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Letting Go - Wenn ich falle

Schon mit 13 Jahren wusste Grey, dass Ben der Eine ist. Sie war so sicher, dass sie für immer mit ihm zusammen sein würde. Aber drei Tage vor der Hochzeit stirbt er an einem unerkannten Herzfehler. Ihr gemeinsamer bester Freund Jagger ist der Einzige, der Grey durch die schreckliche Trauer und vielleicht zurück ins Leben helfen kann. Sie vertraut ihm bedingungslos und könnte vielleicht mehr für ihn empfinden. Doch würde sie damit nicht ihre Liebe zu Ben verraten?

Ein neuer herzergreifender Roman über Verlust und Liebe von New York Times-Bestsellerautorin Molly McAdams!


  • Erscheinungstag: 05.12.2016
  • Aus der Serie: Thatch
  • Bandnummer: 1
  • Seitenanzahl: 368
  • ISBN/Artikelnummer: 9783956499609
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Molly McAdams

Letting Go –
Wenn ich falle

Roman

Aus dem Amerikanischen von
Justine Kapeller

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2016 by MIRA Taschenbuch

in der HarperCollins Germany GmbH

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

Letting Go

Copyright © 2014 by Molly Jester

erschienen bei: William Morrow, New York

Published by arrangement with

William Morrow, an imprint of HarperCollins Publishers, LLC

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner GmbH, Köln

Umschlaggestaltung: büropecher, Köln

Redaktion: Mareike Müller

Titelabbildung: kiuikson / Depositphotos

ISBN eBook 978-3-95649-960-9

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

 

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Alle handelnden Personen in dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.

Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.

PROLOG

GREY

10. Mai 2012

„Da drüben warten dann die Mädchen und ich, bis die Zeremonie anfängt“, sagte ich und zeigte auf das Zelt, das man am Rand aufgebaut hatte. „Ich glaube, die Planerin hat gesagt, sie schmuggelt uns rein, während der Fotograf auf der anderen Seite des Hauses Aufnahmen von Ben und den Jungs macht, damit er mich nicht sieht.“

Ich schaute mich nach meiner Mutter und meiner zukünftigen Schwiegermutter um, die sich über die Laube unterhielten, darüber, wie sie mit Blumen und grünen Zweigen geschmückt aussehen würde, und lächelte in mich hinein. Seit Ben und ich beschlossen hatten, unsere Trauung und Hochzeitsfeier am Lake House abzuhalten, hatten sie immer wieder hin- und herüberlegt, ob wir die Laube so lassen sollten, wie sie war, oder ob wir sie dekorieren sollten. Und an den wenigen Worten, die ich gerade aufschnappte, merkte ich, dass sie sich immer noch nicht entschieden hatten. Mir war ehrlich gesagt egal, wie sie am Ende aussah. Ich wollte nur mit Ben verheiratet sein, und in drei Tagen würde es so weit sein.

„Grey, hier ist es ja wunderschön. Ich kann nicht fassen, dass du so kurzfristig einen Termin bekommen hast“, meinte meine Trauzeugin und beste Freundin Janie voller Ehrfurcht.

„Ich weiß, aber es ist doch perfekt, oder?“

„Absolut perfekt.“

Ich nahm sie an die Hand und legte meinen Kopf an ihre Schulter, während ich einen Teil des Geländes betrachtete, auf dem die Feier stattfinden sollte. Ben und ich hatten unseren Familien versprochen, nicht zu heiraten, bis wir das College abgeschlossen hatten. Uns an dieses Versprechen zu halten war uns jedoch viel schwerer gefallen, als wir vermutet hatten. Vor ein paar Tagen hatten die Sommerferien angefangen, und für unser drittes Jahr wollten wir vom Campus wegziehen … und zwar gemeinsam. Bei meinen Eltern war das nicht besonders gut angekommen. Sie wollten nicht, dass wir zusammenlebten, ohne verheiratet zu sein. Ich glaube, meinem Vater half das dabei zu glauben, ich wäre noch immer sein unschuldiges kleines Mädchen.

Ben und ich waren ein Paar, seit ich dreizehn war; das mit der Unschuld hatte sich schon vor mehr als drei Jahren erledigt. Nicht dass Dad das wissen musste. Nachdem wir uns beide lange mit unseren Eltern unterhalten hatten, waren sie schließlich einverstanden gewesen, uns schon jetzt heiraten zu lassen, statt erst in zwei Jahren.

Das war vor sieben Wochen gewesen. Auch wenn Ben mich schon letztes Weihnachten gefragt hatte, ob ich seine Frau werden wollte, waren wir erst offiziell verlobt, seit auch unsere Eltern ihr Einverständnis gegeben hatten. Danach hatten wir sofort mit den Hochzeitsvorbereitungen begonnen. Seit sieben Wochen verlobt. Seit sieben Jahren ein Paar. Und in drei Tagen würde aus mir endlich Mrs. Benjamin Craft werden.

So, wie sich die letzten Wochen in die Länge gezogen hatten, fühlte es sich an, als würde dieser Tag niemals kommen.

Mein Handy klingelte, und ich zog es aus der Tasche. Als ich Jaggers Namen und Gesicht auf dem Bildschirm entdeckte, musste ich lächeln, aber ich ignorierte den Anruf. Ich packte das Telefon wieder weg, hielt Janie weiter fest an der anderen Hand und ging mit ihr nach drüben, wo die anderen Brautjungfern herumstanden und sich unterhielten. Meine Tanten und meine Großmutter hatten sich um das Duo geschart, das immer noch über die Laube diskutierte, und halfen den beiden beim Abwägen der Fürs und Widers.

„Also, was machen wir heute Abend?“, fragte ich in der Hoffnung, etwas über meinen Junggesellinnenabschied zu erfahren.

„Netter Versuch“, erwiderte Janie schnaubend. Sie wollte noch etwas anderes sagen, doch da klingelte mein Handy erneut.

Als ich hinabsah und feststellte, dass es schon wieder Jagger war, überlegte ich, kurz ranzugehen, lachte dann allerdings leise und ignorierte den Anruf ein zweites Mal. Ich wusste, warum er sich meldete. Er langweilte sich zu Tode und wollte, dass ich ihn vor dem Golf-Tag rettete, den Ben und alle anderen Jungs vor dem Junggesellenabschied miteinander verbrachten. Normalerweise hätte ich ihn vor den Qualen des Golfens bewahrt, aber heute ging es um Ben. Wenn er mit all seinen Jungs zum Golfen gehen wollte, musste Jagger sich eben zusammenreißen für seinen besten Freund.

Fast sofort nachdem ich den Anruf abgewiesen hatte, erhielt ich eine SMS von ihm.

Geh an dein verdammtes Handy, Grey!

Ich hob ruckartig den Kopf, als das Telefon wieder anfing zu klingeln, kaum dass ich die Nachricht gelesen hatte. Ein paar Sekunden lang konnte ich es nur anstarren. Ein Gefühl der Furcht und des Grauens entstand in meiner Brust und breitete sich von dort bis in meine Arme und meinen Bauch aus.

Irgendwie nahm mein Verstand wahr, dass zwei weitere Handys klingelten, doch ich konnte mich nicht darauf konzentrieren und auch nicht den Blick von Jaggers schiefem Lächeln auf meinem Bildschirm abwenden. Mit zitterndem Finger drückte ich auf den grünen Knopf und hielt das Handy ans Ohr.

Ehe ich etwas sagen konnte, tönte seine panikerfüllte Stimme aus dem Hörer.

„Grey? Grey! Bist du da? Verdammt, Grey, sag etwas, damit ich weiß, dass du da bist!“

Im Hintergrund waren eine Sirene und Gebrüll zu hören, und das Gefühl, das sich in meinem Körper ausgebreitet hatte, schien mich jetzt zu ersticken. Ich hatte keine Ahnung, was dort ablief, aber irgendwie … irgendwie wusste ich, dass meine ganze Welt im Begriff war, sich zu verändern. Meine Beine fingen an zu zittern, und mein Atem ging stoßweise.

