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Abschied für immer und nie

"Es gibt es so viele Bücher über Trauer und Verlust, über den Abschied von geliebten Menschen. Aber es gibt kein Buch darüber, wie man ihn zurücknimmt, diesen Abschied."

Was die krebskranke Evie noch will, ist eine letzte Reise. Noch einmal das Adrenalin in den Adern spüren. Noch einmal auf den Rat ihrer Freundin Stella hören: Lebe wagemutig. Aber die Flucht aus der Klinik wird alles verändern …

Evie fällt es unsagbar schwer, in die Welt der Gesunden zurückzufinden. Bis sie Marcus trifft. In seiner Nähe fühlt sie sich lebendig. In seinen Exzessen, seinen fantastischen Höhenflügen. Nur ahnt sie nicht, dass sie nur einen Schritt vor dem Abgrund steht …

"Mal im Ernst, Evie, was haben wir schon zu verlieren?"


  • Erscheinungstag: 10.11.2015
  • Seitenanzahl: 320
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959679893
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Amy Reed

Abschied für immer und nie

Roman

Aus dem Amerikanischen von
Maike Müller

HarperCollins®

HarperCollins® Bücher

erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,
Valentinskamp 24, 20354 Hamburg
Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2015 by HarperCollins
in der HarperCollins Germany GmbH
Deutsche Erstveröffentlichung

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe
Invincible
Copyright © 2015 by Amy Reed
erschienen bei: Katherine Tegen Books

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner GmbH, Köln
Umschlaggestaltung: Formlabor, Hamburg; pecher und soiron, Köln
Redaktion: Eva Wallbaum
Titelabbildung: Shutterstock / Songquan Deng / Iakov Kalinin
Autorenfoto: © HarperCollins
ISBN 978-3-95967-989-3
www.harpercollins.de

eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net

DAMALS.

 

1. KAPITEL

„Kommt, wir gehen in die Cafeteria“, sagt Stella. Sie ist rastlos. Sie ist immer rastlos.

Anders als die anderen hier trägt sie keinen Schlafanzug, sondern zieht ohne Ausnahme jeden Tag ihre schwarzen hautengen Jeans und klobige schwarze Boots an, trägt eine dicke Schicht roten Lippenstift auf und setzt sich einen schwarzen Filzhut auf den Kopf, der an einer Seite mit Pfauenfedern geschmückt ist. Ihr Markenzeichen. Obwohl wir nichts anderes machen, als auf unseren Zimmern zu hocken. Obwohl es uns untersagt ist, das Krankenhausgelände zu verlassen. Obwohl ich und Caleb die einzigen Menschen sind, mit denen sie freiwillig spricht – und Dan, der Spezialist für Kinderheilkunde – und es keinen weniger interessieren könnte, wie sie aussieht.

„Bist du hungrig?“, fragt Caleb. Auf seinem Pyjama sind Fußbälle. Meiner ist pink mit weißen Herzen. Das linke Hosenbein haben sie abgeschnitten, um Platz für meinen weißen Gips zu lassen, der mit den Unterschriften der kranken Kids verziert ist.

„Nein, ich bin nicht hungrig.“ Stella stöhnt. „Ich muss einfach nur raus. Dreht ihr nicht auch langsam durch hier? Wie könnt ihr hier nicht durchdrehen?“ Sie erinnert mich an ein Tier in einem Käfig. Nicht mehr lange und sie fängt an, die Metallstäbe meines Bettes anzunagen. Sie war sogar in der Poliklinik so, als sie noch dachte, dass sie in wenigen Stunden wieder gehen könnte.

„Meine Eltern kommen jeden Moment“, sage ich. „Ich bleib besser hier.“

„Hast du sie schon gefragt, ob sie mich adoptieren?“

„Aber du hast doch Eltern, Stella“, sagt Caleb. Mit Sarkasmus tut er sich immer etwas schwer. Zusätzlich zu dem Gehirntumor, von dem wir bereits wissen, hat Stella bei ihm eine milde Form des Asperger-Syndroms diagnostiziert.

„Ich will mich vorzeitig für mündig erklären lassen“, erwidert sie. „Und zwar sobald wir diese ganze Krebssache geregelt haben. Ich bin eh nur noch ihre Tochter, weil ich ihre Krankenversicherung brauche. Mein Gott, Evie, dein Zimmer macht mich krank.“

Wir haben schon viel Zeit in meinem Zimmer verbracht. Und mit „meinem Zimmer“ meine ich diesen speziellen Raum während dieses speziellen Aufenthaltes, der nun schon zwei Wochen dauert – mein bisher längster. Im vergangenen Jahr gab es zahllose identische Räume, einige in diesem Teil der Krebsstation, andere in dem super-tollen sterilen Gefängnisteil der Station, wo ich war, als die Anzahl meiner weißen Blutkörperchen gleich null war. Momentan komme ich nur schlecht vom Fleck, weil ich gerade erst operiert wurde und mein Bein eingegipst ist. Also kann ich nicht einfach aus dem Bett springen, wenn mir danach ist. Nicht dass viele Kids auf der Krebsstation viel herumspringen würden.

