×

Ihre Vorbestellung zum Buch »In den Armen der Gefahr«

Wir benachrichtigen Sie, sobald »In den Armen der Gefahr« erhältlich ist. Hinterlegen Sie einfach Ihre E-Mail-Adresse. Ihren Kauf können Sie mit Erhalt der E-Mail am Erscheinungstag des Buches abschließen.

In den Armen der Gefahr

Dieser Mann bedeutet Gefahr! Bei der Polizeichefin Isabeau Maran schrillen sämtliche Alarmglocken, als der Unbekannte vor ihrer Haustür steht. Agent Morgan Yancy soll nach einem Anschlag bei ihr untertauchen. An brenzlige Situationen ist Isabeau gewohnt. Doch wie soll sie dem heißen Knistern widerstehen, wenn sie mit Morgan allein ist? Und wie soll sie ihr Leben retten, wenn sie nichts von der Falle weiß, die jede Sekunde zuschnappen kann - mit ihr als Köder?

"Atemberaubend, meisterhaft!”

Romantic Times Book Reviews


  • Erscheinungstag: 06.03.2017
  • Seitenanzahl: 512
  • ISBN/Artikelnummer: 9783956499739
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Linda Howard

In den Armen der Gefahr

Roman

Aus dem Amerikanischen von
Katrin Hahn

 

 

 

 

 

 

 

image

 

 

MIRA® TASCHENBUCH

 

 

 

image

 

Copyright © 2017 by MIRA Taschenbuch
in der HarperCollins Germany GmbH
Deutsche Erstveröffentlichung

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:
Troublemaker
Copyright © 2016 by Linda Howington
erschienen bei: William Morrow, New York

Published by arrangement with
William Morrow, an imprint of HarperCollins Publishers LLC.

Umschlaggestaltung: büropecher, Köln
Umschlagabbildung: Getty Images / Casarsa
Redaktion: Mareike Müller

ISBN eBook 978-3-95649-973-9

www.mira-taschenbuch.de

Werden Sie Fan von MIRA Taschenbuch auf Facebook!

eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net

 

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.

Alle handelnden Personen in dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit
lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.

1. Kapitel

Großraum Washington, D. C.

Es war einer dieser strahlenden Tage im frühen März, die einen glauben ließen, der Frühling müsse da sein, obwohl man wusste, dass der Scheißwinter noch nicht bereit war, seinen Griff zu lockern und vollends aus der Stadt zu ziehen. Morgan Yancy verlor ohnehin manchmal den Überblick darüber, welche Jahreszeit herrschte. Dann musste er anhalten und nachdenken: War er auf der nördlichen Halbkugel oder auf der südlichen? Sein Job verlangte, dass er von jetzt auf gleich in irgendwelche Dreckslöcher reiste. Daher konnte es sein, dass ihn sein Weg plötzlich von der Arktis bis zur irakischen Wüste führte, von dort nach Südamerika – wo auch immer auf der Welt seine Talente benötigt wurden.

Sechsunddreißig Stunden zuvor war er in der kleinen Eigentumswohnung angekommen, die er zurzeit als sein Zuhause betrachtete. Er schlief die ersten vierundzwanzig Stunden und merkte beim Aufwachen, dass seine Tage und Nächte durcheinandergeraten waren. War nicht das erste Mal, würde nicht das letzte Mal sein. Also blieb er eine Weile auf, aß ein paar alte Cracker mit Erdnussbutter, bearbeitete seine Ausrüstung und lief sieben Meilen in der dunklen Stadt, um sich müde zu machen, bevor er wieder einpennte.

Als er erwachte, war es Frühling. Oder so gut wie.

Er nahm eine kalte Dusche, um die restlichen Spinnweben aus seinem Kopf zu entfernen. Danach durchstöberte er den Kühlschrank und stellte fest, dass in seiner letzten Tüte mit gemahlenem Kaffee noch genug Pulver war, um sich eine halbe Kanne zu kochen. Das reichte. Er öffnete den Milchkarton, schnupperte, verzog das Gesicht und goss die Milch in den Ausguss. Da war auch irgendein flaumiger grüner Käse im Kühlschrank, den warf er ebenfalls weg. Kein Zweifel: Er musste diesmal ein paar Lebensmittel besorgen, solange er zu Hause war. Auf Käse und Milch konnte er verzichten, aber wenn er keinen Kaffee hatte, wurde es brenzlig. Komisch, dass er ihn Tage, Wochen entbehren konnte und trank, was greifbar war, aber wenn er daheim war, wollte er verdammt noch mal seinen Kaffee haben.

Das strahlende Sonnenlicht lockte ihn nach draußen auf die Veranda, die etwa die Größe einer Briefmarke besaß. Mit der Kaffeetasse in der Hand trat er hinaus und beurteilte die Lage.

Das Wetter war perfekt. Es war gerade so kühl, dass es nicht als warm durchging, aber auch wieder warm genug, damit er sich ohne Jacke wohlfühlte. Eine leichte Brise wehte, und ein paar Schäfchenwolken zogen vorbei.

Na schön, verdammt. Das Leben war manchmal hart. Er hatte keine Wahl: Er musste angeln gehen. Wenn er einen Tag, der zum Angeln wie gemacht war, verstreichen ließ, ohne sein Boot herauszuholen, würde er seine Zulassung als Mann verlieren.

Außerdem mussten der alten Shark von Zeit zu Zeit die Spinnweben aus dem Motor geblasen werden. Er wartete das alte Ding, wann immer er die Gelegenheit dazu hatte, aber der Motor war seit ungefähr fünf Monaten nicht mehr anständig gelaufen – was, wenn er so darüber nachdachte, vielleicht auch das letzte Mal gewesen war, dass er mehr als einen Tag zu Hause verbracht hatte. Das Team war eine mörderisch lange Zeit am Stück fort gewesen, das war mal sicher.

Er fischte sein Mobiltelefon aus der Cargohosentasche an seinem rechten Schenkel und rief Kodak an, einen Kumpel aus dem GO-Team. Kodaks wahrer Name war Tyler Gordon, doch wenn man ein fotografisches Gedächtnis besaß, wie zum Teufel sollten einen die Leute dann sonst nennen außer Kodak?

Kodak klang ein wenig durch den Wind, als er sich meldete. Nicht verwunderlich, denn schließlich war er ja bei dem letzten Job mit Morgan dabei gewesen. „Ja, was liegt an?“ Er klang heiser und war offenbar noch nicht ganz bei Bewusstsein. Seine Worte waren kaum verständlich.

„Angeln. Ich hole die Shark heraus. Willst du mit?“

Fuck, schläfst du auch irgendwann mal?“

„Ich habe geschlafen. Ich habe fast zwei ganze Tage geschlafen. Was zum Teufel hast du gemacht?“

„Manchmal habe ich nicht geschlafen. Jetzt schlafe ich. Beziehungsweise habe ich das getan.“ Ein riesiges Gähnen war zu hören. „Viel Spaß, Kumpel, aber ich komme nicht mit. Wie lange wirst du draußen bleiben?“

„Ungefähr bis zum Einbruch der Dunkelheit, schätze ich.“ Er hätte damit rechnen sollen. Kodak war schlicht und einfach ein geiler Bock und hatte wahrscheinlich ans Vögeln gedacht, noch bevor er sich den Bauch mit einem anständigen Essen gefüllt hatte. Nicht, dass Morgan nicht ans Vögeln gedacht hätte, aber eben erst nach dem Essen. Und er hatte den Gedanken nicht weiter ausführen können.

Ein weiteres Gähnen erklang. „Diesmal passe ich. Bis später.“ Es wurde still, als Kodak auflegte.

Morgan zuckte mit den Schultern und schob das Telefon wieder in seine Tasche. Also würde er heute allein angeln. Das machte ihm nichts aus. Meistens war es ihm lieber. Die Sonne, der Wind, das Wasser, die wohltuende Einsamkeit – es war großartig. Besonders, wenn er sich nach einem Job entspannte.

Binnen fünf Minuten hatte er genug Kaffee hinuntergeschüttet, um funktionstüchtig zu sein, hatte sich ein Hemd, ein Paar Socken und Stiefel übergezogen und war in seinem Truck auf dem Weg zur Marina. Frühstück kam in Form von Fast Food von einem Drive-in, aber es war ja nicht so, als würde er nicht ohnehin an den meisten Tagen seines Lebens Dreck essen. Außerdem hatte Amerika seiner Meinung nach großartig schmeckenden Dreck. Wenn die Fett-Polizei sich wirklich über das Essen in diesem Land beschweren wollte, sollten diese Wächter mal in einige der Dreckslöcher fahren, die er besucht hatte; danach hätten sie vielleicht ein tieferes Verständnis für schmackhaften Dreck.

Die Marina, wo er die Shark aufbewahrte, war alt und heruntergekommen und befand sich ziemlich weit flussabwärts, aber er mochte die Hafenanlage, denn sie war klein, und dadurch behielt er den Überblick über irgendwelche neuen Boote oder verdächtige Fahrzeuge auf dem Parkplatz. Wenn er das Boot nach so etwas wie einem regelmäßigen Terminplan herausholen könnte, würde er noch besser achtgeben, noch wachsamer sein können. Doch bisher hatte er nie irgendwelchen Ärger gehabt – es gab auch keinen Grund, dass er welchen haben sollte, nur war Gewohnheit eben Gewohnheit –, und er hatte ein Talent dafür, Fahrzeuge zu sichten, die ungewöhnlich für ihre Umgebung waren. Heute fiel ihm nichts auf; trotzdem traf er eine Vorsichtsmaßnahme und fuhr die gesamten Parkreihen ab, ehe er anhielt. Keine Fahrzeuge, die mit der Motorhaube nach außen geparkt waren, keine Mietwagen oder sonst irgendwas Verdächtiges.

Er setzte seinen Truck zurück in eine Parkbucht, stieg aus und schloss ab, dann überprüfte er noch einmal, dass das Fahrzeug abgeschlossen war. Es war seine zweite Natur; er überprüfte alles zweimal, wenn es um die Sicherheit ging. Als er seinen Schlüssel ins Schloss des Sicherheitstors steckte, das den Eingang zu den Bootsstegen versperrte, streckte Brawley, der Besitzer der Marina, den Kopf aus dem knapp dreißig Meter entfernten Schuppen und schrie: „Ist schon ’ne Weile her! Guter Tag zum Angeln.“

„Hoffentlich“, antwortete Morgan und erhob die Stimme, um die Entfernung zu überbrücken.

„Wollen Sie hinaus zur Bucht?“

„Glaube nicht, dass ich so weit rausfahre.“ Die Chesapeake Bay war gute vierzig Meilen den Potomac hinunter; er würde den Großteil seiner Angelzeit darauf verwenden, dorthin zu fahren und zurück.

„Fangen Sie einen für mich!“, rief Brawley, dann duckte er sich wieder in die Baracke. Durch die Fensterscheibe beobachtete Morgan, wie er das Telefon zur Hand nahm, ein altmodisches Ding mit Schnur, das vermutlich seit dem Tag dort stand, an dem die Marina erbaut worden war, und den Hörer vorsichtig an seine Schulter bettete, während er wählte. Man sah nicht viele solcher Telefone heutzutage.

Morgan ließ das Torschloss wieder zuschnappen und ging weiter den Steg hinunter bis zu dem Liegeplatz, den er unter dem Namen Ivan Smith gemietet hatte. Das Pseudonym hatte er ausgewählt, weil er es lustig fand: Ivan war russisch für „John“. Teufel auch, das hier war D. C. Vermutlich erwartete die halbe Einwohnerschaft, dass die andere Hälfte falsche Namen verwendete.

Er musterte die Boote, an denen er vorbeikam, suchte nach irgendwas Ungewohntem. Das betraf gar nicht so sehr die Boote selbst, denn immerhin hatte eine kleine, abgelegene Marina wie diese tendenziell eine geringere Fluktuation als die größeren Jachthäfen. Vielmehr ging es ihm um die Ausrüstung, zum Beispiel so etwas wie eine teure Funkanlage auf einem versifften Seelenverkäufer oder Leute, die nicht ganz hierher passten. Vielleicht hatten ihre Schuhe eine harte, feste Sohle, vielleicht waren sie bewaffnet, so etwas in der Richtung.

Nichts. Der Ort war so, wie er sein sollte. Der Geruch des Flusses, das Geräusch der Wellen, die sanft gegen die Boote schlugen, das Ächzen der Bootsstege, das leichte Dümpeln der Boote, all das beruhigte seine Seele, und er spürte, wie sich sein ständiges Reservoir an Anspannung ein klein wenig leerte. Er war auf jeden Fall mit einer Affinität zu Wasser auf die Welt gekommen. Einmal hatte ein Teamkollege ihn etwas mit der linken Hand tun sehen und ihn gefragt, ob er ambidexter, also beidhändig begabt, wäre, woraufhin ein Ausbilder, der in der Nähe gestanden hatte, gekontert hatte: „Nein, er ist amphibisch.“ Das war nahe an der reinen Wahrheit: Hätte er Kiemen, wäre er glücklich und zufrieden.

