×

Ihre Vorbestellung zum Buch »Don't You Cry - Falsche Tränen«

Wir benachrichtigen Sie, sobald »Don't You Cry - Falsche Tränen« erhältlich ist. Hinterlegen Sie einfach Ihre E-Mail-Adresse. Ihren Kauf können Sie mit Erhalt der E-Mail am Erscheinungstag des Buches abschließen.

Don't You Cry - Falsche Tränen

Mitbewohnerin.
Freundin.
Mörderin?

Eines Nachts verschwindet die junge Studentin Esther Vaughan spurlos aus ihrem Apartment in Chicago. Ihre Mitbewohnerin Quinn findet nur einen mysteriösen Brief, der sie vor die Frage stellt, wie gut sie die vermeintlich brave Frau wirklich kennt. Als sie dann noch erfährt, dass schon längst per Anzeige nach einer Nachmieterin für ihr Zimmer gesucht wird, bekommt sie langsam Angst. Quinn beginnt zu recherchieren: Was ist eigentlich aus dem Mädchen geworden, das vorher mit Esther zusammengewohnt hat? Je mehr sie erfährt, desto mehr bringt Quinn sich in tödliche Gefahr.

"Verursacht Gänsehaut!”
Entertainment Weekly

"Nervenaufreibend und außergewöhnlich.”
LA Times

"Ein fesselnder psychologischer Thriller!”
New York Times-Bestsellerautorin Lisa Scott

"Dieses Buch geht unter die Haut und lässt einen nicht mehr los. Großartig!"
The Sun


  • Erscheinungstag: 12.06.2017
  • Seitenanzahl: 384
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959676663
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Pete

QUINN

Im Nachhinein betrachtet, hätte ich von Anfang an spüren müssen, dass etwas nicht stimmte. Das quietschende Geräusch mitten in der Nacht, das geöffnete Fenster, das leere Bett. Später habe ich mir jede Menge Ausreden ausgedacht, um meine Sorglosigkeit zu rechtfertigen – von Kopfschmerzen über Müdigkeit bis hin zu himmelschreiender Dummheit.

Wie auch immer …

Ich hätte sofort spüren müssen, dass etwas nicht in Ordnung war.

Der Wecker reißt mich aus dem Schlaf. Esthers Wecker, der zwei Türen weiter schrillt.

„Stell ihn ab“, brumme ich und presse mir das Kissen auf den Kopf. Ich drehe mich auf den Bauch und drücke das Gesicht in ein zweites Kissen, um den Lärm zu dämpfen. Außerdem ziehe ich das Betttuch über mich.

Doch es nützt nichts. Ich kann ihn immer noch hören.

„Verdammt noch mal, Esther“, schnauze ich, trete die Decke mit den Füßen nach unten und setze mich auf. Neben mir wird Protest laut, jemand tastet nach der Decke, um sie zurückzuerobern. Ein tiefer Seufzer. Der Geschmack nach dem Alkohol vom gestrigen Abend steigt mir in die Kehle – eine Mischung aus einem Drink namens „Cranberry Crash“, Whiskey Sour und japanischem Eistee. Das Zimmer dreht sich um mich wie ein Hula-Hoop-Reifen, und unvermittelt erinnere ich mich an die schmuddelige Tanzfläche, auf der ich herumgewirbelt bin – mit einem Typen namens Aaron oder Darren oder Landon oder Brandon. Derselbe Kerl, der vorgeschlagen hat, uns auf der Heimfahrt ein Taxi zu teilen; derselbe, der noch in meinem Bett liegt. Ich versetze ihm einen Rippenstoß und fordere ihn auf, sich zu verziehen. Dabei reiße ich ihm die Decke aus der Hand. „Meine Mitbewohnerin ist aufgewacht.“ Ich bohre ihm meinen Finger in die Seite. „Du musst gehen.“

„Du hast eine Mitbewohnerin?“ Schlaftrunken rappelt er sich auf. Er reibt sich die Augen. Erst jetzt, im Schein einer nahen Straßenlaterne, deren Licht durch das Fenster fällt, stelle ich fest, dass der Mann in meinem zerwühlten Bett doppelt so alt ist wie ich. Sein Haar, das in der dämmrigen Barbeleuchtung – und unter Einwirkung einer beträchtlichen Menge Alkohol – haselnussbraun ausgesehen hatte, ist nun zinngrau. Die Grübchen sind keine niedlichen Grübchen, sondern tiefe Lachfalten. Vor allem Falten.

„Verdammt noch mal, Esther“, fluche ich leise, weil ich genau weiß, dass es nicht mehr lange dauert, bis die alte Mrs. Budney eine Etage tiefer mit dem Besenstiel gegen die Decke klopft, damit der Krach aufhört.

„Du musst gehen“, wiederhole ich. Er tut es tatsächlich.

Ich folge der Spur des Lärms in Esthers Zimmer. Der Wecker gibt ein dröhnendes Geräusch von sich. Es klingt nach Hunderten von Heuschrecken. Fluchend taste ich mich an der Wand entlang durch den dunklen Flur. Die Sonne geht erst in einer Stunde auf. Es ist noch nicht einmal sechs Uhr. Jeden Sonntag lässt Esther sich von dem Getöse wecken. Zeit für den Kirchgang. Solange ich mich erinnern kann, singt Esther mit ihrer warmen, silberhellen Stimme im Chor der katholischen Kirche von Catalpa. Ich nenne sie deshalb „die heilige Esther“.

Beim Betreten von Esthers Schlafzimmer bemerke ich als Erstes die Kälte. Eisige Novemberluft weht durch das Fenster. Der Papierstapel auf ihrem Schreibtisch flattert raschelnd im Wind und wird nur von einem schweren Lehrbuch („Einführung in die Ergotherapie“) am Wegfliegen gehindert. Eisblumen bedecken die Fensterscheiben, an deren Innenseiten das Kondenswasser in Strömen herabfließt. Das Fenster steht weit offen. Der Sichtschutz aus Fiberglas steht aus irgendeinem Grund auf dem Fußboden.

Ich lehne mich aus dem Fenster, um nachzuschauen, ob Esther vielleicht auf der Feuertreppe sitzt, aber draußen – in der Welt außerhalb unseres kleinen Wohnblocks in Chicago – ist alles ruhig und dunkel. Autos parken am Straßenrand und unter Bäumen, deren Blätter auf sie herabfallen. Eine Frostschicht überzieht die Fahrzeuge und das vergilbte Gras, das bald ganz absterben wird. Rauchwolken steigen aus den Schornsteinen der benachbarten Häuser und lösen sich kräuselnd unter dem morgendlichen Himmel auf. Die gesamte Farragut Avenue liegt in tiefem Schlaf – abgesehen von mir.

Die Feuertreppe ist leer. Keine Spur von Esther.

Ich wende dem Fenster den Rücken zu und bemerke Esthers Bettdecke auf dem Boden – ein Bettbezug in leuchtendem Orange und ein blauer Überwurf. „Esther?“, frage ich, während ich das kastenförmige Schlafzimmer durchquere, das eigentlich zu klein ist für Esthers Doppelbett. Ich stolpere über ein paar Kleidungsstücke, die achtlos auf den Boden geworfen wurden, und verheddere mich in einem Paar Jeans. „Morgenstund hat Gold im Mund“, murmele ich, während ich die Hand auf den Wecker fallen lasse, damit er endlich Ruhe gibt. Doch ich habe nur das Radio eingeschaltet, und eine nervtötende Geräuschkulisse erfüllt den Raum – der Moderator einer Morgensendung quasselt über den Alarm hinweg. „Verdammt noch mal.“ Allmählich verliere ich die Geduld. „Esther!“

Als sich meine Augen an die Dunkelheit im Zimmer gewöhnt haben, stelle ich fest: Die heilige Esther liegt nicht in ihrem Bett.

Endlich gelingt es mir doch, den Wecker abzuschalten. Ich knipse das Licht an. Die Helligkeit lässt mich die Augen zusammenkneifen und verursacht mir Kopfschmerzen – Nachwehen einer ausschweifenden Nacht. Ich schaue zweimal hin, um mich zu vergewissern, dass Esther tatsächlich nirgendwo ist, gucke sogar unter dem Bettzeug nach, das auf dem Fußboden liegt. Sofort wird mir klar, dass es lächerlich ist, aber ich tue es trotzdem. Ich werfe einen Blick in ihren Schrank, in das kleine Badezimmer, betrachte die umfangreiche Kollektion überteuerter Kosmetika, die ungeordnet auf dem Toilettentisch stehen und die wir uns teilen.

Doch Esther ist nirgendwo.

Kluge Entscheidungen sind nicht gerade meine Stärke. Das ist Esthers Gebiet. Wahrscheinlich verständige ich deshalb nicht sofort die Polizei: Esther, die mir dazu geraten hätte, ist nicht da. Ehrlich gesagt ist mein erster Gedanke auch nicht, dass Esther etwas zugestoßen sein könnte. Es ist auch nicht mein zweiter, dritter oder vierter Gedanke. Deshalb lasse ich meinen Kater wieder die Oberhand gewinnen, schließe das Fenster und lege mich zurück ins Bett.