Ich sollte froh sein, eines der wenigen Einzelzimmer ergattert zu haben, aber jeder hier weiß, dass sie für die hoffnungslosen Fälle reserviert sind, damit die anderen armen Kinder nicht plötzlich neben einem toten Bettnachbarn liegen. Das Zimmer hier sieht im Grunde genauso aus wie all die anderen, die ich schon hatte – mittlerweile so viele, dass ich den Überblick verloren habe –, aber es ist nur halb so groß. Ich war nicht mal eine Nacht hier, da hatte Mom schon dieselben traurigen Deko-Artikel aufgestellt wie bei meinem letzten langen Aufenthalt. Damit ich mich „mehr wie zu Hause fühle“. Aber sie könnte noch so viele Familienfotos, Teddys oder Blumensträuße aufstellen – ich würde mich hier trotzdem nie zu Hause fühlen. Und am Ende zeigen mir die Sachen doch nur, dass ich zu lange hier sein werde.

„Wir könnten in den Aufenthaltsraum gehen und ein Spiel spielen“, sagt Caleb.

„Das Zimmer hat keine Fenster“, entgegnet Stella.

„Schalt einfach den Discovery Channel im Fernsehen ein“, sage ich. „Das ist, als würde man aus dem Fenster gucken – nur dass du in Afrika bist oder unter Wasser oder so.“

„Oder es läuft gerade irgendeine Realityshow über amische Prostituierte oder krankhaft fettleibige kleinwüchsige Menschen, die in anderen Sprachen reden.“

„Das läuft bei TLC“, sage ich. „Diese fettleibigen kleinwüchsigen Leute.“

„Ihr zwei seid mir ja eine tolle Hilfe. Außerdem schleicht Dan bestimmt im Aufenthaltsraum herum und will mich dann wieder dazu bringen, über meine Gefühle zu reden.“

„Es ist gut, über seine Gefühle zu reden“, meint Caleb. „Dan sagt, es macht dich noch kränker, wenn du alles in dich hineinfrisst.“

„Hast du schon mal erlebt, dass ich irgendwas in mich hineinfresse?“

„Stimmt auch wieder.“

„Ihr müsst nicht bei mir bleiben“, sage ich. „Macht ruhig was ohne mich. Ich komme schon klar.“

„Ach, Evie“, sagt Stella, „hör mit diesem heldenhaften Getue auf. Wir werden dich hier auf keinen Fall zurücklassen.“

„Es ist aber kein Problem. Wirklich nicht.“

„Könntest du ausnahmsweise mal aufhören, an die anderen zu denken, und einfach nur zugeben, dass du ohne mich nicht leben kannst?“

„Ich will das Footballspiel sehen“, sagt Caleb, schnappt sich meine Fernbedienung und schaltet den Fernseher ein.

„Ich hasse dich“, sagt Stella, rührt sich aber nicht. Schließlich haben wir nicht gerade viele Optionen, uns die Zeit zu vertreiben. Sich in einem vollgestopften Krankenhauszimmer ein Footballspiel anzusehen mag für viele Leute nicht unbedingt der Inbegriff von Spaß sein, aber es geht auch schlechter. Es könnte immer schlechter sein.

Das erste Mal traf ich Stella vor acht Monaten, als ich für meinen dritten Chemo-Zyklus in die Klinik kam. Für sie war es das erste Mal und sie war ganz und gar nicht erfreut darüber, was ich sofort bemerkte, da sie an der zweieinhalb Meter hohen Plüschgiraffe hochkletterte, die vor der onkologischen Poliklinik stand, während ihre Mutter und ein Mann vom Sicherheitspersonal auf sie einredeten, sie möge doch bitte herunterkommen. Eigentlich brüllte ihre Mutter vielmehr auf sie ein, und zwar auf Mandarin, doch keiner der beiden Ansätze zeigte Wirkung.

