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Stille Nacht, flauschige Nacht

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Es ist kurz vor Weihnachten, Patrick versinkt mit seinem gutgehenden Bauunternehmen in Arbeit. Zu Hause verwandeln die Zwillinge Joel und Jessica gemeinsam mit Hund Oskar noch das bisschen verbliebene Ruhe in Chaos. Dass nach der Kündigung eines Mitarbeiters Patricks einzige Rettung die quirlige und nervenaufreibend gut organisierte Angelique ist, lässt ihn erst recht verzweifeln. Das Konfliktpotenzial zwischen ihnen ist einfach viel zu hoch, niemals kann das gutgehen! Zu seiner Überraschung kommen sie allerdings viel besser miteinander aus, als Patrick erwartet hat - auch privat - und das war auf keinen Fall geplant. Eine verwirrende Romanze ist das letzte, was Patrick jetzt gebrauchen kann. Mischlingshund Oskar hingegen ist da ganz anderer Meinung.


  • Erscheinungstag: 16.09.2019
  • Aus der Serie: Weihnachtshund
  • Bandnummer: 4
  • Seitenanzahl: 304
  • ISBN/Artikelnummer: 9783745750386
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. Kapitel

»Santa, bist du hier drin? Wo bleibst du denn? Wir wollten doch einen Ausflug mit den Rentieren machen.«

»Hm … was?« Santa Claus, auch als Weihnachtsmann bekannt, hob irritiert den Blick von dem Brief, den er soeben aus dem Stapel Wunschzettel gezogen hatte, die Elfe-Sieben am Morgen in das Ablagefach auf seinem Schreibtisch gelegt hatte.

Santas Frau trat lächelnd durch die Tür in sein Büro. »Hab ich’s mir doch gedacht. Kaum ist es Oktober, schon lenken dich die ersten Wunschzettel so sehr ab, dass du alles um dich herum vergisst.«

»Entschuldige bitte, mein Schatz, aber dieser Brief hier …« Santa Claus zupfte sich am weißen Rauschebart.

»Was ist denn damit?« Neugierig trat seine Frau näher.

Nachdenklich betrachtete Santa Claus erneut das auf Vorder- und Rückseite dicht beschriebene Blatt Papier, dann reichte er es ihr. »Lies selbst.«

Seine Frau nahm den Brief entgegen und studierte ihn aufmerksam. Dabei wurden ihre Augen immer größer.

Lieber Weihnachtsmann,

es ist zwar schon fast ein Jahr her, aber danke, dass Du mir meinen Wunsch vom letzten Weihnachten erfüllt hast. Dabei hatte ich Dir gar keinen Wunschzettel geschrieben, weil Mama so schlimm krank war und dann ja auch gestorben ist. Wir, also meine Schwester Jessica und ich, waren deswegen schrecklich traurig, auch wenn Jessica das nicht gerne zugibt, weil sie immer so tut, als wäre sie total tough und so. Wahrscheinlich würde sie auch sagen, dass ich bescheuert bin, weil ich einen Brief an den Weihnachtsmann schreibe, weil man mit zehn schon zu alt ist, um an Dich zu glauben. Das ist mir aber egal, weil ich weiß, dass Jessica immer nur so tut, als wäre sie obercool, und weil mein Wunsch vom letzten Jahr auch in Erfüllung gegangen ist. Und da dachte ich, vielleicht klappt das jetzt auch wieder. Deshalb schreibe ich Dir dieses Jahr einen richtigen Wunschzettel – und auch schon ganz früh, damit Du genug Zeit hast, um alle Wünsche zu erfüllen. Dieses Jahr habe ich nämlich nicht nur einen, wie letztes Jahr, als ich mir gewünscht habe, meinen Papa kennenzulernen. Und jetzt leben wir sogar bei ihm! Am Anfang war das total komisch, weil wir hier niemanden gekannt haben, und Jessica war sogar richtig wütend, obwohl sie auch aus dem blöden Internat wegwollte, in das uns Großmama und Großpapa geschickt haben, als Mama immer kränker geworden ist.

Jetzt wohnen wir aber schon fast ein ganzes Jahr bei Papa, den wir am Anfang noch Patrick genannt haben, aber inzwischen sagen wir immer nur noch »Papa«. Er ist nämlich echt lieb zu uns, auch wenn er anders ist, als ich mir einen Vater immer vorgestellt habe. Ich kannte ja bloß Großpapa, und der ist wirklich total anders als Papa, und die Väter von unseren Klassenkameraden sind auch nicht so wie er. Ich weiß auch nicht, wie ich das beschreiben soll. Laura, das ist die Frau von Papas älterem Bruder Justus, hat mal gesagt, dass unser Papa sich erst daran gewöhnen muss, ein Vater zu sein, weil er ja überhaupt nicht wusste, dass es uns gab, bis Mama so schlimm krank wurde und dann gestorben ist. Großmama und Großpapa wollten übrigens nicht, dass wir zu ihm ziehen, und sie sind immer noch böse auf ihn, weil er das durchgedrückt hat. Sie haben uns erzählt, dass er böse ist und ein schlechter Mensch, weil er aus ganz schlechtem Hause kommt. Damit meinen sie, dass er als Kind mit seiner Zwillingsschwester Ricarda auf der Straße gelebt hat. Ja, genau, Du liest richtig. Papa hat auch eine Zwillingsschwester, genauso wie ich eine habe. Sie wurden erst adoptiert, als sie zwölf waren. Aber er war, glaube ich, ein bisschen so wie Jessica, nur krasser. Also immer auf Krawall gebürstet, so hat Oma Margit das mal genannt. Er hat viele schlimme Sachen angestellt und wurde sogar schon mal verhaftet. Und deshalb wollen Großpapa und Großmama nicht, dass er für uns sorgt. Dabei habe ich noch nie gemerkt, dass er böse ist oder so was. Überhaupt nicht. Er hat sein Haus extra für uns umgebaut, damit wir jeder ein eigenes Zimmer haben, und er macht echt viel für uns. Na ja, aber er arbeitet auch total viel, weil er nämlich eine eigene Firma hat und Holzhäuser baut, und das scheint echt anstrengend zu sein. Und weil er so viel zu tun hat, sehen wir ihn manchmal nur ganz kurz morgens und abends, und zu Hause ist es meistens total chaotisch, und so richtige Regeln wie zum Beispiel bei Großmama und Großpapa gibt es bei ihm auch nicht. Da ist es bei Oma Margit und Opa Hans, das sind Papas Eltern, die ihn damals adoptiert haben, schon ein bisschen anders. Ich mag sie total gerne, aber Oma Margit kann schon mal richtig streng werden, wenn ihr etwas nicht passt. Sie sagt, das muss so sein, weil sie nämlich vier Kinder großgezogen hat, und wenn sie da nicht streng gewesen wäre, hätten die vier sie ins Irrenhaus gebracht. Ich muss immer lachen, wenn sie das sagt, weil ich mir gar nicht vorstellen kann, dass Oma Margit mal wegen irgendwas verrückt wird.

Jessica und ich sind oft bei Oma und Opa, wenn Papa viel arbeiten muss, aber die beiden haben auch immer viel zu tun, weil sie nämlich zwei Hotels haben.

Jetzt habe ich total viel erzählt, aber eigentlich wollte ich Dir ja nur meinen Wunschzettel aufschreiben. Also, hier kommt er:

1. Ich wünsche mir einen Hund. Egal was für einen. Jessica will auch einen, das weiß ich, aber sie schreibt ja keine Wunschzettel.

2. Ich möchte, dass Papa ein bisschen mehr Zeit für uns hat und nicht immer so schlimm gestresst ist. Ich meine, ich weiß, dass er das alles auch für uns tut, aber er geht echt auf dem Zahnfleisch, das hat unsere Tante Viola neulich gesagt. Vielleicht, wenn er eine Frau kennenlernen würde, in die er sich verliebt und die er dann irgendwann heiraten könnte, dann hätten wir auch eine neue Mutter, und die ganze Arbeit und der Stress würden nicht mehr nur an ihm hängen bleiben. Ich weiß nicht, ob Du solche Wünsche auch erfüllen kannst, weil verlieben kann man sich ja nicht einfach so. Da muss ja erst mal die richtige Frau da sein, und im Moment fällt mir überhaupt keine ein, die zu Papa passen würde. Absolut keine.

3. Ich möchte, dass Großpapa und Großmama aufhören, gemein zu Papa zu sein. Echt, sie sind richtig eklig zu ihm und versuchen, uns wieder von ihm wegzuholen. Aber ich will hier nicht mehr weg – und Jessica auch nicht. Wir haben hier jetzt eine richtige Familie und auch neue Freunde und müssen nicht mehr ins Internat, wo es total blöd war und wo wir immer Heimweh hatten.

4. Ich hätte gerne einen Schlitten. So einen richtigen Lenkbob in Orange, weil das eine von meinen Lieblingsfarben ist und weil es nicht weit von hier so einen tollen Schlittenhügel gibt. Opa Hans hat uns letzten Winter den alten Schlitten von Papa und Justus gegeben, aber mit einem Bob geht es bestimmt mit der Abfahrt noch tausendmal besser.

5. Ein paar neue Spiele für unsere Playstation wären auch toll.

6. Für Jessica, weil sie sich ja doch nichts selbst von Dir wünscht, ein paar von diesen schnulzigen Weihnachtsfilmen auf DVD oder Blu-Ray. Die findet sie total toll, aber ich weiß nicht, wie die ganzen Filme heißen. Bestimmt weißt Du, welche ich meine.

7. Langlaufskier für mich und vielleicht auch für Jessica, obwohl ich nicht weiß, ob sie auch welche haben möchte. Es gibt hier nämlich ein paar Loipen, die hat Opa Hans uns letztes Jahr auch schon gezeigt, und ich würde gerne Skifahren lernen.

So, eigentlich hätte ich noch mehr Wünsche, aber ich traue mich nicht, die alle aufzuschreiben, sonst wird der Wunschzettel viel zu lang, und am Ende vergisst Du noch die Hälfte, oder es ist einfach zu viel. Am wichtigsten ist auf jeden Fall der Hund und das mit Großpapa und Großmama – und dass Papa nicht mehr so gestresst ist und wieder mehr lächelt und vielleicht sogar richtig glücklich wird. Also, ich weiß, dass er uns mag und gernhat und so, aber so richtig rund läuft es trotzdem noch nicht. Aber ich fände das einfach so schön, wenn wir eine richtige Familie wären mit Mutter und Vater, und vielleicht bekommen wir noch mehr Geschwister. Unsere richtige Mama kriegen wir ja nie wieder, und ich vermisse sie und alles, aber jetzt sind wir bei Papa, und der soll einfach auch glücklich sein. Er hat Mama ja auch nur unseretwegen geheiratet. So eine Familie wie Papas, als er von Oma Margit und Opa Hans adoptiert worden ist, wäre toll.

Mit freundlichen Grüßen

Joel Sternbach

Santas Frau ließ den Brief langsam wieder sinken. »Du meine Güte, das ist aber ein langer Brief. Und noch dazu ein sehr berührender. Dieser Joel scheint ja ein äußerst sensibler Junge zu sein.«

»Den Eindruck hatte ich bereits, als ich ihn vergangenes Jahr zum ersten Mal gesehen habe.« Wieder zupfte der Weihnachtsmann an seinem Bart herum. »Und was er da schreibt, kann ich sehr gut nachvollziehen.«

»Hast du schon einen Videofeed eingerichtet, um Näheres zu erfahren?«

Santa Claus schüttelte den Kopf. »Nein, wann denn? Ich habe den Brief doch gerade erst erhalten.«

»Dann lass mal sehen.« Santas Frau ging zu der Wand mit den unzähligen Videobildschirmen und schaltete einen in der Mitte ein, dann suchte sie nach der richtigen Frequenz. Kurz darauf erschien ein Livefeed aus dem großen modernen Blockhaus, in dem Patrick Sternbach mit seinen beiden Kindern wohnte. »Oje, da sieht es ja wirklich chaotisch aus.« Sie schlug sich eine Hand vor den Mund, konnte ihr Lachen damit jedoch nicht unterdrücken, als sie die Geschirrtürme in der Küche und die überquellenden Wäschekörbe sah. Auch Jessicas Zimmer sah reichlich durcheinander aus, während das von Joel zumindest betretbar war, ohne dass man über Kleidungsstücke oder Spielzeug stolperte. Im Augenblick waren jedoch weder die Kinder noch ihr Vater zu Hause.

»Bestimmt sind die Zwillinge noch in der Schule.« Santa Claus war neben seine Frau getreten und sah sich die Bilder ebenfalls an. Er betätigte den Frequenzregler, und im nächsten Moment erschien ein Klassenzimmer auf dem Bildschirm. »Siehst du?«

»Und Patrick Sternbach?« Diesmal stellte Santas Frau die Frequenz neu ein und pfiff gleich darauf überrascht durch die Zähne. »Also, wenn das mal kein Anblick ist!«

»Schatz!« Überrascht starrte Santa Claus seine Frau an. »Was soll ich denn davon jetzt halten?«

Sie kicherte. »Na, du musst doch wohl zugeben, dass man solch ein Exemplar von Mann nicht so oft zu sehen bekommt.« Sie deutete auf den Bildschirm, auf dem Patrick Sternbach gerade eine schwere Holzbohle anhob und einem anderen Arbeiter anreichte, der auf einem Gerüst stand. Patrick trug derbe Arbeitshosen und trotz des eher kühlen Wetters nur ein graues T-Shirt, das sich über seinen breiten Schultern und den muskulösen Armen spannte. Unter den Armen und am Rücken zeichneten sich Schweißflecken ab, die davon zeugten, dass die Arbeit, die er verrichtete, hochanstrengend war.