„Ich … Was ist passie…?“ Ich unterbrach mich rasch und drehte mich nach meiner und Bens Mutter um. Beide hatten ihr Handy am Ohr. Bens Mutter kreischte, Tränen strömten ihr die Wangen hinunter; meine Mutter sah aus, als hätte man ihr soeben den Boden unter den Füßen weggerissen.

Jagger sagte etwas, und ich begriff, dass seine Stimme laut und hektisch klang, aber ich hatte Schwierigkeiten, mich auf seine Worte zu konzentrieren. Es hörte sich an, als würde er mich aus meilenweiter Entfernung anschreien.

„Was?“, flüsterte ich.

Um mich herum waren alle am Durchdrehen und versuchten herauszufinden, was geschehen war. Eine meiner Freundinnen fragte, mit wem ich sprach, aber ich konnte mich nicht einmal zu ihr umdrehen oder mir sicher sein, wer genau die Frage gestellt hatte. Ich konnte den Blick nicht von den beiden einzigen anderen Frauen abwenden, die gerade am Telefon waren.

„Grey! Sag mir, wo du bist, dann hole ich dich da weg!“

Ich blinzelte ein paar Male und sah in meinen Schoß hinab. Ich saß auf dem Boden. Wann hatte ich mich hingesetzt?

Janie hockte sich vor mich hin, fasste mich an den Schultern und schüttelte mich, legte dann die Hände an meine Wangen und zwang mich, zu ihr hochzuschauen statt zu meiner und Bens Mutter, die sich in den Armen lagen.

„Was?“, wiederholte ich, kaum zu verstehen.

Gerade, als Janie nach meinem Handy greifen wollte, nahm ich ein Geräusch wahr, das schwer und schmerzerfüllt klang. Ein ersticktes Geräusch, das ich in den ganzen elf Jahren unserer Freundschaft noch nie von Jagger gehört hatte. Die Trauer darin genügte, und ein schriller Schrei drang aus meiner eigenen Kehle. Ich wehrte mich nicht einmal, als Janie mir das Telefon aus der Hand zog.

Ich begriff überhaupt nicht, was um mich herum geschah, aber irgendwie wusste ich dennoch alles. Ein Teil von mir hatte Jaggers Worte gehört. Ein Teil von mir verstand, was die entsetzten Schreie zu bedeuten hatten, die Schreie, die sich rasch von einem meiner Freunde zum nächsten fortsetzten. Zu meiner Familie. Zu Bens Familie. Ein Teil von mir erkannte, dass zu der Furcht, der Unruhe und der Trauer auch Verlust hinzugekommen war – und er wusste auch, warum.

Ein Teil von mir wusste, dass die Hochzeit, die ich mir gerade noch ausgemalt hatte, niemals stattfinden würde.

1. KAPITEL

Zwei Jahre später …

GREY

10. Mai 2014

Wie benebelt zog ich mich an und setzte mich auf die Bettkante, als ich fertig war. Ich nahm den harten Deckel meines Abschluss-Hutes in die Hand und sah auf ihn hinunter, bis mir so viele Tränen in die Augen gestiegen waren, dass ich kaum mehr als verschwommene Umrisse erkennen konnte. Ich wusste, ich sollte mich auf den Weg machen, aber in dem Augenblick war es mir egal.

Es war mir egal, dass ich zum ersten Mal seit zwei Jahren wieder Make-up aufgelegt hatte und es schon wieder ruinierte. Es war mir egal, dass ich den College-Abschluss machte. Es war mir egal, dass ich schon zwanzig Minuten zu spät war, bevor ich mich überhaupt hingesetzt hatte.

Mir war einfach alles egal.

Ich ließ mich auf die Seite fallen und griff nach der Kette, die meinen Hals in den letzten Jahren nicht einmal verlassen hatte, und zog sie unter meinem Hemd hervor, bis ich den Ehering umklammern konnte, den ich für Ben gekauft hatte. Jenen, den er tragen sollte, von dem ich mich aber nicht trennen konnte – als wäre es wichtig, einen Teil von ihm bei mir zu behalten.

Durch das letzte Jahr zu kommen war mir leichtergefallen als im Jahr zuvor. Meine Freunde hatten mich nicht andauernd dazu nötigen müssen, meine Arbeit für mein Studium zu erledigen. Janie hatte mich nicht jeden Morgen aus dem Bett zerren müssen, um mich zum Duschen und Anziehen zu zwingen. Vor ein paar Monaten hatte ich sogar den Verlobungsring abgenommen und weggelegt. Aber vor genau zwei Jahren hatte ich stolz den Ort vorgeführt, an dem ich Ben heiraten wollte. Ohne zu ahnen, dass es in der Welt nicht immer gut zuging.

Und dann war Ben gestorben.

Mit nur zwanzig Jahren hatte sein Herz versagt, und er war tot, noch ehe er auf dem Golfplatz zu Boden gesunken war. Er hatte immer aktiv und gesund gewirkt; kein Test hatte je die seltene Herzkrankheit erfasst, an der er viel zu früh gestorben war. Die Ärzte sagten, für so etwas gebe es keine Tests. Damals hatte ich ihnen nicht geglaubt, und auch wenn ich seitdem Artikel gelesen hatte über ähnliche Todesursachen bei jungen Leuten, war ich mir nicht sicher, ob ich ihnen heute glaubte. Ich wusste nur, dass er nicht mehr da war.

Schwere Schritte hallten durch meine Wohnung, und wenige Sekunden später stand Jagger im Türrahmen zu meinem Schlafzimmer und sah mich ernst an.

„Woher wusste ich nur, dass du es nicht nach draußen schaffen würdest?“ Einer seiner Mundwinkel zuckte, ehe er wieder nach unten fiel.

„Ich kann das nicht“, brachte ich schluchzend hervor und klammerte mich fester an den Ring. „Wie soll ich irgendetwas feiern an einem Tag, der mir so viele Schmerzen bereitet hat?“

Jagger atmete tief durch die Nase ein und stieß sich dann vom Türrahmen ab. Nach ein paar Schritten setzte er sich zu meinen Füßen hin und starrte stur geradeaus, während sich Stille im Raum ausbreitete.

„Ich weiß es ehrlich nicht, Grey“, sagte er endlich mit leichtem Schulterzucken. „Ich habe es nur zu meinem Wagen und deiner Wohnung geschafft, weil ich weiß, wie sehr Ben das hier gewollt hatte und wie sehr er es sich immer noch für uns wünschen würde.“

„Er hätte hier sein sollen“, murmelte ich.

„Ich weiß.“

„In ein paar Tagen hätten wir unseren zweiten Hochzeitstag gefeiert.“

Jagger schwieg lange, ehe er hauchte: „Ich weiß.“

Ich bremste mich, bevor ich fortfahren konnte. Nichts, was ich gerade sagte, würde einem von uns weiterhelfen, nicht, solange ich mich nur auf dem Bett, das unser Bett hätten sein sollen, zu einer Kugel zusammenrollen und der Trauer hingeben wollte. Ich musste mir in Erinnerung rufen, dass der heutige Tag nicht nur für mich ein schwerer war. Ich war nicht die Einzige, die ihn verloren hatte. Ben und Jagger waren beste Freunde, seit sie sechs Jahre alt gewesen waren. Und vor zwei Jahren waren sie mitten im Gespräch gewesen. Jagger hatte zu Ben herübergesehen, weil dieser nicht geantwortet hatte, und zusehen müssen, wie Ben umgefallen war.

„Jag?“, flüsterte ich.