Als ich zum zweiten Mal aufwache, ist es schon nach zehn. Die Sonne steht am Himmel, und in den Coffee- und Bagelshops auf der Farragut Avenue herrscht ein emsiges Kommen und Gehen von Menschen, die frühstücken oder zu Mittag essen wollen – oder wie immer man das nennen will, was die Leute um zehn Uhr essen und trinken. Sie sind eingehüllt in Daunenjacken und mit Wolle gefütterte Trenchcoats, die Hände tief in den Taschen vergraben, Hüte auf dem Kopf. Man muss kein Genie sein, um daraus zu folgern, dass es kalt ist.

Ich dagegen sitze auf dem kleinen rosenblätterfarbenen Sofa im Wohnzimmer und warte darauf, dass die heilige Esther mit einem Kaffee, Geschmacksrichtung Haselnuss, und einem Bagel zurückkommt. Denn das tut sie jeden Sonntag, nachdem sie im Kirchenchor gesungen hat. Sie bringt mir einen Kaffee und einen Bagel mit, und dann setzen wir uns zum Essen an den kleinen Küchentisch und reden über alles Mögliche – über die Kinder, die während der ganzen Messe geweint haben, über den Dirigenten, der seine Notenblätter verschusselt hat, über die bescheuerten Dinge, die ich in der vergangenen Nacht gemacht habe: zu viel getrunken, einen Typen, den ich kaum kenne, mit nach Hause geschleppt, einen gesichtslosen Mann, den Esther niemals zu Gesicht bekommt, sondern nur durch die papierdünnen Wände unseres Apartments hören kann.

Als ich am Abend zuvor ausgegangen bin, wollte Esther mich nicht begleiten. Sie hatte sich vorgenommen, zu Hause zu bleiben und sich auszuruhen. Angeblich steckte ihr eine Erkältung in den Knochen. Wenn ich allerdings jetzt darüber nachdenke, muss ich gestehen, dass ich keinerlei Symptome einer Krankheit bemerkt habe – keinen Husten, kein Naseputzen, keine tränenden Augen. In ihrem gemütlichen Baumwollpyjama und eingehüllt in eine Decke, saß sie auf dem Sofa. Komm doch mit, bat ich sie. Auf der Balmoral Street war eine neue Bar eröffnet worden, die wir unbedingt besuchen wollten – eines dieser angesagten In-Lokale im Lounge-Stil, in denen ständig Dämmerlicht herrscht und nur Martinis serviert werden.

Komm doch mit, bat ich sie, aber sie lehnte ab.

Ich wäre nur eine Spaßbremse, Quinn, sagte sie. Geh ohne mich. Dann wirst du dich besser amüsieren.

Soll ich bei dir bleiben? bot ich ihr an, aber es war nur ein halbherziger Vorschlag. Wir könnten uns etwas zu essen bringen lassen, schlug ich vor, worauf ich allerdings gar keine Lust verspürte. Ich hatte mein neues Babydoll-Kleid und High Heels angezogen, war beim Friseur gewesen und hatte Make-up aufgelegt. Für den Abend hatte ich mir sogar extra die Beine rasiert. Ich würde auf keinen Fall zu Hause bleiben. Wenigstens hatte ich es ihr angeboten.

Doch Esther blieb dabei: Geh ohne mich, und amüsier dich.

Genau das habe ich dann auch getan. Ich bin ohne sie ausgegangen und hatte meinen Spaß. Allerdings nicht in der Martini-Bar. Die wollte ich nämlich gemeinsam mit Esther entdecken. Stattdessen landete ich in einer schäbigen Karaoke-Kneipe, trank zu viel und kam mit einem fremden Mann nach Haus.

Als ich in der Nacht heimkehrte, lag Esther schon im Bett – zumindest dachte ich das – und hatte die Tür geschlossen.

Aber jetzt, da ich hier auf dem Sofa sitze, denke ich über die Ereignisse des Morgens nach: Was, um alles in der Welt, konnte Esther veranlasst haben, über die Feuertreppe zu verschwinden?

Ich grüble unentwegt, aber meine Gedanken landen unweigerlich immer bei einer Sache: einem Bild von Romeo und Julia, der berühmten Balkonszene, in der Julia ihrem Romeo ihre Liebe gesteht (dieser Moment ist so ziemlich das Einzige, was mir aus meiner Schulzeit in Erinnerung geblieben ist, als wir das Stück durchgenommen haben – das und die Tatsache, dass die Hülle eines Kugelschreibers sich wunderbar dazu eignet, Papierbällchen durch die Gegend zu blasen).

Ist das der Grund, warum Esther mitten in der Nacht aus dem Fenster geklettert ist: ein Mann?

Bekanntlich vergiftet sich Romeo am Ende der Geschichte, und Julia ersticht sich mit einem Dolch. Ich habe das Drama gelesen. Noch besser hat mir der Film von 1990 gefallen, die Version mit Leonardo DiCaprio und Claire Danes. Ich weiß daher, wie es dort endet: Romeo trinkt sein Gift, und Julia schießt sich mit seiner Pistole in den Kopf. Und während ich noch darüber nachdenke, hoffe ich, dass Esthers Geschichte ein besseres Ende nimmt als die von Romeo und Julia.

Im Moment kann ich sowieso nichts anderes tun als warten. Deshalb bleibe ich auf dem rosenblätterfarbenen Sofa sitzen, starre auf den leeren Küchentisch und hoffe auf Esthers baldige Rückkehr – egal, ob sie die Nacht in ihrem Bett verbracht hat oder aus dem Fenster im zweiten Stock unseres Mietshauses, in dem es keinen Aufzug gibt, geklettert ist. Das alles spielt keine Rolle. Ich warte im Schlafanzug – Waffle-Henley-Jacke und Flanellboxershorts sowie einem Paar wollener Rutschsocken, die meine Füße schöner erscheinen lassen – auf meinen Kaffee und meinen Bagel. Aber heute kommt niemand, und ich nehme es Esther ziemlich übel, dass ich an diesem Tag aufs Frühstück und auf Koffein verzichten muss.

Gegen Mittag mache ich das, was jeder Erwachsene mit Selbsterhaltungstrieb tun würde: Ich bestelle etwas bei Jimmy John’s Gourmet Sandwiches. Während der über fünfundvierzig Minuten, die ich auf mein Truthahnsandwich warten muss, gelange ich mehr und mehr zu der Überzeugung, dass mein Magen begonnen hat, sich selbst zu verdauen. Seit mehr als vierzehn Stunden hatte ich nichts mehr zu essen, und dank der Überdosis Alkohol bin ich mir ziemlich sicher, dass mein Körper bald genauso aufgebläht sein wird wie der von verhungernden Kindern, die man immer im Fernsehen sieht.

Ich habe keine Energie mehr. Der Tod steht unmittelbar bevor. Wahrscheinlich sterbe ich gleich.

Doch dann klingelt es an der Tür, und ich stehe schnell auf. Lieferservice! Ich begrüße den Boten von Jimmy John’s an der Tür und drücke ihm ein Trinkgeld in die Hand – ein paar schäbige Dollar, die ich in einem Umschlag gefunden habe, den Esther in einer Küchenschublade versteckt hat und auf dem Miete steht.

Ich verschlinge mein Mittagessen über einen eisernen Beistelltisch gebeugt, und danach tue ich, was vermutlich jedes anständige menschliche Wesen tut, wenn seine Mitbewohnerin sich unentschuldigt aus dem Staub gemacht hat: Ich schnüffle herum. Ohne die geringsten Schuldgefühle betrete ich Esthers Zimmer. Nicht der kleinste Gewissenbiss zwickt mich.

Esthers Zimmer ist das kleinere von beiden – etwa so groß wie ein überdimensionierter Kühlschrank. Ihr Doppelbett nimmt fast den ganzen Raum ein, es erstreckt sich von einer dünnen Wand bis zur nächsten und lässt kaum Platz, um darum herumzugehen. Das kriegt man für elfhundert Dollar monatlich in Chicago: Papierwände rund um ein kühlschrankgroßes Zimmer.

Ich stoße gegen den Fuß des Bettes und stolpere über die Bettdecke, die immer noch auf dem zerkratzten Parkett liegt. Ich schaue hinaus auf die Feuertreppe – eine Konstruktion aus Stufen und Plattformen aus Eisengittern, die an Esthers Fenster vorbeiführt. Als wir vor Jahren eingezogen sind, haben wir Witze darüber gerissen, dass sie zwar das kleinere Zimmer bekommt, aber dank der Feuertreppe diejenige sei, die einen Brand überleben würde, sollte das Haus eines Tages in Flammen aufgehen. Ich war damit einverstanden. Ich bin es immer noch, denn ich habe nicht nur ein Bett, einen Schreibtisch und eine Kommode in meinem Zimmer, sondern auch einen Papasansessel. Und im Haus hat es bis heute nicht gebrannt.

Einmal mehr frage ich mich, was, zum Teufel, Esther dazu gebracht haben könnte, mitten in der Nacht über die Feuertreppe zu verschwinden. War irgendwas mit der Tür nicht in Ordnung? Es ist nicht so, dass ich mir ernsthaft Sorgen mache – warum auch? Esther ist schon öfter auf der Feuertreppe gewesen. Andauernd haben wir auf der Eisenplattform gesessen, die Beine über einer hässlichen Gasse in Chicago baumeln lassen, den Mond und die Sterne betrachtet und Cocktails geschlürft. Irgendwie mochten wir das – auf dem unbequemen gelöcherten Eisen zu sitzen, an den schmutzigen schwarzen Stufen zu lehnen, unsere Geheimnisse und Träume miteinander zu teilen, bis sich die rostigen Kanten so tief in unsere Haut bohrten, dass unser Rücken gefühllos wurde.