Er war in der Nähe von Pensacola aufgewachsen, daher konnte er sich an keinen Zeitpunkt in seinem Leben erinnern, an dem ihm der Ozean nicht wie ein Teil von ihm selbst vorgekommen wäre. Der Potomac war zwar nicht mit dem Golf von Mexiko zu vergleichen, aber ihm war jedes Gewässer recht. Zum Teufel, er wäre sogar zufrieden damit, in einem Kanu auf einem See herumzupaddeln. Jedenfalls für eine Weile; doch allmählich würde er etwas Action brauchen. Es gab nichts Besseres, als Sachen in die Luft zu jagen oder beschossen zu werden, um einem Mann einen richtigen Schuss Adrenalin zu verpassen.

Morgan ging an Bord der Shark und spürte, wie ihn die Vertrautheit des Bootes umhüllte. Weil er das Wasser ebenso sehr respektierte, wie er es liebte, überprüfte er Benzin und Öl, die Batterie, das Funkgerät und die Bilgenpumpe. Er holte seine Angelausrüstung aus dem abgesperrten Lagerraum und kontrollierte sie. Er sah nach, ob er sein Mobiltelefon bei sich hatte, obwohl er verdammt genau wusste, dass er es bei sich hatte; das Gleiche tat er mit dem Messer in seiner Tasche, der Pistole in dem Holster unten an seinem Rücken plus der Waffe, die er für den Notfall an seinem rechten Fußgelenk trug, und der Notfallwaffe für die Notfallwaffe ganz unten in seiner Ausrüstungskiste. Alles war fertig und startklar.

Nachdem er die Shark von ihrer Vertäuung befreit hatte, rutschte er auf den Sitz und betätigte den Zündschlüssel; augenblicklich sprang der verlässliche Motor an. Er drehte den Schirm seines Baseballcaps nach hinten, fuhr rückwärts aus dem Liegeplatz und steuerte das Boot in Richtung Freiheit. Auf dem bewegten Wasser spiegelte sich heute das Blau des Himmels, und unter ihm glitten die unergründlichen grünen Tiefen dahin. Er fühlte jeden Aufprall und jedes Klatschen des Schiffsrumpfes auf der Oberfläche, bevor die Fahrt gleichmäßiger wurde, als er beschleunigte.

Mann, das war das Leben! Wenn er jetzt ein paar Fische fing – und sei es nur, um damit anzugeben und Kodak seinen Erfolg unter die Nase zu reiben –, würde er dies als verdammt guten Tag verbuchen.

Doch auch wenn er nur angeln ging: Er konnte seine Gewohnheiten nicht abstellen, die durch sechzehn Jahre intensiven Trainings, durch Nahkampf und den schlichten alten animalischen Instinkt tief in ihm verwurzelt waren. Schließlich hatte er das Alter von vierunddreißig nicht erreicht, ohne zu lernen, wie man überlebte. Er schenkte dem Wasser dieselbe Aufmerksamkeit wie zuvor dem Parkplatz. Ständig wandte er den Kopf und beobachtete alles, was auf beiden Seiten des Bootes vorbeirauschte. Er registrierte jedes Gefährt auf dem Wasser, wer und wie viele Leute an Bord jedes Fahrzeugs waren, was sie taten, wie schnell sie fuhren und in welche Richtung. Er achtete darauf, ob jemand ihm eine besondere Aufmerksamkeit schenkte – was allerdings beinahe niemand tat, denn es gab nichts Auffälliges an der Shark.

Der Verkehr auf dem Wasser war stärker, als er erwartet hatte, dabei war dies ein Wochentag … womöglich. Er war sich halbwegs sicher, es war … Mittwoch? Donnerstag? Verdammt. Wenn heute Freitag war, hatte er ernsthaft den Überblick über die Zeit verloren. Zeitzonen zu wechseln war eine Sache, aber wenn man mehrere Male die internationale Datumsgrenze überquerte, wurde alles um einen herum verschwommen und grau, während das Morgen zum Gestern wurde und das Heute noch nicht stattgefunden hatte. Morgan streckte sein Bein aus, fischte sein Mobiltelefon aus der Cargohosentasche und warf rasch einen Blick darauf, um nach dem Tag zu sehen. Donnerstag. Okay. Er hatte annähernd richtiggelegen. Das war alles, was er nach einer langen Mission verlangte.

Der Potomac war ein großer Fluss, streckenweise fast elf Meilen breit, während er sich seinen Weg nach Südosten zur Chesapeake Bay bahnte. Normalerweise wäre Morgan den anderen Booten mühelos ausgewichen, doch die meisten Leute, die heute draußen waren, schienen keine Ahnung von den Regeln der Straße zu haben. Oder in diesem Fall denen des Flusses. Die Boote fuhren schräg aufeinander zu, drängelten sich aneinander vorbei, einige schleuderten vorsätzlich Wasser auf andere Bootsinsassen. Idioten in Neoprenanzügen rasten auf Jetskis hin und her, anscheinend ohne jeden Sinn für die Topografie des Flusses und vollkommen blind dafür, dass den entgegenkommenden Booten nur die Wahl blieb, sie entweder zu rammen oder auf Grund zu laufen. Es war ein Wunder, dass niemand erschossen wurde. Die Idee, selber zu schießen, gefiel ihm zunächst, doch er verwarf sie wieder. Nach zwei Beinaheunfällen – wobei er sich beim zweiten Mal fast dafür entschieden hatte, lieber den Jetski-Idioten zu rammen als sein Boot im Schlamm festzufahren – gab er auf und flüchtete sich in die Mitte des Flusses. Zum Teufel, dann mussten eben alle anderen um ihn herumsteuern! Er würde vielleicht ein paar finstere Blicke und Flüche ernten, aber zumindest war er nicht in der Gefahr, die Shark zu zerfetzen.

Da er sich in der Mitte des Flusses statt an der rechten Seite befand, genügte ein Blick zu dem Kajütboot, das ungefähr hundert Meter zu seiner Linken ankerte. Dank seiner scharfen Augen erkannte er, wie die Sonne auf einem Schopf silberweißer Haare glitzerte, während der Wind die Kapuze einer schwarzen Regenjacke nach hinten wehte. Da waren ein paar Leute an Deck: einer in einem blauen Hemd, der andere in der schwarzen Jacke. Das Haar brachte eine Saite in Morgan zum Klingen; er kannte diesen Schopf von irgendwoher. Aus einem Impuls heraus drehte er das Steuer der Shark in Richtung des Kajütbootes. Wenn die Person mit dem silberweißen Haar die war, für die er sie hielt, wollte er sichergehen, dass alles in Ordnung war.

Wellen prallten gegen den Rumpf, während er sich näherte. Morgan sah, wie die Person im blauen Hemd unter Deck ging. Dann fing die Frau – denn es war eine Frau – mit dem silberweißen Haar an, ihm zuzuwinken. Sie machte große, ausladende, enthusiastische Bewegungen, die „Kommen Sie her“ signalisierten, und er wusste, dass er richtig geraten hatte.

Er winkte zurück, drosselte einige Momente später das Tempo und manövrierte die Shark vorsichtig längsseits des Kajütbootes. Danach schaltete er den Motor aus und stand auf, um den elektrischen Schleppmotor ins Wasser zu senken, damit er seine Position beibehalten konnte.

„Kongressabgeordnete“, begrüßte er Joan Kingsley, seit zwölf Amtszeiten Mitglied des House of Representatives und ein führendes Mitglied des House Armed Services Committee. Sie waren sich zum ersten Mal während der denkwürdigen Zeit über den Weg gelaufen, als man den Sohn der Kingsleys in Venezuela entführt hatte und Morgans GO-Team zu seiner Rettung entsendet worden war. Die Kongressabgeordnete Kingsley hatte darauf bestanden, all den Männern, die an der Rettung ihres Sohnes beteiligt gewesen waren, persönlich zu danken, und hatte an einem abgeschiedenen Ort sogar ein großzügiges Barbecue veranstaltet. Normalerweise hätte das Team diese Einladung unmöglich annehmen können, aber weil Joan Kingsley im House Armed Services Committee saß, hatte man eine Ausnahme gemacht. Schließlich brüskierte man nicht jemanden, der die finanzielle Kontrolle hatte. Mac, der Leiter der GO-Teams, war viel zu ausgebufft für so etwas, daher hatte er seine Erlaubnis gegeben.

Zu seiner Überraschung hatte Morgan sie gleich gemocht. Sie war zweifellos eine Politikerin, wachsam in jeder Hinsicht, aber sie war ihm außerdem als nicht nur dankbar, sondern auch als aufrichtig freundlich erschienen. Sie hatte ein warmes offenes Lächeln und schien jedem auf gleicher Augenhöhe zu begegnen. Ihr Ehemann, ein Rechtsanwalt in D. C., war ebenfalls ziemlich nett, doch anders als bei ihr wirkte seine Freundlichkeit kalkulierter. Na ja, wenn man bedachte, dass er Anwalt in D. C. war, was konnte man anderes erwarten?

„Zuerst habe ich Sie gar nicht erkannt“, sagte sie, lehnte sich über die Reling und lächelte zu ihm herunter. „Ich habe mich gefragt, wer um alles in der Welt da auf uns zurast.“

„Entschuldigen Sie. Ich wollte Sie nicht erschrecken.“

„Ich habe mir keine Sorgen gemacht“, meinte sie und lachte. „Immerhin ist mein Boot größer als Ihres.“

„Ja, Ma’am, das ist es allerdings“, war alles, was er sich zu erwidern erlaubte, während er seinen scharfen Blick über das Boot schweifen ließ. Alles schien in Ordnung zu sein, und da niemand sonst an Deck war, hätte sie ihm jetzt eine Art Zeichen geben können, wenn es irgendwelche Schwierigkeiten gegeben hätte.

Joan Kingsley war eine wichtige Person im Kongress. Sie hätte mehr Sicherheitsvorkehrungen treffen sollen, doch er hatte nicht die Absicht, sie darüber zu belehren. Er hatte sich davon überzeugt, dass es keine Probleme gab, und das war es, was er sich vorgenommen hatte.

„Kommen Sie an Bord, und trinken Sie etwas mit uns“, lud sie ihn ein. „Heute wollen wir uns einfach erholen.“ Sie wandte den Kopf, als der Mann im blauen Hemd wieder aus der Kajüte auftauchte. „Dex, es ist Morgan Yancy.“

„Das sehe ich.“ Dexter Kingsley knöpfte das Hemd über seinem weißen T-Shirt zu, als er sich der Reling näherte. Ein routiniertes Lächeln lag auf seinem gleichmäßig gebräunten Gesicht – eine Bräune, die verriet, dass sie entweder aufgesprüht war oder von vielen Stunden auf der Sonnenbank stammte. „Es ist ein guter Tag, um einen Trip auf dem Wasser zu machen. Wollen Sie für einen Drink heraufkommen?“ Die Einladung war die gleiche wie die seiner Frau, aber irgendwie fehlte ihr die Aufrichtigkeit dahinter.

Morgan war nicht im Mindesten versucht. Höfliche Plauderei war nicht seine starke Seite, selbst wenn die Aussicht aufs Angeln ihn nicht weitergetrieben hätte. „Danke, aber ich bin auf dem Weg zu einem meiner Angelplätze. Als ich die Kongressabgeordnete sah, bin ich nur vorbeigekommen, um Hallo zu sagen.“ Er zog den Schleppmotor aus dem Wasser und beugte sich hinüber, um seine Hand auf die Wand des Kajütbootes zu legen und sich abzustoßen, dann ließ er sich auf dem Fahrersitz nieder. „Einen schönen Tag.“

„Gleichfalls“, gab die Kongressabgeordnete zurück und wandte sich mit einem Lächeln und einem Winken von der Reling ab.

Der Motor erwachte dröhnend zum Leben, als Morgan den Zündschlüssel drehte. Langsam tuckerte er von dem Kajütboot fort, bis er weit genug entfernt war, damit seine Heckwelle ihr Boot nicht mehr zu heftig ins Schaukeln brachte. Er hob den Kopf in den Wind und ließ sich von der Mischung aus Wasser und Freizeit anlocken.

Es war dunkel, nach halb zehn am Abend, als er auf den Parkplatz bei seiner Eigentumswohnung fuhr. Es war bereits spät gewesen, als er mit der Shark angelegt hatte. Nachdem er seine Angelausrüstung gereinigt und weggeschlossen hatte, war er endlich aufgebrochen. Auf dem Heimweg hatte er noch einen kurzen Zwischenstopp bei einem Lebensmittelgeschäft eingelegt, um seine grundlegenden Nahrungsbedürfnisse zu decken. Jetzt hängte er die Plastiktüten über seine Finger und zog sie mit sich, als er vom Sitz glitt. Ein Klick der Fernbedienung verschloss den Truck.