»Ich wusste ja noch gar nicht, dass du«, der Weihnachtsmann räusperte sich, »auf so etwas stehst.«

Seine Frau riss sich von dem Anblick los und prustete im nächsten Moment laut. »Also bitte, mein Lieber, bist du jetzt etwa eifersüchtig?«

Ihr herzliches Lachen brachte den Weihnachtsmann zum Schmunzeln. »Er ist immerhin ein junger, gut aussehender Kerl.«

»Allerdings.« Grinsend richtete sie ihren Blick wieder auf den Bildschirm, wurde dann aber gleich wieder ernst und stellte die Frequenz neu ein, sodass das Geschäftsgebäude von Patricks Bauunternehmen in Sicht kam und kurz darauf auch der Empfangsbereich und sein Büro. »Schau mal, da herrscht ja genauso ein Chaos wie bei ihm zu Hause. Und warum hat er denn niemanden am Empfang oder eine Sekretärin?«

»Vielleicht kann er sich nicht so viel Personal leisten, oder die Sekretärin ist gerade im Urlaub?« Interessiert sah sich der Weihnachtsmann alles genau an. »Kein Wunder, dass Joel darüber klagt, dass sein Vater immer nur arbeitet. Wenn ich mir das so anschaue, dann scheint er insgesamt zu wenige Mitarbeiter zu haben.«

»Aber er hat doch so eine große Familie. Warum hilft denn von denen niemand aus, wenigstens zeitweise?« Ratlos stellte Santas Frau die Frequenz mehrmals neu ein, um auch Blicke auf die anderen Mitglieder der Sternbach-Familie zu werfen. »Wie seltsam. Ob sie vielleicht gar nicht wissen, in welchen Schwierigkeiten er steckt?«

Der Weihnachtsmann verschränkte die Arme und runzelte nachdenklich die Stirn. »Das sieht mir fast so aus, denn die Sternbachs halten normalerweise fest zusammen. Du erinnerst dich doch bestimmt noch an Lauras Geschichte vom vergangenen Jahr, nicht wahr? Da waren sie immer füreinander da. Ich glaube, das hier wird mein erstes Wunscherfüllungsprojekt des Jahres.«

»Selbstverständlich wird es das.« Seine Frau nickte mit Nachdruck. »Joels Wunschzettel kannst du ja auch gar nicht ignorieren. Nur …«

»Was?« Santa Claus lockerte seine Arme wieder und sah seine Frau fragend an.

»Ich frage mich gerade, wie du all diese Wünsche erfüllen willst. Die kleineren sind wohl kaum ein Problem, aber wie willst du Patrick aus diesem Chaos heraushelfen und Joel dazu noch zu einer vollständigen Familie verhelfen? Dazu müsste Patrick doch erst einmal eine Frau finden – und für mich sieht es nicht so aus, als ob er dazu die Zeit oder auch nur den Nerv hätte. Und ein Hund … Sosehr ich Joel verstehen kann, aber ein Haustier macht jede Menge Arbeit und würde das Chaos doch nur noch verschlimmern.«

»Mhm, ganz unrecht hast du damit nicht.« Mit gekräuselten Lippen ging Santa Claus zurück zu seinem Schreibtisch und setzte sich. »Ich will Patricks Leben nicht noch anstrengender machen, als es jetzt schon ist. Andererseits …« Seine Miene begann sich ganz langsam aufzuhellen. »Mir kommt da gerade eine Idee.«

»Oh, oh.« Alarmiert musterte seine Frau ihn. »Diesen Gesichtsausdruck kenne ich, der ist gefährlich. Was ist das für eine Idee?«

»Ach, lass mich nur machen.« Betont lässig winkte der Weihnachtsmann ab, konnte sich ein Grinsen jedoch nicht verkneifen. »Ich muss erst ein paar Erkundigungen einziehen, aber ich glaube, ich habe bereits einen Weg gefunden, zumindest einen Teil von Joels Wünschen zu erfüllen. Ich werde jetzt gleich mal …«

»Santa? Hallo?« In der Tür erschien Elfe-Sieben, die kleine Assistentin des Weihnachtsmanns. »Ach, hier seid ihr beide! Wir warten schon so lange auf euch. Blitz und Donner scharren mit den Hufen, und Rudolph ist so aufgeregt, dass seine Nase ganz rot leuchtet. Wir wollten doch alle zusammen einen Ausflug machen.«

»Huch, stimmt ja.« Santas Frau schlug sich lachend gegen die Stirn. »Jetzt hätte ich das auch fast vergessen, weil mich dieser Wunschzettel so in seinen Bann gezogen hat.«

»Was denn für ein Wunschzettel?« Sofort hellhörig, trat die kleine Elfe näher.

»Ach, weißt du was, vergiss es einfach für den Moment.« Die Frau des Weihnachtsmannes legte Joels Brief rasch zurück in die Ablage und ergriff stattdessen die Hand ihres Mannes. »Das hat auch noch Zeit bis morgen. Komm, mein Lieber, die Elfen und die Rentiere warten auf uns.«

»Aber meine Idee …«, protestierte Santa Claus, als sie ihn von seinem Stuhl hochzog.

»Ich rate dir, erst eine Nacht darüber zu schlafen.« Seine Frau zog ihn rigoros mit sich zur Tür hinaus. »Wie ich deine Blitzideen nämlich kenne, richten sie doch nur wieder ein riesiges Durcheinander an. Lass dir lieber erst mal alles genau durch den Kopf gehen, bevor du irgendetwas in die Wege leitest.«

»Wenn du meinst …« Nicht vollkommen überzeugt warf Santa Claus einen letzten Blick über die Schulter in sein Büro. Doch als ihn wenig später vor dem Haus seine Elfenbrigade und die aufgeregten Rentiere begrüßten, vergaß er seine neuen Pläne für eine Weile.

2. Kapitel

»Heilige Scheiße, was ist denn hier explodiert?« Entsetzt starrte Patrick auf den Wust an Papieren, die über alle Oberflächen und den Fußboden seines Büros verteilt lagen, dicht bedeckt mit zu Konfetti verarbeitetem Toilettenpapier.

Inmitten des Durcheinanders saß der wuschelige hellbeigefarbene Mischlingshund, den er vor drei Wochen mit seinen Kindern aus dem Tierheim geholt hatte, und blickte mit Unschuldsmiene zu ihm auf.

Hübsch, nicht wahr? So gefällt mir die Bude gleich viel besser. Und es ist überall schön weich gepolstert. Ich find’s klasse. Du etwa nicht?

Stöhnend griff Patrick sich mit beiden Händen an den Kopf. »Du verdammter …« Er unterbrach sich und atmete mehrmals tief durch, bevor sein Temperament mit ihm durchgehen konnte. Der Hund konnte nichts dafür, dass er nicht erzogen war, und auch nicht dafür, dass Patrick bisher keine Zeit gehabt hatte, mit ihm in eine Hundeschule zu gehen. »Was hast du denn jetzt schon wieder angestellt, Oskar?« Mit einigermaßen ruhiger Stimme sprach er das Tier an, während er das Büro betrat und die Tür hinter sich schloss, damit der Hund nicht auch noch ausbüxte. »Das Klopapier hatte ich für zu Hause eingekauft, nicht damit du es hier zu Schnipselschnee verarbeitest.«

Ach so? Woher sollte ich das wissen? Mir war langweilig, und hier drinnen gibt es ja sonst nichts zum Spielen. Dauernd nur schlafen kann ich auch nicht, also blieb mir doch gar nichts anderes übrig, als ein bisschen umzudekorieren. Aber wenn es dir nicht passt, darfst du auch gerne mal die Tür aufmachen und mich rauslassen. Dann kann ich endlich das Weite suchen, so wie ich es eigentlich vorhatte, als ihr mich aus dem Tierheim rausgeholt habt. Ich bin nämlich ein waschechter Streuner, jawohl. Und das, seit ich vor zwei Jahren auf die Welt gekommen bin. Dass die vom Tierheim mich eingefangen haben, war bloß ein Missgeschick und deine beiden Kinder für mich die einfachste Option, da wieder herauszukommen. Ein bisschen lieb gucken und Hände abschlecken – und schon war ich aus dem Gefängnis wieder raus. Blöd nur, dass ihr mich so gut bewacht und immer alle Türen zumacht. Wie man die aufkriegt, habe ich leider noch nicht ganz heraus. Aber vielleicht vergesst ihr ja mal, sie zuzumachen, wenn ich euch mit meinen Streichen ablenke.

Kopfschüttelnd musterte Patrick den lammfromm dreinblickenden Hund mit den hübschen dunkelbraunen Augen, der den Kopf schräg gelegt hatte und jetzt sogar ein wenig hechelte, sodass es aussah, als lächle er ihn an. »Als hätte ich nicht schon genug zu tun … Jetzt kann ich auch noch hier aufräumen. Dabei müsste ich dringend die Zeichnungen für die drei neuen großen Blockhäuser im Ferienpark durchgehen, ganz zu schweigen von der Abschlussabnahme von Justus’ Haus. Immerhin will er im November einziehen. Ich war schon seit zwei Wochen nicht mehr auf der Baustelle und habe keine Ahnung, ob wir noch im Zeitplan liegen.« Er seufzte leise. »Aber was rede ich ausgerechnet mit dir? Du hast keine Ahnung von meinen Problemen, und ich nehme an, dass sie dich auch nicht die Bohne interessieren.«

Stimmt auffallend. Ich habe keinerlei Interesse an was auch immer ihr Menschen so treibt. Gut, deine Kinder sind eigentlich ganz lieb und nett, aber wie gesagt, ich bin ein Streuner und muss mich allmählich wieder aus dem Staub machen. So gehört sich das nämlich für Vagabunden.

Vor sich hin brummelnd bückte Patrick sich, um die Toilettenpapierfetzen aufzuraffen, als irgendwo ein Telefon klingelte. Er zuckte zusammen und blickte sich suchend um, bis er das Telefon unter einer Schicht Papiere entdeckte. »Sternbach?«, meldete er sich, ohne vorher auf die Anzeige auf dem Display zu blicken. Mit der freien Hand sammelte er weiter das Toilettenpapier auf und stopfte es in den Papierkorb.

»Patrick, hier ist Ursula.«

»Ah, gut, dass du anrufst.« Er atmete auf, als er die Stimme seiner Empfangsdame erkannte. »Geht es dir besser? Kannst du am Montag wieder arbeiten? Ich brauche dich hier ganz dringend, weil …«

»Äh, nein.«

Er stockte. »Nein?«

»Nein.« Ursula räusperte sich, und er sah die Dreißigjährige sofort vor sich: ein wenig mollig, rot gefärbter Kurzhaarschnitt und immer lange bunte Schals, ganz gleich, welches Outfit sie trug. Er hatte sie vor einem halben Jahr eingestellt, nachdem seine vorherige Empfangsdame, die zugleich seine Sekretärin gewesen war, sich wegen Überlastung einen anderen Job gesucht hatte. Ursula war nicht eben seine allererste Wahl gewesen und hatte ihn mit ihrer laschen Arbeitsmoral und fehlenden Ordnungsliebe oft geärgert, aber ohne sie versank er erst recht in einem heillosen Durcheinander und hatte überhaupt keinen Überblick mehr über seine Aufträge und Termine. Jetzt seufzte sie leise. »Patrick, ich kündige. Ich habe dir schon was Schriftliches per Post geschickt, das du am Montag auf dem Schreibtisch haben wirst. Ich habe jemanden kennengelernt, weißt du, und er wohnt in Bochum, und ich kann zu ihm ziehen und habe dort auch schon eine neue Stelle gefunden und … Kurz und gut, ich komme nicht mehr zur Arbeit. Immerhin habe ich noch ein paar Urlaubstage, und laut meinem Arbeitsvertrag ist die Kündigungsfrist ja sehr kurz, also reicht es, wenn ich dir jetzt Bescheid gebe. Daher – tut mir leid, aber mach’s gut, ja? Du findest schon jemand anderen für den Posten.«

»Aber …« Vollkommen perplex starrte Patrick auf das Telefon in seiner Hand. Ursula hatte einfach aufgelegt. Kraftlos ließ er sich auf die Kante seines Schreibtischs sinken und legte den Kopf in den Nacken. »Verdammt noch mal!«

Ohne eine tüchtige Schreibkraft – und tüchtig war Ursula nicht mal gewesen – und jemanden, der sich des ganzen organisatorischen Krams annahm, war er aufgeschmissen. Und das gerade jetzt, wo ihm die Arbeit geradezu über den Kopf wuchs. Erst vergangenen Monat hatte er einen Mitarbeiter verloren, der ebenfalls in eine andere Stadt gezogen war, und immer noch keinen Ersatz für ihn gefunden. Gute Schreiner wuchsen nun mal nicht auf Bäumen.