Aber selbst wenn sie in der vergangenen Nacht auf der Feuertreppe gesessen haben sollte – jetzt ist sie nicht mehr da.

Wo könnte sie sein?

Ich schaue in ihren Schrank. Ihre Lieblingsstiefel sind verschwunden – als hätte sie sie angezogen, das Fenster geöffnet und wäre, irgendeinem Plan folgend, hinausgeklettert.

Ja, sage ich mir. Genau das hat sie getan. Es bestätigt mir, dass es Esther gut geht. Es geht ihr gut, rede ich mir ein.

Trotzdem. Warum?

Ich starre aus dem Fenster hinaus in den stillen Nachmittag. Beim hektischen Trubel vom Morgen haben sich die Menschen mit ausreichend Koffein versorgt, sodass nun niemand mehr auf der Straße zu sehen ist. Wahrscheinlich sitzt halb Chicago vor dem Fernseher und schaut dem Team der Bears dabei zu, wie sie wieder einen haushohen Sieg davontragen.

Dann wende ich der Feuertreppe den Rücken zu und beginne Esthers Zimmer zu durchsuchen. Ich entdecke einen Fisch, der nicht gefüttert wurde. Schmutzige Wäsche, die aus einem Plastikkorb quillt, der im Schrank steht. Enge Jeans. Leggings. BHs und Omaunterwäsche. Einen Stapel weißer Mieder, sorgfältig gefaltet und neben dem Plastikkorb gestapelt. Eine Packung Ibuprofen. Eine Wasserflasche. Einen turmhohen Stapel Schulbücher neben ihrem selbst zusammengeschraubten Ikea-Schreibtisch – zusätzlich zu dem einen, das auf dem Papierstapel liegt, damit die Blätter nicht wegfliegen. Ich lege meine Finger um den Griff einer Schublade, schaue aber nicht hinein. Es wäre ungehörig – ungehöriger noch, als die Gegenstände auf ihrem Schreibtisch in Augenschein zu nehmen: ihren Laptop, ihren iPod, ihre Kopfhörer und vieles mehr.

An die Wand ist ein Foto von Esther und mir getackert, aufgenommen im vergangenen Jahr. Es war Weihnachten, und vor unserem künstlichen Tannenbaum haben wir uns für ein Selfie aufgebaut. Bei der Erinnerung daran, wie wir beide auf der Suche nach dem Baum durch Berge von Schnee gestapft sind, muss ich grinsen. Auf dem Foto stehen Esther und ich eng nebeneinander, die Zweige des Baums kitzeln uns am Kopf, und das Lametta hat sich in unserer Kleidung verheddert. Wir lachen beide – ich zeige mein selbstgefälliges Grinsen, Esther strahlt übers ganze Gesicht. Der Baum gehört Esther. Sie bewahrt ihn in einem Lagerhaus weiter unten auf der Straße in einer ein Meter fünfzig mal drei Meter großen Box für sechzig Dollar im Monat auf – zusammen mit alten Gitarren, einer Laute und all den anderen Sachen, die in ihrem Minizimmer keinen Platz haben. Auch ihr Fahrrad. Und eben den Baum.

Vergangenen Dezember sind wir zu unserer „Mission Tannenbaum“ aufgebrochen, unterwegs zwischen Bergen von frisch aufgehäuftem Schnee, in denen wir mit unseren Schuhen stecken blieben wie in Treibsand. Es schneite immer noch. Die Flocken fielen vom Himmel wie dicke bauschige Baumwollbälle. Die Autos am Straßenrand waren unter einer hohen Schicht vergraben. Man musste sie freischaufeln oder auf Tauwetter warten. Wegen des Schneesturms war die halbe Stadt lahmgelegt. Eine seltene Stille lag über den Straßen, als Esther und ich vorwärtsschlitterten und dabei aus voller Lunge Weihnachtslieder schmetterten, denn es gab niemanden, der uns hätte hören können. Lediglich die Schneepflüge arbeiteten sich an jenem Tag durch die Straßen der Stadt – und selbst die kamen nur mühsam im Zickzack vorwärts. Weder Esther noch ich mussten zur Arbeit.

Deshalb stapften wir zu dem Lagerhaus, um unseren kleinen Plastikbaum fürs Fest zu holen. Im Eingangsbereich führten wir für die Überwachungskamera einen ausgelassenen Tanz auf dem Betonboden auf, wobei wir geradezu hysterisch herumalberten. Wir stellten uns den Angestellten an seinem Schreibtisch vor, einen übellaunigen Kauz, der unseren irischen Volkstanz auf dem Bildschirm misstrauisch beäugte. Wir konnten uns kaum halten vor Lachen, und als unser Lachanfall endlich vorbei war, zog Esther ihren Schlüsselbund hervor und öffnete die Tür. Wir begannen unsere Suche nach der Box mit der Nummer 203, und ich konnte mich über die Ironie dieser Nummer mal wieder nicht einkriegen, denn meine Eltern lebten auf dem David Drive Nummer 203. Schicksal, meinte Esther; ich dagegen hielt es bloß für einen dummen Zufall.

Da der Baum auseinandergeschraubt war, konnten wir ihn in der Box nicht so schnell finden, denn sie war vollgestopft mit weiteren Kisten. Sehr vielen Kisten sogar. Versehentlich stieß ich auf eine Schachtel, die offensichtlich die falsche war, denn als ich sie öffnete, entdeckte ich ein Bündel Fotografien, die eine glückliche kleine Familie neben einem flach geduckten Haus zeigten. Eine davon zog ich heraus und fragte Esther: Wer ist das? Sofort riss sie mir das Foto aus der Hand und antwortete barsch: Niemand. Ich hatte das Bild zwar gar nicht richtig betrachten können, aber es sah mir nicht nach niemand aus. Ich bohrte jedoch nicht weiter. Ich wusste, dass Esther nicht gern über ihre Familie redete. Während ich mich über meine ständig beklagte und selbst bemitleidete, behielt Esther ihre Gefühle für sich.

Sie warf das Bild in die Kiste zurück und knallte den Deckel zu.

Schließlich fanden wir den Baum und schleppten ihn gemeinsam nach Hause. Zuvor machten wir noch bei unserem Lieblingsimbiss halt, wo wir fast die einzigen Kunden waren und mitten am Tag Pfannkuchen aßen und Kaffee tranken. Dabei sahen wir den wirbelnden Flocken zu, amüsierten uns über die Leute, die versuchten, ihren Weg durch das Schneegestöber zu finden oder ihr Auto unter den weißen Bergen auszubuddeln. Die Glücklichen, denen es gelang, ihr Gefährt freizuschaufeln, reservierten sich ihren Parkplatz mit irgendwelchen Gegenständen – einem Eimer, einem Stuhl –, damit kein anderer sich auf den freien Platz stellte. In dieser Gegend waren Parkplätze Gold wert, vor allem im Winter. An jenem Tag saßen Esther und ich also am Fenster und schauten unseren Nachbarn zu, die Stühle aus ihrer Wohnung trugen, um ihren Anspruch auf die freigeschaufelte und bald schon wieder schneebedeckte Fläche geltend zu machen – und waren zutiefst dankbar dafür, dass es öffentliche Verkehrsmittel gab.

Anschließend trugen Esther und ich den Baum nach Hause, wo wir den Abend und die halbe Nacht damit verbrachten, ihn mit Lichtern, Kugeln und Lametta zu schmücken. Als wir damit fertig waren, nahm Esther im Schneidersitz auf dem rosenblätterfarbenen Sofa Platz und zupfte auf ihrer Gitarre, während ich „Stille Nacht“ und „Jingle Bells“ summte. Das war im vergangenen Jahr, in dem Jahr, als sie mir ein paar wollene Rutschsocken schenkte, damit ich warme Füße hatte, denn in unserem Apartment war es die ganze Woche über rund um die Uhr eiskalt. Eigentlich wurde mir nie warm. Es war ein sinnvolles Geschenk – eines, das bewies, dass sie zugehört hatte, als ich immer wieder über meine Eisfüße klagte. Ich schaue auf meine Füße und sehe sie: die wollenen Rutschsocken.

Aber wo ist Esther?

Ich setze meine Suche fort – ich weiß nicht, wonach – und finde verlegte Kugelschreiber und Drehbleistifte. Ein schäbiges und verschlissenes Stofftier aus ihrer Kindheit sitzt im Regal eines mickrigen Schränkchens, dessen Türen schief in den Angeln hängen. Schuhschachteln stehen auf dem untersten Brett. Ich linse in jede hinein; jedes Paar ist ebenso sinnvoll wie langweilig: flache Schuhe, Slipper, Turnschuhe.

Kein einziges Paar mit Absätzen.

Nichts Farbiges – nur schwarz, weiß und braun.

Und ein Brief.

Ein Brief auf dem Ikea-Schreibtisch, in dem Papierstapel mit dem Lehrbuch als Briefbeschwerer, zwischen einer Handyrechnung und einem Hausaufgabenblatt.