Die Eigentumswohnungen waren mindestens dreißig Jahre alt, sechs Reihen zweigeschossiger Gebäude aus Ziegelstein und Kiesbeton. Er nahm an, die Häuser sollten modern und nicht überladen wirken; vielleicht war das vor dreißig Jahren auch so gewesen, aber jetzt waren sie nichts weiter als grottenhässlich. Jedes Apartment im Erdgeschoss hatte wie seines eine eigene kleine Veranda. Die Wohnungen im oberen Stockwerk verfügten hingegen über Balkone, die Morgan ziemlich nutzlos erschienen, während des Sommers aber sehr viel benutzt wurden, zum Grillen und dergleichen.

Die Plastiktaschen raschelten und schlugen bei jedem Schritt gegen sein linkes Bein und erinnerten ihn daran, warum er es hasste, Lebensmittel einzukaufen. Im Nachhinein dachte er immer, dass er am besten einen Rucksack in seinen Truck werfen und dort lassen sollte, um so die paar Lebensmittel, die er kaufte, einpacken zu können. Er war jedoch nicht oft genug zu Hause, um es sich zur Gewohnheit zu machen, also vergaß er das mit dem Rucksack jedes Mal wieder. Beinahe hatte er auch vergessen, dass er keinen Kaffee mehr gehabt hatte, doch dann war ihm das Schild des Lebensmittelladens ins Auge gesprungen, und er war, ohne noch die Zeit zum Blinken zu haben, auf den Parkplatz gerast, was ein empörtes Hupen hinter ihm zur Folge gehabt hatte. Da war allerdings nichts zu machen gewesen. Er brauchte seinen Kaffee.

Ein Betonstützpfeiler und ein hohes Gebüsch versperrten ihm teilweise den Blick auf das Wohngebäude, etwas, was ihm auf die Nerven ging, aber der Hauseigentümerverband war nicht gewillt, einen Teil der ausgereiften Gartengestaltung und der schattigen Bäume zu beseitigen, nur weil er es nicht mochte. Er konnte diesen Leuten nicht erklären, dass das Grün an zahllosen Stellen einen Hinterhalt bot, weil Zivilisten einfach einen solchen Scheiß nicht verstanden, also musste er damit klarkommen. Es war ja nicht so, als ob er Grund zur Sorge hatte; die Kriminalitätsrate in diesem Wohnbereich war sehr niedrig und war tatsächlich ein Verkaufsargument für die jungen Familien, die die Mehrheit der Bewohner ausmachten.

Trotzdem, Gewohnheiten waren ein ziemlicher Mist, aber er konnte nicht das ignorieren, was er sich sein halbes Leben lang antrainiert hatte. Damit er nicht eine unübersichtliche Ecke umrunden musste, machte er einen weiten Schlenker auf die Straße, wie er es immer tat, sodass er sich dem Haus geradeaus näherte. Es gab nicht viel Verkehr in der Wohnsiedlung, und er musste nicht oft warten, bis ein Auto vorbeifuhr.

Doch selbst bei einem direkten Anmarsch auf das Haus gefiel es ihm nicht. Manchmal, so wie jetzt, gefiel es ihm weniger als zu anderen Zeiten, und er hätte nicht sagen können, warum. Es spielte im Grunde keine Rolle; es war einfach ein Instinkt.

Er blieb stehen.

Manchmal … so wie jetzt.

Plötzlich, beinahe blitzartig, überkam ihn etwas, und all seine Sinne waren auf einmal hyperwachsam. Automatisch legte er seine rechte Hand an die Pistole, die verborgen im Holster hinten an seinem Rücken steckte, während er mit den Augen das Gebüsch nach verdächtigen Bewegungen absuchte. Nach irgendetwas, das für das Prickeln in seinem Nacken verantwortlich war. Er konnte nichts erkennen, und trotzdem schrillten seine Alarmglocken. Etwas war definitiv da, selbst wenn es nichts gefähr…

Er hatte den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, als die Schatten des Gebüschs sich leicht bewegten, schwarz auf schwarz. Noch mehr Adrenalin schoss durch seinen Körper, und Morgan handelte, ohne nachzudenken. Sein Training übernahm die Führung, als er die Plastiktüten fallen ließ und sich nach links wegduckte. Mit der freien rechten Hand zog er die Waffe.

Sein Körper befand sich noch in der Bewegung, als er einen schwachen Lichtblitz sah und ein Vorschlaghammer auf seine Brust traf.

Er hatte zwei ferne, aber klare Gedanken. Schalldämpfer. Unterschallmunition.

Morgan schlug hart auf dem Boden auf. Der Aufprall erschütterte ihn fast genauso wie der Vorschlaghammer gegen seine Brust. Er ließ sich von der Wucht mitreißen, und der Pistolengriff fügte sich in seine Handfläche, als wären seine Hand und die Waffe zusammen erschaffen worden, als bildeten sie eine funktionale Einheit. Ein Teil seines Hirns wusste, dass er getroffen war, dass er schwer getroffen war. Der andere Teil konzentrierte sich jedoch weiterhin unbarmherzig auf das äußere Geschehen, war fest entschlossen, zu tun, was getan werden musste. Er feuerte in die Richtung des Lichtblitzes; das Geräusch schnitt scharf durch die frische Nachtluft. Ihm war allerdings klar, dass nur ein blutiger Amateur am selben Ort bleiben würde, und so zielte er mit dem nächsten Schuss nicht mehr direkt auf das Gebüsch, sondern folgte dem kaum zu erkennenden Schwarz-auf-schwarz-Schatten, bevor er abermals abdrückte.

Sein Verstand koppelte sich von den schockartigen Wellen des Schmerzes ab, die durch seinen Körper liefen, denn das war der einzige Weg, wie er funktionieren konnte. Seine Gedanken überschlugen sich, analysierten Wahrscheinlichkeiten und Schusswinkel, wählten die beste Option aus, während das Adrenalin die physische Zerstörung überbrückte und Morgan weiter antrieb. Ohne sich der Bewegung wirklich bewusst zu sein, rollte er sich hinter einen Hydranten und merkte nicht, wo er war, bis er bereits dort war. Ein Hydrant bot nicht viel Deckung, aber das war besser als nichts.

Sein Sichtfeld verschwamm, die Dinge stürzten auf ihn zu, dann wichen sie zurück, als würden sie von einem unsichtbaren Luftstrom weggestoßen und angezogen. Am Rande nahm er wahr, dass Eingangslichter angingen, Vorhänge zurückgezogen wurden, als seine Nachbarn hinausspähten, um zu sehen, was zum Teufel da vor sich ging. Er blinzelte heftig, versuchte, konzentriert zu bleiben. Ja – im zunehmenden Licht konnte er undeutlich die Silhouette eines Mannes ausmachen, und er feuerte einen dritten Schuss ab, kontrollierte den aufwärts gehenden Rückstoß der Pistolenmündung, feuerte noch einmal. Die dunkle Gestalt stürzte zu Boden und blieb liegen.

Gott, seine Brust schmerzte. Das hier hatte sein Tattoo wirklich übel zugerichtet.

Erneut ließ seine Sehkraft nach, doch er hielt verbissen aus und richtete die Waffe weiterhin auf die bezwungene Gefahr. „Bezwungen“ hieß nicht „ausgeschaltet“. Wenn er losließ, sich der Dunkelheit auslieferte, würde der andere Typ womöglich aufstehen und seinen Job beenden. Der Tod des Gegners musste zuerst bestätigt werden, und Morgan konnte im Moment einen Scheiß bestätigen.

Aber jetzt öffneten sich Türen, Leute riefen etwas. Die Geräusche waren verzerrt und seltsam fern, die Lichter verblassten. Durch die wachsenden Schatten hindurch dachte er, dass er einige der mutigeren Seelen sah, die sich herauswagten, um die Schießerei zu untersuchen. Worte waberten zu ihm herüber, umkreisten ihn, einige davon drangen in sein Bewusstsein vor.

„Shawn! Bist du verrückt?“ Die Stimme einer Frau, wütend und ängstlich zugleich.

„Ruf einfach die Cops“, sagte ein Mann. Vielleicht Shawn, vielleicht jemand anders.

„Das habe ich schon“, erklärte eine dritte Stimme.

„Was zum Teufel geht hier vor?“

Mehr Lärm, mehr Stimmen erklangen in dem Chor, als sich die Leute allmählich näherten, vorsichtig zuerst, dann mit mehr Selbstvertrauen, als nichts mehr passierte. Morgan wollte etwas rufen, etwas sagen, wollte irgendeinen Laut von sich geben, aber die Anstrengung war zu viel für ihn. Sein Atem ging stoßweise, während der ferne Schmerz immer näher kam, wie eine Flutwelle, die kurz davor war, ihn zu überschwemmen.

Vielleicht war es das für mich, dachte er und war beinahe zu müde, um sich was daraus zu machen. Er versuchte, seine Atmung zu kontrollieren, weil er dieses Keuchen schon einmal gehört hatte, und es war niemals etwas Gutes gewesen. Er würde nicht lange durchhalten müssen; vielleicht eine halbe Stunde, wenn die Leute das Blei aus ihren Knochen bekommen und ihn endlich ins Krankenhaus bringen würden. Aber eine halbe Stunde erschien ihm wie eine Ewigkeit, wenn er sich nicht sicher sein konnte, dass er überhaupt eine Minute länger durchhielt.

Er ließ den Kopf auf den Gehsteig sinken und spürte die Kühle des Betons. Seine ausgestreckte Hand lag auf dem wintertoten Gras am Rande des Gehwegs, und er hatte den fernen Gedanken, dass es irgendwie schön war, die Erde zu berühren. Wenn es das für ihn war … Na gut, es war ätzend, gehen zu müssen. Doch alles in allem war dies hier nicht allzu schlimm, angesichts all der grässlichen Möglichkeiten, wie er hätte sterben können.

Aber, verdammt noch mal, er war echt sauer, denn wenn er starb, würde er nicht erfahren, wer ihn getötet hatte oder, noch wichtiger, warum.

Jemand beugte sich über ihn, eine Gestalt, die immer undeutlicher wurde. Er musste MacNamara eine Warnung schicken, und mit allerletzter Kraft stieß er keuchend hervor: „Hinterhalt.“

2. Kapitel

Das Bewusstsein – oder das Fehlen davon – war eine seltsame Sache. Es ging vom einen Zustand in den anderen über und kehrte ohne eine Demarkationslinie und ohne irgendeine Anweisung von Morgan daraus zurück. Manchmal tauchte er auf aus dem totalen Nichts und nahm vage und wie aus weiter Ferne wahr, dass er existierte, während er zugleich vage und wie aus weiter Ferne das schwarze Nichts spürte. Er wusste in diesen Momenten sogar, was es war, und konnte beides voneinander unterscheiden. Dann ließ er sich wieder sinken, und da war nichts, bis der Strom des Bewusstseins ihn erneut nach oben trieb wie ein Stück Müll auf dem Meer.

Einmal waren da viele strahlende Lichter und Wärme und ein Gefühl des Wohlbefindens, aber dann verschwand auch das.

Ich bin nicht tot.

Das war Morgans erster zusammenhängender Gedanke. Bisweilen war er sich anderer Dinge bewusst gewesen: Schmerz, Lärm, unverständliche Stimmen – manchmal eine, die er beinahe wiedererkannte – und auch ein störendes Piepen. Doch nichts davon ergab einen echten Sinn. Diese Dinge waren einfach da, in der Ferne, wie ein winziger Lichtpunkt am obersten Ende eines tiefen, dunklen Schachts. Aber es kam der Moment, in dem er hoch genug getrieben wurde, um zu erkennen, was es bedeutete, dass er den Schmerz fühlen und den Lärm hören konnte. Es bedeutete, dass er am Leben war.

Zeit war bedeutungslos. Leute sprachen mit ihm. Er konnte nicht antworten, selbst wenn er sie verstehen konnte, doch sie wussten es anscheinend. Sie fassten seinen Körper an, taten Dinge mit ihm, erklärten ihm ständig alles. Manchmal war es ihm egal, oftmals war es das nicht, denn einige Sachen sollte ein Mann verdammt noch mal nicht mit sich machen lassen müssen. Keinen schien es zu interessieren. Sie taten, wofür sie gekommen waren, und das war es.

Sich zu bewegen war keine Option. Morgan hatte nicht den Eindruck, dass er dazu imstande war, und hatte keine Lust, es auszuprobieren. Einfach nur zu existieren beanspruchte seine ganze Kraft. Seine Lunge pumpte in einem seltsamen Rhythmus, den er nicht kontrollieren konnte; da steckte ein Schlauch in seinem Hals. Verdammt, vielleicht war das mit dem Leben doch keine so gute Idee!