Sie krallte sich am Kopf der armen Giraffe fest und schrie Zeter und Mordio, bis es ihrer Mutter schließlich gelang, sie herunterzuzerren, und als sie auf dem Boden landete, erklärte sie in einem letzten dramatischen Ausruf alle anderen für „verfluchte herzlose Pissnelken“. Eltern hielten ihren Kindern die Ohren zu; ihre Mutter gab ihr eine Ohrfeige mit dem Handrücken, und für mich stand fest, dass Stella die hübscheste und zugleich mutigste Person war, die ich in meinem Leben gesehen hatte. Sie zeigte all die Angst und die Wut, die auch ich spürte, aber nicht nach außen kehren konnte. Sie gab nicht vor, irgendetwas zu sein, das sie nicht war.

Ich ging auf sie zu, während sie schluchzend unter der Giraffe saß. Ich setzte mich neben sie und sagte: „Hi, ich bin Evie.“ Ihr Make-up war verschmiert, aber das machte sie irgendwie noch glamouröser. „Kriegst du eine Chemo?“, fragte ich.

„Ja.“

„Ich auch. Es ist gar nicht so schlimm.“

„Mir werden die Haare ausfallen“, wimmerte sie. „Ich will nicht, dass mir die Haare ausfallen.“ Sie hatte schöne Haare. Lang, glatt und perfekt. Der dicke Pony reichte ihr bis zu den Augen. Echte Rockstar-Haare.

„Du könntest dir eine Perücke kaufen“, sagte ich. Meine Haare waren bereits dünner geworden, wobei mir alle versicherten, dass ich immer noch hübsch war. Als ob das meine größte Sorge wäre.

„Perücken sind für alte Damen.“

„Und was ist mit einem Hut?“

Sie dachte kurz darüber nach. „Ein Hut könnte gehen“, sagte sie. „Ein Hut könnte sogar saucool aussehen.“

Wir betraten die Klinik gemeinsam, dicht gefolgt von unseren Müttern.

Meine Mom versuchte tapfer, sich Stellas Mutter anzunehmen, aber Mrs Hsu war kalt und von Anfang an misstrauisch. Das ist sie immer noch, selbst nach der ganzen Zeit. Familien lernen einander gut kennen, wenn ihre Kinder andauernd ins Krankenhaus müssen. Wenn sie stundenlang zusammen in der Onkologie sitzen. Sie umarmen sich, backen füreinander und kaufen sich gegenseitig Weihnachtsgeschenke. Sie weinen um die Kinder. Aber nicht Stellas Eltern. Die sind immer distanziert, still, verächtlich, wertend und allein.

Stella und ich bekamen die Chemo in benachbarten Zimmern. Nachdem ich einige Minuten dort gelegen hatte, während das Gift durch den Portkatheter lief, den sie mir in die Brust gebohrt hatten, hörte ich ein Klopfen an der Wand. Ich klopfte zurück. Sie fing an, gleichmäßig in bestimmten Abständen zu klopfen. Ich fragte mich, ob es Morsezeichen waren. Ich kannte das Morsealphabet nicht. Dann begann ich zu zählen und bemerkte ein Muster, das sich nach sieben Klopfeinheiten wiederholte. Man muss viel Zeit totschlagen, wenn man acht bis zehn Stunden eine Chemo kriegt.

Ich holte mein Telefon heraus und wählte, was ich gezählt hatte. Sie nahm nach dem ersten Klingeln ab.

Von dem Moment an war Stella meine geheime beste Freundin. Mit geheim meine ich: nur in der Krebswelt, der Krankenhauswelt, der Welt der kranken Kids. Stella und ich sehen uns nie außerhalb dieser Welt. In der anderen Welt, der Welt der Gesunden, sind wir andere Menschen. Wir sind Menschen, die sich nicht begegnen würden. In der anderen Welt ist sie Mitglied in einer Mädchen-Punkband und ich bin eine Cheerleaderin. Ich meine: war. Vergangenheit. Ich bin mir nicht ganz sicher, was ich jetzt bin.

In der anderen Welt habe ich bereits eine beste Freundin. Kasey Wexler-Beene hält diesen Titel, seit sie am ersten Kindergartentag mit ihren wippenden blonden Rattenschwänzchen auf mich zukam und fragte: „Willst du meine Freundin sein?“ Seitdem sind wir unzertrennlich. Zumindest bis der Krebs kam. Wie sollen Freundinnen sich denn nicht voneinander entfernen, wenn die eine Krebs hat und die meiste Zeit entweder im Krankenhaus liegt oder zu Hause verbringt, um sich von der Zeit im Krankenhaus zu erholen? Wie sollte sich eine Beziehung nicht verändern, wenn die eine stirbt und die andere nicht? Wenn die eine mit einem Bein in einer anderen Welt steht, welche die andere auch mit noch so viel Liebe, Hintergrundwissen und Zuwendung nicht verstehen kann?