Ein Brief, dreimal gefaltet und nicht abgeschickt – als hätte sie ihn gerade in einen Umschlag stecken wollen, sei jedoch abgelenkt worden.

Ich schraube die Kappe auf die Wasserflasche und nehme die Kugelschreiber in die Hand. Warum ist mir nie aufgefallen, wie schlampig Esther ist? Der Gedanke geht mir nicht aus dem Kopf: Was gibt es sonst noch alles, was ich nicht über meine Mitbewohnerin weiß?

Und dann lese ich den Brief – natürlich, wie könnte ich es auch nicht tun? Der Brief sieht aus wie von einem Stalker geschrieben. Auf einer Schreibmaschine getippt – so retromäßig, dass es zur heiligen Esther passt wie die Faust aufs Auge – und unterzeichnet mit In Liebe, mit einem E und einem V. In Liebe, EV. Esther Vaughan.

In dem Moment fällt es mir wie Schuppen von den Augen: Vielleicht ist die heilige Esther gar nicht so heilig.

ALEX

Eines will ich mal gleich klarstellen: Ich glaube nicht an Geister.

Für alles gibt es eine logische Erklärung: zum Beispiel etwas so Einfaches wie eine gelockerte Glühbirne. Einen defekten Schalter. Ein Problem mit der elektrischen Leitung.

Ich stehe in der Küche und trinke den Rest meiner Zitronenlimonade, einen Schuh am Fuß, der andere ist noch nackt, und schlüpfe in den zweiten schwarzen Turnschuh, als ich ein Licht auf der anderen Straßenseite aufblitzen sehe. An. Aus. An. Aus. Wie eine unwillkürliche Muskelkontraktion. Ein Wadenkrampf. Ein nervöses Zucken. Ein Tick.

An. Aus.

Dann ist es plötzlich vorbei, und ich bin mir nicht einmal sicher, ob es überhaupt da war oder ob mir meine Fantasie einen Streich gespielt hat.

Pops liegt auf dem Sofa, alle viere von sich gestreckt. Auf dem Couchtisch steht eine geöffnete Flasche mit kanadischem Whiskey – „Gibson’s Finest“ –, die Verschlusskappe irgendwo zwischen den Kissen auf dem Sofa verschwunden oder umklammert von einer feuchten Handfläche. Er schnarcht, ein Geräusch, als käme es von einer Diamantklapperschlange; sein Brustkorb hebt und senkt sich. Sein Mund steht offen, der Kopf liegt auf der Sofalehne. Wenn er irgendwann aufwacht – zweifellos mit einem gewaltigen Kater –, wird er Nackenverspannungen haben. Der Gestank von schlechtem Morgenatem wabert durch das Zimmer, ausgestoßen durch den offenen Mund wie Abgase aus einem Auspuff – Stickstoff, Kohlenmonoxid und Schwefeloxid schweben durch die Luft und machen sie schwarz. Nicht wirklich natürlich, aber so stelle ich es mir vor – schwarz –, während ich mir die Nase zuhalte, um es nicht riechen zu müssen.

Pops trägt noch seine Schuhe, dunkelbraune Lederstiefel, den linken nicht zugebunden; die Schnürsenkel baumeln am Sofa herunter. Auch seinen Mantel hat er nicht ausgezogen – ein tannengrünes Nylonding mit Reißverschluss. Der Geruch von altmodischem Eau de Cologne verrät mir Einzelheiten der Nacht – eine weitere erbärmliche Nacht, die sehr viel besser gelaufen wäre, hätte er daran gedacht, seinen Ring abzustreifen. Der Mann hat dichteres Haar, als ein Mann seines Alters haben sollte – kurz geschnitten, dennoch buschig auf dem Schädel und an der Seite, von rostbrauner Farbe, passend zu seiner rötlichen Haut. Andere Männer seines Alters werden bereits kahlköpfig – egal, ob ihr Haar lichter wird oder sie überhaupt keines mehr haben. Außerdem werden sie dick. Aber nicht Pops. Er sieht immer noch gut aus.

Doch selbst in seinem Schlaf bemerke ich die Niederlage. Er ist ein Miesepeter – und das ist für fünfundvierzigjährige Männer eine schlimme Katastrophe, schlimmer als Rettungsringe um die Hüften und Haarausfall.

Außerdem ist er Alkoholiker.

Der Fernseher läuft noch vom Abend zuvor. Ein Zeichentrickfilm aus dem Frühprogramm flimmert über den Bildschirm. Ich schalte das Gerät aus und laufe zur Tür hinaus. Mein Blick fällt auf das flach geduckte Haus auf der anderen Straßenseite, wo ich vor ein paar Minuten das flackernde Licht bemerkt habe. An, aus. Es ist ein ziemlich kleines, unscheinbares Haus, gelb wie ein Schulbus, davor ein Sockel aus Beton anstelle einer Veranda, mit einer Verkleidung aus Aluminium und einem ramponierten Dach.

Niemand lebt in diesem Haus. Niemand möchte dort wohnen – ebenso wenig wie jemand eine Wurzelbehandlung oder eine Blinddarmoperation haben möchte. Vor vielen Jahren gab es dort im Winter mal einen Wasserrohrbruch – das wurde uns jedenfalls erzählt –, und das ganze Haus war überschwemmt. Einige Fenster sind mit Sperrholzplatten zugenagelt, die von ein paar Möchtegerngangs zertrümmert wurden. Im Garten wuchert das Unkraut und raubt dem Rasen den nötigen Sauerstoff. Ein Regenrohr baumelt von der Dachrinne; der Ausguss liegt nutzlos auf dem Boden. Der wird bald mit Schnee bedeckt sein.

Es ist nicht das einzige Haus an der Straße, das leer steht, aber es ist das einzige, über das alle andauernd reden. Die wirtschaftliche Lage und der Immobilienmarkt sind für die anderen heruntergekommenen und verlassenen Häuser verantwortlich, die Ruinen, die den Wert unserer Häuser in den Keller haben fallen lassen und aus einer einst idyllischen Gegend einen Schandfleck gemacht haben.

Dieses allerdings nicht. Dieses Haus hat seine eigene Geschichte.

Ich vergrabe meine Hände in den Taschen meiner grauen Jacke und laufe weiter.

Heute Morgen ist der See wütend. Wellen klatschen ans Ufer und schieben das Wasser über den Sand. Kaltes Wasser. Es kann kaum wärmer als zwei Grad sein. Allerdings auch noch nicht kalt genug, um zu gefrieren. Nicht wie im letzten Winter, als der Leuchtturm von Eis umschlossen war und die Wellen des Michigansees in der Bewegung erstarrten und sich an den Pfosten des hölzernen Piers festklammerten. Jetzt ist erst Herbst. Der See hat noch Zeit genug, um zu gefrieren.

Ich laufe etwa eine Körperlänge vom See entfernt, damit meine Schuhe nicht nass werden. Feucht werden sie allerdings trotzdem. Die Gischt sprüht herüber von Wellen, die bis zu einem Meter fünfzig hoch sind. Wäre jetzt Sommer, also Touristensaison, wäre das Baden wegen gefährlicher Rippströmungen verboten.

Aber wir haben keinen Sommer. Die Touristen sind erst mal verschwunden.

In der Stadt ist es ruhig. Einige Läden haben bis zum Frühjahr geschlossen. Dunkel wölbt sich der Himmel. Die Sonne geht in diesen Tagen spät auf und früh unter. Ich schaue nach oben. Es gibt keine Sterne und keinen Mond. Sie sind hinter einer Masse von grauen Wolken verborgen.

Die Möwen kreischen laut. Sie kreisen über meinem Kopf und sind nur zu sehen, wenn sie in den Lichtstrahl des Leuchtturms geraten. Der Wind weht stürmisch, stachelt den See auf und macht es den Möwen schwer, eine gerade Flugbahn zu halten. Andauernd taumeln sie seitwärts. Hartnäckig flattern sie mit ihren Flügeln und verharren doch stets auf derselben Stelle. Sie kommen genauso wenig voran wie ich.

Ich ziehe mir die Kapuze fest über den Kopf, um keinen Sand in die Haare und in die Augen zu bekommen.

Während ich im Zickzack durch den Park und fort vom See laufe, komme ich an dem alten Karussell vorbei. Ich schaue in die toten Augen eines Pferdes, einer Giraffe, eines Zebras. In einem Wagen, der von einer Seeschlange gezogen wird, habe ich vor Jahren meinen ersten Kuss bekommen. Von Leigh Forney, inzwischen Studentin im ersten Semester an der Universität von Michigan. Sie macht irgendwas mit Biophysik oder Molekularbiologie oder so was Ähnliches, habe ich gehört. Leigh ist nicht die Einzige, die gegangen ist. Nick Bauer und Adam Gott sind ebenfalls weg. Nick ans CalTech in Pasadena und Adam an die Wayne State University, wo er Aufbauspieler in der Basketballmannschaft ist. Und dann gibt es da noch Percival Allard alias Percy. Der ist an irgendeine Elite-Uni in New Hampshire gegangen.

Alle sind weg. Alle – nur ich nicht.