„Ja, Grey?“

„Wie kriegen wir das hin?“

Die Matratze bewegte sich, als er sich vorbeugte, um seine Unterarme auf den Beinen abzulegen. Er drehte den Kopf und sah mich an. „Wie kriegen wir was hin?“

„Einfach weiterzumachen. Ich dachte, in diesem Jahr wäre es leichter. Bis letzte Woche glaubte ich, besser damit zurechtzukommen. Und heute dann …“ Ich verstummte und ließ die Worte einige Sekunden in der Luft hängen, ehe ich fortfuhr: „Es ist, als wäre überhaupt keine Zeit vergangen. Es ist, als wäre ich wieder genau da, wo du mich abgeholt und ins Krankenhaus gebracht hast. Es fühlt sich an, als wäre meine Welt noch einmal zum Stillstand gekommen. Es gibt immer noch Tage, an denen ich nicht aus dem Bett kommen will, aber nicht so wie heute.“

„Auf diese Frage gibt es keine Antwort. Selbst wenn es sie gäbe, würde sie für jeden anders ausfallen, für dich, für mich und für jeden anderen, der je in so einer Situation gewesen ist. Ich stehe auf und mache weiter, weil ich weiß, dass ich etwas habe, für das es sich zu leben lohnt, und weil ich weiß, dass es das wäre, was er gewollt hätte. Ich kann mir keine Gedanken darüber machen, wie ich den nächsten Tag überstehen soll, sondern nehme jeden Tag, wie er kommt. Es wird immer schwere Tage geben, Grey, immer. Wir müssen sie einfach zusammen mit den guten Tagen hinnehmen und weiterleben.“

„Für mich fühlt es sich an, als würde ich sein Andenken mit Füßen treten, wenn ich ihn hinter mir lasse“, gab ich ein paar Minuten später leise zu.

„Niemand sagt, dass wir ihn hinter uns lassen müssen, wir müssen einfach nur in Bewegung bleiben.“

Ich sah ihm in die Augen und wendete mich nicht ab, als er aufstand, sich zu mir umdrehte und die Hand nach mir ausstreckte.

„Bist du bereit, dich zu bewegen?“, fragte er, und mir war klar, was er mit der Frage meinte.

„Nein“, antwortete ich, streckte ihm aber trotzdem die Hand entgegen. Nachdem er sie gegriffen hatte, ließ ich mich von ihm vom Bett ziehen, schlang ihm die Arme um die Taille und legte den Kopf an seine Brust.

Jagger legte die Arme um mich und neigte den Kopf zu meinem hinunter, um mir leise ins Ohr zu sprechen. „Denk nicht an nächste Woche oder an morgen oder auch nur an heute Abend. Konzentrier dich nur auf dein Jetzt. Genau jetzt müssen wir zu unserer Abschlussfeier gehen. Genau jetzt würde Ben ausflippen, weil ihr beide deinetwegen zu spät kommen würdet.“

Ich lachte schluchzend, und in seiner Brust grollte ebenfalls ein tiefes Lachen.

„Und du würdest ihm sagen …?“ Er ließ die Frage offen und wartete auf meine Antwort.

„Dass er sich damit abfinden sollte. Und dann hätte ich zwanzig Dollar gewettet, dass wir trotzdem noch früher da wären als du.“

Dieses Mal war sein Lachen voller, und er rieb mir mit den Händen noch einmal über den Rücken, ehe er sich von mir löste. „Ganz genau. Dann hätte er noch weitere zwanzig darauf gesetzt, dass ich mit frischer Kohle an den Händen auftauchen würde.“

„Und im Gesicht“, fügte ich hinzu.

Jagger verdrehte die Augen. „Das war nur ein Mal.“

„Es war die Hochzeit deiner Mutter.“

„Ich mochte den Typen sowieso nicht.“ Ich lächelte, und er suchte mein Gesicht ab, bevor er die Hände hochhielt. „Keine frische Kohle, und wir tauchen zur selben Zeit auf. Heute gewinnt keiner von uns.“

Ich atmete einmal tief ein und aus und nickte. „Ich glaube, jetzt bin ich bereit, mich zu bewegen.“

„In Ordnung.“ Er beugte sich vor und griff sich meine Kappe und meinen Umhang vom Bett, dann drehte er sich um und verließ das Zimmer.

Ich folgte ihm den Flur hinunter ins Wohnzimmer und blieb im Türrahmen stehen, gerade lange genug, um in den Spiegel zu sehen und das verschmierte Make-up abzuwischen. Als wir in seinem Wagen saßen, berührte ich ihn am Arm und wartete darauf, dass er zu mir herübersah.

„Danke, Jagger. Dafür, dass du gekommen bist, mit mir geredet hast – einfach … danke.“ Er hatte keine Ahnung, wie dankbar ich war, ihn zu haben, und ich hätte es ihm nicht erklären können, selbst wenn ich es versucht hätte. Er war einfach immer da, um alles erträglicher zu machen, immer da, um mir zu helfen … immer da, um alles zu sein, was ich brauchte.

Er schüttelte langsam den Kopf, ein Mal, und behielt seine grünen Augen auf meine gerichtet. „Manchmal brauche ich auch etwas Motivation, um mich zu rühren. Du musst mir nicht danken, lass es mich einfach wissen, wenn du über ihn reden musst, okay?“

„Ja.“ Ich ließ seinen Arm los, lehnte mich zurück und griff nach der langen Kette mit Bens Ehering. Ihn in meiner Handfläche zu spüren tröstete mich ebenso sehr wie das Wissen, dass er gerade stolz wäre auf Jagger und mich.

Es gelang mir, die Abschlussfeier durchzustehen, ohne noch einmal zu weinen, doch es fühlte sich auch nie so an, als wäre ich glücklich, dort zu sein. Auch wenn Jagger mich so weit gebracht hatte, dass ich lächelte und lachte, war ich, sobald er mir nach unserer Ankunft von der Seite gewichen war, wieder in diesen Zustand verfallen, in dem ich ständig drohte vor Trauer darüber zusammenzubrechen, welcher Tag heute war. Es wurde nur schlimmer, als Janie mich länger als normal umarmte. Dann hatte ich meine Eltern und meinen älteren Bruder gesehen, und keiner von ihnen hatte sich mehr als ein gezwungenes Lächeln und ein „Gratuliere!“ abringen können.

Das Mittagessen hinterher erwies sich auch nicht als einfacher für alle Beteiligten. Einer meiner Onkel erwähnte das Datum und fragte mich, wie ich damit umging, und daraus war ein unangenehmes Schweige-Fest geworden, bei dem sich alle gegenseitig unter dem Tisch traten und bedeutungsschwangere Blicke zuwarfen, als würden sie sagen: „Halt den Mund!“ Die nächste Dreiviertelstunde sagte niemand ein Wort. Sie bedankten sich nicht einmal bei der Kellnerin, als sie uns das Essen brachte.

So sehr ich es hasste, und so sehr ich meine Familie liebte, war ich doch erleichtert, als wir uns verabschiedeten und mein Bruder mich zu meiner Wohnung zurückfuhr.

„Alles okay, Kleines?“, fragte er, als er in die Parklücke einbog.

„An manchen Tagen.“

„Aber heute nicht.“ Das war keine Frage, er wusste es.

„Ja … Heute nicht“, sagte ich leise.

„Willst du, dass ich mit raufkomme? Ich kann bei dir abhängen, über Nacht bleiben und morgen wieder nach Hause fahren.“

„Nein, ist schon gut. Letzte Nacht habe ich nicht richtig geschlafen, ich glaube, ich gehe gleich ins Bett.“

„Grey, es ist vier Uhr nachmittags.“ Er sah mich entweder mitleidig oder mitfühlend an, und keines von beidem war mir recht.

