeit geraubt, die Uhrzeit abzulesen, oder zumindest die Fähigkeit, korrekt einzuschätzen, wie lange etwas dauern würde. Andererseits war es auch wirklich schwierig einzuschätzen, wie oft die Zwillinge frische Windeln brauchten. Oder wie lange es dauern würde, irgendein Spielzeug zu finden, das Jay verlegt hatte, aber unbedingt mitnehmen wollte. Oder wie lange Bella mit ihr darüber diskutieren würde, warum sie überhaupt zu Weihnachten wegfahren mussten. Sie konnte es zwar aufgrund vorheriger Erfahrungen ungefähr einschätzen, aber immer dann, wenn sie glaubte, sie hätte die Sache endlich im Griff, änderten die Kinder das Spiel und ließen sich etwas Neues einfallen.

„Wir haben es geschafft“, sagte Oliver. Warum musste er bloß immer das Offensichtliche kommentieren? Sie konnten alle mit eigenen Augen sehen, dass sie es geschafft hatten. Schließlich befanden sie sich auf dem verflixten Schiff. Schon seltsam. Damals auf der Uni war er derjenige gewesen, der ihr mit seiner ungewöhnlichen Sicht auf die Welt die Augen geöffnet hatte. Er hatte Dinge wahrgenommen, die anderen entgingen. In letzter Zeit jedoch blieb es bei „Wir sind auf der Fähre“.

Tief durchatmen, Daisy. Wäre es auf der M25 nicht so albtraumhaft voll gewesen, hätte sie sicher nicht solche Probleme, in Weihnachtsstimmung zu kommen. Auf der Autobahn herrschte natürlich immer viel Verkehr, und sie hatte die vage Vorahnung gehabt, dass es so kurz vor dem Fest noch schlimmer sein würde als sonst. Vor ein paar Wochen hatte sie sogar noch daran gedacht, einen Zeitpuffer für die Fahrt einzuplanen. Doch irgendwie war dieser Gedanke in dem Trubel der Reisevorbereitungen, dem Einpacken der Geschenke, dem hektischen Schreiben von Weihnachtskarten an alle, die sie vergessen hatte, und dem nächtlichen Nähen von Jays Schafhirtenkostüm für das Krippenspiel untergegangen.

Friede und Freude waren im vergangenen Monat im Maple Drive Nummer elf reichlich zu kurz gekommen.

„Kann ich jetzt mein Handy wiederhaben?“, fragte Bella vom Rücksitz. Das waren die ersten Worte, die sie von sich gab, seit sie vor vierzig Minuten beim Ratespiel verloren hatte.

„Nein.“ Daisy dachte nicht mal über die Antwort nach und bedauerte es schon, als die unausweichliche zweite Frage folgte.

„Warum nicht?“

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