„Du bist spät dran“, begrüßt Priddy mich, als die Ladenglocke über mir meine Verspätung ankündigt. Priddy steht an der Kasse und sortiert Dollarnoten in das Schubfach. Zwölf, dreizehn, vierzehn … Sie schaut nicht auf, als ich hereinkomme. Ihr Haar trägt sie lose, die silbernen Locken fallen ihr über die Schultern, die eine schlichte gestärkte Bluse bedecken. Sie ist die Einzige hier im Raum, die ihr Haar offen tragen darf. Die Kellnerinnen, die in ihren schwarz-weißen Uniformen herumschwirren und Salz- und Pfefferstreuer und Milchkännchen auffüllen, haben ihre Haare zu Pferdeschwänzen und Zöpfen gebunden oder geflochten. Aber nicht Mrs. Priddy.

Einmal habe ich sie Bronwyn genannt. So heißt sie schließlich. So steht es auch auf ihrem Namensschild. Bronwyn Priddy. Es kam nicht so gut an.

„Der Verkehr“, entschuldige ich mich, und sie lacht höhnisch. Sie trägt einen Ehering, den sie von ihrem verstorbenen Mann bekommen hat, Mr. Priddy. Man erzählt sich, dass ihr ewiges Genörgel die Todesursache war. Ob es wahr ist oder nicht, kann ich nur vermuten. Sie hat ein Muttermal im Gesicht, genau in der blassen Hautfalte zwischen Mund und Nase, ein hervortretendes Mal, dunkelbraun und kreisrund, aus dem immer ein einzelnes graues Haar sprießt. Es ist das Muttermal, das für uns andere als ausschlaggebender Beweis dafür gilt, dass Priddy eine Hexe ist. Das und ihre Boshaftigkeit. Es geht das Gerücht, dass sie ihren Besen in einem Schrank neben der Küche des Cafés aufbewahrt. Ihren Besen und ihren Kessel und was immer sie sonst noch an Hexenutensilien benötigt: eine Fledermaus, eine Katze, eine Krähe. Es ist alles hinter einer verschlossenen Metalltür verborgen, und wir alle sind davon überzeugt, dass wir es manchmal hören – das Miauen der Katze, das Krächzen der Krähe. Das Flattern der Fledermausflügel.

„Um diese Tageszeit?“, fragt Priddy misstrauisch. Aber irgendwo auf ihrem Gesicht liegt ein Lächeln – vielleicht unter dem Bartflaum, der unbedingt gewachst werden müsste. Von diesem Bart versucht sie abzulenken, indem sie die Augenbrauen hochzieht – dunkle Augenbrauen, die eigentlich grau sein müssten. Priddy hält einen Moment mit dem Geldzählen inne und schaut hoch, während ich an der Tür stehe und meine sandübersäte Jacke ausziehe. Sie lässt mich wissen: „Das Geschirr wird nicht von alleine sauber, Alex. An die Arbeit!“

Ich glaube, insgeheim mag sie mich.

Der Morgen vergeht wie immer. Jeder Tag ist eine Wiederholung des vorherigen. Dieselben Kunden, die gleichen Gespräche. Der einzige Unterschied besteht in der Kleidung. Es versteht sich von selbst, dass Mr. Parker, der bei Tagesanbruch seine beiden Hunde ausführt – einen Border Collie und einen Bernhardiner –, immer als Erster kommt. Er bindet die Hunde an einer Straßenlaterne fest und schlendert herein. Dabei hinterlässt er Blätter und Schlammspuren auf seinem Weg und vor dem Verkaufstresen, die ich später wegwischen muss. Er bestellt einen schwarzen Kaffee zum Mitnehmen und lässt sich von Priddy zu einer Pastete überreden, die irreführenderweise als „selbst gemacht“ beschrieben wird und die er zweimal ablehnen wird, ehe er sich überreden lässt und den schwachen Duft von Butter und Hefe zu schnuppern versucht, der überhaupt nicht vorhanden ist.

Es versteht sich auch von selbst, dass wenigstens eine Kellnerin ein voll beladenes Tablett fallen lässt. Dass fast alle über das mickrige Trinkgeld jammern. Dass am Wochenende die frühen Kunden wie angeklebt sitzen bleiben und sich endlos Kaffee nachgießen lassen und dummes Zeug reden, bis das Frühstück ins Mittagsessen übergeht und sie endlich verschwinden. Aber in der Woche sind die Einzigen, die bis nach neun Uhr bleiben, die Rentner oder die Schulbusfahrer, die ihre Busse in Zweierreihen im Hinterhof parken und sich über die Respektlosigkeit ihrer Fahrgäste aufregen – nämlich alle Kinder zwischen fünf und achtzehn.

Um diese Jahreszeit gibt es hier keine Fremden. Jeder Tag ähnelt dem vorherigen. Anders als im Sommer, wenn Touristen zufällig vorbeikommen. Dann wird die Arbeit zum Glücksspiel. Der Frühstücksspeck geht aus. Irgendein Trottel will wissen, welche Zutaten wirklich in den Schokoladencroissants verarbeitet sind, sodass Priddy einen von uns zu den Mülltonnen schickt, damit wir die Schachtel herausfischen und nachsehen. Feriengäste fotografieren den Namen des Cafés im Schaufenster, sie lassen sich mit den Kellnerinnen fotografieren, als wären sie eine Sehenswürdigkeit und wir ein Touristenmagnet, der in irgendeinem Reiseführer von Michigan als der Laden verzeichnet wird, in dem es angeblich den besten Kaffee in der ganzen Stadt gibt. Die Kunden fragen, ob sie die Becher kaufen können, auf denen unser Name in einer altmodischen Schrift gedruckt steht, und Priddy erhöht den Einkaufspreis von einem Dollar fünfzig pro Stück auf neun Dollar neunundneunzig. Was für ein Nepp!

Aber so was passiert niemals in der Nebensaison, wenn ein Tag aussieht wie der andere, was man auch von dem heutigen Tag sagen kann. Und vom morgigen. Und vom gestrigen. Und jeder Tag beginnt mit der Ankunft von Mr. Parker und seinen beiden Hunden, der schwarzen Kaffee zum Mitnehmen bestellt und von Priddy gefragt wird, ob er eine Pastete haben möchte, was er zweimal ablehnt, bevor er sich breitschlagen lässt.

Am Ende dieses Morgens passiert allerdings etwas, etwas Unnormales, was den Tag komplett von allen vorhergehenden unterscheidet.

Mein Schatz,

das ist eine der letzten Erinnerungen, die ich an Dich habe. Deine Arme umschlingen ihren Hals, die weiche Rundung ihrer Brust drückt sich durch den hauchdünnen Stoff ihrer weißen Baumwollbluse gegen Deine Haut. Sie war wunderschön, um das Mindeste zu sagen, und doch warst Du es, von dem ich den Blick nicht wenden konnte – das Schimmern Deiner Haut, das Strahlen Deiner Augen, der vollendete Schwung Deiner Lippen, als sie mit der Kuppe ihres Zeigefingers darüberfuhr und sie schließlich mit ihren eigenen berührte. Ein Kuss.

Ich habe Dich durch das Fenster beobachtet. Ich stand mitten auf der Straße, ich habe mich nicht im Schatten oder hinter den Bäumen versteckt. Genau mitten auf der Straße, ohne auf das geschäftige Treiben zu achten. Ich bin überrascht, dass sie mich nicht gesehen hat, dass sie die Autohupe nicht gehört hat, mit der man mich von der Fahrbahn vertreiben wollte. Oder zumindest den Versuch machte. Aber ich rührte mich nicht vom Fleck. Nichts konnte mich aus der Ruhe bringen. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt, Euch beide zu beobachten, eingehüllt in eine zärtliche Umarmung. Zu fasziniert und zu wütend.

Vielleicht hast du es ja getan. Vielleicht hast du mich gesehen, aber so getan, als würdest du mich nicht sehen und die Hupe nicht hören.

Es war nachts, kurz nach Einbruch der Abenddämmerung, als ich meine Nase an der Scheibe platt drückte, um hineinzuschauen. Die Vorhänge waren geöffnet und sämtliche Lichter im Haus eingeschaltet – als wolltest Du, dass ich Dich sehe. Als würdest Du Dich diebisch freuen, als wolltest Du Salz in die Wunde streuen und Dich in Deinem Sieg sonnen. Vielleicht war es ja auch ihre Idee gewesen: die Lichter anzulassen, damit ich alles sehen konnte. Schließlich war es ja ihr Sieg. Wie ein Scheinwerfer, der zwei Tänzer in der Mitte der Bühne erfasst – die Art, wie Du gelacht hat, die Art, wie sie lächelte. Keiner hat von meiner Abwesenheit Notiz genommen, denn ich war ja schon ersetzt worden – so als ob ich überhaupt niemals da gewesen wäre.

Nur dass Ihr nicht auf einer Bühne standet, sondern im Wohnzimmer eines Hauses, in dem ich mit Dir wohnen sollte.

Ich muss es wissen: Hast Du mich gesehen? Hast Du versucht, mich in den Wahnsinn zu treiben?