„Heute war es irgendwie hart. Es hat sich angefühlt, als hätte man drei Tage in einen Tag gestopft – und wie gesagt: Ich habe gestern Nacht nicht wirklich geschlafen. Ich bin müde.“

Er schwieg einen Augenblick, bevor er sich auf seinem Sitz umdrehte, um mich anzusehen. „Ich mache mir Sorgen um dich.“

Ich knirschte mit den Zähnen, atmete zur Beruhigung ein paar Mal durch und sagte: „Das musst du nicht. Es ist zwei Jahre her, mir geht es langsam besser.“

„Tatsächlich?“, fragte er lachend, aber in seinem Tonfall lag nichts Humorvolles. „Ich wusste, dass der heutige Tag schwer für dich werden würde, anders konnte es gar nicht sein. Aber, verdammt noch mal, wie viel wiegst du eigentlich?“

Ruckartig riss ich den Kopf herum. „Was? Keine Ahnung.“

„Siehst du dich manchmal im Spiegel an? Siehst du, wie du in deinen Klamotten aussiehst? Du wirkst, als hättest du die Sachen von jemand anderem an, und als wären sie dir ein oder zwei Nummern zu groß.“

Ich sah auf meine Bluse und meinen Rock hinunter und schüttelte den Kopf. „Nein, sie – aber ich esse doch! Du hast es beim Mittagessen gesehen, ich habe den halben Burger geschafft.“

„Nein, Grey. Ich habe die Hälfte von deinem Burger gegessen. Du hast ihn mindestens ein Dutzend Mal in die Hand genommen und wieder hingelegt, ihn halbiert und die eine Hälfte hochgenommen, nur um sie wieder abzulegen. Ich habe dich beobachtet. Du hast zwei Pommes gegessen. Sonst nichts.“

Ich versuchte, mich an den Restaurantbesuch zu erinnern, wusste aber nicht einmal mehr, dass ich einen Burger bestellt hatte, ganz zu schweigen davon, ihn durchgeschnitten zu haben. Ich wusste nur, dass die Hälfte verschwunden war, als die Kellnerin gefragt hatte, ob ich einen Karton für den Rest haben wollte. Ich hatte abgelehnt. Was die Kleidung anging, hatte ich mir heute zum ersten Mal seit Jahren wieder Gedanken darüber gemacht, was ich anziehen wollte. Normalerweise zog ich einfach irgendetwas über und verließ die Wohnung, weil mir egal war, wie ich aussah.

„Und was willst du jetzt von mir hören, Graham? Ich versuche es. Du hast keine Ahnung, wie schwer es ist, jemanden zu verlieren, der dein halbes Leben lang ein so wichtiger Teil deiner Welt gewesen ist. Dem die meiste Zeit dein Herz gehört hat. Den du wenige Tage, nachdem er gestorben war, eigentlich hättest heiraten sollen! Du hast keine Ahnung, was ich durchgemacht habe“, kochte ich und wischte mir die nassen Wangen ab. „Ich habe den Abschluss gemacht, ich lebe, was willst du denn noch?“

„Ich will, dass du lebst, Grey.“

„Gerade habe ich doch gesagt …“

„Du existierst“, fuhr er mich an und unterbrach mich. „Du existierst nur, du lebst nicht. Du machst alles, was man von dir erwartet, ohne zu merken, dass oder warum du es tust.“

„Das stimmt überhaupt nicht!“, schrie ich ihn an. „Du kannst nicht nach einem halben Tag beurteilen, wie es mir geht. Einem Tag, der so grausam daran erinnert, was geschehen ist.“

Er nahm meine Hand und drückte sie, und als er wieder etwas sagte, war seine Stimme ruhig. „Kleines, es sagt doch niemand, dass ich nur nach dem urteile, was ich heute gesehen habe. Janie macht sich Sorgen um dich …“

„Janie? Janie?! Lässt du mich jetzt von meinen Freunden ausspionieren, Graham?“

„Grey …“

„Wie oft melden sie sich bei dir? Hm? Treffen sie sich jetzt nur noch mit mir, damit sie dir berichten können, wie es mir geht? Weil ich nämlich nicht gerade viel von ihnen zu sehen bekomme, aber andererseits, wer wollte auch Zeit mit jemandem verbringen, der nur noch existiert?“

„Grey!“, fuhr er mich an, als ich die Beifahrertür aufriss und aus seinem Truck sprang.

„Scheiß auf dich und deinen Existieren-Quatsch, Graham! Es geht mir gut! Ich gehe mit der Sache so um, wie ich es eben kann. Es. Geht. Mir. Gut.“

Es war mir egal, dass mir Tränen die Wangen hinabliefen. Es war mir auch egal, dass ich überreagierte. Ich überreagierte, weil ich schreckliche Angst davor hatte, er könnte recht haben, und das wollte ich nicht. Ich hatte es satt, dass alle mich immer nur mitfühlend oder mitleidig ansahen. Ich hatte es satt, dass sich immer Schweigen im Raum ausbreitete, sobald ich ihn betrat … Immer noch. Ich hatte es satt, dass in meiner Gegenwart alle wie auf rohen Eiern herumliefen. Und ich hatte es satt, dass es sich anfühlte, als würde ich ihnen einen Grund dafür geben.

Ich eilte zu meinem Gebäude und ignorierte Grahams Rufe, als er mir von seinem Truck aus folgte. Noch während ich zum Haus rannte, griff ich nach dem Schlüsselbund in meiner Handtasche und versuchte, den richtigen Schlüssel zu ertasten. Ich wollte in meine Wohnung gelangen, bevor er mich einholen konnte. Der Bund fiel mir aus der Hand, und als ich mich nach ihm bückte, stolperte ich aus meinen Sandalen und fiel mit Händen und Knien auf den Asphalt.

Ich ignorierte den verschütteten Inhalt meiner Handtasche, schwang mich zurück, bis ich in der Hocke saß, und ließ den Kopf hängen. Mein ganzer Körper wurde von Schluchzern erschüttert.

Zwei große Hände legten sich um meine Oberarme, um mir aufzuhelfen, und ich schlug nach ihm. „Lass mich in Ruhe, Graham!“, presste ich heulend hervor.

„Schsch. Ist schon gut“, hörte ich eine tiefe tröstende Stimme. Ich hob den Kopf so weit, bis ich Jagger erkannte, und ließ mich von ihm in die Arme nehmen. „Ist schon gut.“

Ich presste die Stirn an seine Brust und schüttelte den Kopf hin und her. „Ist es nicht. Der Tag nimmt einfach kein Ende, und so, wie mich alle ansehen und mit mir reden, fühlt es sich an, als würde ich versagen.“

„Versagen?“, fragte er, den Kopf zurückgelegt und ein leises spöttisches Lächeln auf seinen Lippen. „Wohl kaum, Grey. Ich habe dir gesagt, du musst einfach weitermachen, und das tust du. Das hast du getan. Du bist stark, das kann nur nicht jeder sehen, weil sie nur darauf warten, dass du zusammenbrichst. Bloß weil sie von dir erwarten, dass du mit der Situation nicht umgehen kannst, bedeutet das nicht, dass du versagst.“

„Aber sie reden nie über ihn, sie reden nicht darüber, was passiert ist. Graham hat gesagt, ich würde nichts essen und hätte abgenommen. Er hat gesagt, Janie habe ihm erzählt, dass sie sich Sorgen um mich mache. Er sagt, ich existiere einfach nur und täte nur das Nötigste.“

„Vergiss Graham. Er irrt sich. Er verbringt nicht jeden Tag mit dir, um deine Fortschritte beurteilen zu können.“ Jagger schaute mir tief in die Augen. „Deine Familie hat dich dieses Jahr nicht oft zu Gesicht bekommen, während es dir wieder besser ging, also wissen sie nicht, wie sie mit der Situation umgehen sollen – vor allem, weil heute so ein besonderer Tag ist und du deswegen aufgebracht bist. Er ist dein Bruder, natürlich macht er sich Sorgen um dich – aber, Grey, lass dir von ihm nicht einreden, dass es dir schlechter geht, als es dir gehen sollte. Heute ist eine Ausnahme. Und er hat dich eben an einem Ausnahmetag gesehen, okay?“ Er schloss die Arme fester um mich und lehnte sich zurück, bis er sich an die Mauer stützen konnte. „Es ist alles in Ordnung, versprochen.“

Er hielt mich fest, bis ich aufhörte zu weinen, und ließ mich los, als ich mich von ihm löste.