Die Panik, die sich in ihm ausbreiten wollte, versuchte er sofort zu unterdrücken. Er würde nicht den Kopf verlieren. Er würde eine Lösung finden, wenn er im Moment auch noch nicht wusste, wo er sie suchen sollte. Erst einmal musste er hier für Ordnung sorgen und sich die Zeichnungen der neuen Häuser heraussuchen. Am besten nahm er sie mit nach Hause und legte eine weitere Nachtschicht ein, um sie zu kontrollieren und, wenn nötig, zu überarbeiten. In einer knappen Stunde musste er Jessica und Joel von seinen Eltern abholen und ihnen ein halbwegs nahrhaftes Abendessen auftischen. Und eigentlich hätte er gerne noch etwas mit ihnen unternommen oder sich zumindest zu Hause mit ihnen beschäftigt. Fast kam es ihm so vor, als würden die beiden sich emotional ganz allmählich wieder von ihm entfernen. Dabei hatte er sich in den ersten Monaten, die sie hier verbracht hatten, wirklich Mühe gegeben, eine Beziehung zu ihnen aufzubauen. Doch wie zum Teufel sollte er das alles schaffen, wenn er nicht mehr wusste, wo ihm der Kopf stand?

Er hatte schon überlegt, ob er seine Eltern um mehr Hilfe bitten sollte, doch den Gedanken hatte er schnell wieder verworfen. Die beiden und auch seine Geschwister hatten bereits so unglaublich viel für ihn und die Zwillinge getan und taten es immer noch. Er konnte sie unmöglich noch weiter belasten. Außerdem ging es ihm mächtig gegen den Strich, dass er nicht in der Lage sein sollte, sein Leben in den Griff zu bekommen. Vor ein paar Jahren hatte alles so gut begonnen, als er sein Bauunternehmen aus dem Boden gestampft hatte. Er war es langsam und überlegt angegangen und hatte bald erste Erfolge verzeichnen können. Wie hätte er auch ahnen sollen, dass ihn die Nachricht, dass er zwei Kinder hatte und dass deren Mutter im Sterben lag, derart aus der Bahn werfen würde?

Klarissa war vor nicht ganz elf Jahren als Siebzehnjährige im Hotel seiner Eltern aufgetaucht und hatte einen Sommerjob gesucht. An ihrem achtzehnten Geburtstag, den sie hier mit Patricks Familie und den Angestellten des Hotels gefeiert hatte, waren sie einander nähergekommen und für ein Weilchen mehr oder weniger ein Paar gewesen. Dann hatte sich herausgestellt, dass Klarissa aus reichem Elternhaus stammte und weggelaufen war. Ihre Eltern hatten sie aufgespürt und wieder mit nach Hause genommen. Danach hatte er nie wieder etwas von ihr gehört. Bis sie ihn vor einem knappen Jahr aus einem Hospiz angerufen hatte. Sie litt an einer unheilbaren Lungenkrankheit, und es ging ihr sehr schlecht. Klarissa hatte ihm von den Zwillingen erzählt und ihn angefleht, sich der beiden anzunehmen, weil sie sie nicht in der Obhut ihrer kontrollsüchtigen Eltern wissen wollte.

Sogar Klarissas Anwältin hatte ihm nahegelegt, das Sorgerecht für die Kinder zu beantragen, weil ihrer Meinung nach Klarissas Eltern nicht die geeignete Familie für die beiden Kinder seien. Nachdem er die Meiningers kennengelernt hatte, musste er sich dieser Ansicht anschließen. Nicht nur hatten die beiden erfolgreich verhindert, dass er früher von seinen Kindern erfahren hatte, sie wollten auch nicht, dass er die Zwillinge auch nur kennenlernte, und hatten sogar versucht, die Rechte ihrer eigenen Tochter zu beschneiden, um der Kinder habhaft zu werden. Und das alles, weil er in seiner Jugend zugegebenermaßen ein paar Fehler begangen hatte und mit dem Gesetz aneinandergeraten war. Was er inzwischen aus sich gemacht hatte, war ihnen vollkommen egal. Sie waren reich und hochnäsig und hielten sich für den Nabel der Welt.

Nach kurzem Hin und Her hatte er, um seine Rechte zu stärken, Klarissa auf dem Totenbett geheiratet und eine gemeinsame Sorgerechtserklärung eingereicht. Kurz darauf war Klarissa verstorben, und die Kinder waren bei ihm – oder vielmehr zunächst bei seinen Eltern – eingezogen.

Er hatte sein Haus umgebaut, zwei Kinderzimmer und ein zusätzliches Bad eingerichtet und war jetzt ein alleinerziehender Vater, der im Grunde keinen Schimmer hatte, was er hier eigentlich tat.

Innerlich seufzend fuhr er fort, im Büro so etwas Ähnliches wie Ordnung herzustellen, und wäre dabei mehrmals fast über Oskar gestolpert, der sich demonstrativ mitten im Raum ausgestreckt hatte und ihm gelangweilt zusah. »Hund müsste man sein, was?«, murmelte er vor sich hin.

Na klar. Also ich wollte noch nie was anderes sein. Ihr Menschen seid immer so kontrollsüchtig und tut Dinge, die ich nicht verstehe und die ein Hund niemals tun würde. Also stimme ich dir ausnahmsweise mal zu. Wuff.

Verblüfft hielt Patrick inne, als er das leise Bellen vernahm. »Hast du mir etwa zugestimmt?«

Jepp.

Kopfschüttelnd stapelte Patrick die Ordner mit den Zeichnungen aufeinander und schnappte sich dann die Hundeleine, die er beim Aufräumen unter dem Schreibtisch entdeckt hatte. »Na, komm mal her, damit ich dir das Geschirr anlegen kann. Wir müssen los.«

Wenn es sein muss. Oskar gähnte genervt und erhob sich.

Patrick hatte ihm gerade das Geschirr umgelegt und die Leine eingehakt, als hinter ihm die Tür aufging.

»Patrick, bist du hier? Oh, gut.« Seine Schwägerin Laura trat ein und schob, während sie sich mit großen Augen umsah, die Tür hinter sich ins Schloss. Als ihr Blick auf den überquellenden Papierkorb fiel, gluckste sie. »Was ist das denn? Hat Oskar etwa ein Missgeschick hinterlassen?«

»Nicht so, wie du jetzt vielleicht denkst.« Patrick erhob sich wieder und brachte ein schiefes Grinsen zustande. »Er hat nur seine Freude an Klopapier-Konfetti entdeckt.«

»Oje.« Laura bemühte sich sichtlich um einen mitfühlenden Gesichtsausdruck, das Lachen konnte sie dennoch nicht unterdrücken.

»Was führt dich hierher?« Er musterte sie etwas genauer. Sie trug ein knielanges dunkelblaues Wollkleid, das ihre kurvige Figur ausgezeichnet zur Geltung brachte, eine lange Kette mit Sternanhänger um den Hals, und ihre langen roten Locken hatte sie zu einem raffinierten Knoten hochgesteckt, sodass die zur Kette passenden Ohrstecker gut sichtbar waren. »Du siehst aus, als hättest du vor, meinen Bruder heute Abend ein bisschen zu verführen.«

Auf ihren Wangen erschien ein rosiger Schimmer. »Ich bin auf dem Weg ins Stadthotel, um ihn dort zum Abendessen zu treffen. Danach wollen wir ins Kino.«

»Aha.« Er schmunzelte. »Knutschen in der letzten Reihe?«

»Wer weiß?« Sie kicherte, wurde aber gleich wieder ernst. »Ich hatte ihm versprochen, dich zu fragen, ob das mit der Abschlussabnahme alles so klappt wie geplant, deshalb habe ich den kleinen Umweg hierher gemacht. Wir haben dich schon eine Weile nicht mehr zu Gesicht bekommen, sondern nur Toni und Karl, die den Innenausbau machen. Du scheinst ja gerade ganz schön mit Arbeit eingedeckt zu sein, da wollten wir nur sichergehen …«

»Keine Sorge, das haut schon hin.« Er schloss verärgert die Augen, als er merkte, dass sein Tonfall viel zu scharf und aggressiv geworden war. »Entschuldige, ich bin etwas im Stress, aber wir werden den Termin einhalten.«

Lauras Miene wurde ernst, und sie trat sichtlich besorgt auf ihn zu. »Wenn es sich um ein, zwei Wochen verschiebt, ist es auch kein Beinbruch.«

»Es verschiebt sich gar nichts.« Verflixt, wieder zu harsch. Er rieb sich über die Stirn.

»Was ist los, Patrick?«

Er blickte auf seinen Arm, auf den sie eine Hand gelegt hatte. »Gar nichts. Wie gesagt, ich bin nur ein bisschen im Stress, sonst nichts.«

Sie drückte seinen Arm. »Wenn du Hilfe benötigst …«

»Nein.«

»… dann kannst du immer zu uns kommen, das weißt du doch?«

»Ja.« Er fluchte innerlich. »Ich brauche keine Hilfe. Ihr tut schon genug für mich und die Zwillinge.«

»Trotzdem kannst du immer um Hilfe bitten. Es ist nicht einfach als alleinerziehender Vater.« Sie schwieg kurz, blickte sich noch einmal um. »Ist Ursula immer noch krank?«

Seufzend ergab er sich. Laura hatte in dem Jahr, das er sie nun kannte, bereits die inquisitorischen Fähigkeiten seiner Familie übernommen und würde wahrscheinlich keine Ruhe geben, ehe er ihr nicht zumindest etwas erzählte. »Nein, sie ist nicht mehr krank. Sie hat gekündigt.«

»Was?« Verblüfft hob Laura den Kopf.

»Sie hat einen Mann kennengelernt und geht mit ihm nach Bochum.«

»Das gibt es doch nicht. Erst Ronny, jetzt Ursula? Das ist aber wirklich Pech. Dabei war sie doch noch gar nicht lange hier.«

»Ein gutes halbes Jahr.« Er zuckte mit den Achseln. »Morgen muss ich eine Stellenausschreibung in die Zeitung setzen.«

»Ja, unbedingt. Ohne jemanden, der das Büro organisiert, bist du doch aufgeschmissen.« Erneut drückte sie seinen Arm. »Nicht, dass du nicht fähig wärst, den Kram selbst zu machen, aber du musst dich um so viele Dinge kümmern. Eine gute Bürokraft brauchst du dringend. Soll ich mich mal umhören, ob jemand, den wir kennen, einen Job sucht oder jemanden kennt, der jemanden kennt …?«

»Klar, von mir aus.« Er schielte auf seine Armbanduhr. »Ich muss jetzt los, die Kinder abholen.«

»Natürlich.« Endlich ließ sie seinen Arm los, lächelte ihm aber aufmunternd zu. »Du schaffst das schon.«

Er nickte nur. »Ich rufe euch wegen des genauen Abnahmetermins noch mal an.«

»Okay.« Zögernd drehte sie sich um und öffnete die Tür. »Du solltest mit Oskar mal in die Hundeschule gehen. Er scheint nicht von Natur aus gehorsam zu sein, so wie unsere Lizzy.«

Was, Hundeschule? Nee, nee, kommt ja gar nicht infrage. So einen Blödsinn fangen wir gar nicht erst an. Oskar stieß ein ungehaltenes Grummeln aus.

Überrascht blickten Patrick und Laura auf den Hund hinab. Patrick grinste erneut schief. »Ich weiß. Sobald der Tag achtundvierzig Stunden hat, gehe ich die Sache an.«

Laura lachte. »Es war so toll von dir, den Kindern diese Freude zu bereiten. Aber ein Hund macht selbst im besten Fall eine Menge Arbeit. Vielleicht hättest du noch ein Weilchen warten sollen, bis du etwas mehr Zeit hast.«

Nein, also da muss ich dringend widersprechen. Oskar schüttelte sich. Der Moment war perfekt. Viel länger hätte ich es in dem blöden Tierheim nämlich nicht ausgehalten. Nicht, dass die Leute da nicht nett gewesen wären, und die anderen Hunde – na ja, die waren auch in Ordnung –, aber ich bin nun mal ein Vagabund. Ein Streuner. Ich muss raus in die große weite Welt.

»Wenn ich darauf warte, bin ich in Rente, und die Kinder sind aus dem Haus.« Er winkte ab. »Nein, sie haben so schon nicht viel von mir, da sollen sie wenigstens einen vierbeinigen Spielkameraden haben. Irgendwie funktioniert es ja.«

»Na gut, hergeben könnte ich den süßen Oskar an eurer Stelle jetzt auch nicht mehr.« Sie beugte sich über den Hund und wuschelte ihm durchs Fell. »Nicht wahr, du bist ein ganz Süßer und Lieber – und so flauschig.«

Oh, danke sehr. Das Kompliment nehme ich natürlich gerne an. Mit einem leisen Schnauben schüttelte Oskar sich erneut und leckte ihr kurz über die Hand.

Laura kicherte wieder. »Kleiner Charmeur.« Sie richtete sich wieder auf und nickte Patrick zu. »Also, bis dann – und wenn etwas sein sollte …«

»Jaja.« Er winkte noch mal lässig ab und bemühte sich um eine heitere Miene. »Ich komme schon zurecht. Fahr du jetzt mal lieber zu deinem Göttergatten, und verdreh ihm ein bisschen den Kopf.«

Sie lächelte, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Wange. »Grüß Jessica und Joel von uns.«

»Mach ich.« Er folgte ihr nach draußen, schaltete vorher alle Lichter aus und die Alarmanlage an und schloss hinter sich das Bürogebäude ab. Dann sah er Laura dabei zu, wie sie zu ihrem Auto ging und davonfuhr. Er lief mit Oskar ein paar Schritte in den angrenzenden Wald, damit der Hund sein Geschäft verrichten konnte, und verfrachtete ihn danach in die Hundebox im Kofferraum des gebrauchten SUV, den er zusätzlich zu seinem Pick-up angeschafft hatte, als ihm klar geworden war, dass er ein familientaugliches Auto benötigte.