In Liebe

EV

ALEX

Ihr Haar ist dunkelbraun. Jedenfalls irgendwie dunkelbraun. Ein dunkles Braun, das zu den Spitzen hin immer heller wird, sodass es fast blond ist, wenn du am Ende angelangt bist. Farbabstufungen, die ineinander übergehen. Es ist leicht gewellt, fast unmerklich, sodass man nicht sicher sein kann, ob es überhaupt eine Welle ist oder nur vom Wind bewegt wurde – das Haar, das bis unter die Schultern fällt. Braune Haare zu braunen Augen, die ebenfalls ständig die Farbe zu wechseln scheinen, je länger ich sie betrachte. Sie kommt allein und hält die Tür geöffnet für ein paar komische alte Käuze, die ihr so dicht folgen, dass sie ihr fast in die Hacken ihrer überteuerten Uggs treten. Sie tritt beiseite und wartet, bis sie zu ihren Plätzen geführt werden, obwohl sie zweifellos zuerst da war. Sie steht an der Tür. Sie scheint selbstbewusst zu sein – und gleichzeitig doch gar nicht so selbstsicher. Ihre aufrechte Haltung verrät Gelassenheit. Ruhig und geduldig wartet sie, bis sie an der Reihe ist.

Nur ihre Augen bewegen sich ruhelos hin und her.

Ich habe sie noch nie hier gesehen, doch seit Jahren habe ich mir schon vorgestellt, dass sie kommen wird.

Als sie an der Reihe ist, wird ihr ein Platz am Fenster zugeteilt, sodass sie all die vorhersehbaren Kunden beobachten kann, die kommen und gehen und kommen und gehen – Kunden, die für sie natürlich überhaupt nicht vorhersehbar sind. Ich lasse sie nicht aus den Augen, als sie aus ihrem schwarz-weißen Caban schlüpft. Sie trägt eine grob gestrickte Mütze, die sie abnimmt und auf eine leere braune Sitzbank neben ihre Segeltuchtasche wirft. Dann befreit sie sich von einem Strickschal und lässt ihn ebenfalls auf die Bank fallen. Sie ist zierlich, jedoch nicht so dürr wie die abgemagerten Models, die man in den Modemagazinen in den Zeitungsständern im Supermarkt sieht. Ganz und gar nicht. Sie ist nicht bohnenstangendünn, aber ihre Gestalt wirkt zart. Eher klein als groß, eher dünn als schlank. Dennoch weder klein noch dürr. Ganz und gar durchschnittlich oder normal, nehme ich an. Aber selbst diese Beschreibung trifft es nicht wirklich.

Unter dem Caban und der Mütze und dem Schal kommen ein Paar Jeans und die Uggs zum Vorschein. Und ein Kapuzenpullover. Blau. Mit Taschen.

Draußen beginnt der Tag. Er wird wieder sonnenlos sein. Auf dem Gehweg liegen Blätter, spröde, verkrumpelte Blätter. Was noch an den Ästen hängt, wird am Nachmittag heruntergefallen sein, wenn der Wind aus dem Westen sich durchsetzen kann. Er bläst um die Ecken der Häuser aus rotem Ziegelstein, schlüpft unter bunte Markisen und wartet dort auf die Gelegenheit, irgendjemandes Hut zu erhaschen oder die Papiere durcheinanderzuwirbeln, die von behandschuhten Händen getragen werden.

Es sieht nicht nach Regen aus. Jedenfalls noch nicht. Aber die Kälte und der Wind sorgen dafür, dass die meisten Menschen in ihren Häusern bleiben und dem Winter in vorauseilendem Gehorsam aus dem Weg gehen.

Sie bestellt einen Kaffee. Sie sitzt am Fenster, trinkt kleine Schlucke aus dem Keramikbecher, billige Großhandelsware, und betrachtet die Szenerie vor dem Fenster: die Backsteinhäuser, die farbenfrohen Markisen, die gefallenen Blätter. Von hier aus kann man den Michigansee nicht sehen. Trotzdem sitzen die Menschen gern am Fenster und stellen ihn sich vor. Da draußen ist es irgendwo, das östliche Ufer des Michigansees. Harbor Country heißt unsere Gegend, eine Reihe von kleinen Orten am See, etwa siebzig Meilen außerhalb von Chicago, siebzig Meilen, die irgendwie drei Staaten und aus einer ganz anderen Welt sind. Von dort kommen jedenfalls die meisten unserer Gäste. Aus Chicago. Manchmal auch aus Detroit oder Cleveland oder Indianapolis. Aber in der Hauptsache aus Chicago. Ein Ausflugsziel fürs Wochenende, denn hier draußen kann man nichts machen, was sich nicht in zwei Tagen erledigen ließe.

Das beschränkt sich freilich auf den Sommer, wenn die Menschen wirklich kommen. Im Moment kommt niemand. Niemand außer ihr.

Unser Café liegt so weit von den Touristenpfaden entfernt am anderen Ende der Stadt, wo es immer weniger Läden und Restaurants, dafür immer mehr Wohnhäuser gibt. Die Gegend ist ziemlich durchmischt – Richtung Norden gibt es einen Souvenirshop, in der entgegengesetzten Richtung eine Frühstückspension. Auf der anderen Straßenseite hat ein Psychotherapeut seine Praxis, eingezwängt zwischen mehrere Einfamilienhäuser. Mietwohnungen. Eine Tankstelle. Noch ein Souvenirshop, der bis zum Frühjahr geschlossen hat.

Eine Kellnerin läuft an mir vorbei und schnipst mit den Fingern. „Tisch zwei“, sagt die Frau, die ich Red nenne. Ich habe für alle einen Spitznamen: Red, Braids, Braces – je nach Frisur und Haarfarbe: rot, Zöpfe, Haarband. „Tisch zwei muss abgeräumt werden.“

Aber ich rühre mich nicht vom Fleck. Ich starre einfach weiter. Ich gebe ihr auch einen Spitznamen, weil es sich irgendwie richtig anfühlt. Die Frau, die aus dem Fenster starrt, baut Luftschlösser. Sie hängt ihren Tagträumen nach. Das ist schon was Besonderes, wenn man bedenkt, dass sonst gar nichts Besonderes geschieht. Wären Nick und Adam noch hier und nicht auf dem College, würde ich sie anrufen und ihnen von dem Mädchen erzählen, das heute bei uns aufgetaucht ist. Von ihren Augen, von ihrem Haar. Sie würden Einzelheiten wissen wollen: ob sie wirklich so anders wäre als die anderen Mädchen, die es hier wie Sand am Meer gibt und die wir jeden Tag sehen, dieselben Mädchen, die wir seit der ersten Klasse kennen. Und ich würde ihnen sagen, dass sie tatsächlich etwas Besonderes ist.

Mein Großvater pflegte meine Großmutter – die ebenfalls brünett war, obwohl ich sie nur mit ihrem zerzausten grauen Haarschopf kannte – Cappuccetta zu nennen. Der Spitzname Cappuccetta leitete sich angeblich von den Kapuzinermönchen ab. Das behauptete mein Großvater. Es hatte mit der Farbe ihrer Hauben zu tun, die dem Kaffee ähnelten – einem Cappuccino. Das jedenfalls sagte mein Großvater, als er meiner Großmutter in die Augen sah und sie Cappuccetta nannte.

Mir gefällt der Klang des Wortes. Und es scheint zu diesem Mädchen mit dem ähnlich braunen Haar zu passen, das sich um ihren Kopf legt wie die Kapuze einer Mönchskutte. Mein Blick wandert zu ihrem schmalen Handgelenk, an dem sie ein Perlenarmband trägt, das selbst für ihren Arm zu klein zu sein scheint. Es sitzt stramm; das Gummiband blitzt durch die schimmernden Perlen durch. Ich stelle mir vor, dass es rote Abdrücke auf ihrer Haut hinterlässt. Am Rand sind die Perlen ein bisschen abgewetzt und glanzlos. Ich beobachte sie dabei, wie sie gedankenverloren am Armband zupft und das Gummiband von der Haut zieht. Dann lässt sie es zurückschnellen. Diese schlichte Bewegung ist faszinierend. Plick. Plick. Plick. Ich schaue ihr eine Weile zu und kann meine Augen nicht von ihrem Armband und den fließenden Bewegungen ihrer Hände wenden.

Und das ist der Auslöser. Nicht Cappuccetta, beschließe ich. Ich werde sie Pearl nennen.

Einfach Pearl.

In diesem Moment kommt eine Gruppe von Kirchgängern herein – dieselbe, die jede Woche um die gleiche Zeit eintrifft. Sie verlangen ihren gewohnten Platz, einen rechteckigen Tisch, an dem alle zehn Platz finden. Man serviert ihnen Kannen mit Kaffee – eine koffeinfrei, die andere besonders stark –, obwohl sie nicht darum gebeten haben. Es wird einfach vorausgesetzt. Denn das tun sie jeden Sonntagmorgen: Sie versammeln sich immer um denselben Tisch und diskutieren leidenschaftlich über Dinge wie Predigten und Pastoren und die Heilige Schrift.

Braids, die Kellnerin, verzieht sich für eine Zigarettenpause – und zwar gleich dreimal hintereinander. Als sie zurückkommt, stinkt sie wie eine Tabakfabrik. Ihre Zähne sind vergilbt. Seufzend nimmt sie ein unangemessen geringes Trinkgeld entgegen und steckt es in die Tasche ihrer Schürze. Einen Dollar fünfzig in 25-Cent-Stücken.

Sie entschuldigt sich und verschwindet in der Toilette.