„Siehst du? Alles in Ordnung.“

Heute war ein Tag, an dem ich alles infrage stellte; ich glaubte nicht, ihm da zustimmen zu können. „Was machst du überhaupt hier?“

„Ich dachte, du könntest Gesellschaft brauchen, weil es ein Ausnahmetag ist, aber ich gehe wieder, damit du Zeit mit deinem Bruder verbringen kannst“, sagte er und deutete ruckartig mit dem Kopf auf jemanden hinter mir.

Ich sah über die Schulter und entdeckte Graham an der Wand gegenüber lehnen, die Arme vor der Brust verschränkt und mit seltsamem Gesichtsausdruck. „Wie lange steht er schon da?“, flüsterte ich Jagger zu, als ich mich wieder umgedreht hatte.

„Die ganze Zeit.“

„Dann hat er dich gehört …“ Ich hatte das dringende Bedürfnis, mich für Jagger einzusetzen. Graham hasste ihn schon, seit wir uns mit neun Jahren angefreundet hatten. Andererseits hatte er aber auch Ben nie richtig gemocht, bis kurz vor der Hochzeit. Also war es vielleicht so eine Überfürsorglichergroßer-Bruder-Sache.

„Schon, aber er weiß auch, dass ich recht habe.“ Jagger blickte hinter mich und hob herausfordernd eine Augenbraue, aber Graham sagte die ganze Zeit über kein Wort. „Verbring ein bisschen Zeit mit …“

„Ich will nicht“, unterbrach ich ihn schnell. „Ich muss entweder allein oder mit jemandem zusammen sein, der weiß, wie es ist, sich zum Weitermachen zu zwingen.“

Er sah ein paar Sekunden lang zu mir herunter, dann nickte er. „Okay, verschwinden wir.“

„Wir bleiben nicht hier?“, fragte ich, als er sich bückte, um alle Sachen zurück in meine Handtasche zu stopfen.

„Nein. Du willst dich doch bewegen, Grey. Das geht nicht, wenn wir die ganze Zeit in deiner Wohnung herumsitzen.“

Ich nahm ihm die Tasche aus der Hand und drehte mich um, damit ich ihm aus dem Windfang heraus folgen konnte; Graham war uns die ganze Zeit dicht auf den Fersen. Jagger öffnete die Beifahrertür seines Wagens und schloss sie hinter mir, nachdem ich eingestiegen war, und ich sah Graham in die Augen, der ein kurzes Stück entfernt vor dem Wagen stand.

Graham streckte die Hand aus und fasste Jagger am Arm, als er an ihm vorbeiging, und ich öffnete die Tür – bereit für Gott weiß was. Es war nicht so, als hätte ich sie aufhalten können, wenn sie übereinander herfielen.

„Kümmere dich gut um sie“, verlangte Graham, und sein Blick verhärtete sich, als Jagger seinen Arm losmachte.

„Was glaubst du, was ich in den letzten zwei Jahren gemacht habe?“, zischte Jagger. „Es geht ihr gut, sogar besser als gut. Heute ist ein beschissener Tag für sie, aber du kannst sie nicht behandeln, als wäre sie aus Porzellan, nur weil es ein verdammter schlechter Tag ist. Sie muss über ihn reden; sie muss über das reden, was passiert ist. Was sie nicht gebrauchen kann, ist, wie ihr alle bei der Abschlussfeier dagestanden und sie angestarrt habt, als wüsstet ihr nicht mehr, wer sie ist.“

„Siehst du sie?“, fragte Graham und kam ihm näher. „Siehst du, wie dünn sie ist?“

„Ja, ich sehe sie. Ich sehe sie jeden Tag. Sie hat sehr viel abgenommen, aber in den letzten Monaten hat sie auch wieder zugenommen. Das könntest du ihr durchaus zugutehalten, Graham. Hör nicht nur auf Janie – Janie ist nicht oft genug bei ihr, um dich auf dem Laufenden zu halten. Wenn du wissen willst, wie es deiner Schwester geht, frag sie selbst. Erzähl ihr nicht, wie es ihr geht.“ Jagger wartete nicht ab, ob er noch etwas antwortete; mit steifen Schritten ging er um die Motorhaube herum und ließ sich auf den Fahrersitz gleiten.

Graham sah aus, als könnte er sich nicht entscheiden, ob er verhindern wollte, dass ich mich mit Jagger davonmachte, oder erleichtert war, dass ich verschwand. Als ich die Tür schloss, legte er sich in einer stummen Geste, mit der wir uns Ich liebe dich sagten, die Hand auf die Brust und sah mir fest in die Augen, bis ich mir ebenfalls die Hand auf die Brust legte und einmal knapp nickte, als Jagger aus der Parklücke fuhr.

JAGGER

10. Mai 2014

Ich ließ mein Telefon auf den Tisch fallen und rieb mir laut seufzend das Gesicht. Nachdem wir ein paar Stunden bei offenem Fenster und mit laut aufgedrehter Musik herumgefahren waren, hatten wir einen der Läden erreicht, die wir immer aufgesucht hatten, bevor Ben gestorben war. Am Wochenende gab es dort Livemusik und die beste Abendkarte der Gegend.

„Graham?“, riet Grey, und ich grummelte zur Bestätigung.

„Er wollte nur wissen, ob mit dir alles in Ordnung ist.“

„Du hast doch nicht …?“, fing sie an, zögerte dann aber ein paar Sekunden lang. „Hast du ihn auch über mich auf dem Laufenden gehalten?“

„Im Ernst, Grey? Dein Bruder hasst mich; bis vor ein paar Minuten wusste ich nicht einmal, dass er meine Nummer hat. Außerdem – hätte ich ihn auf dem Laufenden gehalten, dann hätte er dir wahrscheinlich nicht diesen Mist über dich erzählt, und deine Familienmitglieder hätten sich bei der Abschlussfeier nicht wie Statuen aufgeführt.“

„Ich habe gehört, wie du etwas in der Richtung zu ihm gesagt hast, ehe wir gefahren sind. Das ist dir also auch aufgefallen, was?“

„War ja nicht schwer. Meine Schwester wollte mit dir sprechen, aber nachdem wir dich gefunden hatten und merkten, wie dich alle anstarrten, hatte sie Angst, irgendwas zu sagen.“

„Charlie war dabei? Waren deine Mom und dein Bruder auch da?“

Ich verkniff es mir, die Augen zu verdrehen, und schüttelte stattdessen nur den Kopf. „Nein. Mom war wahrscheinlich mit ihrem neuen Freund oder Ehemann beschäftigt.“

Grey verdrehte die Augen, als ich die Partner meiner Mutter erwähnte, und sie lächelte sanft. „Ich bezweifle, dass sie deswegen nicht gekommen ist. Aber ich wünschte, Charlie hätte etwas gesagt. Ich muss sie diesen Sommer anrufen oder so. Ich habe sie seit Ewigkeiten nicht gesehen.“ Grey verzog für eine Sekunde den Mund, als alle anfingen zu klatschen, und drehte sich zur Bühne um.

Ich hatte seit zwei Jahren keinen Fuß mehr in diesen Laden gesetzt, und es fühlte sich merkwürdig, aber auch gut an, wieder hier zu sein. Fast als könnte ich Ben auf der anderen Seite der Sitzgruppe sehen, direkt neben Grey. Aber genauso schnell, wie die Erinnerung aufgetaucht war, verschwand sie auch wieder. „Fühlt es sich je für dich so an, als würde er verschwinden?“, fragte ich plötzlich.