Aber zu sterben lag ebenfalls außerhalb seiner Macht. Wenn man ihn vor die Wahl gestellt hätte, wäre er womöglich unten in der Dunkelheit geblieben: Wann immer er an die Oberfläche kam, zeigte sich der Schmerz als ein hässlicher Wichser, der ihn ohne viel Federlesen quälte und schlug. Er hätte dem Dreckskerl in den Hintern getreten, wenn er es gekonnt hätte, aber der Schmerz gewann jeden Kampf. In anderen Momenten war der Schmerz ferner, als hätte sich eine schützende Schicht aus Wolle dazwischengeschoben, doch er war immer da. Unter einiger Anstrengung kam Morgan dann zu dem Schluss, dass es sich bei der Wollschicht in Wirklichkeit um Drogen handelte … vielleicht.

Seine einzige Waffe gegen den Schmerz war Unnachgiebigkeit. Er verlor nicht gerne. Er hasste es, zu verlieren, verdammt. Ein Rest Wille, ein Rest reiner dickköpfiger Sturheit zwang ihn dazu, sich auf den Schmerz zu konzentrieren; er war sein Ziel, sein Widersacher, und er nahm es jedes Mal aufs Neue mit ihm auf. Vielleicht schlug der Schmerz ihn nieder, aber bei Gott, er würde sich nicht unterkriegen lassen. Selbst wenn er das Gefühl hatte, dass er nichts weiter tat, als vor Schmerz zu heulen – wenn er in der Lage gewesen wäre zu heulen –, kämpfte er darum, bei Bewusstsein zu sein, kämpfte um jeden weiteren Fortschritt.

Kämpfen war, auf einer sehr elementaren Ebene, das, was er kannte, was er war, also bekämpfte er alles. Er kämpfte nicht nur darum, das Bewusstsein zu erlangen; er kämpfte auch gegen den Schlauch in seinem Hals, der ihn vom Reden abhielt, gegen die Nadeln in seinen Armen, die ihn, zumindest in seiner Vorstellung, an jeder Bewegung hinderten. Sie – die namenlosen sie – schnallten ihn sofort fest, sodass er keinen Muskel rühren konnte, nicht einmal seinen Kopf.

Wut gesellte sich zu dem Schmerz. Er war so verdammt zornig, dass er glaubte, er würde explodieren, und was es noch schlimmer machte, war, dass er seinen grenzenlosen Zorn über seine Hilflosigkeit nicht ausdrücken konnte, wenn jeder Zentimeter seines Körpers und all seine Instinkte missbraucht wurden.

Dann schlief er erschöpft ein – oder sank wieder in die Bewusstlosigkeit. Vielleicht war das ein und dasselbe. Er konnte den Unterschied ganz sicher nicht erkennen.

Eines Tages öffnete er die Augen und richtete sie – ja, richtete sie – auf die Frau mittleren Alters, die neben ihm stand. Sie fummelte an den Schläuchen herum, die aus den Plastikbeuteln kamen, die an einem Metallbaum hingen. Krankenhaus, dachte er zum ersten Mal. Das hieß, dass seine Folterer sich tatsächlich um ihn kümmerten, aber das linderte seine Gefühle nicht. Er legte seine ganze Feindseligkeit in den Blick, mit dem er sie fixierte.

„Na, hallo“, sagte sie lächelnd. „Wie geht es Ihnen heute?“

Hätte er reden können, hätte er ihr genau gesagt, wie es ihm ging, und seine Ausdrucksweise wäre nicht nett gewesen.

Sie schien seine Gedanken lesen zu können, denn ihr Lächeln wurde breiter, als sie ihm auf die Schulter klopfte. „Der Schlauch wird ziemlich bald herauskommen, dann können Sie uns allen davon erzählen.“

Er wollte ihr gleich davon erzählen, brachte jedoch nur einige schwache grunzende Laute zustande. Und dann beschämte er sich, indem er sofort wieder einschlief.

Als er abermals aufwachte, wusste er sofort, wo er war … so in etwa. Er bewegte nichts außer seinen Augen, weil er verdammt noch mal nichts anderes bewegen konnte, und machte eine Bestandsaufnahme seiner Umgebung. Seine Sicht war verschwommen, aber er war darauf trainiert, zu beobachten und zu analysieren. Irgendwann kam er zu dem vagen Schluss, dass er sich – obwohl er in einem Krankenhausbett mit hochgestellten Gittern auf jeder Seite lag und er offensichtlich in einer Art Einrichtung war – auf jeden Fall nicht in einem Krankenhaus befand. Zum einen war da das Zimmer: Es war blau gestrichen, es gab Vorhänge vor den Fenstern, und es hatte eine normale Tür mit einem normalen Türknauf statt der massiven Türen, mit denen Krankenhäuser für gewöhnlich ausgestattet waren. Es schien sich um ein gewöhnliches Schlafzimmer zu handeln, in das man einen Haufen medizinischer Geräte geschoben hatte, die dann relativ wahllos überall verteilt worden waren.

Zum anderen waren da die Krankenschwestern – zum Teufel mit ihrer sadistischen Ader –, die ihn pflegten. Manchmal trugen sie farbenfrohe Uniformen, manchmal allerdings auch nicht. Die Frau mittleren Alters, die bei seinem letzten Erwachen da gewesen war, hatte immer Jeans, Sneakers und einen Pullover an, so als wäre sie nur gerade von einer Farm irgendwo hereingekommen. Und wenn seine Tür geöffnet war, konnte er hin und wieder einen Blick auf einen Bewaffneten erhaschen, der draußen herumstand, und es war nie jemand, den er wiedererkannte.

All seine Gedanken waren unscharf, und um sein Gedächtnis stand es noch schlimmer. Nur sehr undeutlich erinnerte er sich daran, dass Axel MacNamara mehrmals hier gewesen war, als er aufgewacht war, und hartnäckig Fragen gestellt hatte – nicht dass MacNamara jemals eine andere Art von Fragen gestellt hätte. Morgan hatte jedoch nichts tun können, als ein paarmal mit den Augen zu blinzeln, und er war sich nicht einmal sicher gewesen, wofür zum Teufel er mit den Augen geblinzelt hatte, und so war MacNamara schließlich gegangen.

Aber auch als er sich durch den Nebel aus Sedierung und Trauma kämpfte, brannte die Wut weiterhin tief und hell in seinem Inneren. Wenn er dazu fähig war, dachte er daran, was geschehen war, obwohl der Hinterhalt in seinem Kopf ständig mit dem Folgenden durcheinandergeriet, und manchmal hätte er die Krankenschwestern erschossen, wenn er eine Waffe in der Hand gehabt hätte. Er konnte nicht formulieren, welche Auswirkungen der Überfall auf ihn hatte, doch er wusste, dass sie schlimm sein mussten. Egal, wie unkoordiniert und hilflos er war: Noch immer war er fest entschlossen, herauszufinden, wer das getan hatte und was das Ziel des Attentäters gewesen war. Eine naivere und behütetere Person hätte vielleicht geglaubt, das Ziel wäre schlicht gewesen, ihn zu töten. Morgan hingegen hatte etwa im Alter von drei Jahren aufgehört, naiv zu sein, und „behütet“ stand nicht in seiner Jobbeschreibung. Ihn zu töten musste Teil eines größeren Plans gewesen sein – doch wie sah dieser Plan aus? Und wer steckte dahinter?

Er konnte das denken, konnte jedoch nicht gut genug kommunizieren, um es zu übermitteln. Seine Hilflosigkeit war so bitter, dass er das Zimmer demoliert hätte, wenn er sich hätte bewegen können. So wie er festgeschnallt war, konnte er allerdings nicht mal den Rufknopf für die Schwester drücken – wenn er eine hätte rufen wollen, was er nicht wollte, denn wann immer sie auftauchten, taten sie Sachen, die er nicht mochte.

Eines Tages kam es ihm beim Aufwachen so vor, als wäre er endlich über den Berg. Er hatte keine Ahnung, über welchen Berg, doch damit ging das Gefühl einher, dass sein Körper beschlossen hatte, zu leben. Das medizinische Personal musste zu demselben Schluss gekommen sein, was seinen physischen Zustand betraf. Etwa eine Stunde später kam ein Arzt herein – er nahm zumindest an, dass der Typ ein Arzt war, aber hey, vielleicht war er bloß jemand, den sie von der Straße hereingezerrt hatten, weil er Jeans und ein Flanellhemd trug – und sagte vergnügt: „Jetzt wollen wir den Schlauch aus Ihrem Hals holen und dafür sorgen, dass Sie reden und trinken und essen. Sind Sie bereit? Husten Sie, das macht es leichter.“

Eine Sekunde lang freute sich Morgan, den Schlauch aus der Kehle zu haben, in der nächsten rebellierte sein Körper völlig gegen das, was mit ihm geschah. Scheiße! Das Einzige, was es hätte leichter machen können, war, wenn er bewusstlos gewesen wäre. Es fühlte sich an, als würde seine Lunge mit dem Schlauch herausgezerrt und seine Brust entzweigehackt. Seine Sicht verschwamm und verdunkelte sich, seine Muskeln verkrampften sich unwillkürlich. Wenn er in der Lage gewesen wäre, hätte er dem Dreckskerl etwas angetan, denn wenn das „leicht“ war, musste „schwer“ die meisten Menschen umbringen.

Dann war der Schlauch hinaus, und er atmete selbstständig. Als Reaktion darauf zitterte er wie ein Blatt und war klatschnass von Schweiß, aber immerhin konnte er reden. Theoretisch jedenfalls. Seine Kehle war anscheinend mit Sandpapier bearbeitet worden, und sein Mund war in keinem besseren Zustand. Es kostete ihn drei Versuche, um ein einziges krächzendes, beinahe unhörbares Wort herauszubekommen.

„Wasser.“

„Na klar.“ Eine lächelnde Frau mit grau meliertem Haar goss ein wenig Wasser in eine Tasse und hielt den Trinkhalm an seinen Mund, sodass er etwas Wasser in die raue Kehle bekam. Er konnte fühlen, wie seine Schleimhäute die Feuchtigkeit absorbierten, und saugte gierig zwei Schlucke mehr hinunter, bevor sie die Tasse fortzog.

Er sammelte seine Kraft, um weitere Worte hervorzustoßen. „Kein Dope … mehr.“ Was er brauchte, war ein klarer Kopf. Er war sich nicht unbedingt sicher, warum, aber sein Instinkt trieb ihn dazu und ließ ihm keine Wahl.

„Kommen Sie uns nicht auf die Macho-Tour“, antwortete sie, immer noch lächelnd. „Der Schmerz setzt Ihren Körper unter Stress, und der Stress wird die Heilung verlangsamen. Lassen Sie uns das jeden Tag neu beurteilen, okay?“

Was hieß, dass sie ihm mehr Dope geben würden, ob er nun wollte oder nicht. Er war sich ziemlich sicher, dass man seine Wünsche in einem normalen Krankenhaus nicht ignoriert hätte, doch dies war offenbar kein normales Krankenhaus. Sie würden tun, was sie für nötig hielten, und er konnte nichts weiter tun, als damit zu leben. Die Ironie entging ihm nicht, alles andere hingegen schon, denn, verdammt, er schlief erneut ein.

Als er wieder erwachte, war Axel MacNamara da.

Der Besuch musste zeitlich mit der nachlassenden Wirkung der Medikamente abgestimmt worden sein. Was auch immer sie ihm da gegeben hatten: Morgan fühlte sich zumindest halbwegs munter. Ja, MacNamara dachte an solche Dinge. Der Mistkerl plante alles, vermutlich bis hin zu der Frage, wie lange er jeden Bissen Essen kaute.

Morgan hätte nicht gesagt, dass er einen klaren Kopf hatte, sondern nur, dass der geistige Nebel nicht so dick war. Er war klar genug, um ein vages Gefühl der Angst wahrzunehmen, das er nicht analysieren konnte – zum Teufel, er konnte es ja kaum identifizieren. Er hatte sich selbst darauf trainiert, die Existenz von Angst zu ignorieren, und sich stattdessen für „Besorgnis“ als seinen Kampf-oder-Flucht-Auslöser entschieden. Aber jetzt hatte er Angst, obwohl er nicht hätte sagen können, wovor. Vielleicht richtete sich dieser Nebel, dieser Eindruck, von allem außer dem Schmerz abgekoppelt zu sein, dauerhaft in seinem Inneren ein. Vielleicht waren seine Verletzungen zu schwer, um vollständig zu heilen. Vielleicht war dies seine neue Realität. Aber … nein. Er konnte seine Fortschritte spüren, auch wenn der Weg von „fast tot“ bis „echt beschissen“ nicht sehr lang war.