Sein Blick fiel auf eine der beiden Werkshallen, in der noch Licht brannte. Seine beiden Angestellten Heiko und Mark wären noch mindestens zwei Stunden dort beschäftigt, und Heiko würde später die Halle abschließen. Dass die zweite Halle seit Ronnys Weggang gänzlich leer stand, ärgerte Patrick nicht nur, es bereitete ihm auch Sorgen, immerhin hatte er einen nicht unbeträchtlichen Kredit aufgenommen, um das Werkstattgebäude zu bauen. Dort wurden hauptsächlich Möbel und sonstige Teile der Inneneinrichtung gefertigt, soweit dies von den Kunden gewünscht wurde. Ronny war Schreinermeister gewesen und hatte zusammen mit Karl und Toni gute Arbeit geleistet. Jetzt arbeiteten die beiden Gesellen erst einmal nur noch die vorhandenen Aufträge ab, nicht selten mit Patricks tatkräftiger Hilfe. Doch eigentlich musste Patrick noch mindestens einen neuen Meister und einen Gesellen einstellen, vielleicht sogar einen Auszubildenden im kommenden Jahr. Wenn er denn fähige Leute fände, doch das hatte sich zuletzt als nicht so einfach herausgestellt.

Kopfschüttelnd, weil er die Situation heute ohnehin nicht mehr ändern konnte, klemmte er sich hinters Steuer, atmete tief durch und nahm sich vor, sich seinen Eltern und den Kindern gegenüber nichts von seinen Sorgen anmerken zu lassen. Es reichte, wenn er sich später, wenn er allein war, den Kopf zerbrach.

***

»Hier, bitte, für Ihre Mühen.« Mit einem strahlenden Lächeln reichte Angelique den beiden Umzugshelfern, die ihre Möbel und Habseligkeiten aus ihrer Kölner Luxuswohnung in die wesentlich kleinere, aber dennoch hübsche Wohnung im Haus ihrer Tante transportiert hatten, ein großzügiges Trinkgeld. »Ohne Sie beide wäre ich aufgeschmissen gewesen.«

Die beiden Männer bedankten sich artig und verabschiedeten sich. Kaum waren sie verschwunden, als Angelique die Wohnungstür ins Schloss warf und sich auf den nächstbesten Umzugskarton in ihrem zukünftigen Wohnzimmer sinken ließ. Die Ellenbogen auf die Knie und das Kinn in die Hände gestützt, blickte sie auf die Unordnung zwischen Couch, Kisten, Sideboard und aufgerollten Teppichen und stieß ganz langsam die Luft aus.

Ihr Leben hatte sich gerade so grundlegend verändert, dass sie selbst noch nicht so ganz wusste, was sie davon halten sollte. Deshalb hatte sie auch noch niemandem außer ihrer Tante Inge davon erzählt. Selbst ihre beste Freundin Laura wusste nur wenige Details. Erst einmal musste Angelique Ordnung in das Chaos bringen, das sich vor ihr ausbreitete, sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinne, denn Chaos gehörte nicht in ihr Leben. Es lag in ihrer Natur, chaotische Zustände in geordnete zu verwandeln, und das Talent, dabei mehrere Dinge gleichzeitig zu erledigen, ohne auch nur ein Detail oder das große Ganze aus den Augen zu verlieren, war ihr in die Wiege gelegt worden. Also würde sie auch mit dieser Situation spielend fertigwerden – sobald sie sich darüber klar geworden war, in welche Richtung sie von hier aus gehen wollte.

Zeit zum Überlegen hatte sie momentan genug, nachdem sie gerade Knall auf Fall ihren Job verloren hatte. Einen gut bezahlten Job in der angesehenen Kölner Marketingfirma Callas noch dazu. Fast ein Jahr lang hatte sie sich als Assistentin der stellvertretenden Geschäftsführerin krummgelegt, ihrer Chefin Claudia praktisch jeden Wunsch von den Augen abgelesen, drei von vier Wochenenden gearbeitet. Jetzt war Claudia in eine noch größere Firma nach Hamburg übergewechselt, und Carlo Callas, der Sohn des Firmeninhabers, hatte Angelique kurzerhand gefeuert. Sie sei zu teuer, hatte er behauptet und Claudias Stelle mit seiner frischgebackenen Ehefrau besetzt, die auch direkt eine fähige Assistentin mitbrachte.

Angelique hatte vor Wut gekocht. Natürlich hatte sie ein hohes Gehalt bekommen, aber dafür hatte sie auch überdurchschnittliche Arbeit geleistet. Vor Claudia war Laura ihre Chefin gewesen, bis sie hier in diese nette kleine Stadt gezogen war, um nach einer desaströsen Affäre mit Carlo Callas ihr Leben neu zu ordnen und als Marketingchefin der beiden Sternbach-Hotels neu anzufangen.

Der Neubeginn war Laura besser geglückt, als Angelique erwartet hatte, denn mittlerweile war sie mit dem ältesten Sohn des Hotelchefs glücklich verheiratet. Vielleicht war es ein ganz klein wenig diese Erfolgsgeschichte, die Angelique dazu veranlasst hatte, sich eine Auszeit zu gönnen und genau in dieses nette Städtchen zu ziehen. Hier fand sie hoffentlich ein wenig Ruhe und wurde sich darüber klar, was genau sie sich eigentlich von ihrer Zukunft erwartete. Ihre Tante hatte glücklicherweise gerade eine Wohnung in ihrem geerbten Mehrfamilienhaus frei gehabt und sie mit offenen Armen empfangen.

Inge war Angelique die Liebste ihrer Verwandten, abgesehen von ihrem ältesten Bruder Lukas, der immer so etwas wie ihr bester Freund gewesen war. Zu ihren Eltern pflegte sie eine eher oberflächliche Beziehung, denn die Ansichten der beiden über ihre Rolle in der Welt im Allgemeinen und der altehrwürdigen Fabrikantenfamilie Sahrmüller im Speziellen unterschieden sich einfach zu sehr von ihren eigenen. Mit ihrem zweitältesten Bruder Ralf und seinem Ehemann kam Angelique recht gut aus – solange sie allein mit ihnen war. Ihre jüngere Schwester Nina, die mit einem Adeligen verheiratet und mit vierundzwanzig Jahren bereits zweifache Mutter war, ähnelte ihren Eltern zu sehr, als dass die Bindung zu ihr besonders eng oder innig hätte werden können.

Inge war die Schwester von Angeliques Vater, doch die beiden hätten nicht unterschiedlicher sein können. Angelique liebte Inges fröhliche, unkomplizierte Art und die Tatsache, dass ihrer Tante jeglicher Standesdünkel fehlte. Sie hatte vor einigen Jahren zusammen mit dem Mietshaus ein kleines Vermögen geerbt, arbeitete aber weiterhin mit großer Freude und Leidenschaft als Sprechstundenhilfe bei einer Tierärztin. Sobald ihre Arbeitszeit um war, würde sie ganz sicher hier auftauchen und Angelique ihre Hilfe anbieten.

Auch Laura hätte ihr mit Sicherheit angeboten zu helfen, doch ihr hatte Angelique noch gar nichts von ihrem Umzug erzählt. Lediglich den Zorn über ihre Kündigung hatte sie umgehend telefonisch bei der Freundin abgeladen, die, wie nicht anders zu erwarten, ebenso empört und sofort zu jeglichem Freundschaftsdienst bereit gewesen war.

Doch Angelique hatte das Angebot dankend abgelehnt. Aus einem ersten Impuls heraus war sie in Kampfstellung gegangen und hatte sich sofort darangemacht, Bewerbungsmappen zusammenzustellen. Mit ihren Fähigkeiten und Referenzen war es sicherlich nicht allzu schwierig, schnell wieder eine Stellung zu finden. Damit hatte sie auch Laura beruhigt und ihr versprochen, sie sofort zu informieren, wenn sie einen neuen Arbeitsvertrag unterschreiben wollte. Das war vor ungefähr zwei Wochen gewesen. Angelique hatte noch so viele Urlaubstage und Überstunden gehabt, dass sie praktisch am Tag ihrer Kündigung ihren Arbeitsplatz bei Callas hatte räumen können. Das, so hatte sie gedacht, war perfekt, um sofort zum Angriff überzugehen. Doch je mehr Mappen sie mit der ihr angeborenen Sorgfalt erstellt hatte, desto mehr Zweifel waren in ihr gewachsen. Wollte sie wirklich wieder das Mädchen für alles eines ehrgeizigen und womöglich überkandidelten Erfolgsmenschen sein oder nicht doch lieber ihr eigenes Ding machen? Nur welches Ding das sein könnte, das wusste sie absolut nicht. Sie war zu lange in ein und derselben Tretmühle gewesen und hatte ihre Wünsche und Träume so sehr vernachlässigt, dass sie Mühe hatte, sie wieder an die Oberfläche zu holen.

Nicht dass ihr die Arbeit bei Callas keinen Spaß gemacht hätte, aber nach Monaten oder sogar Jahren des beinahe Rund-um-die-Uhr-Arbeitens musste sie sich eingestehen, dass sie auf der Stelle trat – und dass sie etwas Neues wollte.

Ihrer Freundin hatte der abrupte und rigorose Wechsel von der hektischen Großstadt und dem international agierenden Unternehmen in die Kleinstadt und zu einem familiengeführten Hotelbetrieb mehr als gutgetan. Sie war aufgeblüht, hatte sogar viel Ballast aus ihrer Vergangenheit abwerfen oder zumindest endlich verarbeiten können.

So schwerwiegende emotionale Päckchen trug Angelique zwar nicht mit sich herum, und sie war sich auch nicht sicher, ob diese kleine Stadt ihr überhaupt irgendwelche beruflichen Perspektiven zu bieten hatte, doch für eine Auszeit taugte sie allemal. Ein paar Wochen, vielleicht sogar bis zum Jahresende, würde sie sich Zeit nehmen, um ihr Leben neu zu justieren, um dann im neuen Jahr wieder voll durchzustarten.

Nachdem sie sich diesen Plan wieder vor Augen geführt hatte, erhob Angelique sich mit frischem Schwung, reckte sich ein wenig, schüttelte ihr langes schwarzes Haar und wollte es gerade mit einem einfachen Haargummi zu einem Zopf zusammenbinden, damit es ihr bei der Arbeit nicht im Weg war, als es an der Wohnungstür Sturm klingelte.

Rasch streifte Angelique den dunkelroten Haargummi über ihr rechtes Handgelenk, ging mit großen Schritten auf die Tür zu und riss sie auf. »Jaja, ich bin doch schon da. Wer ist denn …? Laura!« Verblüfft starrte sie ihre Freundin an. »Was machst du denn hier?«

Laura trat einen Schritt vor und zog sie heftig an sich. »Das Gleiche könnte ich dich fragen. Warum hast du mir denn nicht erzählt, dass du vorhast hierherzuziehen? So was verschweigt man doch der besten Freundin nicht.«

Obwohl sie mit diesem Besuch absolut nicht gerechnet hatte, spürte Angelique Freude und auch Erleichterung in sich aufsteigen und erwiderte die Umarmung.

Die kleine Westhighland-White-Terrierdame, die Laura an der Leine mit sich führte, bellte indes hell und hüpfte freudig auf und ab, bis Angelique sich bückte und sie begrüßte.

»Hallo, Lizzy, du Hübsche. Du bist ja immer noch so ein Energiebündel. Hältst du dein Frauchen schön in Atem und bei Laune?«

Wieder bellte die Hündin fröhlich, und Laura lachte. »Das tut sie, darauf kannst du dich verlassen.«

»Ach, Laura.« Angelique richtete sich wieder auf und küsste die Freundin auf beide Wangen. »Kommt rein. Ich wollte mich erst einrichten, weißt du, bevor ich mich bei dir melde.«

»Aber wir hätten dir doch beim Umzug geholfen.« Ebenso streng wie liebevoll musterte Laura sie, während sie zusammen ins Wohnzimmer gingen. »Ich schulde dir sowieso noch einen Umzug, weil du mir letztes Jahr so wunderbar mit den Sachen meiner Eltern geholfen hast.«

»So ein Quatsch, du schuldest mir überhaupt nichts.« Mit beiden Händen winkte Angelique ab. »Setz dich.« Sie deutete auf die Couch, die zwar noch nicht an ihrem zukünftigen Platz stand, jedoch neben den Kartons die einzige verfügbare Sitzgelegenheit im Raum war. »Ich kann dir leider nicht viel mehr als Mineralwasser und Cola light anbieten … aus der Flasche. Ich habe noch nicht ausgepackt, wie du siehst. Genau genommen bin ich erst vor ein paar Minuten angekommen. Du hast die Möbelpacker haarscharf verpasst.« Sie hielt kurz inne. »Woher weißt du überhaupt, dass ich hier bin?«

Laura machte es sich auf der Couch bequem, und prompt hüpfte Lizzy auf ihren Schoß. »Deine Tante Inge hat sich verplappert. Ich war vorhin mit Lizzy bei Fiona zum Impfen und um Wurmkur zu kaufen, und da hat Inge erzählt, dass du heute hier einziehst. Du kannst dir sicher vorstellen, dass ich aus allen Wolken gefallen bin. Was ist denn mit deiner schönen Wohnung in Köln? Und hast du doch noch keinen neuen Job gefunden? Ich dachte, du hättest schon einen Schlachtplan und inzwischen mindestens zehn Firmen, die sich um dich reißen.«

»Ich habe meine Pläne geändert.« Auch Angelique setzte sich auf die Couch und kraulte Lizzy hinter den Ohren. »Tut mir leid, dass ich dir nichts erzählt habe, aber irgendwie musste ich das erst mit mir selbst ausmachen. Hierherzuziehen war eine ziemlich spontane Idee und auch nur möglich, weil Tante Inge zufällig die Wohnung frei hatte. Ich habe den Mietvertrag in Köln zum ersten Dezember gekündigt, weil ich mir die Miete wohl nicht mehr werde leisten können. Meinen Treuhandfonds taste ich dafür nämlich nicht an.«

»Aber du findest doch bestimmt wieder einen Job.« Laura stockte. »Oder willst du in eine andere Stadt ziehen? Weiter weg? In München und Berlin gibt es viele gute Firmen, die dich mit Kusshand nehmen würden.«

»Nein, ich bleibe erst einmal hier, bis ich weiß, was werden soll. So weit weg möchte ich auch nicht, wenn ich ehrlich sein soll.« Angelique hob die Schultern. »Am Ende bekomme ich noch Heimweh.«

»Aber ausgerechnet hier? Du bist doch ein Großstadtkind.« Zweifelnd musterte Laura sie.