Aber sie versucht es, und dafür liebe ich sie. Anfangs haben viele meiner Freunde sie bei ihren Besuchen begleitet und sich entweder in unser Wohnzimmer gequetscht, während ich mich auf dem Sofa erholt habe, oder sie waren sogar ins Krankenhaus gekommen, wenn es mir zu schlecht ging, um entlassen zu werden. Ich könnte mich verletzt fühlen, da sie jetzt nicht mehr kommen, aber ich verstehe sie und mache ihnen keine Vorwürfe. Sie haben ihr eigenes Leben und das sollten sie nicht damit verplempern, mir dabei zuzusehen, wie ich immer kränker werde. Und ehrlich gesagt erleichtert es mich auch, weniger Menschen anlächeln oder etwas vorspielen zu müssen. Kasey aber ist auf ewig loyal. Noch immer kommt sie mich mit meinen Eltern oder meinem Freund Will besuchen. Doch in den letzten Monaten, vor allem seit ich noch kränker geworden bin und überhaupt nicht mehr in die Schule gehe, ist es schwieriger geworden, Gesprächsthemen zu finden. Dinge zu finden, die wir gemeinsam haben. Worüber redet man, wenn das Leben der einen Person stehen bleibt und das der anderen weitergeht?

Auf gewisse Art habe ich Kasey schon verabschiedet. Meine Familie verabschiedet. Vielleicht wissen sie es noch nicht, vielleicht denken sie, dass ich noch da bin, dabei treibe ich schon lange fort von ihnen. Die Welt der Kranken hat mich jeden Tag ein bisschen mehr für sich vereinnahmt, mit jedem Blutbild, mit jedem CT-Scan und PET-Scan und Knochenscan, mit jeder Biopsie und Knochenmarkpunktion, mit jeder Operation, jeder Chemotherapie, jeder Bestrahlung, jeder Bluttransfusion, jedem Schmerzmittel, jeder Einweisung in die Klinik. Nach einem Jahr in dieser Welt ist es ein Wunder, dass ich immer noch weiß, wie man mit den Menschen außerhalb des Krankenhauses spricht. Schon lange gehöre ich nicht mehr in ihre Welt, so sehr sie sich auch bemühen, mich dort zu halten; so sehr ich mich auch bemühe, bei ihnen zu bleiben.

Aber von Will habe ich mich noch nicht verabschiedet. Ich kann nicht. Ich weiß, wie egoistisch das ist, aber ich kann ihn nicht gehen lassen. Nicht loslassen. Irgendein Teil von mir glaubt noch immer, dass wir das hier gemeinsam durchstehen können und unsere Liebe stark genug ist, um ein Wunder zu bewirken. Ich kann mir nicht vorstellen, irgendwo ohne ihn hinzugehen, nicht mal in den Tod – wo oder was auch immer das ist. Ich habe keine Ahnung, was mit mir geschieht, wenn ich tot bin. Ich weiß noch nicht einmal, wie ich anfangen soll, es mir vorzustellen. Die Leute erzählen mir immer, wie ruhig und friedlich es sein wird, dass ich an einen Ort komme, an dem ich für immer glücklich bin, aber ich glaube ihnen nicht. Es wird ein Ort ohne Will sein. Das weiß ich mit Sicherheit. Wo ich auch hingehe, ich muss ihn zurücklassen. Und das soll das Paradies sein? Was nützt der Himmel, wenn der Mensch fehlt, den man am meisten liebt auf der Welt?

2. KAPITEL

„Alles in Ordnung?“, fragt Mom zum millionsten Mal, wobei sie die Augenbrauen zusammenzieht. Ihr Gesicht sieht mittlerweile eigentlich immer besorgt aus. „Wir müssen das nicht machen.“

„Natürlich ist alles in Ordnung“, antworte ich mit dem größten Lächeln, das ich in mein Gesicht quetschen kann.

Natürlich bin ich nicht in Ordnung. Ich bin siebzehn Jahre alt und habe die letzten zwei Wochen mit einem gebrochenen Bein im Oakland Children’s Hospital verbracht, und nun warte ich auf die Untersuchungsergebnisse, die mir verraten sollen, wie nah ich dem Tod bin. Gerade habe ich meine Eltern dabei beobachtet, wie sie die böse Schwester Moskowitz angefleht haben, mit mir nach draußen gehen zu dürfen, damit ich frische Luft atmen kann und nicht dieses giftige Zeug, das im Krankenhaus zirkuliert. „Das ist nicht besonders klug“, sagt Moskowitz, legt ihren typischen Silberblick auf und schürzt die Lippen. „Aber ich denke, es geht in Ordnung, solange sie warm eingepackt ist.“