Um seine Unruhe zu verbergen, sagte er „Hey“ zu MacNamara, dann zog er ein mürrisches Gesicht, denn das Wort klang rührselig, seine Stimme dünn und schwach. Er bewegte sich hin und her, um nach dem Styroporbecher zu greifen, der auf dem Rolltisch neben ihm stand, musste jedoch feststellen, dass er immer noch festgeschnallt war – und dass nachlassende Schmerzmedikamente auch bedeuteten, dass er sich mit seinem zerschossenen und zusammengeflickten Körper auseinandersetzen musste, der bei jeder Regung protestierte. Der Schmerz und die Hilflosigkeit machten ihn gleichermaßen wütend.

„Mach … diese verdammten Riemen … von mir los“, wies er MacNamara rau an, und die Wut verlieh seiner Stimme ein wenig Kraft.

Axel rührte sich nicht. „Wirst du wieder versuchen, die Infusionsschläuche rauszureißen?“

Die Idee war verlockend, aber er wusste, wenn er das täte, würden die Riemen zurückkommen. Er wollte seinen Körper unter Kontrolle haben.

„Nein“, erwiderte er widerwillig.

MacNamara befreite ihn geschickt und drückte danach den Knopf, der das Kopfende des Bettes hob. Morgan wurde für eine Minute schwindlig, doch er atmete tief ein und zwang sich, keine weicheimäßige Schwäche zu zeigen, wie zum Beispiel ohnmächtig zu werden. Das würde ihm ewig anhängen.

„Bist du in der Lage, Fragen zu beantworten?“, wollte MacNamara in seiner brüsken Art wissen. Er verschwendete keine Zeit mit Höflichkeitsfloskeln oder damit, sich nach Morgans Befinden zu erkundigen.

Morgan starrte ihn trübe und beinahe finster an, hauptsächlich, weil diese tiefe und schwelende Wut seine Standardlaune war. „Frag“, forderte er ihn auf und griff wieder – dieses Mal mit einem Ergebnis – nach dem Styroporbecher, der, wie er ehrlich hoffte, etwas Wasser enthielt. Die Bewegung war fast qualvoll; seine Brust fühlte sich an, als würde jemand mit einem Beil in sie hineinhacken. Er biss knirschend die Zähne zusammen und streckte den Arm weiter aus, teils, weil er dem Schmerz auf gar keinen Fall nachgeben würde, und teils, weil er wirklich das Wasser haben wollte.

Jeder andere hätte ihm den Becher geholt, aber nicht MacNamara. In diesem Moment wusste Morgan den Mangel an Mitgefühl zu schätzen; er wollte es selbst tun. Er schloss seine zittrigen Finger um den Becher und hob ihn hoch. Ein paar Zentimeter Wasser waren darin, und er leerte den Becher, bevor er ihn tastend zurück auf den Tisch stellte. Er sank ins Kissen, so erschöpft, als hätte er gerade einen Zwanzig-Meilen-Lauf beendet.

„Erinnerst du dich daran, was passiert ist?“, wollte MacNamara wissen.

„Ja.“ Vielleicht war er geistig benommen, doch er litt nicht unter Gedächtnisschwund.

MacNamara zog einen Stuhl herum und ließ sich darauf fallen. Er war schlank bis zur Magerkeit, nur leicht überdurchschnittlich groß, aber niemand würde je seinen Mangel an Körpergröße mit einem Mangel an Macht verwechseln. Er war ernst, hartnäckig und rücksichtslos, genau die Art Mann, die die GO-Teams brauchten, damit er ihnen den Rücken freihielt.

„Weißt du, wer dich angeschossen hat?“

„Nein.“ Morgan holte Luft. „Weißt du es?“

„Er war von der russischen Mafia.“

Morgan blinzelte verwirrt, so weit er imstande war, verwirrt zu sein. Russisch? Mafia? Was zum Teufel bedeutete das? Er hatte nichts mit der russischen Mafia zu tun. „Ohne Scheiß?“

„Ohne Scheiß.“

„Ich kenne niemanden … in der russischen Mafia.“ Er hatte schon sagen wollen, er kenne überhaupt keine Russen, doch dann erinnerte er sich daran, dass er sehr wohl eine Reihe von Russen kannte – allerdings war keiner von ihnen in der Mafia. „Wie heißt er?“

„Albert Rykow. Hieß. Er ist tot.“

Gut, dachte Morgan. Er war nicht sehr versöhnungsbereit bei Leuten, die ihn anschossen … bei keinem im Grunde. „Nie von ihm gehört.“ Ihm kam ein träger Gedanke. „War er vielleicht hinter jemand anderem her?“

„Nein.“ Axels Tonfall war entschieden, bestimmt. Er hatte nicht den geringsten Zweifel.

„Warum sollte mich die russische Mafia ins Visier nehmen?“ Das ergab keinen Sinn. Er rieb sich mit den Fingern übers Gesicht, spürte die kratzenden Bartstoppeln, obwohl er sich vage entsann, irgendwann von einer der Schwestern rasiert worden zu sein … vermutlich. Dann starrte er erschrocken auf seine Hand. Wie dünn und fast durchscheinend sie war. Gar nicht wie seine Hand, auch wenn ihm natürlich klar war, dass sie zu ihm gehörte, denn sie hing ja am Ende seines Arms … der ebenfalls überraschend dünn aussah. Für eine Minute wehrte er sich gegen das Gefühl des Abgekoppeltseins, kämpfte darum, seine Gedanken auf den richtigen Weg zurückzubringen. Worüber hatten sie gerade gesprochen? Richtig, die Russen.

„Hat sie nicht. Rykow gehörte zwar zur Mafia, aber dies scheint ein unabhängiger Anschlag gewesen zu sein. Jemand von außerhalb hat ihn dafür angeheuert.“

In diesem Fall waren die Möglichkeiten Legion, denn er konnte sich noch immer nicht vorstellen, warum ihn jemand tot sehen wollte, was theoretisch die gesamte Weltbevölkerung im Spiel beließ.

„Geh alles mit mir durch, was nach deiner Ankunft in den Staaten geschehen ist“, meinte Axel, lehnte sich zurück und verschränkte die Arme.

„Ich hatte eine Einsatznachbesprechung“, begann Morgan. Das war wahrscheinlich bereits bekannt, denn Axel erledigte ja den ganzen Papierkram. „Danach habe ich bei einem McDonald’s einen Happen gegessen, bin nach Hause gefahren, habe geduscht und bin schlafen gegangen. Habe volle vierundzwanzig Stunden geschlafen. Dann habe ich an meiner Ausrüstung gearbeitet, bin im Dunkeln laufen gegangen, nach Hause gekommen und wieder schlafen gegangen.“ Der schnörkellose Bericht war von Pausen durchsetzt, damit er verschnaufen konnte.

„Ist in dem McDonald’s etwas vorgefallen? Oder auf deiner Laufstrecke? Mit wem hast du gesprochen?“

„Nein, nein und mit niemandem, abgesehen von dem Kassierer, der mir meine Bestellung durch das Fenster des Drive-in gereicht hat.“

„Kanntest du den Kassierer?“

„Nein. Es war irgendein Teenager.“

„Hast du drinnen im Restaurant etwas gesehen?“

„Nein.“ Dessen war er sich sicher, denn er erinnerte sich daran, dass er sich wegen des begrenzten Sichtfelds ein wenig unbehaglich gefühlt hatte. Nach einem Einsatz brauchte er immer eine Weile, um sich zu entspannen und sich vorsichtig aus dem Kampfmodus zu lösen.

„Was dann?“

Morgan blies die Luft aus, versuchte, seine rapide nachlassende Energie neu zu entfachen – nicht dass er viel davon gehabt hätte. Er war so schwach, dass er seinen eigenen Körper nicht wiedererkannte, was den Eindruck des Abgekoppeltseins noch viel mehr verstärkte, als es sich eventuell durch die Medikamente erklären ließ. „Als ich aufgewacht bin, wollte ich angeln gehen. Ich rief Kodak an, aber er war anderweitig beschäftigt, also bin ich allein losgefahren.“

Axel nickte. Morgan vermutete, dass er das bereits wusste, genauso wie er von der Einsatznachbesprechung gewusst hatte. „Hast du mit jemandem gesprochen?“

„Mit der Kongressabgeordneten Kingsley und ihrem Ehemann. Sie waren auf dem Fluss.“

„War jemand bei ihnen?“

„Nein, sie waren allein.“

„Sonst jemand?“

„Niemand, mit dem ich geredet habe.“ Eine Erinnerung nagte an ihm. „Brawley – der Manager der Marina – hat Hallo gesagt.“

Axel war ein Meister darin, bei seinem Gegenüber Nuancen im Ausdruck aufzuspüren. „Und …?“

Bis er das „Und“ hörte, war sich Morgan nicht bewusst gewesen, dass es überhaupt ein „Und“ gab. Er holte tief Luft, brach mitten im Atemzug jedoch ab, als der Schmerz in seiner Brust ihm dazwischenfuhr. „Könnte Zufall sein, aber er rief jemanden an, nachdem er mit mir gesprochen hatte.“

„Wie bald danach?“

„Augenblicklich.“

„Mobiltelefon?“ Wenn Brawley ein Handy benutzt hätte, könnte Axel die Uhrzeit und die Mobilfunkmasten nutzen, um die möglichen Anrufempfänger ins Fadenkreuz zu bekommen.

„Nein.“ Sehr klar vor seinem geistigen Auge sah Morgan das altmodische Schnurtelefon, das Brawley benutzt hatte. „Schnurtelefon, Festnetz.“

„Mist.“ Axels Enttäuschung war deutlich herauszuhören. Es war nicht unmöglich, die Informationen trotzdem zu bekommen, doch es würde eine richterliche Anordnung erfordern. Mithilfe der Technik hätten sie dieses kleine Detail umgehen können, wenn der Anruf auf einem Handy erfolgt wäre.

Aber von dem Telefonanruf abgesehen konnte Morgan sich nicht denken, woher Brawley wissen sollte, wo er wohnte, oder, noch wichtiger, warum er einen Mordanschlag auf ihn veranlassen sollte.

Aufrecht zu sitzen und Fragen zu beantworten verschlechterte seine Laune maßgeblich und machte ihn mit der Zeit immer müder. Es war nicht mehr viel Saft in ihm übrig. „Kein Grund“, murmelte er und ließ den Kopf nach hinten fallen. Seine Lider schlossen sich unwillkürlich, und er kämpfte darum, sie wieder zu öffnen.

„Was?“, wollte Axel wissen.

Morgan konzentrierte sich, rekonstruierte mühsam seine Gedanken. „Kein Grund für Brawley“, sagte er endlich oder dachte zumindest, dass er es sagte. Vielleicht funktionierte sein Mund nicht. Erneut fielen ihm die Augen zu. Aber es war ihm egal, denn die Dunkelheit drang empor und verschluckte ihn ganz und gar, und es gab nichts, was er tun konnte, um sie aufzuhalten.

Das nächste Mal, als er Axel sah, setzte Morgan sich tatsächlich aus eigener Kraft auf. Es war beinahe drei Wochen her, seitdem auf ihn geschossen worden war; er wusste das, weil er gefragt hatte. Aufrecht zu sitzen war nicht alles, was er konnte. In letzter Zeit hatte er zweimal täglich einige Schritte durch das kleine Zimmer getan, auf beiden Seiten von Schwestern eingeklammert, damit er nicht auf die Schnauze fiel. Inzwischen aß er halbwegs feste Nahrung. Noch nie in seinem Leben war er so dankbar für Kartoffelbrei oder Haferbrei gewesen. Dabei mochte er Haferbrei nicht einmal besonders. Morgen, hatten sie ihm gesagt, könne er Eier haben. Er hatte Steak zu diesen Eiern verlangt, und sie hatten ihn ausgelacht. Sie waren zweifellos die gemeinsten Schwestern, die er je erlebt hatte.

Noch beunruhigender war es, dass er begann, sie zu mögen.

Er hatte keine Ahnung, wie lange es her war, seit Axel ihn besucht hatte, doch er nahm an, es war ungefähr eine Woche. Das einzig Überraschende war, dass Axel nicht jeden Tag hergekommen war, um mehr Details aus ihm herauszuquetschen.

Manchmal nervte ihn Axels hartnäckige Pingeligkeit höllisch, aber heute würde Morgan sie begrüßen, denn er wollte den Dreckskerl oder die Dreckskerle – wer auch immer diesen Hinterhalt geplant hatte – kriegen. Es war typisch für Axel, dass er sich ausgerechnet jetzt fernhielt.

„Wurde auch Zeit“, begrüßte Morgan ihn.

„Ich war damit beschäftigt, Details durchzugehen und ein paar Dinge zu veranlassen.“

„Was für Dinge? Welche Details?“

„Darum bin ich hier, um es dir zu erzählen“, erwiderte Axel barsch, während er sich in den Besucherstuhl fallen ließ.