»Eigentlich nicht wirklich.« Angelique lachte leise. »Die Stadt, in der ich aufgewachsen bin, war ja nicht viel größer als diese hier. Ich bin nur von dort geflohen, weil mir die Decke auf den Kopf gefallen ist und meine Eltern mir auf den Wecker gingen. Versteh mich nicht falsch, ich mag Köln sehr, aber ich komme auch in einer Kleinstadt klar. Außerdem kann ich in weniger als einer Dreiviertelstunde Großstadtluft schnuppern, wenn ich meine, es nötig zu haben.«

»Aber was willst du denn jetzt machen? Hier gibt es keine Marketingfirmen oder etwas Ähnliches, bei denen du dich bewerben könntest.«

»Ich weiß. Ich bin mir auch gar nicht sicher, ob ich diese Art Job überhaupt noch einmal machen möchte oder nicht vielleicht etwas ganz anderes. Ich nehme mir ein paar Wochen Auszeit.«

»Aha.« Die Zweifel standen Laura deutlich ins Gesicht geschrieben. »Wer sind Sie, und was haben Sie mir meiner Freundin Angelique gemacht?«

Angelique lachte. »Glaubst du, das kann ich nicht?«

»Justus hat dich mal die Tausendprozentige genannt …«

»Soll ich jetzt geschmeichelt oder beleidigt sein?«

»Es war als Kompliment gemeint.«

Kopfschüttelnd lehnte Angelique sich auf der Couch zurück und legte für einen Moment den Kopf in den Nacken. »Auch Tausendprozentige müssen ab und zu mal ihre Akkus aufladen. Ich meine es ernst, Laura. Etwas muss sich ändern. Bei Callas habe ich zuletzt so gut wie alles gemacht, und Claudia hat die Lorbeeren eingeheimst. Der fette Gehaltsscheck am Ende des Monats war zwar nett, aber vielleicht sollte ich mich allmählich nach etwas umsehen, wobei ich nicht immer nur im Schatten anderer stehe. Ich bin jetzt siebenundzwanzig. Spätestens mit dreißig will ich irgendwas Eigenes haben. Was genau, weiß ich zwar noch nicht, aber vielleicht etwas, was mehr Sinn ergibt, als meiner Chefin nachts um zwei noch von irgendwoher chinesischen Tee zu besorgen, weil sie sonst angeblich nicht denken kann.«

Laura dachte über ihre Worte nach. »Das kann ich verstehen.« Sie hielt kurz inne. »Du hast also alle Brücken hinter dir abgebrochen, so wie ich vergangenes Jahr?«

»So ähnlich.« Angelique rutschte ein wenig auf der Couch hin und her, bis ihr Kopf auf der Rückenlehne lag, und streckte die langen Beine in den schwarzen Jeans weit von sich. »Es fühlt sich zwar etwas seltsam an zu wissen, dass ich morgen früh nicht aufstehen und zur Arbeit gehen werde, aber wahrscheinlich tut mir etwas Urlaub und Abstand mal gut. Zeit zu haben … Ich weiß schon gar nicht mehr, wie das ist.«

»So ging es mir damals auch, ich wusste es bloß nicht.« Laura lächelte versonnen. »Ich war so tief in meinem Schneckenhaus verbarrikadiert, dass ich den Weg hinaus fast nicht mehr gefunden hätte. Aber Justus und seine Familie haben sich viel Mühe mit mir gegeben und mich schließlich doch hervorgelockt.«

»Deine Familie meinst du.« Angelique blinzelte ihr aus ihrer halb liegenden Position vergnügt zu.

»Jetzt ist es auch meine Familie, ja. Sie haben so viel für mich getan und …« Abrupt stockte sie, runzelte die Stirn, dann schüttelte sie den Kopf.

»Was und?« Angelique wandte ihr das Gesicht zu.

»Nichts.« Mit gekräuselten Lippen blickte Laura auf Lizzy hinab. »Ich dachte nur gerade … Nein.«

»Was dachtest du?« Angelique kniff die Augen zusammen. »Komm schon, das ist gemein, einfach deine Sätze nicht zu vervollständigen. So was macht mich verrückt, das weißt du genau.«

Laura schmunzelte. »Weißt du, mir ist nur gerade ein Gedanke gekommen … Eine Idee, um genau zu sein. Aber ich bin mir nicht ganz sicher …«

»Was für eine Idee?« Angelique bewegte träge ihre Füße hin und her, die in grauen Stiefeletten steckten.

»Erinnerst du dich an Justus’ Bruder Patrick?«

Sie hörte mit den Fußbewegungen auf. »Das bescheuertste WLAN-Passwort, das die Welt je gesehen hat. Ja! Natürlich erinnere ich mich an ihn. Abgesehen davon hast du mir ja oft genug von der Sache mit ihm und dieser Klarissa und den Zwillingen erzählt. Ganz schön mutig von ihm, die Kinder zu sich zu nehmen. Aber auch bewundernswert. Was ist mit ihm? Braucht er ein Passwort-Update?«

Laura gluckste, wurde aber gleich wieder ernst. »Nein. Er braucht …« Sie stockte wieder, schluckte, nickte dann vor sich hin. »Er braucht dich.«

»Was?« Ruckartig richtete Angelique sich auf und starrte ihre Freundin entgeistert an.

»Jemanden wie dich, meine ich.« Wieder nickte Laura, so als wolle sie sich selbst überzeugen. »Dass ich nicht gleich darauf gekommen bin! Du weißt, dass er Holzhäuser baut und nebenher ein eigenes kleines Sägewerk betreibt, nicht wahr?« Ehe Angelique etwas erwidern konnte, fuhr sie fort: »Ihm sind in den letzten Wochen zwei Mitarbeiter abgesprungen. Erst ein guter Schreinermeister und vor einer Woche dann auch noch seine Bürokraft. Er sucht händeringend nach Ersatz, aber es ist wie verhext. Es bewerben sich nur Leute, die für die Jobs nicht qualifiziert genug sind.«

»Na und? Ich bin weder Schreinermeisterin noch Sekretärin.« Erneut bewegte Angelique ihre Füße hin und her.

»Natürlich nicht, aber du bist ein Multitasking-Genie.« Laura erwiderte ihren Blick eindringlich. »Du könntest ihm helfen, das Unternehmen wieder auf Vordermann zu bringen. Er hat derzeit sehr viele Aufträge, arbeitet fast rund um die Uhr und muss sich auch noch um die Kinder kümmern. Das schafft er einfach nicht allein. Wir versuchen schon alle, ihm zu helfen und ihn zu entlasten. Margit und Hans nehmen nachmittags die Kinder, wann immer es ihnen möglich ist, Justus arbeitet manchmal an den Blockhäusern mit, wenn er Zeit findet. Außerdem hat Ricarda sich jetzt erbarmt, die Steuer und Lohnabrechnungen für ihn zu machen, bis er jemanden gefunden hat, den er dafür einstellen kann. Er rotiert, und wir machen uns alle Sorgen um ihn. Er lässt sich nämlich nicht anmerken, wie schlecht es ihm geht, und behauptet immer, er habe alles im Griff. Aber neulich war ich zufällig bei ihm im Büro, und da hat mich fast der Schlag getroffen. Na ja, es war vielleicht auch ein dummer Moment, weil Oskar gerade ein Paket Toilettenpapier zerfetzt hatte, aber …«

»Wer ist Oskar?«

»Sein Hund.« Um Lauras Mundwinkel zuckte es. »Eigentlich hat er ihn für die Kinder aus dem Tierheim geholt, aber tagsüber ist Oskar meistens bei ihm. Leider ist er nicht besonders gut erzogen.«

»Patrick oder der Hund?« Abwehrend hob Angelique beide Hände. »Wie der Herr, so der Hund, würde ich mal vermuten. Ich glaube nicht, dass deine Idee so gut ist. Soweit ich mich erinnere, ist er ein unhöflicher Klotz. Auf so was kann ich verzichten.«

»Ach was, ihr seid euch nur auf dem falschen Fuß begegnet. Ich bin sicher, dass er froh wäre, wenn er jemanden wie dich einstellen könnte.«

»Im Leben nicht.« Kopfschüttelnd erhob Angelique sich. »Er hat sehr deutlich gemacht, was er von mir hält.«

»Du umgekehrt aber auch.« Laura schmunzelte bei der Erinnerung an das Zusammentreffen der beiden vor einem Jahr. Sie stand ebenfalls auf, sodass Lizzy hastig zu Boden sprang und sich schüttelte. Ihr Blick wurde wieder eindringlich. »Bitte, Angelique. Er braucht wirklich jemanden, der den ganzen Bürokram erledigt, damit er sich mehr auf seine Arbeit konzentrieren kann – und wieder etwas mehr Zeit für die Zwillinge hat. Viola hat schon vor eine Weile gesagt, er würde auf dem Zahnfleisch gehen. Ich habe das erst nicht so ernst genommen, aber nachdem ich kürzlich bei ihm war, glaube ich inzwischen auch, dass er sein Unternehmen riskiert, wenn er so weitermacht. Er kann einfach nicht alles allein machen.« Ihr Blick wurde noch eine Spur bittender. »Es wäre auch nur für eine Weile, bis er sich wieder gefangen und jemand anderen für den Posten gefunden hat. Du weißt selbst, wie schwierig es ist, wirklich gute Mitarbeiter zu finden.«

»Ich habe keinen Schimmer von Holzhäusern.« Angelique verschränkte die Arme vor der Brust. Im Grunde hätte sie ihrer Freundin – oder vielmehr deren Schwager – gerne geholfen, wenn … Ja, wenn es nicht ausgerechnet dieser Schwager gewesen wäre. Sie erinnerte sich noch gut – viel zu gut! – an das erste und einzige Zusammentreffen mit ihm an jenem Tag vor ungefähr einem Jahr, als sie hergekommen war, um Laura mit den Möbeln ihrer Eltern zu helfen, die von einem Lagerhaus in Berlin hierher gebracht worden waren. Laura hatte sich davor gefürchtet, die Sachen ganz allein in Empfang zu nehmen und sich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen. Die Sternbachs hatten ihr einen Lagerraum und ihre Unterstützung angeboten, und Angelique war ohne Wenn und Aber ebenfalls herbeigeeilt, um ihrer Freundin beizustehen. An dem Tag war sie Patrick Sternbach begegnet, und es war vom ersten Moment an klar gewesen, dass sie einander nicht ausstehen konnten. Seine raue, herablassende Art hatte sie geärgert, aber fast noch mehr aufgeregt hatte sie sich über dieses elendige WLAN-Passwort und seine laschen IT-Sicherheitsvorkehrungen. Allerdings musste sie zugeben, dass ihr schon damals eine gewisse Unordnung in seinem Büro aufgefallen war. Sie hatte es nur kurz genutzt, um ihrer Chefin Claudia ein paar Daten zu bearbeiten und zu übermitteln, und es hatte ihr sofort in den Fingern gekribbelt, für Ordnung zu sorgen. Deshalb hatte sie auch dieses unsägliche Passwort geändert – und bei der Gelegenheit auch gleich seine Antivirensoftware auf den neuesten Stand gebracht. Erfreut war er darüber nicht gewesen, im Gegenteil. Wenn nicht seine gesamte Familie anwesend gewesen wäre, hätte er ihr vermutlich den Kopf abgerissen. Trotzdem – oder gerade deswegen? – flammte in ihr jetzt doch so etwas wie widerwilliges Interesse auf.