Das war das Erfolgserlebnis des Tages. Großartig! Endlich können mich meine Eltern und meine Schwester Jenica in dem traurigen Abklatsch eines Innenhofs herumschieben, der aus wenig mehr besteht als aus ein paar Klapptischen und einem gepfiasterten Rundweg mit ein paar Grasbüscheln in der Mitte. Und an das Ganze grenzt der Hubschrauberlandeplatz. Ich habe ein gelassenes Gesicht aufgesetzt, während mich ein Pfleger vom Bett in den Rollstuhl verfrachtete – ein mühseliger Prozess, bei dem er die Infusion abstöpseln, meinen Blasenkatheter und den Urinbeutel mit hinübernehmen, verstecken und sich bemühen musste, nicht den riesigen gebrochenen Klotz fallen zu lassen, der früher mal mein Bein gewesen war. Also nein: Ich bin das genaue Gegenteil von in Ordnung. Aber das braucht niemand zu wissen. Es gibt schon genug, womit sie klarkommen müssen.

Eigentlich hatte ich keine rechte Lust zu diesem „Spaziergang“, aber ich habe mitgespielt, weil wir etwas anderes machen müssen, als in meinem deprimierenden Zimmer rumzusitzen, während wir darauf warten, dass Dr. Jacobs mit den Untersuchungsergebnissen auftaucht. Da sind wir also, kauern uns unter einer grauen Decke aus winterlichem Nieselregen zusammen und atmen die „frische Luft“ einer Stadt, in der es landesweit eine der höchsten Asthmaraten bei Kindern gibt. Mom bemüht sich nach Kräften, zu lächeln, also bemühe ich mich auch, und Dad stimmt mit ein. Wir lächeln, damit die anderen weiterlächeln. Das machen wir. Das ist unser besonderes Familientalent. Nur Jenica tippt auf ihrem Telefon herum und ist viel zu beschäftigt, um dieses Spiel so hingebungsvoll zu spielen wie wir. Wir sind Experten darin geworden, das Offensichtliche zu ignorieren – wie einen riesigen Elefanten im Wohnzimmer, über den alle hinwegsehen. Selbst wenn er uns nach draußen folgt, selbst wenn er um uns herumstampft und mit dem Rüssel trompetet, um uns auf ihn aufmerksam zu machen. Selbst wenn er schon so lange bei uns ist, dass er praktisch zur Familie gehört – unser treues Haustier.

„Guckt mal, die Narzissen“, sage ich.

„Die Gärtner machen ihre Arbeit wirklich gut“, sagt Dad. „Das Ganze wirkt gleich viel freundlicher.“

„Was hältst du davon, wenn ich dir morgen ein Eis mitbringe?“, zwitschert Mom. „Vielleicht eine dieser verrückten Sorten, die es bei Tara’s gibt. Welche hattest du da noch probiert? Curry?“

„Safran“, erwidere ich.

„Meinst du, Caleb und Stella möchten auch eins? Dann kaufe ich gleich mehrere und wir machen eine kleine Eisparty.“

„Es friert draußen“, wirft Jenica ein. „Da will niemand Eis.“

Ich verschweige, wie sehr mich selbst dieses blasse Winterlicht blendet, und dass es sich trotz der Schmerztabletten anfühlt, als würden sich Millionen winziger Schrauben durch meine Augen in mein Gehirn bohren. Ich spüre, wie sich die feuchte Luft durch meine Kleidung frisst. Ich versuche, nicht zu zittern. Niemand soll wissen, wie kalt mir ist. Ich will nicht, dass sich irgendwer noch mehr Sorgen macht als ohnehin schon.

Jemand muss etwas sagen. Jemand muss meiner armen Mutter helfen. „Hast du schon was von Stanford gehört?“, frage ich Jenica.

„Noch nicht“, antwortet sie und sieht endlich von ihrem Telefon hoch. „Es dauert wahrscheinlich noch ein paar Wochen, bis sie die Briefe verschicken. Aber ich habe ein gutes Gefühl.“

„Und wenn es nicht klappt, gibt es immer noch Berkeley, oder?“, sagt Mom. „Oder sogar die UC Davis?“

Jenica schnaubt. „Ich werde nicht an die Davis gehen. Das kann nicht dein Ernst sein, Mom.“ Ach ja, deshalb reden wir nicht.

Ich kann nicht anders: „Vergiss nicht, dass einige von uns nicht mal die Chance kriegen, überhaupt aufs College zu gehen.“

„Oh Gott!“, stößt Mom hervor.

„Mädels!“, sagt Dad warnend und legt beschützend den Arm um Mom. Sie lehnt sich mit ihrem ganzen Gewicht an ihn und vergräbt das Gesicht in seiner Brust, als würde es nicht mehr wehtun, wenn sie die Welt ausblendet.