Grey hob ruckartig den Kopf und riss die Augen auf, als sie den Sinn meiner Worte erfasste. „Was?“

„Ben. Hast du auch manchmal das Gefühl, die Erinnerungen an ihn würden verschwinden? Überall um uns herum.“

„Ständig“, murmelte sie und nickte einen Augenblick lang gedankenverloren. „Ich musste mich zwingen, sein Rasierwasser nicht mehr zu kaufen, und jetzt kann ich mich manchmal nicht einmal mehr daran erinnern, wie er roch. Wenn mir das auffällt, werde ich panisch. Ich habe Angst, dass ich es für immer vergessen werde, und dann will ich doch noch eine Flasche kaufen gehen. Aber ich weiß, dass das nicht geht, ich weiß, dass es so nur noch schwerer wird, weiterzumachen. Ich kann mich …“ Sie unterbrach sich leise schluchzend und legte sich die Hand auf den Mund, als ihr Tränen in die Augen stiegen. „Ich erinnere mich nicht mehr daran, wie sein Lachen geklungen hat. Ich erinnere mich nicht mehr daran, wie es sich anfühlte, wenn er mich in den Armen hielt. Ich habe Angst, nach Thatch zurückzukehren, Jag.“

„Was? Warum?“

„Ich will nicht das Haus seiner Eltern sehen und wissen, dass Ben vollständig aus ihm herausgelöscht worden ist.“

Ich sackte auf meiner Sitzbank zusammen und atmete schwer aus. „Ach ja, das hatte ich ganz vergessen.“

Sechs Monate nach Bens Tod waren seine Eltern umgezogen. Nicht nur in ein anderes Haus, nicht nur aus der Stadt heraus. Sie waren ans andere Ende des Landes gezogen, um allem zu entkommen. Sie hatten die vielen Erinnerungen an Ben nicht ertragen können, nachdem ihr einziges Kind von ihnen gegangen war. Und in einer so kleinen Stadt wie Thatch gab es an jeder Ecke Erinnerungen.

Mir war es ebenso gegangen, aber jetzt ging es mir so wie Grey. Ich hatte schreckliche Angst, ihn zu vergessen, und ich fragte mich, ob seine Eltern es jetzt bereuten, gegangen zu sein.

„Und was willst du stattdessen machen?“

Sie blinzelte ein paar Mal, als hätte ich sie gerade von irgendwoher zurückgeholt, und zuckte nach ein paar Sekunden mit den Schultern. „Ich gehe trotzdem zurück. Die Wohnung hier ist auch nicht viel besser. Er war derjenige, der sie ausgesucht hat, und alles, woran ich denken kann, wenn ich dort bin, ist, dass er auch dort sein sollte. Anfangs wird es schwer sein, aber ich muss nach Hause gehen. Was ist mit dir?“ Grey verzog die Lippen zu einem seltenen Lächeln, und ich fühlte, wie ich es erwiderte, bis sie weitersprach. „Ich habe mir immer ausgemalt, dass du einfach verschwindest. Bisher ist es niemandem gelungen, dich festzuhalten, und es fühlt sich an, als wäre es bei Städten oder Orten nicht anders. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du je einen Ort findest, an dem du für immer Wurzeln schlagen willst.“

Natürlich kannst du es nicht. Ich senkte den Blick, damit sie darin nicht etwas entdeckte, was sie nicht entdecken sollte. Ihre Worte hatten etwas Wahres an sich, waren aber gleichzeitig auch so falsch. Es war nie jemandem gelungen, mich zu halten, weil ich immer nur zu ihr gehört hatte. In den ersten zwei Jahren, nachdem ich Thatch verlassen hatte, war ich mit einer Handvoll Mädchen ausgegangen … wenn man das so nennen konnte. Zu Hause hatte ich nur eine einzige Freundin gehabt – und die nur in der Hoffnung, Grey damit eine Reaktion zu entlocken, und als Ablenkung von der Beziehung zwischen Grey und Ben, die ich ständig vor Augen gehabt hatte. Wäre Ben nicht gestorben und hätten sie geheiratet, wäre verschwinden genau das, was ich getan hätte. Es war eine Sache, mich zurückzuhalten, nichts zu sagen und zu hoffen, dass sie eines Tages in mir sehen würde, was ich in ihr bereits sah, seit wir Kinder waren. Eine ganz andere Sache war es aber, endlich anzuerkennen, dass sie nie mein sein würde.

Aber auch wenn ich mir nicht sicher war, ob sie in ihrem Leben je an den Punkt gelangen würde, an dem sie bereit wäre, neu anzufangen, konnte ich sie jetzt auf keinen Fall allein lassen. Sie war nicht mein, aber sie brauchte mich. Und ich würde für sie da sein, solange das so war.

„Also, was meinst du, wohin wirst du gehen?“, fragte sie, und ich sah wieder zu ihr hoch.

„Thatch“, sagte ich leise und belegt. „Ich gehöre nach Thatch.“

2. KAPITEL

JAGGER

16. Mai 2014

Ich durchsuchte meinen Schlüsselbund, bis ich ihren fand, schloss die Tür zu Greys Wohnung auf und trat ein. Mit dem Fuß schob ich zwei aufeinandergestapelte Kartons zur Seite, um durch den Eingangsbereich gehen zu können, und rief nach ihr. „Grey?“

„Schlafzimmer!“, antwortete sie, und ich machte mich auf den Weg dorthin.

„Wie läuft es, bist du …?“ Ich unterbrach mich schnell und brach in Gelächter aus, als ich sie fand.

Seit unserem Abschluss war fast eine Woche vergangen, und heute war der Tag, an dem wir Pullman verlassen würden, um nach Thatch zurückzukehren. Den Großteil der vergangenen zwei Tage hatten wir damit verbracht zu packen und unsere Möbel in einen gemieteten Lieferwagen zu verladen, damit wir heute nur noch die letzten Kartons verstauen mussten und gleich aufbrechen konnten. Aber da Grey nun einmal Grey war … musste sie alles in letzter Minute erledigen. Und anscheinend war ihr das nicht gelungen. Sie saß auf dem Boden auf dem Schlafsack, in dem sie die Nacht verbracht hatte, die Beine ausgestreckt, und wühlte in all ihren Badezimmersachen, die sie auf dem Boden um sich herum ausgebreitet hatte. Dabei hatte sie den größten Schmollmund aufgelegt, den ich seit der fünften Klasse bei ihr erlebt hatte.

„Hast du vergessen, den Kartonboden zu verkleben?“

„Halt den Mund, Jag“, schnaubte sie und räumte den Karton weiter ein.

„Also ja. Hast du ihn dieses Mal zugeklebt?“

Ihre Hand verharrte kurz über dem Karton, dann ließ Grey ihre Schultern sacken und den Kopf in den Nacken fallen. Sie starrte an die Decke. Dabei murmelte sie so leise vor sich hin, dass ich sie nicht verstehen konnte.

Ich verkniff mir ein weiteres Lachen, betrat das Zimmer und bückte mich, um ihr dabei zu helfen, alles, was auf dem Boden verstreut lag, wieder einzusammeln. „Ist schon gut. Wir machen einfach den hier voll, kleben ihn zu und drehen ihn dann vorsichtig um. In Ordnung?“

„Ich schwöre dir, ich kann mich heute überhaupt nicht konzentrieren. Oder packen, wie es aussieht.“ Sie grummelte weiter in sich hinein, aber ich konnte nicht anders, ich musste lächeln.

Ich hatte befürchtet, dass der Tag zu schwer für sie werden würde – der Auszug aus der Wohnung, die ihr erstes Zuhause mit Ben hätte sein sollen, aber obwohl sie so genervt vom Packen war, sah ich, dass sie einen guten Tag hatte.

„Wusstest du …?“ Sie zeigte mit einer Schachtel Tampons auf mich und riss die Augen auf, als ihr klar wurde, was sie in der Hand hielt. Nachdem sie die Tampons in den Umzugskarton geworfen hatte, räusperte sie sich, und ich tat so, als wäre ihr Gesicht nicht ebenso rot geworden, wie ihre Haare es waren. „Wie dem auch sei, wusstest du, dass ich gestern schon alle meine Klamotten eingepackt habe?“

„Ja, Grey, ich war dabei.“

„Nein. Ich meine wirklich alle. Das heißt, dass ich nichts zum Anziehen hatte, als ich heute Morgen aus der Dusche kam.“

Ich schaute kurz zu ihr herüber, dann schnell wieder auf den Boden und versuchte, mich darauf zu konzentrieren, alles aufzuheben, damit ich nicht dasitzen und mir Grey unter der Dusche vorstellen musste.