»Das lernst du doch im Handumdrehen.« In Lauras Augen glomm Hoffnung. »Wirklich, Angelique, du wärst perfekt für den Job. Weißt du was? Komm doch übermorgen Abend zu unserem Familienessen bei meinen Schwiegereltern, da können wir das in gemütlicher Runde besprechen.«

»Bei einem Familienessen am Samstagabend?« Skeptisch verzog Angelique die Lippen. »Etwa mit dem gesamten Sternbach-Clan?«

»Na klar, uns gibt es nur im Rudel.« Lachend umarmte Laura sie. »Das wird lustig, und ich bin mir sicher, dass sich alle freuen werden, dich wiederzusehen.«

Was Patrick betraf, war Angelique sich da nicht ganz so sicher, aber was hatte sie schon zu verlieren? Wenn er ihr den Job nicht geben wollte, würde sie bei ihrem bisherigen Plan bleiben. Glücklicherweise war sie nicht darauf angewiesen, sich unmittelbar eine neue Arbeitsstelle zu suchen. Sie war froh über den Luxus, sich einen Job aussuchen zu können. Dass sie einen finden würde, der ihr entsprach, daran zweifelte sie nicht. Zwar hatte sie ihre schöne Wohnung in Köln aufgegeben, weil die Miete ohne die Stelle bei Callas dann doch zu hoch für sie werden würde, aber letztlich kam es ihr nicht darauf an, wo sie wohnte, solange sie sich wohlfühlte. »Also gut, wann soll ich dort sein?«

»Gegen neunzehn Uhr? Die Adresse schicke ich dir nachher als Textnachricht.« Laura drückte sie noch einmal kurz an sich. »Ich freue mich schon. Und danke, dass du bereit bist, einzuspringen. Patrick kann gar nichts Besseres passieren. Ich bin mir sicher, dass du sein Büro im Handumdrehen im Griff haben wirst.«

»Noch hat er mich nicht eingestellt.«

»Das wird er.« Laura schnalzte leise, um Lizzy auf sich aufmerksam zu machen, und wandte sich in Richtung Tür. »Er wird dankbar sein, dass er endlich eine fähige Bürokraft bekommt. Die letzte war nicht so toll, glaube ich, und sie hat ihn ja dann auch Knall auf Fall im Stich gelassen.«

»Hoffentlich hat sie nicht vor seinem lieblichen Wesen Reißaus genommen.«

Überrascht drehte Laura sich noch einmal in der Tür um. »Nein, warum sollte sie? Sie hat einen Kerl kennengelernt und ist mit ihm nach Bochum gezogen. Das hatte doch nichts mit Patrick zu tun. Er ist ein guter Chef. Ich habe ihn schon oft mit seinen Mitarbeitern erlebt und hatte nie den Eindruck, dass es da Probleme gibt. Im Gegenteil, er ist zwar manchmal ein bisschen flapsig, aber man kann sehr gut mit ihm auskommen. Ich mag ihn sehr.«

»Er ist ja auch dein Schwager.«

»Nein, so meinte ich das nicht.« Laura lächelte. »Er ist ein guter Mann. Sogar ziemlich charmant, wenn er will. Und extrem klug und fähig, sonst hätte er nicht mit Anfang dreißig schon sein eigenes Bauunternehmen. Er hat sich alles fast ohne Hilfe aufgebaut. Und dann solltest du ihn mal mit den Zwillingen erleben. Ich meine, am Anfang war er ja noch ziemlich unsicher und wusste nicht, wie ihm geschah, aber inzwischen kommen die drei so wunderbar miteinander aus! Er tut alles für die beiden.«

»Schon gut, schon gut.« Angelique grinste. »Du musst mir kein Loblied auf ihn singen und ihn mir auch nicht anpreisen. Ich will ihn schließlich nicht kaufen, sondern bestenfalls für ihn arbeiten.«

»Also ist das abgemacht?«

Angelique zuckte die Achseln. »Ich würde mich wahrscheinlich sowieso bald langweilen, wenn ich hier nichts anderes zu tun hätte, als die Zeit totzuschlagen. Ich hoffe, er zahlt gut.«

»Bestimmt.« Laura strahlte sie an. »Bis Samstagabend?«

»Klar, bis dann. Grüß Justus von mir.«

Nachdem sich die Tür hinter Laura und Lizzy geschlossen hatte, ließ Angelique sich zurück auf die Umzugskiste sinken, auf der sie zuvor schon gesessen hatte. Auf ihrem Gesicht breitete sich ein mutwilliges Lächeln aus. Patrick Sternbach brauchte also eine neue Mitarbeiterin, die seinen Laden auf Vordermann brachte. Der Gedanke gefiel ihr immer besser. Sie liebte solche Herausforderungen. Zwar hatte sie mit so etwas nicht gerechnet, aber unverhofft kam eben oft – und zu verlieren hatte sie tatsächlich nichts.

***

»Das ist jetzt aber nicht dein Ernst, oder?« Mit einem entsetzten Gesichtsausdruck blickte die Ehefrau des Weihnachtsmannes auf den einzigen eingeschalteten Bildschirm an der Videowand. Sie hatte eine kleine handliche Bohrmaschine in der Hand, weil sie gerade auf dem Weg ins Wohnzimmer war, wo ein neues Regal darauf wartete, an der Wand befestigt zu werden. »Das ist dein Plan?«

»Ja, gut, nicht wahr?« Sichtlich stolz reckte Santa Claus das Kinn. »Das mit dem Hund hatte sich ja schon erledigt, bevor ich in Aktion treten konnte, also hatte ich mehr Zeit, mich auf Joels andere Wünsche zu konzentrieren.«

»Und das ist dabei herausgekommen?« Mit schmerzlich verzogenen Lippen wandte Santas Frau sich ihm zu. »Bist du verrückt geworden?«

Die selbstzufriedene Miene des Weihnachtsmannes schwand. Zurück blieb Verunsicherung. »Was meinst du damit? Das ist doch ein Geniestreich. Mir ist eingefallen, dass Laura diese gute Freundin hat, die ihr letztes Jahr so wunderbar beigestanden hat, und du musst doch zugeben, dass diese Angelique geradezu prädestiniert dafür ist, Patrick aus seinem Schlamassel herauszuhelfen.«

»Ich würde eher sagen, die ganze Sache ist jetzt schon zum Scheitern verurteilt.« Streng musterte seine Frau ihn. »Weißt du nicht mehr, was damals los war, als die beiden aufeinandergetroffen sind? Das kann nur im Desaster enden. Bitte mach das wieder rückgängig.«

»Das geht nicht, fürchte ich. Ich habe schon zu viele Strippen gezogen.« Santa hob die Schultern. »Glaubst du wirklich, dass das schiefgehen wird? Ich finde meine Idee nach wie vor genial.«

Santas Frau blickte erneut auf den Bildschirm, dann auf das wild blinkende Gefühlsradar im hinteren Bereich des Büros, seufzte und legte die Bohrmaschine auf dem Schreibtisch ab. »Ich fürchte, mit Genialität hat deine Idee nicht viel gemein.« Sie ging um den Schreibtisch herum und setzte sich auf die Kante. »Siehst du nicht, dass das Gefühlsradar jetzt schon wie wild ausschlägt? Und die beiden sind sich noch nicht mal begegnet.«

»Was, wirklich?« Verblüfft drehte Santa Claus sich mit seinem Bürostuhl und stieß gleich darauf einen ungläubigen Laut aus. »Na, so was! Das habe ich wirklich nicht bemerkt.«

»Ja, weil du wieder mal vergessen hast, den Ton einzuschalten.« Seine Frau drehte den Bildschirm des Computers ein wenig herum und zog die Tastatur zu sich heran. »Lass mal sehen, was du sonst noch angestellt hast.«

»Ich habe nichts angestellt – nur in die Wege geleitet«, protestierte er schwach. Dann lächelte er wieder etwas zuversichtlicher. »Weißt du was? Wenn das Gefühlsradar so stark ausschlägt, könnte es doch sein, dass wir sogar zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen können – wenn ich Fliegen erschlagen würde, was ich selbstverständlich nie täte.«

»Zwei Fliegen …?« Seine Frau runzelte die Stirn, dann weiteten sich die Augen. »Das hast du also vor? Oh nein, das kann nicht gut gehen. Du hattest ja schon einige verrückte Ideen, aber diese hier …«

»Warum denn nicht?« Enttäuscht ließ er die Schultern hängen. »Vielleicht, wenn wir ein bisschen mit Sternenstaub nachhelfen …«

»Oh nein, das kommt nicht infrage. Wenn du dich da einmischst, gibt es nur ein riesiges Chaos. So viel Sternenstaub kannst du gar nicht sammeln, dass das gut gehen könnte.« Santas Frau blickte angestrengt auf den Bildschirm, tippte etwas auf der Tastatur ein und seufzte dann. »Die Sache ist schon ins Rollen geraten. Ich fürchte, diesmal muss ich mich da mal einmischen, damit nicht alles aus dem Ruder läuft.«

»Du?« Überrascht starrte Santa Claus seine Frau an.

Grimmig lächelte sie. »Ja, immerhin habe ich dir schon oft genug zugesehen. Sternenstaub, dass ich nicht lache! Wenn ich da nicht ein Auge draufhalte, geht dein schöner Plan nach hinten los, das versichere ich dir.«

3. Kapitel

Es war purer Zufall, dass Angelique am Samstagnachmittag einen ausgedehnten Spaziergang machte, der sie an den Stadtrand führte, wo sich Patrick Sternbachs Unternehmen befand. Sie hatte den gesamten Freitag und auch den Samstagvormittag damit verbracht, ihre Wohnung einzurichten, und brauchte nun dringend frische Luft und Abwechslung.

Na gut, neugierig war sie auch. Immerhin war es ein Jahr her, dass sie hier gewesen war, und tatsächlich staunte sie nicht schlecht, als sie an dem großen offenen Schiebetor stehen blieb, durch das man auf die Zufahrt zum Firmengelände gelangte. Ein neues weißes Firmenschild mit dunkelgrauer Schrift stand rechts neben dem Tor.

Wohnen in Holz

Dipl.-Ing. Patrick Sternbach

Holz- und Blockhäuser nach Maß

Über die Grafik eines Baumes, aus dem durch ein Astloch ein Holzwurm mit Bauhelm dem Betrachter frech entgegengrinste, lächelte sie und nickte gleichzeitig anerkennend. »Nicht schlecht, Herr Sternbach. Wenigstens scheinen Sie sowohl Geschmack als auch Humor zu besitzen.«

Da das Tor so einladend offen stand, ging sie einfach hindurch und sah sich ein wenig genauer um. Rechter Hand entdeckte sie das kleine ehemalige Werkstattgebäude, in dessen hinterem Lagerraum sie damals Lauras Möbel untergebracht hatten. Ein Stück weiter auf der linken Seite lagen das Bürogebäude und gleich dahinter zwei große Werkstatthallen, die einen weitläufigen Platz flankierten, auf dem, wie sie beim Näherkommen erkannte, Teile eines Blockhauses standen und lagen. Angelique hatte bereits recherchiert und wusste inzwischen, dass sie als Bausatz dienten, der später an Ort und Stelle zusammengefügt werden würde. Runde und eckige Holzbohlen in diversen Größen und weitere Arbeitsmaterialien waren in geordnetem Chaos ringsum verteilt. Weiter hinten gab es noch eine weitere Freifläche, die von Bauholz und mehreren Containern belegt wurde, und daran schloss sich das Sägewerk an.

Obgleich das Tor offen gewesen war und vor dem Bürogebäude Patricks dunkelroter Pick-up und zwei weitere PKW parkten, kam es Angelique zunächst so vor, als läge die Firma verlassen da. Erst als sie den Platz zwischen den Hallen fast erreicht hatte, vernahm sie das klingende Geräusch von Metall auf Metall – jemand hämmerte auf der Rückseite des Blockhauses in einem langsamen, monotonen Rhythmus. Als im nächsten Moment eine Kreissäge loskreischte, zuckte Angelique zusammen und blieb stehen.

Hinter ihr wurde ein Poltern und Quietschen laut.

»Achtung, weg da, gehen Sie aus dem Weg!« Die dunkle rauchige Männerstimme klang verärgert. »Was? Nein, Sie doch nicht. Tut mir leid. Hier steht nur irgend so eine Frau mitten im Weg.«

Angelique fuhr herum und sprang gleich darauf zur Seite, als sie einen großen Gabelstapler auf sich zufahren sah, der weitere Bauholzpakete zum Blockhaus brachte. Patrick Sternbach ging neben dem Gefährt her, ein Handy am Ohr, und dirigierte den Fahrer des Staplers zu einer bestimmten Stelle. Als er Angelique erkannte, runzelte er die Stirn, und ein ungehaltener Ausdruck trat in seine grauen Augen.