„Tut mir leid, Mom.“ Es tut mir wirklich leid. Ich wollte sie nicht verletzen, sondern Jenica. Aber nicht mal sie hat das verdient. Sie alle leiden auch so schon mehr als genug.

Als Mom sich uns wieder zuwendet, haftet das tapfere Lächeln wieder auf ihren Lippen. „Schon gut, Liebes.“ Sie nimmt meine Hand. „Evie, du bist ja ganz kalt!“

„Ist schon gut.“

„Lasst uns wieder reingehen“, sagt Jenica. Wenigstens können wir uns darauf noch einigen.

Weder Mom noch Dad rühren sich. So elend das hier auch ist, sie wollen nicht, dass es vorbei ist. Diese kurzen Momente außerhalb meines Krankenzimmers gehören zu den wenigen Dingen, die mich noch mit ihrer Welt verbinden. Niemand spricht darüber, aber es besteht immer die Möglichkeit, dass einer dieser Ausflüge der letzte für mich ist. Meine letzte Chance, frische Luft zu atmen. Für immer. Ich glaube, ich muss kotzen.

„Alles okay?“, fragt Dad.

„Mir geht’s gut“, sage ich wieder. Wieder und wieder und wieder und wieder, auch wenn es niemals die Wahrheit sein wird. Ich verschweige den Kopfschmerz, der sich zu einer fiesen Migräne ausgewachsen hat, die stark genug ist, meinen Schmerzmittelschleier zu zerreißen.

Es regnet jetzt stärker, der Himmel verdunkelt sich. Nur Jenica bringt den Mut auf, sich umzudrehen und als Erste zurück zum Krankenhaus zu gehen.

Im Aufzug treffen wir auf Schwester Moskowitz, die uns finster entgegenblickt. „Ich hätte das niemals erlauben sollen“, sagt sie kopfschüttelnd und schiebt meine Mutter beiseite, um den Rollstuhl mit den geübten Handgriffen zu übernehmen. „Evies Zustand erlaubt es nicht, dass sie sich im Regen aufhält.“

Mom hilft mir, einen trockenen Schlafanzug anzuziehen, während die anderen auf dem Flur warten. Moskowitz misst meine Temperatur. Knapp unter 36 Grad. „Zu niedrig“, tadelt sie Mom und dreht die Heizung in meinem Zimmer auf. Ich will nur noch schlafen, und genau das ist der Moment, in dem Dr. Jacobs erscheint.

„Doktor“, sagt mein Vater und schüttelt ihm die Hand. Alle straffen die Schultern. Selbst Jenica lässt ihr Telefon sinken und hört zu.

„Ich glaube, ich habe Migräne“, sage ich.

„Es ist noch etwas zu früh für deine Schmerztabletten“, erwidert Moskowitz.

„Ist schon gut.“ Normalerweise ist Dr. Jacobs ein Erbsenzähler, was die Medikamente angeht. „Sie kann sie ruhig haben.“ Er muss schlechte Nachrichten haben.

Moskowitz gibt mir meine Pillen und wartet, bis ich sie geschluckt habe. Erst dann verlässt sie den Raum. Es ist still, bevor Dr. Jacobs seine Ansprache beginnt. Ich reiße mich zusammen. Schließe die Augen, atme tief ein – und dann bin ich weg. Das gehört zu den wenigen Dingen, die ich richtig gut kann. Jenica ist gut in der Schule, früher war ich gut im Cheerleading, heute mache ich das. Ich schweife ab. Verlasse meinen Körper, um die Szene von oben zu verfolgen. Es ist nur eine Nachricht. Eine simple Tatsache. Kein Grund, etwas zu fühlen.

Metastasen.

Ich höre das Wort aus Dr. Jacobs’ Stimme heraus. Entfernt nehme ich wahr, dass meine Mutter weint. Mein Vater stöhnt. Jenica wimmert. Aber ich stehe über allem. Behalte einen klaren Kopf. Irgendwer in der Familie muss das ja tun.

Metastasen.

Das schmutzige Wort. Das verbotene Wort. Es trennt die Kranken von den Todgeweihten. Der Ausdruck „tödlicher Verlauf“ ist aus der Mode geraten, aber im Grunde heißt es genau das. Metastasen streuen. Das bedeutet, dass der Krebs überall ist. Ich hatte schon damit gerechnet. Wir alle haben das erwartet, auch wenn niemand den Mumm hatte, es laut auszusprechen.