Im Café herrscht wieder eine Atmosphäre von Normalität, obwohl dank Pearls Anwesenheit – der Frau mit dem unterschiedlich gefärbten Haar, den hellen Spitzen und dem dunklen Rest, die aus dem Fenster auf die farbenfrohen Einfamilienhäuser und Backsteinbauten entlang der Straße schaut – die Situation alles andere als normal ist. Sie isst von dem Teller, der jetzt vor sie hingestellt wird: Rührei und ein englisches Muffin mit Butter und Erdbeermarmelade. Eine zweite Tasse Kaffee mit zwei Milchdöschen und diesem rosafarbenen Süßstoff. Sie trinkt ihn, ohne sich die Mühe zu machen umzurühren. Ich starre noch immer in ihre Richtung, kann meinen Blick nicht von ihren Händen nehmen, als sie den Becher an die Lippen setzt und trinkt.

In diesem Moment reißt Priddys dünne metallische Stimme, die meinen Namen ruft, mich aus meinen Gedanken. „Alex“, sagt sie zu mir, und als ich mich zu ihr umdrehe, sehe ich ihren langen gekrümmten Finger, mit dem sie mir bedeutet, zu ihr zu kommen. Die Fingernägel hat sie honigmelonengelb lackiert. Vor Priddy auf der Theke stehen eine Schachtel und ein Plastikbecher mit einem Softdrink. In der Schachtel befindet sich ein Sandwich mit Schinkenspeck, Salat und Tomaten, einem Berg Pommes frites und einer Gewürzgurke. So wie immer. Normalerweise liefern wir nicht außer Haus. Nur für Ingrid Daube tun wir es. Und heute bin ich an der Reihe mit der Lieferung. Normalerweise freue ich mich auf die Tour zu Ingrids Haus – eine willkommene Unterbrechung der stumpfsinnigen Routine im Lokal –, aber heute ist nicht so ein Tag. Heute würde ich lieber bleiben.

„Ich?“, frage ich begriffsstutzig und betrachte die Schachtel, und Priddy sagt: „Ja, du, Alex. Du.“

Ich seufze.

„Bring das zu Ingrid“, fordert Priddy mich auf – ohne bitte oder danke. Stattdessen erteilt sie einen Befehl: „Geh.“ Ich zögere für den Bruchteil einer Sekunde, mein Blick ruht auf der Frau mit den hellen Haarspitzen und dem dunklen Rest – Pearl –, als Red an mir vorbeiläuft und ihren Kaffeebecher zum dritten Mal nachfüllt.

Pearl ist jetzt schon eine Stunde hier, und obwohl sie ihre Mahlzeit längst beendet hat, geht sie nicht fort. Das Geschirr ist abgeräumt. Vor mehr als einer halben Stunde hat Red die Rechnung neben den Kaffeebecher auf den Tisch gelegt. Die Kellnerin hat dreimal gefragt, ob sie noch etwas möchte, aber das Mädchen schüttelt nur den Kopf und sagt Nein. Red wird allmählich nervös. Sie will endlich das nächste schäbige Trinkgeld kassieren, um sich darüber zu beklagen, sobald Pearl sich entschieden hat zu gehen. Doch sie geht nicht. Sie bleibt am Fenster sitzen, schaut hinaus, trinkt ihren Kaffee und denkt offenbar gar nicht daran, das Lokal zu verlassen.

Ich nehme mir vor, mich zu beeilen. Und zurück zu sein, bevor sie geht.

Warum? Ich weiß es nicht. Aus irgendeinem Grund möchte ich hier sein, wenn sie geht, möchte ihr dabei zusehen, wenn sie die schwarze Mütze aufsetzt. Um ihr Haar mit den hellen Spitzen und dem dunklen Rest zu bedecken. Wie sie den Schal umbindet und die Segeltasche in die Hand nimmt. Ich möchte ihr zusehen, wie sie in ihren karierten Caban schlüpft, sich vom Stuhl erhebt, und schauen, in welche Richtung sie geht.

Also beschließe ich, mich zu beeilen. Ich werde zurück sein, bevor sie geht. Ich sage es mir erneut. Wenn ich den richtigen Zeitpunkt erwische, geht sie vielleicht gerade in dem Moment, in dem ich zurückkomme – zurück von meinem Botengang zu Ingrid. Vielleicht.

Ich werde ihr die Tür aufhalten. Und ihr einen schönen Tag wünschen.

Ich werde sie nach ihrem Namen fragen. Sind Sie neu in der Stadt? werde ich sie fragen.

Vielleicht. Wenn ich den richtigen Zeitpunkt erwische.

Wenn ich nicht zu viel Schiss habe, was vermutlich der Fall sein wird.

Für den kurzen Weg über die Straße mache ich mir nicht die Mühe, meinen Mantel anzuziehen. Ich greife nach der Schachtel und dem Getränk und gehe rückwärts zur Tür hinaus, die ich mit dem Rücken aufstoße. Als ich ins Freie trete, bläst mir der Wind beinahe die Schachtel aus der Hand. In solchen Momenten wünsche ich mir immer, Haare zu haben. Mehr Haare. Mehr als diesen Bürstenschnitt, der weder meinen Schädel noch meine Ohren wärmt. Ich könnte auch einen Hut gebrauchen – und meinen Mantel. Stattdessen trage ich meine Arbeitskleidung, die ich vom Café bekommen habe: die billige Hose mit Bügelfalte, das weiße Button-down-Hemd und eine schwarze Fliege. Es sieht spießig aus – genau die Sachen, in denen ich mich lieber nicht in der Öffentlichkeit zeige. Aber Priddy lässt mir keine Wahl. Die Ärmel meines Hemdes flattern in der Brise; der Wind kriecht unter das Polyester, das sich aufbläht wie ein Fallschirm oder ein Geburtstagsluftballon. Es ist kalt hier draußen, nicht einmal fünf Grad. Und dann kommt noch der Wind hinzu. Der Windchill-Faktor – auch bekannt als das Thema, über das alle in den kommenden vier Monaten reden werden. Es ist erst November, aber die Meteorologen prophezeien bereits jetzt einen kalten Winter, einen der kältesten seit Beginn der Wetteraufzeichnungen, behaupten sie, mit Rekordminustemperaturen, Rekordstürmen und jeder Menge Schnee.

So ist nun mal der Winter in Michigan, meine Güte. Gibt’s sonst noch was Neues?

Ingrid Daube wohnt in einem dieser typischen Cape-Cod-Häuser gegenüber dem Café, wie sie in den 1940ern oder 1950ern gebaut wurden. Es ist ein hellblaues Haus mit dunkelblauen Fensterläden, und das Dach ist fast so hoch, wie es lang ist. Es ist ein schönes Haus, sehr anheimelnd. Malerisch und idyllisch – abgesehen von der Hektik der Hauptstraße, in der es um diese Jahreszeit allerdings überhaupt nicht hektisch zugeht. Fast beschaulich. Aus dem Schlafzimmerfenster im oberen Stock hat Ingrid das Café im Blick, und ich kann sie sehen. Wie eine Erscheinung steht sie im Fensterrahmen und beobachtet mich, während ich ein Auto vorbeifahren lasse, ehe ich über die Straße flitze. Sie winkt mir durch die Scheibe zu. Noch während ich zurückwinke, verschwindet sie aus meinem Blickfeld.

Als ich die Stufen zu Ingrids breiter weißer Veranda vor dem Haus hinaufsteige, höre ich das durchdringende Quietschen von Türangeln, gefolgt vom Klappern einer Fliegengittertür im Nachbarhaus – ein blau gestrichenes Cottage, in dem Dr. Giles, der Seelenklempner der Stadt, seine Praxis hat. Seit knapp einem Jahr praktiziert er hier. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie er sich an der Tür von einer Patientin verabschiedet, ehe er, die Hände in die Hosentaschen gestopft, seinen Blick über die Straße schweifen lässt, als erwarte er jemanden. Umarmt er sie zum Abschied? Ich bin mir ziemlich sicher – eine linkische Berührung mit einem Arm, nicht für die Augen der Öffentlichkeit bestimmt. Das macht diese Geste so bizarr. Er schaut auf seine Uhr. Er schaut nach links, er schaut nach rechts, er schaut über die ganze Straße. Jemand verspätet sich, und Dr. Giles mag es nicht, wenn man ihn warten lässt. Er scheint sich darüber zu ärgern. Ich erkenne es an den zusammengekniffenen Augen, an seiner Körperhaltung, an der Art, wie er die Arme verschränkt hat.

Ich kann den Mann absolut nicht ausstehen.

Die Patientin, die ihn verlässt, zieht sich eine Kapuze über den Kopf – eine pelzbesetzte Kapuze an einem dicken schwarzen Parka. Ob sie es tut, weil sie friert oder nicht gesehen werden möchte, kann ich nicht sagen. Ehe ich einen Blick auf ihr Gesicht erhaschen kann, eilt sie in die andere Richtung davon. Ich sehe sie nicht, aber ich höre sie. Die halbe Stadt kann sie hören. Sie weint, laut und jämmerlich, sodass man sie über die ganze Straße hören kann. Er hat sie zum Weinen gebracht. Dr. Giles hat das Mädchen zum Weinen gebracht. Ein Grund mehr, warum ich diesen Typen nicht leiden kann.