„Gott sei Dank habe ich dich noch nicht alles in den Truck laden lassen. Nachdem ich also endlich einen Karton mit Klamotten gefunden und aufgeschnitten hatte, nahm ich ein paar Teile heraus und klebte den Karton wieder zu, nur um festzustellen, dass ich zwei Shirts herausgefischt hatte, sonst nichts. So lief mein Morgen. Der ganze Morgen. Ich darf mich heute nicht hinters Steuer setzen.“

Ein Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus, als ich hinter mich griff und das Klebeband nahm, das auf einem anderen Karton lag. „Lass mich raten, du hattest heute Morgen noch keinen Kaffee?“

„Den habe ich gestern auch schon eingepackt!“ Ihr entsetzter Tonfall verriet mir, dass sie sich schon den ganzen Morgen darüber geärgert hatte. Sie ließ sich zurückfallen, bis sie auf dem Boden lag, und stöhnte. „Deswegen schiebe ich normalerweise alles bis zur letzten Minute auf.“

„Wir kommen an jeder Menge Coffeeshops vorbei und besorgen dir auf der Fahrt etwas. Und du machst alles erst in letzter Minute, weil du überhaupt nichts mit dir anzufangen wüsstest, wenn du auf einmal irgendetwas rechtzeitig erledigen würdest. Deine Welt könnte implodieren oder so etwas.“

Sie hob einen Arm, um mir den Mittelfinger zu zeigen, ließ ihn wieder fallen und setzte sich auf. „Okay, lass uns fertig werden.“

„Wie viel ist noch übrig?“, fragte ich, während ich den Karton vorsichtig umdrehte und darauf wartete, dass sie die Hände an den Boden legte, damit die Klappen nicht wieder aufgingen.

„Nur den Truck fertig beladen, das hier ist der letzte Karton.“

„Der Truck ist voll, die übrigen hier werden in dein Auto passen müssen. Und sieh mal einer an, wie sehr du dich bemühst, pünktlich zu sein“, murmelte ich, und sie lachte.

„Du wärest so stolz auf mich gewesen. Wie eine Verrückte bin ich hier herumgerannt und habe alles gepackt, was ich noch habe herumliegen sehen.“

Grinsend sah ich zu ihr hoch. „Und trotzdem hast du es nicht geschafft.“

Sie verzog das Gesicht, sagte aber nichts mehr.

Ich klebte den Karton zu, stand auf und streckte den Arm nach ihr aus, um ihr ebenfalls aufzuhelfen. „Na gut, lass uns losfahren, ehe du schlimme Koffein-Entzugserscheinungen bekommst.“

Ich nahm den Karton und stapelte ihn auf einen anderen. Als ich beide anhob und in ihr Wohnzimmer ging, schaute ich auf die Anrichte. Ich schürzte die Lippen und drehte mich langsam um, konnte aber nur Kartons sehen. „Grey, wo sind deine Schlüssel?“

„In meiner Handtasche“, rief sie vom anderen Ende des Flurs.

„Ja. Und wo ist deine Handtasche?“

„Auf der Anrichte, wo sie immer …“ Sie verstummte, als sie um die Ecke ins Wohnzimmer kam, und zog die Augenbrauen zusammen. Ihr Blick fiel auf die leere Anrichte. Ich sah zu, wie sie langsam den Mund öffnete und die Augen aufriss, als sie die Kartons betrachtete, die sie am Morgen gepackt hatte. „So ein verdammter Mist.“

Wir mussten zwei Kartons aufschneiden, um ihre Handtasche und ihre Schlüssel zu finden. Ich verlud die restlichen Kartons, und Grey ging zur Hausverwaltung, um dort alles abzugeben. Dann waren wir endlich auf dem Weg nach Thatch. Na ja, nachdem wir noch einmal angehalten hatten, um ihren Wagen vollzutanken, weil sie das vergessen hatte, und ihr einen Kaffee besorgt hatten. Die Fahrt dauerte etwas mehr als drei Stunden, und schließlich kamen wir wieder in der Stadt an, in der wir aufgewachsen waren. Sie war klein hinsichtlich ihrer Fläche und Einwohnerzahl und doch voller Erinnerungen, die mich hart trafen, sobald wir den See umrundet hatten, der unseren kleinen Ort verbarg. Ich fragte mich, wie Grey sich fühlte, jetzt, wo wir hier waren.

Letzten Sommer hatte sie es nur knapp über einen Monat hier ausgehalten, und in den Winterferien vor ein paar Monaten war sie überhaupt nicht nach Hause gekommen. Davor war es ihr zwar schon viel besser gegangen, so gut sogar, dass sie es war, die am Anfang des Schuljahres vorgeschlagen hatte, hierher zurückzuziehen. Doch ich musste auch daran denken, dass sie mir noch vor einer Woche gestanden hatte, wie viel Angst sie davor hatte heimzukehren. Ich wusste, wenn ich sie jetzt sehen könnte, würde sie Bens Ring festhalten, den sie an einer Kette um ihren Hals trug. Was ich nicht wusste, war, ob sie froh darüber war, sich an die Zeit hier mit ihm zu erinnern, oder ob die Erinnerungen sie überforderten.

Und ein paar Minuten später hatte ich meine Antwort.

In letzter Sekunde nahm sie die Ausfahrt zum Friedhof, und ich trat fluchend auf die Bremse, damit ich ihr folgen konnte. Bis ich geparkt hatte und aus dem Mietlaster gestiegen war, hatte sie schon seinen Grabstein gefunden. Sie stand ein paar Minuten schwankend da, den Ring an der Kette fest umklammert, als sie plötzlich in die Knie ging. Ich trat ein paar Schritte auf sie zu, bremste mich aber und fuhr mir mit den Händen über den Kopf, bevor ich mich zwang, wieder zurückzugehen und mich an den Laster zu lehnen.

Seit der Beerdigung war sie nicht mehr hier gewesen. Ich wusste also, dass sie das hier brauchte und dass sie dabei allein sein musste. Aber um ihretwillen, und auch für mich, musste ich bei ihr sein, wenn sie bereit war zu gehen.

Mir zog sich die Kehle zusammen, als ihre Schluchzer mich erreichten, und ich ließ den Kopf sinken, um zu Boden zu blicken, während ich mit meinen eigenen Tränen rang, als ihre Trauer zu meiner noch hinzukam. Ich hasste es, dass er nicht mehr bei uns war. Ich hasste es, wie sehr sie litt. Ich hasste es, dass es sich anfühlte, als könnte ich nichts tun, um ihr zu helfen.

Mein Kopf schnellte hoch, nur Sekunden, bevor Grey an meiner Brust zusammensank, und ich nahm sie wie von selbst in die Arme. Keine Ahnung, wie lange wir dort standen, aber ihr Gesicht war rot und nass vor Tränen. Ihre Augen sahen leer aus, als sie wahrnahm, wo wir uns befanden, und auch wenn ihre Atemzüge flach waren, kamen sie regelmäßig.

„Wie geht es ihm?“, fragte ich ein paar Minuten später, und sie hob langsam den Blick.

Sie starrte mich unzählige Augenblicke lang an, bevor sie die Lippen gerade genug öffnete, um zu sagen: „Es geht ihm gut.“

Ich nickte und senkte die Stimme zu einem Flüstern. „Und wie geht es dir?“

„Zerbrochen“, sagte sie sofort. „Ich bin zerbrochen, aber ich bewege mich.“

„Klingt, als wärest du genau da, wo du sein solltest.“

Ein leises Lächeln umspielte eine Sekunde lang ihre Lippen, ehe es wieder verblasste. „Wie geht es dir?“

Ich bin auch zerbrochen, dachte ich. Jedes Mal, wenn du brichst, breche auch ich ein Stück mehr. Ich bin zerrissen. Ich habe mich noch nie mehr dafür gehasst, dich zu wollen, als ich es tue, seit Ben gestorben ist. Ich will dir den Schmerz nehmen. Ich will meinen besten Freund zurück. Ich würde, verdammt noch mal, alles dafür geben, mit ihm zu tauschen, nur damit du wieder heil sein kannst. Ich blickte ihr in die honiggoldenen Augen und zuckte mit den Schultern. „Ich bewege mich.“

„Ja, das tust du. Das tun wir beide“, flüsterte sie. „Du hättest nicht bleiben müssen.“

Darauf antwortete ich nicht, weil alles, was ich gesagt hätte, zu viel gewesen wäre. Stattdessen hielt ich sie einfach in den Armen, bis sie bereit war zu gehen.