Als der Krebs vor einem Jahr diagnostiziert wurde, war er nur ein winziger Tumor auf meinem linken Hüftknochen. Das Ewing-Sarkom – eine seltene Krebsform, die fast ausschließlich für Jugendliche reserviert ist – hat sich in meinen Körper gestohlen, sich dort eingenistet und es sich richtig gemütlich gemacht. Doch dann fasste der Krebs einen Plan. Das liegt in seiner Natur, denn unter den Krankheiten ist er der absolute Überflieger. Wenn man ihn fortschaffen will, wird er wütend. Dann spinnen die mikroskopisch kleinen Reste, die nach einer Ektomie zurückbleiben, einen Rachefeldzug aus und kommen sogar noch stärker zurück.

Natürlich beschreibt Dr. Jacobs das in anderen Worten. Seine Version von Krebs hat eben keinen Charakter. Hinter dem Schutzschild seines Klemmbretts zieht er seine monotone Leier aus medizinischem Fachjargon ab. „Der Krebs sitzt jetzt in deinem Knochenmark“, sagt er mit eingeübter Freundlichkeit. „Wir konnten ihn nicht in Schach halten.“ Seine Stimme übertönt das Schluchzen meiner Mutter, als er ausführt, wie der Krebs in meinen Oberschenkelknochen gewandert ist, bevor er das Schiff gewechselt hat und in mein Knochenmark eingedrungen ist. Hier hat er den Knochen bis zur Nutzlosigkeit geschwächt, was wiederum dazu führte, dass ich mir vor zwei Wochen das Bein gebrochen habe. Einfach so beim Gehen. Und das alles trotz der Operation, der Bestrahlung und Chemotherapie im letzten Jahr – jeden Monat eine Woche lang, von morgens bis abends. Das alles, obwohl mein gesamtes Leben zum Stillstand gekommen ist.

Der Krebs hatte sich eine Weile dort versteckt, um seinen unsichtbaren Tanz aufzuführen, den kein Test bemerkt hatte. Bis es zu spät war. In den Monaten zwischen der ersten Diagnose und der Operation, bei der der Tumor entfernt wurde, hatte sich die Krankheit entfesselt. Und während der ambulanten Behandlungen, in den drei kurzen Wochen zwischen zwei Chemo-Zyklen hatte sie ihren Rhythmus gefunden. Meine Haare fingen wieder an zu wachsen, mein Körper erinnerte sich wieder daran, wie man aß und Muskeln aufbaute. Ich konnte sogar wieder länger als eine Minute gehen, ohne total erschöpft zu sein, und bin wieder zur Schule gegangen. Will und ich hatten unsere bewährten Dates am Freitagabend wieder aufgenommen, als wäre nichts geschehen, und ich konnte mich ihm wieder in die Arme werfen, wo ich hingehörte, und mir vormachen, es könnte für immer so bleiben. Ich fing gerade an, mich wieder gut zu fühlen, und dann ging es wieder los.

Niemand hat je von Heilung gesprochen. Nicht mal von „Remission“ war die Rede gewesen. Aber es war, als wären wir übereingekommen, an die Chance zu glauben, dass der Tumor weg wäre. Was das anging, habe ich mich selbst als oberste Rädelsführerin erkoren – schließlich war ich mal Cheerleaderin. Ich sah die Trostlosigkeit in ihren Augen – bei meinen Eltern, bei Kasey, bei Will, bei allen in der Schule, die mich als fröhlich, positiv und lebensfroh kannten. Alle wollten, dass ich ihnen versicherte, alles sei in Ordnung. Und ich wusste, dass ich ihre Hoffnung aufrechterhalten musste. Ich war verantwortlich dafür. Jedes Mal, wenn ich nach einem Chemo-Zyklu nach Hause kam, zwang ich mich zu einem Lächeln und sagte, dass ich mich großartig fühlte. Ich lernte, mich geräuschlos zu übergeben. Damals glaubten wir alle an Wunder. Das mussten wir.

Nach der Operation und der Entfernung des Tumors fühlte ich ständig einen Schmerz in der Hüfte. Aber tief im Innern wusste ich, dass dieser neue Schmerz anders war. Ich wusste, dass sich der dumpfe Heilungsschmerz in etwas Übleres verwandelt hatte, und ich war nicht überrascht, als die nächste Untersuchung bestätigte, dass der Krebs von meiner Hüfte in den Oberschenkelknochen gestreut hatte.

Mit weiteren Tests wollten sie nach der Bestrahlung noch warten. Aber ich hatte schon damals das Gefühl, dass der Krebs sich weiter und tiefer ausgebreitet hatte. Mein Körper hatte mich verraten. Noch bevor ihre Tests irgendetwas bestätigen konnten, wusste ich, dass alles in mir irgendwie infiziert war. Vor zwei Wochen wusste ich das schon, während ich mit Will um den Lake Merritt spazierte. Ich wusste, dass dieser neue Schmerz niemals weggehen würde. Aber ich wollte Will einen schönen Tag schenken, und obwohl es wehtat, lächelte ich. Das war mein Job. Also tat ich es. Ich lächelte, bis es nicht mehr ging.