Dass Dr. Giles seine Praxis in dieses kleine blaue Cottage verlegt hat, sorgte für ziemlichen Aufruhr. Aufruhr, weil die Damen in der Stadt es sich zur Angewohnheit gemacht haben, um das Café herumzuschleichen und die Straße auf und ab zu schlendern, um mitzubekommen, wer zu Dr. Giles’ Patienten gehört, wer aus der Stadt den Seelenklempner aufsucht – und warum. Ein weiterer Beweis dafür, was die Leute am meisten am Kleinstadtleben hassen – es gibt so gut wie keine Privatsphäre.

Wir sind wirklich das Paradebeispiel für eine Kleinstadt. Wir haben eine Ampel und einen stadtbekannten Säufer, und alle wissen, wer dieser stadtbekannte Säufer ist: mein Vater. Alle zerreißen sich das Maul darüber. Es gibt nichts Schöneres, als über andere zu klatschen und sie bloßzustellen. Also tun wir es.

Noch bevor ich klopfe, öffnet Ingrid die Tür. Ich trete ein und wische mir die Schuhe an dem gewebten Fußabtreter ab. Sie lächelt. Ingrid ist ungefähr so alt wie meine Mutter, die aber nicht mehr hier ist. Verstehen Sie mich nicht falsch: Meine Mutter ist nicht tot (obwohl ich mir manchmal wünsche, sie wäre tot), sie ist bloß nicht hier. Ingrid hat eine jener Kurzhaarfrisuren, wie sie Frauen um die vierzig oder fünfzig oft tragen. Ihre Haarfarbe ähnelt nassem Sand. Sie hat einen freundlichen Blick. Ihr Lächeln ist liebevoll, aber traurig. Es gibt nicht einen Menschen in der Stadt, der etwas Böses über Ingrid sagen könnte – nur über die schlimmen Dinge, die Ingrid zugestoßen sind, darüber reden sie. Ingrids Leben ist ein anderes Wort für Tragödie. Sie hat immer den Kürzeren gezogen, das steht wohl fest, und deshalb ist sie für die ganze Stadt ein Fall für die Wohltätigkeit – eine Frau von fünfzig, die zu verängstigt ist, ihr eigenes Haus zu verlassen. Jedes Mal, wenn sie es tut, bekommt sie Panikattacken, einen Druck auf der Brust und Probleme mit dem Atmen. Ich habe es selbst gesehen. Allerdings kenne ich nicht ihre ganze Geschichte. Ich mische mich aus Prinzip nicht in die Angelegenheiten anderer Menschen ein. Trotzdem habe ich mitbekommen, wie Ingrid mit dem Krankenwagen in die Notaufnahme gebracht wurde, als sie glaubte, sterben zu müssen. Es stellte sich jedoch heraus, dass alles in Ordnung war. Absolut in Ordnung. Nur ein ganz normaler Anfall von Agoraphobie – als ob es normal wäre für eine fünfzigjährige Frau, in ihrem Haus zu bleiben, weil die Welt da draußen ihr Todesängste einjagt. Sie verlässt ihr Haus niemals – weder um die Post hereinzuholen, die Blumen zu gießen oder Unkraut zu rupfen. Innerhalb ihrer vier Wände fühlt sie sich absolut wohl – doch jenseits dieser Wände ist alles ganz anders.

Trotz allem, was ich über Ingrid erzählt habe: Sie ist nicht verrückt. Sie ist so normal wie alle anderen.

„Hi, Alex“, begrüßt sie mich, und ich antworte: „Hi.“

Ingrid zieht sich so an, wie es für eine Fünfzigjährige angemessen ist: ein orangefarbenes Sweatshirt und eine schwarze Stoffhose. Um den Hals trägt sie eine Kette mit einem Anhänger. In den Ohrläppchen stecken Ohrstecker, ihre Füße in flachen Schuhen.

Bevor Ingrid die Tür schließt, drehe ich mich kurz um. Durch das Fenster sehe ich sie, Pearl, halb verdeckt durch die Spiegelungen all dessen, was sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite ereignet. Wegen der Glasscheibe ist es unmöglich zu sagen, was drinnen und was draußen ist. Kein Wunder, dass Vögel manchmal mit dem Kopf dagegenfliegen und tot auf dem rissigen Straßenbelag landen.

Doch durch das Geäst der Bäume und die Reflexionen auf einer Fensterseite kann ich sie sehen.

Pearl.

Sie schaut aus dem Fenster, allerdings nicht in meine Richtung. Ich folge ihrem Blick zu einem Schild, das an einem schmiedeeisernen Bügel am Nachbarhaus hängt: Dr. med. Giles, Psychotherapeut. Daneben steht Dr. Giles, dunkles, kurz geschnittenes Haar und sehr elegante Erscheinung, und wartet ungeduldig auf den nächsten Patienten.

Interessant. Sie beobachtet ihn.

Hat sie einen Termin bei Dr. Giles? Vielleicht. Vielleicht ist es das. Meine Konzentration lässt nach, aber nicht so sehr, dass ich nicht mehr an ihr Haar oder ihre Augen denken würde. Denn das tue ich weiter. Und zwar so intensiv, dass ich unwillkürlich blinzeln muss.

Ingrid schließt die Tür und bittet mich: „Kannst du abschließen?“

Ingrids Haus ist eher klein, aber mehr als ausreichend für eine einzelne Person. Ich schließe die Tür, schiebe den Riegel vor und stelle Ingrids Mittagessen auf den Küchentisch. Auf der marmornen Arbeitsfläche steht ein offener Pappkarton, daneben ein kleiner Stapel mit Romanen. Etwas, um sich die Zeit zu vertreiben. Ein Messerset liegt ebenfalls auf dem Tisch, ein professionelles Schnitzmesser, mit dem sie das Klebeband des Pakets durchgeschnitten hat.

Der kleine Fernseher läuft, aber Ingrid schaut nicht hin, obwohl ich merke, dass sie zuhört. Ich vermute, die Stimmen der Schauspieler und Schauspielerinnen gaukeln ihr vor, nicht allein zu sein. Dass jemand bei ihr ist, obwohl es nur eine Illusion ist. Es ist ein Trick, mit dem sie sich selbst zu überlisten versucht. Es muss sich einsam anfühlen, wenn man nicht in der Lage ist, seine eigenen vier Wände zu verlassen.

Ansonsten ist es still im Haus. Es gab einmal eine Zeit, als lärmende Kinder und trappelnde Füße durch das Haus tollten, aber das ist vorbei. Diese Geräusche gibt es nicht mehr.

„Könntest du mir einen Gefallen tun, Alex?“, fragt Ingrid, und ich löse meinen Blick von einer Frau auf dem Bildschirm. Ingrids Zuhause ist schneeweiß: weiße Wände, weiße Schränke. Die Fußböden kontrastieren mit dem Rest des Hauses: gemaserte Holzdielen, so dunkel, dass sie fast schwarz sind. Ihre Möbel und ihre Einrichtung sind karg, von neutralem Grau, keinerlei Schnickschnack oder Nippes wie bei mir zu Hause. Pops ist der Hüter dieses Zeugs, denn er kann sich von nichts trennen. Es ist nicht so, dass er jahrelang wertloses Zeug zusammengetragen hätte, mit dem unser Wohnzimmer bis unter die Decke vollgestopft wäre, so zahlreich, dass sich streunende Katzen unbehelligt darin vermehren könnten, deren Nachwuchs tot in der Ecke läge oder ungezähmt durchs Haus tobte. Nein, so ist es nicht – nicht wie bei den Messies, die man manchmal im Fernsehen sieht. Aber er ist sentimental – ein Typ, der sich nicht von meinen Zeugnissen aus der Grundschule und meinen Milchzähnen trennen kann. Vermutlich sollte mich das freuen. Und tief in meinem Inneren tut es das wohl auch.

Es ist allerdings auch ein schmerzlicher Hinweis darauf, dass Pops außer mir niemanden mehr hat. Wenn ich einmal gehe, was soll dann aus ihm werden?

„Ich habe eine Einkaufsliste gemacht“, fährt Ingrid fort, und noch ehe sie fragen kann: Würdest du das für mich besorgen?, sage ich: „Klar. Hat es Zeit bis morgen?“ Und sie sagt Ja.

Aus Ingrids Küchenfenster kann ich genau in Dr. Giles’ Praxis sehen. Ingrids Cape-Cod-Haus liegt ein bisschen höher als seines, und das Fenster bietet den idealen Winkel, um hineinzuschauen. Es ist keine großartige Aussicht, aber immerhin gibt es was zu sehen. Während Ingrid in ihrem Portemonnaie nach Zwanzigdollarnoten sucht und mir zwei in die Hand drückt, bemerke ich einen Schatten, eine Silhouette – eine Bewegung durch eine reflektierende Glasscheibe. Jemand ist im Haus. Ich starre, aber nicht zu lange. Das kann ich nicht. Ich will nicht, dass Ingrid mich für voyeuristisch hält. Deshalb schaue ich Ingrid an, stopfe die beiden Zwanzigdollarscheine in meine Tasche und versichere ihr, dass ich am nächsten Morgen gehen werde. Morgen früh gehe ich in den Supermarkt. Das habe ich schon oft für sie getan.

Ich nehme die Einkaufsliste, verabschiede mich und verschwinde.

Sobald ich Ingrids Haus verlasse und die breiten Verandastufen hinunterlaufe, fällt es mir auf.

Am Fenster des Cafés sitzt niemand mehr.

Autor