GREY

16. Mai 2014

Jagger stellte einen Karton hin und wischte sich seufzend den Schweiß von der Stirn. „Das dürfte der letzte von dir gewesen sein, glaube ich. Wenn ich beim Ausladen noch etwas finde, bringe ich es dir einfach später vorbei.“

„Okay, ist nicht schlimm, wenn wir etwas übersehen haben. Das meiste bleibt in den Kartons, bis ich in eine eigene Wohnung ziehe … oder mir überlegt habe, was ich machen will“, murmelte ich und sah mich dabei in dem Zimmer um, in dem ich aufgewachsen war. „Ich meine, es ist nicht so, als hätte ich in einem einzigen Zimmer Verwendung für den Hausstand einer ganzen Wohnung.“

Seine Mundwinkel hoben sich zu einem Lächeln, als er all die Kartons betrachtete. „Na gut, lass mich wissen, wenn du irgendetwas brauchst. Ich fange dann mal mit dem Rest an.“

Ich ließ den Karton, den ich gerade am Boden durchgesehen hatte, liegen, erhob mich und ging zu ihm. „Ich komme mit.“

„Das musst du nicht, Grey, ich schaffe das schon.“

Ich verzog das Gesicht. „Dann kannst du mir also helfen, alle meine Sachen zu verladen und wieder auszuladen, und willst den Rest allein erledigen? Die ganzes Sofas, Betten … alles? Weil du das fair findest“, murmelte ich sarkastisch.

Er hielt mich mit einer Hand an der Schulter davon ab, mich ihm weiter zu nähern, und sah mich eindringlich an. „Ich komme schon zurecht. Solltest du nicht zu deinem Bruder gehen?“

„Ich habe ihm gesagt, ich komme heute Abend zurück, er erwartet mich erst später.“

„Grey …“

„Jagger“, äffte ich ihn nach und wartete, bis er seufzend nachgab.

„In Ordnung, gehen wir.“ Er stieß sich von der Wand ab und ging zur Tür meines Schlafzimmers, wo er darauf wartete, dass ich zuerst hinaustrat.

Mir wäre es egal gewesen, was wir machten. Ich hätte ihn überallhin begleiten wollen. Sosehr ich mich auch darauf vorbereitet hatte, nach Thatch zurückzukehren, die Erinnerungen, die auf mich einströmten, hatten mich härter getroffen, als ich es je hätte erwarten können. Zwar hatte es sich gut angefühlt, zu weinen und Bens Grab zu besuchen, aber mir graute davor, allein zu sein. Ich hatte Angst, mein Glücksgefühl würde verschwinden und mir bliebe nichts als die alles verschlingende Trauer.

„Was machen wir hier?“, fragte ich zehn Minuten später, als wir bei einem Gebäude vorfuhren, das seiner Familie gehörte.

Die Außenwand bestand aus dunklen Backsteinen, ansonsten war es unauffällig. Es sah weder alt noch neu aus, einfach wie ein Lagerhaus. Auch wenn ich früher ein paar Mal hier gewesen war, hatte ich es noch nie betreten. Jaggers Großeltern hatten das Gebäude für ihr Geschäft genutzt, ehe sie sich zur Ruhe gesetzt hatten, und dann hatte es jahrelang leer gestanden, bis seine Mutter eine ihrer vielen Phasen durchgemacht hatte. Sie hatte sich entschieden, sich im Töpfern zu versuchen, weil ihr damaliger Mann beruflich etwas in dieser Richtung gemacht hatte, und eins musste man ihr lassen: Es war eine ihrer längsten Phasen und die längste Beziehung gewesen. Diese Phase hatte ganze zweieinhalb Jahre angedauert – so lange wie die Beziehung, bis sie in unserem letzten Jahr an der Highschool geendet hatte. Soweit ich wusste, stand das Gebäude seitdem leer.

„Willst du unsere Möbel hier einlagern, bis wir Wohnungen gefunden haben?“

Jagger drehte sich zu mir um; seine Augen glänzten schalkhaft, und ich wusste, dass er mir etwas vorenthalten hatte. „So ungefähr.“

„Jagger Easton, warum habe ich das Gefühl, du hättest aus einem bestimmten Grund versucht, mich davon abzuhalten mitzukommen?“

Er hob eine Augenbraue und ließ sein berüchtigtes Grinsen aufblitzen, als er sich mit einem Arm aufs Lenkrad stützte. „Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst, Grey LaRue.“

„Mm-hm. Natürlich nicht.“

„Und, steigst du jetzt aus und hilfst mir mit dem Kram, oder willst du weiter hier herumsitzen und dir überlegen, was los sein könnte?“

Ich kniff die Augen zusammen. „Du bewegst dich ja auch nicht.“

Er beugte sich so dicht zu mir herüber, dass er das ganze Fahrergehäuse des Trucks auszufüllen schien, und meine Atemzüge verloren sich darin. „Ich bewege mich immer, Grey. Ich warte nur darauf, dass du dich mit mir zusammen bewegst.“

Bevor ich antworten oder herausfinden konnte, wie ich mein Herz wieder zum Schlagen bringen würde, lehnte er sich zurück und stieg aus dem Truck. Ich saß einfach ein paar Sekunden lang reglos da, ehe ich ihm folgte.

Statt um den Wagen herumzugehen und die Hintertüren zu öffnen, lief er zu der Tür an der Seite des Gebäudes und zog seinen Autoschlüssel aus der Tasche. Als er den passenden gefunden hatte, schloss er die Tür auf und warf mir noch einen neckischen Blick zu, ehe er sie öffnete, eintrat und das Licht einschaltete.

„Oh mein Gott, das ist ja riesig hier drinnen!“ Schockiert sah ich mich in dem weitläufigen Raum um.

„Das ist nur der Vorderteil.“

„Es gibt noch eine Rückseite?“, fragte ich und warf ihm dabei einen Blick zu.

Er nickte abwesend und ging hinüber zu einer großen Küche, die vom Rest des Raumes durch einen riesigen, L-förmigen Granittresen abgetrennt wurde. Ein Stück Papier lag auf der Insel in der Mitte der Küche. Jagger hob es auf, um es zu lesen, während ich zum Loft im oberen Stock hinaufsah, das den Blick auf die Hälfte der hohen Decke verstellte.

„Charlie muss hier gewesen sein“, sagte er und zog dabei meine Aufmerksamkeit wieder auf sich. Er stand vor dem Kühlschrank.

„Wie kommst du darauf?“

„Kühlschrank und Speisekammer sind aufgefüllt.“

Ich runzelte die Stirn, während ich mich noch einmal im leeren Raum umsah und dann wieder zu ihm blickte. „Sagst du mir jetzt endlich, was los ist?“

Einer seiner Mundwinkel ging nach oben, und Jagger ließ den Kopf sinken, als er auf mich zukam. Er hob den Blick nur so weit an, um mir in die Augen zu sehen, und zuckte mit den Schultern. „Das ist jetzt meine Wohnung.“

„Willst du es als Studio benutzen?“

„Äh, nein. Hinten gibt es noch zwei Zimmer, beide ungefähr so groß wie das Loft oben. Eines benutze ich als Studio und das andere, um in der Zwischenzeit unsere Sachen einzulagern. Aber ich werde hier leben.“

„Im Ernst?“ Ich riss die Augen auf und sah mich noch einmal um. „Ich wusste nicht, dass man hier auch wohnen kann.“

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