Es war gut, angeschnauzt zu werden. Wenn Axel versucht hätte, freundlich zu sein – mit Betonung auf dem Wort „versucht“, denn es würde ihm niemals wirklich gelingen –, hätte Morgan geargwöhnt, dass er sich nicht so gut erholte, wie es Kartoffelbrei und einige Schritte im Zimmer andeuteten.

„Also rede.“

„Du wurdest durch deine Bootsregistrierung ausfindig gemacht. Wir haben herausgefunden, wo sich jemand ins Staatsarchiv gehackt und sich die Informationen über dich aus deinem Registrierungsformular geholt hat.“

Etwas daran stimmte nicht. Morgan sagte: „Ich benutze mein Postfach als Postanschrift.“

„Ja, aber in dem Formular stehen auch die Nummer deines Führerscheins aus Virginia und deine Sozialversicherungsnummer. Diese beiden wurden zurückverfolgt, und so haben sie sich deine Adresse verschafft.“

„Die große Frage ist, warum.“

„Ja. Doch es gibt ein weiteres Problem, eines, das sogar noch ernster ist.“

Es war fast lustig, dass Axel glaubte, etwas könnte ernster sein, als dass einer seiner Agenten ins Visier genommen wurde. Na ja, da er sich ja mit globalen Problemen befasste, hatte er vermutlich recht, das musste Morgan ihm lassen.

„Am Anfang, als du eingeliefert wurdest, wussten wir nicht, was los war – ob ein organisierter Anschlag auf GO-Team-Mitglieder verübt wurde oder ob ein weiterer Versuch auf dich persönlich vorgenommen werden würde. Ich habe das Krankenhaus mit Männern vollgestopft, die deinen Hintern bewachen sollten, aber die Logistik war ein Albtraum: viel zu viele Treppenhäuser und Aufzüge, zu viele Leute, die kamen und gingen. Sobald du halbwegs stabil warst, habe ich dich einladen und hierher bringen lassen. Ich bin der Einzige, der weiß, wo du bist.“

„Abgesehen von den Leuten, die mich transportiert haben.“

„Ich habe die Transportteams dreimal ausgewechselt.“

Ja, das war Axel, paranoid und vorsichtig in einem Maß, das einen verrückt machte. „Also was ist dieses neue Problem, das dich beunruhigt?“

„Die GO-Team-Akten wurden gehackt, nachdem ich dich verlegen ließ.“

Mist. Morgan runzelte die Stirn und verarbeitete die Informationen. Wer auch immer versucht hatte, ihn zu töten, war offensichtlich immer noch hinter ihm her. Genauso offensichtlich war, dass der Unbekannte wusste, was er tat.

„Diese Sicherheitslücke bereitet mir mehr Sorgen als alles andere“, meinte Axel, und Morgan unterdrückte ein gequältes Lächeln. Ja, der Verlust eines seiner Männer würde für Axel eindeutig unterhalb der Sicherheit rangieren. „Nach deiner Verlegung ließ ich verlauten, dass du ein paar Gedächtnisprobleme hättest, doch auf dem Weg der Besserung seist, und dass die Ärzte keinen Grund sähen, warum du nicht all deine Erinnerungen wiedererlangen solltest.“

Das war eiskalt, selbst für Axel. Mürrisch sagte Morgan: „Na schön, zum Teufel, warum malt ihr nicht einfach eine Zielscheibe auf meinen Rücken?“

„Die Zielscheibe ist bereits da“, gab Axel zurück. „Mein Job ist es, herauszufinden, wer auf dich zielt und warum. Sofern du nicht irgendjemandes Frau vögelst, ist es sehr gut möglich, dass dieser Anschlag mit der Arbeit in Verbindung steht.“

„An der häuslichen Front bin ich sauber.“

„Dann hängt es mit den GO-Teams zusammen.“

Das ließ sich nicht bestreiten. Trotzdem … Morgan schüttelte den Kopf. „Aber warum?“

„Wenn ich das herausbekomme, weiß ich auch, wer dahintersteckt. Und umgekehrt. Alles, was ich brauche, ist etwas, das mir die richtige Richtung weist.“

„Was ist also dein Plan?“ Denn Axel hatte immer einen Plan; Morgan mochte das nicht gefallen, doch er hatte keinen Zweifel, dass ein Plan existierte.

Axel antwortete: „Ich werde deinen Aufenthaltsort durch genügend Sicherheitsmaßnahmen verschleiern. Wer immer dich sucht, wird tief graben müssen, um den Ort zu finden. Das wiederum wird einen Alarm auslösen, den ich eingerichtet habe. Ich darf es bloß nicht zu leicht machen. Sonst wird der große Unbekannte ahnen, dass es eine Falle ist, und wird nicht anbeißen.“

„Das ist es dann? Was mache ich in der Zwischenzeit?“ Abgesehen davon, dass er weiter daran arbeiten musste, länger als dreißig Sekunden am Stück gehen zu können.

Etwas, das man nur als ein wahrhaft böses Lächeln bezeichnen konnte, breitete sich auf Axels Gesicht aus. „Ich schicke dich zu meiner Exstiefschwester.“

Morgan hatte mit allem Möglichen gerechnet. Damit nicht. „Was?“

Bereitwillig wiederholte Axel alles Wort für Wort.

„Du ziehst Zivilisten mit hinein?“ Das erschreckte ihn am meisten.

Das, was sie taten, wurde von normalen Menschen ferngehalten, obwohl sie natürlich ziviles Hilfspersonal hatten. Aber sie hatten unterschrieben, dass sie wussten, was ihre Arbeit beinhaltete. Unschuldige vorsätzlich in Gefahr zu bringen gehörte nicht dazu.

„Ich erwarte keine echten Probleme. Ich habe ein bisschen gegraben, ein paar Sachen vorbereitet. Es besteht kein Anlass, irgendwelche Zivilisten außer ihr mit hineinzuziehen, und sie wird dir bloß eine Bleibe geben.“

„Und deine Exstiefschwester ist damit einverstanden?“

„Das wird sie schon sein“, sagte Axel sorglos. „Und sobald der Alarm ausgelöst wird, rücken wir an.“

„Der Alarm wird dir nicht verraten, um wen es sich handelt.“

„Er wird mir zumindest einen Hinweis liefern. Das Beste von allem ist jedoch, dass ich ein paar Leute platzieren kann, die jeden einfangen, der hinter dir her ist und dir gefährlich werden könnte.“

„Wie zur Hölle willst du das anstellen?“

Axel zählte die Gründe an den Fingern ab. „Es ist eine sehr kleine Stadt, klein genug, dass alle Fremden bemerkt werden. Sie liegt relativ nah an D. C., in West Virginia, was heißt, keine Flughäfen oder Züge oder Buslinien sind betroffen. Wer immer hinter dir her ist, wird auf der Straße in die Stadt kommen, und die Anzahl der Straßen, die ich absichern muss, ist sehr begrenzt.“ Er hielt inne und gab etwas von sich, was man nur als einen zufriedenen Seufzer beschreiben konnte. „Und das Beste von allem ist, dass es sie richtig wütend machen wird.“

Axel MacNamara kümmerte sich einen Dreck um die meisten Menschen und die meisten Dinge, aber um sein Land und die Agenten in den GO-Teams, die er leitete, kümmerte er sich sehr wohl. Bei jedem ihrer Einsätze setzten sie ihr Leben aufs Spiel, und er respektierte das nicht nur, sondern hatte sich auch geschworen, beruflich und privat sein Bestes für sie zu tun, ohne Rücksicht auf die Umstände. Manchmal hieß das, mit allen Mitteln zu kämpfen, um sicherzugehen, dass sie die beste Ausrüstung hatten, die man bekommen konnte; manchmal hieß es, auf politischer Ebene den Weg zu bereiten oder bestimmte Ereignisse zu beschönigen und so zu drehen, dass entsprechende Details entweder verzerrt oder vollständig verheimlicht wurden. Sie erledigten die Jobs, mit denen sie beauftragt waren, und wenn irgendein Mist den Berg hinunterrollte, wollte Axel, dass er auf die verantwortlichen Leute zuhielt, nicht auf die Männer, die er als seine betrachtete.

Im Großen und Ganzen hasste er Politiker, doch er war ihnen sehr ähnlich und musste mit ihnen Umgang pflegen, das lag nun mal in der Natur seines Jobs.

Es war ein Haufen Blödsinn, trotzdem spielte er das Spiel mit.

Die Situation mit Morgan Yancy war besorgniserregend. Allerdings war es nicht die Gefahr für Morgans Leben, die ihm Kopfzerbrechen bereitete – obwohl er einen solch begabten Agenten nur ungern verlieren würde. Vielmehr sorgte er sich, dass das Computersystem der GO-Teams gehackt worden war. Ihre Einsätze waren streng geheim und politisch extrem sensibel.

Er musste sich sehr vorsichtig bewegen: Wenn er sich zu auffällig verhielt, würde er seine Beute womöglich verscheuchen; wenn er sich nicht auffällig genug benahm, könnten die falschen Schlüsse gezogen und der Köder könnte ignoriert werden. Darum ließ er hier und da einige Informationen wie Leckerbissen fallen, aber niemals zu viele auf einmal, und manchmal sagte er überhaupt nichts.

Ein paar Tage, nachdem er mit Morgan gesprochen und die Grundzüge seines Plans vor ihm ausgebreitet hatte, schaffte er es, sich auf einer dieser endlosen Partys in D. C., die auch die Kongressabgeordnete Joan Kingsley besuchte, in die richtige Position zu lavieren. Ihr Mann Dexter fehlte, doch sie hatte sich so lange durch die gesellschaftlichen Untiefen der Hauptstadt manövriert, dass sie sich allein rundum wohlfühlte. Verglichen mit anderen Politikern war sie sehr sympathisch – selbst für seine Verhältnisse, und Axel mochte nun wirklich nicht jeden. Er ertrug sie viel besser als viele andere, obwohl er nie vergaß, dass sie an erster Stelle eine Politikerin und erst an zweiter eine Verbündete war, auch wenn Morgans Team ihrem Sohn tatsächlich den Hintern gerettet hatte. Dankbarkeit hatte ihre Grenzen in D. C.

Zwangsläufig standen sie und ihr Ehemann auf der Liste der Verdächtigen: Sie hatten an jenem Tag mit Morgan geredet. Vielleicht war sie sauber und ihr Ehemann nicht, vielleicht war es umgekehrt; vielleicht waren sie beide sauber oder beide schuldig. Axel würde im Zweifelsfall nicht zu ihren Gunsten entscheiden, denn er wusste es nun mal nicht und nahm deshalb an, dass sie beide schuldig waren. Unabhängig davon hatte die Kongressabgeordnete Kingsley Kontakte und Zugang zu Informationswegen, die in beide Richtungen – kommend wie gehend – führten und über die er selbst nicht verfügte. Daher war sie bestens geeignet, um die Nachricht in die Welt zu setzen, die er verbreiten wollte.

Er näherte sich ihr nicht, obwohl sie mit ihrem weißen Haar sofort auffiel. Sie machte eine routinierte Runde durch den überfüllten Raum, plauderte mit jedem, lächelte das warme Lächeln, das beinahe jeden bezauberte, dem sie begegnete. Axel war immun gegen Charme. Er begann jeden Tag mit der Annahme, dass die meisten Menschen nichts Gutes im Schilde führten und die anderen einfach nur noch nicht daran gedacht hatten.

Einmal verlor er Kingsley aus den Augen, obwohl er darauf achtete, sie nicht merken zu lassen, dass er sie beobachtete. Kaum zehn Minuten später tauchte sie aber wieder auf, mit frisch aufgetragenem Lippenstift. Er tippte also auf einen Abstecher auf die Damentoilette. Natürlich hätte sie sich auch mit ihrem Liebhaber treffen können, hätte Informationen austauschen oder ein privates Telefongespräch führen können. Ohne irgendeinen Gegenbeweis würde er sich jedoch an die Damentoiletten-Theorie halten.

Die Party war seit eineinhalb Stunden in vollem Gange, als ihre Umwege durch den Raum sie schließlich zusammenführten. Grüßend hob er sein Glas und nickte ihr zu, unterbrach seine Unterhaltung mit dem Referenten eines Senators aber nicht, auch wenn sie todlangweilig war und er dem aufgeblasenen Trottel sehr gerne ein paar schmutzige Socken in den Rachen gestopft hätte. Sollte sie zu ihm kommen. Er ging auf niemanden zu.

Als der Referent endlich einmal Luft holte, hielt Axel einen vorbeieilenden Kellner an, um sein leeres Glas auf das Tablett des Mannes zu stellen. Kongressabgeordnete Kingsley schob sich sanft dazwischen und sagte: „Hallo Karl, hallo Axel.“

„Kongressabgeordnete“, antwortete Axel zum Gruß und beobachtete amüsiert, wie der Referent des Senators mit seinem Ego und der Hackordnung auf Capitol Hill rang. Die Kongressabgeordnete war eine wichtige Persönlichkeit, aber Karl war der Ansicht, dass das Repräsentantenhaus dem Senat untergeordnet war; deshalb sollte seine Position als Chefreferent eines Senators eigentlich höher als ihre sein. Und dann mischte sich noch sein Ego in die bedauerliche Tatsache ein, dass die Kongressabgeordnete Kingsley gewählt worden war – mehrfach –, während er ein angeworbener Referent war, der zu gar nichts gewählt worden war.