»Was machen Sie denn hier?« Als sie nicht gleich reagierte, schob er sie mit seinen großen Händen, die in grauen Arbeitshandschuhen steckten, unsanft beiseite. »Nun gehen Sie schon aus dem Weg, Herrgott noch mal. Sehen Sie nicht, dass hier gearbeitet wird?« Er hüstelte und sprach wieder in sein Handy. »Ja, Entschuldigung nochmals. Also, was genau hatten Sie sich denn für die Veranda vorgestellt?« Er musterte Angelique noch einmal fragend und wenig freundlich, während er der Antwort am anderen Ende der Leitung lauschte. »Aha. Mhm.« Die Furchen auf seiner Stirn vertieften sich. »Natürlich können wir auch einen Schaukelstuhl und eine Bank in derselben Optik liefern. Aber das sind Details, die wir vielleicht erst …« Er schloss kurz die Augen. »Mhm, ja, natürlich ist das wichtig. Haben Sie sich denn mit Ihrem Mann schon auf die Holzart geeinigt? Wie ich neulich bereits sagte, ist Kiefer natürlich immer in Mode, aber wenn Sie sich ein wenig mit dem Prospekt befasst haben, werden Sie sicherlich auch die anderen Hölzer … Ach so, dazu sind Sie noch nicht gekommen. Dann sollten Sie vielleicht erst überlegen, aus welchem Material …« Er zog seine Handschuhe mithilfe seiner Zähne aus und fuhr sich gleich darauf durch sein dichtes dunkelbraunes Haar, das ihm in widerspenstigen Locken bis zum Kragen ging. »Klar, kein Problem. Ich nehme Bank und Schaukelstuhl ins Angebot mit auf. Ist schon notiert. Ja, gerne. Bis nächste Woche dann, Frau Jungmöller. Ja, ich freue mich schon. Bis dann.« Eine Grimasse ziehend, schaltete er das Handy aus und wandte sich Angelique zu. »Haben Sie sich verlaufen?«

Sein gereizter, leicht herablassender Tonfall reizte Angelique sofort zum Widerstand. Sie setzte ihr strahlendstes Lächeln auf und warf ihr langes schwarzes Haar schwungvoll über die Schulter zurück. »Im Gegenteil. Ich habe den Weg hierher mit voller Absicht eingeschlagen. Die Gelegenheit war günstig, fand ich.«

Patricks Miene drückte vollkommene Verständnislosigkeit aus. »Was für eine Gelegenheit?« Als der Staplerfahrer kurz hupte, deutete er auf eine Stelle neben dem Blockhaus und lotste das Gefährt dann mit Winken und Rufen an den Ort, wo die Bauholzbündel abgelegt werden sollten.

Angelique war ihm automatisch gefolgt, hielt sich aber in sicherem Abstand von dem rollenden Ungetüm. »Na, die Gelegenheit, mir meinen zukünftigen Arbeitsplatz mal aus der Nähe anzusehen.«

Patrick erstarrte und fuhr zu ihr herum. »Ihren was?«

Angelique grinste. »Laura hat Sie noch nicht vorgewarnt?« Seine entgeisterte Miene erheiterte sie, denn genau damit hatte sie gerechnet.

»Wovor gewarnt?« Argwöhnisch musterte er sie.

»Sie ist der Ansicht, dass Sie eine fähige Assistentin brauchen, weil die letzte Sie im Stich gelassen hat.«

»Ursula war nicht meine Assistentin, sondern meine Empfangsdame und Sekretärin.«

»Das war vielleicht das Problem.«

Die Furchen auf seiner Stirn vertieften sich wieder.

Angelique lächelte erneut. »Wenn Sie mich einstellen, kriegen Sie keine Sekretärin, sondern eine Assistentin der Geschäftsführung.«

Patrick hustete. »Drunter machen Sie es wohl nicht?«

»Ich kenne meinen Wert und verkaufe mich niemals auch nur einen Cent darunter.«

»Vergessen Sie es.« Er wandte sich ab und ging zu dem Bauholzstapel. Der Gabelstaplerfahrer war mit dem lauten Gefährt mittlerweile wieder von dannen gezogen. Mit einem gefährlich aussehenden Cutter schnitt Patrick die Kunststoffbänder durch, die die Hölzer zusammenhielten.

Angelique folgte ihm erneut und sah ihm interessiert zu.

Er warf ihr einen verärgerten Blick zu. »Sind Sie taub? Ich sagte …«

»Ich habe gehört, was Sie gesagt haben. Aber Laura hat mich gebeten, bei Ihnen einzuspringen, zumindest für den Übergang, und ich habe zugesagt.«

»Haben Sie nicht einen Job in Köln? In dieser Marketingfirma – Callas irgendwas?« Er zog eine der Holzlatten aus dem Stapel hervor und betrachtete sie prüfend. »Ich hätte Sie fast nicht erkannt ohne das an ihrem Ohr festgeklebte Handy.«

Angelique erinnerte sich noch gut daran, dass damals, als sie hier gewesen war, um mit den Möbeln von Lauras Eltern zu helfen, Claudia alle fünf Minuten angerufen und ihr Aufträge erteilt oder Fragen gestellt hatte. »Mein Handy hat Sendepause. Ich wurde … freigesetzt.«

»Was?« Patricks irritierter Blick traf sie.

»So nennt Callas das, wenn er jemanden rauswirft.«

»Aha.« Die Holzlatte wanderte zurück auf den Stapel. »Und warum hat er Sie … freigesetzt?«

»Ich war ihm zu teuer.«

»Ach.«

»Und seine Frau, die jetzt den Posten meiner ehemaligen Chefin besetzt, hat ihre eigene Assistentin.«

»Wenn Sie ihm schon zu teuer sind, werde ich gar nicht erst fragen, was Sie verdient haben. Ich brauche keine – wie haben Sie das eben genannt?«

»Assistentin der Geschäftsführung.«

»Ich komme auch so zurecht.«

»Laura scheint da anderer Ansicht zu sein.« Sie behielt ihr strahlendes Lächeln bei, weil sie spürte, dass sie ihm damit auf den Geist ging. »Darf ich mich mal in Ihrem Büro umsehen?«

»Nein.« Wieder wandte er sich ab und ließ sie einfach stehen – und wieder folgte sie ihm, diesmal um die Rückwand des im Bau befindlichen Blockhauses herum.

»Ich habe es Laura aber versprochen.«

»Das ist nicht mein Problem.«

»Wow!« Auf dieser Seite der Baustelle arbeiteten zwei Männer um die vierzig an einer der Außenwände. Daher auch das monotone Klopfen und das Schrillen der Kreissäge. Was sie jedoch zu dem bewundernden Ausruf veranlasst hatte, war das riesige Whiteboard, an dem neben mehreren Grundrisszeichnungen auch eine Grafik des fertigen Hauses angeheftet war. Neugierig trat sie näher an die Tafel heran. »Das wird ja ein Traumhaus. Da wird sich Frau Jungmöller aber freuen.«

»Das hier ist nicht ihr Haus.« Patrick trat etwas widerwillig neben sie. »Das wird das Empfangsgebäude im Ferienpark meiner Eltern. Mit Bistro, Kiosk und Mini-Supermarkt.«

Anerkennend nickte Angelique ihm zu. »Ich bin beeindruckt.«

»Tatsächlich?«

»Warum sollte ich das behaupten, wenn es nicht so wäre?« Sie sah sich eingehend auf der Baustelle um. »Wie viele Angestellte haben Sie?

»Sechs und zwei Aushilfen.« Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich stelle Sie nicht ein, ganz gleich, was Laura gesagt hat.«

»Dann haben Sie also bereits jemand anderen für den Posten gefunden?«

Er schwieg, doch ehe sie noch etwas sagen konnte, klingelte sein Handy. Als er einen Blick aufs Display warf, entstand eine steile Falte zwischen seinen Augen. »Nicht schon wieder! Die Frau raubt mir den letzten Nerv!«

»Wer? Die Kundin von eben?«

»Ja. Sie ist eine Landplage.«

»Darf ich mal?« Angelique nahm ihm das Mobiltelefon aus der Hand, ehe er reagieren konnte, und nahm den Anruf an. »Wohnen in Holz«, flötete sie. »Angelique am Apparat. Einen wunderschönen guten Tag. Was kann ich für Sie tun?«

Patrick starrte sie verblüfft an und wollte nach dem Telefon greifen, doch sie trat rasch einen Schritt zurück und grinste heiter, als sie die irritierte weibliche Stimme am anderen Ende der Leitung vernahm.

»Was? Wer ist am Apparat?«

»Angelique ist mein Name. Sie sprechen mit der Assistentin der Geschäftsführung.«

Patrick stieß einen fauchenden Laut aus und starrte sie ungehalten an.

»Oh, äh … Ich wusste nicht, dass Herr Sternbach eine Assistentin hat.«

»Ich bin ganz neu zum Team gestoßen. Was kann ich denn für Sie tun, Frau Jungmöller?«

»Woher wissen Sie denn, wer ich bin, wenn Sie noch neu sind?«

»Das ist doch schließlich mein Job.« Angelique gab ihrer Stimme den beschwingten Ton, den sie sich für Kundengespräche aller Art angewöhnt hatte. »Herr Sternbach ist leider im Augenblick sehr beschäftigt.« Sie wedelte mit der Hand, um ihm zu signalisieren, dass er sich weiter um seine Holzstapel kümmern konnte oder was auch immer er hier sonst zu tun hatte.

Er schüttelte den Kopf und wollte erneut nach dem Handy greifen, doch wieder wich sie ihm geschickt aus.

»Ach so, das ist ja schade. Also, ich habe eben noch mit ihm gesprochen und ganz vergessen zu fragen, ob er uns einen Katalog mit Schaukelstühlen und Sitzbänken für die Veranda schicken kann. Mein Mann würde sich gerne verschiedene Modelle ansehen, bevor wir uns entscheiden. Aber wenn dieser Posten noch ins Angebot soll, müssten wir uns ja ein bisschen beeilen, nicht wahr?«

Offenbar hatte Patrick gehört, was die Kundin gesagt hatte, denn er hob abwehrend beide Hände und schüttelte vehement den Kopf.

Angelique reagierte nicht darauf. »Selbstverständlich können wir Ihnen den Katalog zusenden.«

Patrick zischte erneut wütend und schüttelte noch heftiger den Kopf.

»Ich werde den Versand gleich kommende Woche veranlassen, Frau Jungmöller. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«

»Vielen Dank, das ist nett von Ihnen. Nein, das war es schon. Wie gut, dass Ihre Firma auch samstags erreichbar ist. Das findet man ja nicht allzu oft. Aber es ist doch überaus praktisch.«

»Wir arbeiten sehr service- und kundenorientiert«, flötete Angelique erneut in heiterem Ton. »Allerdings enden unsere Bürozeiten heute um …« Sie warf einen kurzen Blick auf ihre Armbanduhr. »Huch!« Sie lachte ein wenig übertrieben. »Sie haben gerade eben geendet. Da hatten Sie aber Glück, dass Sie nicht schon unseren Anrufbeantworter erwischt haben. Wenn sonst alles in Ordnung ist, wünsche ich Ihnen ein angenehmes Wochenende, Frau Jungmöller. Falls noch Fragen auftauchen sollten, erreichen Sie uns am Montag wieder zu den gewohnten Geschäftszeiten. Auf Wiederhören!«

»Ja, äh, danke noch mal. Auf Wiederhören.«

Angelique wartete gerade lange genug, um sicher zu sein, dass der Kundin nicht doch noch etwas einfiel, dann unterbrach sie die Verbindung und schaltete das Handy aus. Dann reichte sie es Patrick mit einem breiten Grinsen. »Sie hätten sich ruhig um Ihren Kram hier kümmern können.«

»Meinen Kram?« Er verzog wütend die Lippen. »Was sollte das denn?«

»Ich habe Ihnen Ruhe vor Frau Jungmöller verschafft.«

»Warum haben Sie das Handy ganz ausgeschaltet?« Er betrachtete es missmutig und schaltete es wieder ein. »Das ist mein Privathandy, das brauche ich ständig.«

»Ein grober Fehler.« Sie schüttelte tadelnd den Kopf. »Legen Sie sich ein Firmenhandy zu – und vernünftige Geschäftszeiten. Und richten Sie die Mailbox ein. Dann nerven die Kunden Sie auch nicht zu den unmöglichsten Zeiten.«

»Ich kann es mir nicht leisten, meine Kunden vor den Kopf zu stoßen.« Er trat einen Schritt auf sie zu. Seine attraktiven Gesichtszüge mit dem markanten Kinn, auf dem ein Bartschatten davon zeugte, dass er sich längst nicht jeden Tag rasierte, wirkten jetzt nicht nur verärgert, sondern waren zornig angespannt. »Es existiert kein Katalog für Schaukelstühle und Sitzbänke.«

Obgleich seine Aura plötzlich bedrohlich wirkte und ein flaues Gefühl in ihr auslöste, wich Angelique nicht zurück. »Warum nicht?«

»Weil …« Abrupt wandte er sich ab und entfernte sich ein paar Schritte von ihr. Dann drehte er sich wieder um. »Ich habe keinen Möbelschreiner mehr im Team, und solange dieser Zustand anhält, hat ein Katalog keinen Sinn. Außerdem habe ich keine Zeit für die Gestaltung.«

»Aha.«

»Versprechen Sie also meinen Kunden nichts, was Sie nicht halten können.« Er funkelte sie wütend an. »Ich habe jetzt zu arbeiten, also schlage ich vor, Sie verziehen sich wieder dorthin, wo Sie hergekommen sind.«

Angelique hob die Schultern. »Tut mir leid.«

»So sehen Sie aus.«

Sie lachte. »Ich kümmere mich um den Katalog.«

Patrick brummelte unwillig. »Ich sagte doch, es gibt keinen …«

»Ich schicke ihr einfach einen von meinem Bruder.«

Er hielt verblüfft inne. »Ihrem Bruder?«

»Er baut Ihnen alles aus Holz, was Sie wollen.«

»Er ist Möbelschreiner?« Mit widerwilligem Interesse kam er nun doch wieder näher.