„Kongressabgeordnete Kingsley“, murmelte Karl schließlich und benutzte ihren Titel, während sie ihn beim Vornamen genannt hatte. Oh, diese Missgeschicke, dachte Axel.

Sie schenkte Karl ein Lächeln. „Würden Sie uns entschuldigen? Ich würde gerne einige Details mit Axel besprechen.“

Karl konnte nichts anderes tun, als „Natürlich“ zu sagen und sich zu entfernen.

Axel nippte an seinem Drink – Mineralwasser on the rocks, denn wenn man durch ein Haifischbecken watete, musste man klar und bei Verstand bleiben – und wartete darauf, dass sie die Unterhaltung in die von ihr gewünschte Richtung lenkte. Dennoch setzte er eine leicht fragende Miene auf.

„Mir ist etwas Beunruhigendes zu Ohren gekommen“, erklärte sie und senkte die Stimme, sodass nur er sie verstehen konnte.

Er hob leicht die Augenbrauen, signalisierte ihr damit, dass sie fortfahren sollte.

„Ich habe gehört, dass Morgan umgebracht wurde.“

„Das stimmt nicht“, erwiderte er schnell.

Erleichterung flackerte in ihren Augen auf. „Gott sei Dank! Aber … wurde er verletzt? Meine Quelle war sehr genau, was den Namen des Opfers angeht.“

Zu gern hätte er erfahren, wer ihre Quelle war, doch er verschwendete keine Zeit mit dem zwecklosen Versuch, diese Information aus ihr herauszuholen. Solche Tänze tanzte sie schon viel zu lange.

„Er ist angeschossen worden. Und um ganz ehrlich zu sein: Es war ernst. Aber ich habe ihn an einen geschützten Ort gebracht, und dort bleibt er, solange er sich erholt.“

„Was ist geschehen?“

„Mordversuch. Das Problem ist, dass er mir nicht sagen kann, warum.“

„Er weiß es nicht?“

Axel wedelte mit der Hand. „Er glaubt, dass er es weiß. Er hat eine schwere Gehirnerschütterung erlitten und hat Probleme mit dem Gedächtnis, aber er meint, dass er weiß, was passiert ist, wenn er sich erst daran erinnern kann. Es gibt keine dauerhafte Hirnschädigung, und der Arzt sagt, dass seine Erinnerung zurückkommt, sobald die ganze Schwellung verschwunden ist.“

„Um Himmels willen! Wann wird das sein?“

„Es gibt kein spezielles Datum; jeder erholt sich ja anders. Er hat jetzt eine Lungenentzündung bekommen, und das ist ein Rückschlag, doch nach Ansicht des Arztes geht es ihm bereits besser. Ich schätze, dass er voraussichtlich in einigen Monaten ganz der Alte ist.“

„Es muss schwierig sein, so lange ans Haus gefesselt zu sein. Ich kenne ihn nicht so gut wie Sie, allerdings nehme ich mal an, dass er nicht gerade ein leichter Patient ist.“

„Das ist noch untertrieben“, konterte Axel.

„Ich bin so froh, dass er wieder gesund wird. Wir wären alle tief bestürzt, wenn ihm irgendwas zustieße. Grüßen Sie ihn herzlich von uns, wenn Sie ihn sehen.“

„Das werde ich“, antwortete er, wobei er ihr verschwieg, dass er Morgan erst wiedersehen würde, wenn seine Falle zugeschnappt war. Wenn sie das denn überhaupt tat.

Axel hatte diese Information an verschiedenen Orten in der Stadt gestreut, und nun musste er abwarten, ob seine Saat aufging. Morgan war nicht ohne Grund ins Visier genommen worden. Dieser Grund musste sich auf etwas zurückführen lassen, das er an jenem Tag gesehen oder gehört hatte. Vielleicht lag die Gefahr, nach der sie suchten, unter mehreren Ebenen tief verborgen; vielleicht ging es nicht um die Kongressabgeordnete oder Brawley oder gar Kodak, sondern um jemanden, der sie kannte. Axel würde es erst wissen, wenn jemand in Aktion trat.

3. Kapitel

Polizeichefin Isabeau Maran schaute von einem Stapel mit lästigem Papierkram auf, als die Tür zur Polizeiwache aufging und eine erfrischende Dosis Vorfrühlingsluft hereinließ. Ihr Golden Retriever Tricks döste in einem kuscheligen Hundebett aus Fleece auf dem Boden neben dem Schreibtisch, aber auf die Störung hin öffnete die Hündin die Augen und hob ihren schön geformten goldenen Kopf. Sie klopfte nicht mit dem Schwanz zur Begrüßung, denn sie war nun mal Tricks; da sie ja nicht wusste, wer durch die Tür kam, verschwendete sie auch keine Mühe darauf, bevor sie nicht herausgefunden hatte, ob der Neuankömmling es überhaupt wert war, so begrüßt zu werden.

Strahlender Sonnenschein schien grell auf die abgenutzten Fliesen, und Bo kniff die Augen gegen das Licht zusammen, als Daina Conner vorsichtig eintrat. Kaum hatte sie festgestellt, wer der Eindringling war, schlug Tricks zweimal mit dem Schwanz, was einen mäßigen Begeisterungsgrad signalisierte, der sie allerdings nicht zum Aufstehen bewegte. Die Hündin senkte den Kopf wieder auf ihre Pfoten, um ihr Nickerchen fortzusetzen.

„Was gibt’s?“ Nicht, dass Bo sich nicht freute, Daina zu sehen, denn es gab in Hamrickville, West Virginia, nicht viele alleinstehende Frauen, die ungefähr in ihrem Alter waren. Doch normalerweise trafen sich die beiden außerhalb des Polizeireviers, um zu plaudern oder etwas zu unternehmen. Sie sahen aus wie diametrale Gegensätze: Daina war kurvig und blond und hatte blaue Augen, Bo war dunkelhaarig und dunkeläugig, und die einzigen Kurven, die sie besaß, waren die in ihrer Auffahrt. Dennoch mochten die zwei dieselben Filme, hatten denselben Humor und unterstützten einander.

„Ich hatte ein Bier zu viel beim Mittagessen“, verkündete Daina und ließ ihren Hintern in den mit Klebeband geflickten Stuhl fallen, der Bos Schreibtisch gegenüberstand und bereits tiefe Risse aufwies. Ihr stylishes blondes Haar fiel ihr in die Augen, und sie schob es achtlos zurück. „Ich habe bis drei Uhr keinen weiteren Termin, also dachte ich, welcher Ort ist besser als dieser zum Nüchternwerden? Ich kann Kaffee trinken und mit dir reden, dann kannst du mit mir nach einer Weile einen Alkoholtest machen und mir sagen, ob ich wieder fahren darf oder nicht.“ Daina gehörte der örtliche Beautysalon The Chop Shop, der sich an der Hauptstraße ein paar Meilen außerhalb der Stadt befand. Die Fahrt dorthin war recht kurz. Bo vermutete daher, dass Daina nicht hergekommen war, weil sie Angst davor hatte, angeschickert zu fahren, sondern weil sie auf diese Weise die Zeit bis zu ihrem Termin totschlagen wollte.

Was bedeutete, dass Bo sich von der Idee verabschieden konnte, mit dem Papierkram endlich voranzukommen. Sie stieß sich vom Schreibtisch ab und ging zu dem Kaffeeautomaten, der oben auf einem Aktenschrank mit zwei Schubladen in der Ecke stand. Die Kaffeemaschine war nur aus einem einzigen Grund dort oben platziert: Hinter dem Schrank verbarg sich eine Steckdose. In der Kanne war ungefähr ein guter Zentimeter dunkler Brühe übrig von … heute Morgen, vielleicht. Schwer zu sagen. Die Brühe war bereits da gewesen, als sie kurz nach Mittag angekommen war. Nach allem, was sie wusste, konnte das Gebräu also auch von gestern Nachmittag stammen.

Sie nahm die Kanne mit ins Bad, kippte sie aus und spülte sie, bevor sie frisches Wasser hineinlaufen ließ. Als sie zurück in die Zentrale kam, begann sie mit dem Kaffeekochen. „Also, mit wem hast du Bier getrunken?“, fragte sie und machte sich nicht die Mühe, darauf hinzuweisen, dass sie, wenn sie es ganz genau nahm, Daina wegen Trinkens in der Öffentlichkeit festnehmen konnte, denn offensichtlich nahm sie es eben nicht ganz genau. Ihrer Ansicht nach war es ja nicht so, als wäre Daina schwer betrunken, und ihre Freundin hatte sich durchaus verantwortungsbewusst verhalten, indem sie nicht mit dem Auto gefahren und stattdessen hergekommen war. Bos Philosophie lautete, nicht über etwas zu meckern, was funktionierte.

„Kenny Michaels. Ich habe beschlossen, mit der Umgestaltung der Küche anzufangen, und wir haben besprochen, was ich will, zum Beispiel Wandfarben. Mein Gott, ich glaube, ich habe zig Millionen Farbtonkarten angeschaut. So was in der Art.“

„Und für welche Farben hast du dich entschieden?“ Während der Kaffee durchlief, betrat Bo den sogenannten Pausenraum, ursprünglich nicht mehr als ein großer Wandschrank, in den man einen Kühlschrank, eine Mikrowelle, einen winzigen Tisch und zwei Stühle hineingequetscht hatte. Sie öffnete das obere Gefrierfach des avocadogrünen Kühlschranks, der sich natürlich weigerte, jemals den Geist aufzugeben, so wie es jeder Kühlschrank in einer anständigen Farbe getan hätte, und nahm einen halben Liter Eiscreme heraus. Na ja, zumindest war es einmal ein halber Liter gewesen; jetzt war es bloß noch die Hälfte davon. Sie hatte keine Ahnung, ob Daina Vanilleeis mochte. Pech gehabt! Das war nun mal alles, was sie hatte. Sie hob den Deckel ab, trieb einen Löffel auf, steckte ihn in die Eiscreme und stellte den Pappkarton vor ihre Freundin. „Iss.“

Geistesabwesend gehorchte Daina. „Eine Art Zinngrau, mit einem gräulichen Blau“, antwortete sie, in Gedanken noch immer beim Farbthema. „Nicht sehr küchenmäßig, ich weiß, aber das ist ja mein Konzept. Ich will nichts, das meinen Appetit anregt oder das Essen gut aussehen lässt. Ich will etwas Ruhiges und Besänftigendes … du weißt schon, damit ich davon fernbleibe.“ Sie nahm den Löffel aus dem Mund und starrte ihn an. „Was zum Teufel …? Das ist ja Eiscreme“, sagte sie und schaute stirnrunzelnd den Karton an, als hätte sie keine Ahnung, wie er in ihre Hand gelangt war.

„Fünf Punkte für Beobachtungsgabe.“ Bo setzte sich wieder auf ihren Stuhl. „Kenny Michaels, hm? Er ist ziemlich süß.“ Und das war er, auf so eine Bauarbeiter-mit-dem-Hammeram-Werkzeuggürtel-Art. Er war nicht groß, aber auch nicht klein, stämmig, aber auf eine muskulöse Art. Geschieden, Ende dreißig, ein Sohn, der im Abschlussjahr der Highschool war. Sie hatte nichts Schlechtes über ihn gehört, was hieß, dass es vermutlich nichts Schlechtes über ihn zu wissen gab.

„Natürlich. Warum würde ich sonst meine Küche renovieren? Und warum esse ich gerade Eiscreme?“ Daina blickte weiterhin verblüfft drein, tauchte dann jedoch erneut den Löffel hinein und schob ihn in den Mund. „Nicht dass ich mich beschwere, doch ich hatte eben erst ein Dessert zum Mittagessen.“

„Es hilft dir, nüchtern zu werden.“

Daina machte große Augen. „Ach was.“ Ehrfürchtig hob sie den Karton hoch und betrachtete ihn. „Ein legitimer Grund zum Eisessen? Es gibt also einen Gott.“

In dem Moment merkte Tricks offenbar plötzlich, dass jemand im Raum , und das war nicht sie. Unvermittelt sprang sie also auf und pflanzte sich direkt vor Daina. Ihr buschiger Schwanz raschelte leicht, und ihre dunklen Augen waren fest auf den Karton mit Eiscreme gerichtet.