»Man könnte es einen glücklichen Zufall nennen.« Sie zuckte mit den Achseln. »Oder Schicksal. Ich rufe Lukas nachher an und bitte ihn, uns ein paar seiner Kataloge zu schicken.« Sie legte den Kopf ein wenig schräg. »Darf ich mir jetzt Ihr Büro ansehen?«

»Nein, ich habe zu tun.«

»Ich kann auch allein hineingehen und mich umsehen.«

»Vergessen Sie es.« Abwehrend hob er die Hände. »Das letzte Mal, als Sie allein in meinem Büro waren, haben Sie eigenmächtig mein WLAN-Passwort geändert und sich an meinem Computer zu schaffen gemacht.«

Sie schnaubte. »Hat es Ihnen etwa geschadet? Ihr ursprüngliches Passwort war ein Witz, und wenn Sie schon Ihre Antivirensoftware bezahlen, sollten Sie sie auch korrekt installieren. Ich hoffe, Sie haben inzwischen meine Passwortvorschläge für ihre übrigen Zugänge umgesetzt.«

Er schwieg sichtlich genervt.

Kopfschüttelnd trat nun sie einen Schritt auf ihn zu. »Etwa nicht? Warum hängen Sie sich dann nicht gleich ein Schild um den Hals, auf dem steht Bitte raubt mir meine Daten

»Fangen Sie nicht wieder mit diesem Mist an. Ich habe anderes zu tun, als alle naselang meine Internetpasswörter zu ändern.«

»Hätten Sie eine fähige Assistentin, müssten Sie sich darüber keine Gedanken machen.«

Er presste kurz die Lippen zusammen. »Ich stelle Sie nicht ein.«

»Das werden wir ja sehen.«

»Sie gehen mir auf die Nerven.«

»Ich könnte dafür sorgen, dass Sie sich auf Ihr Kerngeschäft konzentrieren können. Zumindest für eine Weile, bis Sie eine andere fähige Bürokraft gefunden haben.«

»Mein Kerngeschäft?«

»Sie bauen Holzhäuser, ich sorge dafür, dass Ihnen keine nervigen Kunden oder Organisatorisches die Zeit rauben.« Sie konnte sehen, dass in seinen Augen etwas aufblitzte, doch er behielt seine abweisende Haltung bei. Also lächelte sie noch einmal überaus freundlich. »Wissen Sie was? Denken Sie eine Weile darüber nach. Wir können uns heute Abend weiter darüber unterhalten.«

Er zuckte zusammen. »Heute Abend?«

Angelique nickte ihm liebenswürdig zu. »Laura hat mich zu Ihrem Familienabendessen eingeladen. Ich freue mich schon darauf, Ihre Eltern und Geschwister wiederzusehen.« Als sie seine Miene sah, grinste sie. »Kommen Sie jetzt nicht auf die Idee, sich vor dem Essen zu drücken. Sie sind doch kein Feigling, oder?« Damit wandte sie sich ab und ging, zufrieden mit sich, um das halb fertige Holzhaus herum und beeilte sich, das Firmengelände zu verlassen.

Erst als sie das Tor ein gutes Stück hinter sich gelassen hatte, registrierte sie ihren erhöhten Puls und ein unheilvolles Zwicken in der Magengrube. Hoffentlich hatte sie sich nicht gerade in Schwierigkeiten gebracht.

***

»Nein, nein, nein.« Prustend hielt Patrick sein Gesicht in den heißen Wasserstrahl. »Verdammter Mist.« Er war spät dran, deshalb fiel die Dusche kurz aus. Dabei hätte er das heiße Wasser gerne noch ein paar Minuten länger über seine schmerzenden Muskeln prasseln lassen. Er musste sich unbedingt mal wieder Zeit für eine ausgiebige Massage bei Viola nehmen. Seine kleine Schwester war zwar eher zierlich, doch sie besaß ungeahnte Kräfte und konnte mit ihren Händen wahre Wunder wirken.

Zeit war allerdings sein Hauptproblem oder vielmehr etwas, was er seit einem Jahr nicht mehr zu besitzen schien. Vorher war sein Leben schon sehr von Arbeit bestimmt gewesen, doch seit Joel und Jessica bei ihm lebten, stand sein gesamtes Dasein Kopf. Dass Ronny und Ursula gekündigt hatten, war vermutlich einfach nur Pech, das jedoch, wie Pech das gerne tat, ihn zum ungünstigsten Zeitpunkt ereilt hatte. Daraus jedoch zu schließen, dass er verzweifelt war – verzweifelt genug, um diese Frau einzustellen –, war grundfalsch. Er war nicht verzweifelt.

Aber nah dran.

Nein! Nicht dieses unverfrorene Frauenzimmer. Sie war ihm damals, bei ihrer ersten Begegnung, schon entsetzlich gegen den Strich gegangen mit ihrer quirligen, dauerhaft gut gelaunten Art und ihrer offenbar unerschöpflichen Energie. Himmel, sie hatte beim Abladen des Umzugswagens geholfen, dabei dauernd irgendwelche Anweisungen erteilt und gleichzeitig fast nonstop mit ihrer Chefin telefoniert, gesimst und gemailt und währenddessen auch noch mehrere Aufgaben zugleich erledigt. Und sie hatte sein WLAN-Passwort beleidigt.

Na gut, Ja war vermutlich wirklich kein allzu sinnvolles Passwort gewesen, aber kreativ. Immerhin würde doch niemand darauf kommen, dass ein Passwort so einfach und kurz wäre. Sie hatte es eigenmächtig durch eine ewig lange Kette von Zahlen, Buchstaben und Sonderzeichen ersetzt und ihm darüber hinaus noch eine ganze Liste mit weiteren Passwörtern für seine Online-Accounts erstellt. Und das alles während sie irgendetwas für ihre Chefin erledigt hatte.

Ein Multitasking-Genie hatte Laura sie genannt. Im Grunde genau das, was er brauchte.

Zähneknirschend trocknete Patrick sich ab, zog sich frische Jeans und ein bequemes dunkelgraues Freizeithemd an. Dabei fiel ihm auf, dass schon wieder fast alle seine Klamotten in der Wäsche waren. Genau wie die der Kinder. Es schien, als hätte sich die Anzahl der wöchentlichen Waschladungen im vergangenen Jahr mindestens verfünffacht. Eigentlich müsste er auch noch Staub saugen und Bäder und Küche putzen, doch wenn er auch nur eine dieser nötigen Arbeiten anfing, würde er das gemeinsame Familienessen verpassen. Er sah seine Eltern und Geschwister zwar recht häufig, weil er wegen der Blockhäuser für den Ferienpark regelmäßig ins Stadthotel oder ins Wellness-Resort fuhr, um Pläne zu besprechen oder Ideen auszutauschen – und natürlich, weil seine Mutter sich fast täglich mehrere Stunden um die Zwillinge kümmerte, aber einen gemütlichen Familienabend hatte er schon längere Zeit nicht mehr miterlebt. Immer war etwas dazwischengekommen. Heute wollte er darauf nicht verzichten – auch wenn diese Frau ebenfalls dort sein würde.

Angelique. Der Name sprach, wie er fand, Bände. Allerdings war sie auch, soweit er sich erinnern konnte, die schönste Frau, der er je begegnet war. Ein weiterer Grund, sich möglichst außerhalb ihrer Reichweite aufzuhalten. Er konnte sich die Komplikationen nicht leisten, die die natürliche Anziehung, die sie auf ihn ausübte, hervorrufen würde. Hochgewachsen, schlank mit Beinen bis zum Hals und zarten Rundungen an genau den richtigen Stellen. Ihr ovales, ebenmäßiges Gesicht mit dem leicht getönten Teint, die wallenden schwarzen Haare … all das entsprach viel zu sehr seinem Idealbild einer Frau. Und ein Blick in ihre dunkelsilbergrauen Augen hatte damals schon genügt, um sämtliche Alarmglocken in seinem Kopf zum Läuten zu bringen. Diese Augen, die je nach Lichteinfall violett schimmerten.

Die Frau bedeutete Ärger – in jeder nur erdenklichen Hinsicht. Sein Leben war aber jüngst derart aus den Fugen geraten, dass er noch mehr Probleme um jeden Preis verhindern wollte. Also würde er heute Abend zunächst einmal seiner lieben Schwägerin ordentlich den Kopf waschen. Wie kam sie überhaupt dazu, sich in seine Angelegenheiten einzumischen?

Seufzend schloss er die Haustür hinter sich ab und klemmte sich hinters Steuer des SUV. Laura meinte es nur gut, und sie war das Beste, was seinem Bruder Justus hatte passieren können – ebenso wie umgekehrt. In dem Jahr, das er sie nun kannte, hatte er sie als offene, herzensgute und liebevolle Person erlebt, die in seiner Familie endlich den Platz gefunden hatte, nach dem sie sich immer gesehnt zu haben schien. Wahrscheinlich wollte sie ihm aus Dankbarkeit einfach etwas zurückgeben.

Trotzdem würde er das gut gemeinte Angebot ablehnen. Auch wenn er zugeben musste, dass jemand mit Angeliques Fähigkeiten vermutlich so etwas wie ein Sechser im Lotto war. Unbezahlbar. Im wörtlichen wie im übertragenen Sinne. Wahrscheinlich würde er sich ihr Gehalt gar nicht leisten können. Ganz zu schweigen davon, dass er sich voraussichtlich von sämtlichen Angewohnheiten und eingefahrenen Abläufen würde verabschieden dürfen, wenn er dieser Frau freie Hand ließ. Und Letzteres würde er müssen, wenn sie für ihn arbeitete.

Nein. Dreimal nein. Er würde schon noch eine andere Bürokraft finden. Eine Bürokraft! Empfangsdame und Sekretärin. Keine verdammte Assistentin der Geschäftsführung. Unverfroren war gar kein Ausdruck für die Art und Weise, wie sie voller Selbstbewusstsein ihre Stärken angepriesen hatte. Unter Wert verkaufte sie sich ganz sicher nicht, das stimmte wohl.

»Nein.« Er sprach das Wort diesmal laut aus, als er seinen Wagen an der Straße vor dem Haus seiner Eltern abstellte – direkt hinter dem Auto von Justus. Auch Violas kleiner Flitzer und Ricardas Golf parkten bereits hier, jedoch kein anderer Wagen. Also war sie noch nicht hier. Gut. Das gab ihm Gelegenheit, mit Laura ein ernstes Wörtchen zu reden, bevor Angelique dazwischenfunken konnte.

Das Fenster zur Küche ging nach vorn raus und war gekippt, sodass er schon auf dem Weg zur Haustür leise Musik und Gelächter vernahm. Er blieb kurz stehen und sah den drei Frauen – seiner Mutter, seiner Großmutter und Viola – dabei zu, wie sie sich mitten in der Küche gestenreich unterhielten, während sein Vater am Herd stand und in einem großen Topf rührte. Offenbar gab es heute seine berühmten Spaghetti bolognese nach einem uralten Rezept, das Patricks Großvater einst in den Sechzigerjahren von einem italienischen Gastarbeiter erhalten hatte, der es wiederum, der Legende nach, von seinem Vater oder Großvater übernommen hatte. Wie auch immer – Hans Sternbach kochte nicht oft – und wenn, dann meistens nach diesem Rezept.

Patrick schnupperte und grinste. Ja, eindeutig Soße bolognese. Auf dem Tisch konnte er außerdem eine riesige Schüssel erkennen, in der sich Salatblätter, Paprikastreifen, Mais, Radieschen und noch allerlei anderes Gemüse stapelten. Gut, dass er so spät dran war, das hatte ihn zumindest vor dem Gemüseschnippeln bewahrt. Nicht, dass er das nicht gerne tat, aber seit die Kinder bei ihm wohnten, war das allabendliche Kochen zu einer hastig verrichteten Pflicht geworden, sodass er froh war, wenn er sich mal an den gedeckten Tisch setzen konnte. Auch wenn das bedeutete, dass er hinterher zum Abräumen und Spülen abkommandiert wurde.

Während er noch durch das Fenster blickte, drehte seine Mutter sich wie zufällig um. Vielleicht hatte sie auch Augen im Hinterkopf, den Verdacht hegte er schon lange. Ihre Blicke trafen sich, sie begann zu strahlen und winkte ihm fröhlich zu. Also schloss er rasch die Haustür auf und betrat das Haus.

Sofort schoss Lizzy auf ihn zu und begrüßte ihn bellend, und nur Augenblicke später kam auch Oskar aus dem Wohnzimmer und umkreiste ihn schwanzwedelnd.

Da bist du ja endlich. Ich habe dich zwar jetzt nicht gerade vermisst, das kann man nicht behaupten, aber es ist doch nett, dich zu sehen. Ich meine, ich habe nichts dagegen, mich eine Weile mit den Kindern abzugeben. Wirklich nicht. Die zwei sind nett. Aber auch anstrengend. Vielleicht könntest du mal dafür sorgen, dass sie sich mit dir befassen und nicht mit mir, damit ich ein Nickerchen machen und mich von all der Toberei erholen kann. Wuff.

»Na, Oskar, war das ein Begrüßungsbellen?« Amüsiert blickte Patrick auf seinen neuen Hausgenossen hinab und wuschelte ihm kurz durchs Fell. »Das ist ja was ganz Neues.«

»Er hat dich vermisst.« In der Küchentür war seine Mutter aufgetaucht.

»Was du nicht sagst.«

Nein, habe ich nicht. Ich vermisse überhaupt keine Menschen, weil ich mich nicht an sie binde.

»Er erkennt den Motor deines Autos immer sofort.«

Das ist ja nun auch keine große Kunst.

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