Mit dem Löffel voll Eis auf halbem Wege zu ihrem Mund erstarrte Daina. „Oh, mein Gott“, hauchte sie und blieb so regungslos, als säße sie einer Kobra gegenüber statt eines Golden Retrievers. „Was mache ich jetzt?“

Bo verbarg ihre Belustigung. „Sag Nein zu ihr. Sie darf keine Eiscreme essen.“

„Nein?“, sagte Daina schwach, und es klang eher wie eine Frage, nicht so sehr wie eine Feststellung. Tricks witterte einen Vorteil und rückte näher heran. Sie legte den Kopf auf Dainas Knie und warf ihr einen langen, unglaublich seelenvollen Blick zu, der schon harte Männer zu Wachs in ihren Pfoten verwandelt hatte – von einer halb betrunkenen Freundin ganz zu schweigen.

Bo seufzte. Man durfte Tricks nicht nachgeben, denn sonst nahm die Hündin an, dass man irgendwann einlenkte, wenn sie einem nur lange genug hinterherlief, und sie war unermüdlich in ihren Bemühungen, das zu bekommen, was sie wollte. „Tricks, nein“, befahl Bo. Als das Tier sich nicht rührte, fügte sie hinzu: „Junge Lady, ich sagte Nein .“ Sie klatschte zweimal in die Hände. „Geh zurück auf dein Bett, sofort.“

Widerstrebend verzog sich Tricks. Ihre Miene war so aufmüpfig wie die eines ertappten Kleinkinds. Dennoch trottete sie zu ihrem Hundebett und legte sich schnaubend nieder … wobei sie Bo den Rücken zukehrte, um ihre Empörung zu zeigen.

Bo konnte ein Lachen nicht unterdrücken und prustete los. Sich mit einer Hundediva auseinanderzusetzen – noch dazu einer so intelligenten – wurde niemals langweilig und hielt sie auf Trab. Sie war der einzige Mensch, von dem Tricks sich auch gegen ihren Willen etwas sagen ließ, was bedeutete, dass Bo eine ziemlich treue Begleiterin an ihrer Seite hatte. Dagegen hatte sie nichts einzuwenden. Sie liebte ihre Hündin abgöttisch, auch wenn sie während des stürmischen ersten gemeinsamen Jahres oft den Wunsch verspürt hatte, sich aus Frust die Haare auszureißen. Da Tricks so dominant war, hatte Bo stets von Neuem beweisen müssen, dass sie noch viel dominanter war. Allein der Umstand, dass sie die Futtervorräte kontrollierte, hatte ihr schließlich den Sieg eingebracht.

Eilig schlang Daina noch mehr Eiscreme hinunter. „Sie macht mir Angst“, gestand sie.

„Ja, und darum sitzt du auch so oft auf dem Fußboden und spielst mit ihr, was?“

„Ich habe nicht gesagt, dass ich sie nicht lieb habe. Ich habe bloß gesagt, dass sie mir Angst macht. Wenn sie bei mir leben würde, wäre ich ihre Sklavin.“

„Vermutlich.“ Widerwillig wandte Bo ihre Aufmerksamkeit wieder dem Stapel auf ihrem Schreibtisch zu. „Möchtest du ein Nickerchen machen, oder möchtest du mich lieber ablenken, während ich versuche, mich durch diesen Papierkram zu wühlen?“

„Kann ich dir bei irgendwas helfen? Berichte lesen und dir eine Zusammenfassung davon geben, damit du deine Unterschrift daruntersetzen kannst?“

„Du bist beschwipst. Wären deine Zusammenfassungen denn zuverlässig?“

Der Kaffeeautomat gab spritzende und fauchende Geräusche von sich, die signalisierten, dass er beinahe fertig war. Also goss Bo etwas Kaffee in einen Styroporbecher und schob ihn zu Daina hinüber, die sagte: „Ich hätte gerne Zucker und Sahne in meinen Kaffee.“

Bo ebenfalls, aber irgendwie neigten die Zucker-und-Sahne-Vorräte dazu, spurlos zu verschwinden, und darum hatte sie gelernt, ohne diese Zutaten zu leben, wenn es denn sein musste. „Tu etwas Eiscreme hinein. Problem gelöst.“

„Da ist was dran.“ Vorsichtig gab Daina einen beträchtlichen Klacks Eis in den heißen Kaffee und nahm einen Schluck. Sie prüfte den Geschmack, dann neigte sie den Kopf und meinte: „Nicht schlecht.“ Nachdem sie ihr Urteil gefällt hatte, fügte sie noch zwei Löffel Eiscreme hinzu und hätte wahrscheinlich auch den Rest des Kartons in die Tasse geleert, wenn die Tasse nicht bereits so voll gewesen wäre, dass der Kaffee beinahe über den Rand schwappte. „Warum musst du dich überhaupt noch um Papierkram kümmern? Ist nicht alles auf Computer umgestellt?“

Bo blickte auf den altmodischen Monitor auf ihrem Schreibtisch. „So ziemlich. Vielleicht. An manchen Tagen.“ Das museumsreife Computersystem – was hieß, es war über zehn Jahre alt – benötigte dringend ein Update, doch die Polizisten zu bezahlen war der Stadt wichtiger, womit sie einverstanden war. Sie kam damit klar, die Unterlagen selbst zu bearbeiten und einiges davon zu Hause auf ihrem privaten Rechner zu erledigen, solange die Jungs ein einigermaßen anständiges Gehalt hatten, zuverlässige Fahrzeuge und die Ausrüstung, die sie brauchten. Sie und Hamrickville hatten eine unkonventionelle, aber symbiotische Beziehung am Laufen, daher würde sie nicht lautstark nach einem neuen Computer verlangen.

Sie wandte sich wieder Daina zu und wechselte das Thema. „Also, diese Sache mit Kenny Michaels – hast du ernsthaft Interesse an ihm?“

„Könnte sein.“ Daina trank etwas von ihrem Eiscreme-Kaffee. „Aber noch nicht jetzt. Noch bin ich in der Phase der Faszination.“

Nun gab Tricks, die ihnen weiterhin den Rücken zukehrte, ein langes Stöhnen von sich, das irgendwo auf halbem Weg zwischen einem Jaulen und einem Meckern lag. Daina erstarrte erneut. Ein schuldbewusster Ausdruck lag auf ihrem Gesicht, als sie den Hund anstarrte. „Ignoriere sie“, erklärte Bo. „Sie verpetzt mich, weil ich ihr nicht erlaubt habe, dich zu belästigen.“

„Und wem petzt sie das?“

„Dir. Du bist ihre letzte Hoffnung. Wenn sie dich zum Nachgeben bringt, denkt sie sich, wird sie etwas von der Eiscreme bekommen, bevor ich einschreite und es unterbinde.“

„Wie wäre es, wenn ich ihr ein wenig davon gebe, um sie glücklich zu machen?“

„Nein.“

„Nur einen …“

Nein. Das ist Tricks. Weißt du, was dabei herauskommen würde? Du würdest nie wieder in ihrer Gegenwart essen können, nichts, basta. Sie würde auf deinem Schoß sitzen. Ich würde sie in einen anderen Raum einschließen müssen, und dann wäre ich stinksauer auf dich.“

Ein zweites langes Stöhnen. Die Hündin klang, als hätte ihr jemand das Herz gebrochen. Daina warf Bo einen flehentlichen Blick zu. Bo warnte: „Bring mich nicht dazu, dich einzusperren.“

„Oh, okay. Aber du könntest ihr wenigstens eins ihrer eigenen Le…“ Sie wollte „Leckerlis“ sagen, brach jedoch ab, als Bo sie grimmig anstarrte. Tricks verstand viele Wörter, und bei diesem Wort wäre sie sofort auf den Beinen, um zu suchen, was sie für das versprochene Leckerli hielt. Noch schlimmer: Es zu buchstabieren half ebenso wenig, denn die Hündin hatte herausgefunden, was dort buchstabiert wurde, und ließ sich also auch auf diese Weise nicht täuschen. „Entschuldige“, fügte Daina hinzu und verzog das Gesicht. „Ich vergaß. Sag mal, hast du je darüber nachgedacht, sie testen zu lassen? Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie so was wie ein Hundegenie ist.“

„Das weiß ich, und nein, ich werde sie nicht testen lassen. Warum sollte ich? Es ist ja nicht so, als würde sie das auf ein besseres College bringen.“

Lachend lehnte Daina sich in ihrem Stuhl zurück und stürzte sich auf den Rest der Eiscreme. „Ich glaube, sie würde sich gut schlagen. Hör mal, gib mir doch was zu arbeiten. Bis ich nüchtern genug bin, um zum Laden zurückzufahren, kann ich dir helfen. Das ist das Mindeste, was ich tun kann. Nichts davon ist vertraulich, oder?“

„Nein, das alles hier sind öffentliche Dokumente.“

„So ein Mist. Das war’s dann wohl mit meiner Motivation.“

Bo lachte und fing wieder an zu lesen, während Daina Eiscreme und Kaffee leerte. Obwohl sie ab und zu durch ein Gespräch unterbrochen wurde, kam sie mit den Papieren bestens voran. Es gab nur eine Unterbrechung, die sie nicht ignorieren konnte, doch die kam zum Glück gerade in dem Moment, als sie fertig war: Tricks stand auf, holte ihren Tennisball und tätschelte mit einer ihrer großen Pfoten Bos Knie. Genau genommen war es eher ein harter Schlag als ein Tätscheln.

„Zeit für einen Spaziergang, Prinzessin?“ Sie kraulte das Tier hinter den seidigen Ohren, dann erhob sie sich. „Möchtest du mit uns gehen?“, fragte sie Daina, die auf ihrem Mobiltelefon nach der Uhrzeit sah.

„Sicher, warum nicht? Wie weit willst du gehen?“

„Ungefähr eine halbe Meile.“

„Eine halbe Meile?“ Ihre Freundin hielt abrupt inne und sah bestürzt drein. „Wie lange wird das dauern?“

Bo verbarg ihre Belustigung. Sie führte Tricks mehrere Male am Tag spazieren, und daher war eine halbe Meile nichts für sie. Für Daina hingegen, die fand, dass der Weg von ihrem Auto zu ihrem Laden schon alles an Aufwand war, was sie treiben sollte, und die heute noch dazu High Heels mit Plateausohlen trug, schien eine halbe Meile unzumutbar.

„Fünfzehn, zwanzig Minuten, je nachdem, wie viel Tricks herumschnüffelt.“

„Keine Chance. Entschuldige. Hol deinen treuen Alkoholtester, und sieh nach, ob ich wieder fahren kann.“

Bo hätte ihr beinahe Brief und Siegel gegeben, dass dem so war, doch in dem unwahrscheinlichen Fall, dass Daina einen Unfall hatte, wäre die Stadt haftbar, und so tat sie lieber, worum sie gebeten worden war. Tricks gefiel die Verzögerung gar nicht, und sie stieß ihr Bein mit dem Kopf an.

„Schon gut“, beruhigte sie die Hündin. „Immer mit der Ruhe.“ Sie prüfte das Display und erklärte Daina: „Du bist in Ordnung.“ Ein weiterer Kopfstoß von Tricks ließ ihr Bein fast wegknicken. „Okay, okay, ich komme. Du musst wohl wirklich pinkeln.“

Daina ging, und Bo verschloss die Tür hinter sich, dann führte sie Tricks durch den Hintereingang hinaus. Die Hündin ließ sofort ihren Ball zu Bos Füßen fallen und rannte los. Bo verstand den Wink und warf ihn so weit, wie sie konnte – was nach zwei Jahren Training eine ordentliche Distanz war. Da sie einen Hund besaß, der liebend gerne Bälle jagte, hatte sie schöne Muskeln vom Werfen bekommen. Tricks fing den Ball nach dem ersten Aufprall und blieb damit stehen, posierte mit erhobenem Kopf, den sie wie eine Schönheitskönigin leicht geneigt hielt, und wartete auf das Lob, mit dem sie rechnete, wenn sie einen guten Fang machte. „Perfekt! Das war ein toller Fang!“, rief Bo. Mit einem Schwanzwedeln beendete die Hündin die Pose und trottete zurück, ihre Freude war deutlich zu sehen. Obwohl Tricks auf die Pause gedrängt hatte, um zu pinkeln, musste Bo den Ball noch dreimal werfen, ehe sich das Tier endlich hinkauerte und sein Geschäft verrichtete.

Bo kramte ihre Schlüssel aus der Tasche und schloss ihren sieben Jahre alten roten Jeep Wrangler auf. Tricks sprang auf den Beifahrersitz und wartete fröhlich, bis Bo sie mit ihrem speziellen Hundesicherheitsgurt angeschnallt hatte.

Als sie den Parkplatz verlassen wollte, kam ihr Stellvertreter Jesse Tucker, die wahre Seele des Reviers, angefahren und hielt mit seinem Streifenwagen neben Bos Jeep. Sie ließen beide die Fenster herunter, damit sie miteinander sprechen konnten.

Autor