Es war einer dieser magischen Wintertage in der Bay Area – die Sonne schien, der Himmel war klar und blau und die Temperatur bei 17 Grad. Sogar die sonst so aggressiven heimischen Gänse zeigten sich von ihrer besten Seite. Mütter schoben Kinderwagen vor sich her, hübsche Mädchen joggten, attraktive Männer gingen mit ihren Hunden spazieren und Will hielt meine Hand so perfekt, wie nur er es kann – nicht so fest, dass er sie zerdrückt, aber doch fest genug, dass ich weiß, er lässt mich nicht los. Neulich habe jemand einen Stachelrochen im See gesehen, erzählte er mir, und ich wollte nichts lieber, als mich mit ihm über diese Nichtigkeit zu unterhalten. Es war mir wichtig, einfach nur da zu sein. Hier und jetzt. In diesem Moment sollte nichts anderes eine Rolle spielen. Aber die Schmerzen in meinem Bein waren unerträglich. Inmitten der Schönheit des Augenblicks spürte ich, wie ich die Kontrolle über mein Bein verlor. Ich versuchte, weiterzugehen. Selbst als es so sehr schmerzte, dass ich nichts mehr sehen konnte. Ich dachte, wenn ich einfach weiterginge und so tat, als wäre alles in bester Ordnung, dann könnte ich für immer dieses fast-normale Mädchen sein – ein Mädchen, das zufälligerweise dünn und blass war und kurze Haare hatte; das humpelte, sich auf einen Stock stützte und die Hand seines niedlichen und hinreißenden Freundes hielt, mit dem es einen ganz normalen Spaziergang machte. Wie normale Pärchen das eben tun.

Doch dann stürzte ich. Ich kann das Gefühl nicht beschreiben, als mein Bein brach. Oder das Geräusch des spröden Knochens, der in mir zersplitterte. Aber obwohl mir schwarz vor Augen wurde vor Schmerz, kann ich mich aus irgendeinem Grund klar und deutlich an das Kreischen der Gänse erinnern, die sich anhörten, als würden sie sich ärgern, dass ich ihnen ihren schönen sonnigen Tag ruiniert hatte. Und an die vielen Stimmen der Schaulustigen erinnere ich mich, an all die Menschen, deren Dates sich plötzlich in etwas Seltsames verwandelt hatten. Ich erinnere mich an Wills Berührung, seine kühlen Fingerspitzen, die meine Haut sanft streiften. Es war das Einzige, das sich noch richtig anfühlte und das mir niemand nehmen konnte. Während Will den Rettungssanitätern meine Krankengeschichte erklärte, fragte ich mich, ob ein siebzehnjähriger Teenager auch nur annähernd so viel über Krebs wissen sollte wie er. Seine Stimme klang ruhig und tief, er hatte sich wie immer unter Kontrolle, doch seine Worte waren für mich nicht mehr als Geräusche. Musik, aber ohne Inhalt.

Mein linker Oberschenkelknochen war in fünf Teile gebrochen. Sie hätten das grausige Puzzle einfach so lassen und sich nicht bemühen sollen, es wieder zusammenzusetzen. Jetzt steh ich da mit einer Titaniumstange, fünf Schrauben und einem nagelneuen bionischen Bein, das höchstwahrscheinlich niemals erfahren wird, wie es sich anfühlt zu laufen. Was bringt mir das ganze schicke Metall, wenn ich in der Erde liege? Die Teile bleiben einfach übrig, vergraben und nutzlos, während sich der Rest von mir zersetzt und mit dem Erdboden vereint.

Will würde jetzt sagen, ich solle die Hoffnung nicht aufgeben. Ich bringe es nicht übers Herz, ihn über die frivole Seite der Hoffnung aufzuklären. Ihretwegen verschwenden die Menschen viel Zeit und Liebe, und von Geld will ich gar nicht anfangen. An einem Ort wie diesem sagt das natürlich niemand laut, aber es ist die Wahrheit. Was passiert, wenn ich nicht zu Kräften komme? Was soll ich denn machen, wenn ich zu müde zum Hoffen bin? Zu müde, um mir noch vorzumachen, alles würde wieder gut?

„Evie“, sagt Dad. „Hörst du zu?“

Ich kehre zurück von meinem fernen Ort in diese seltsame Welt, in der das Land der Lebenden dem Land der Toten begegnet.

„Wir sollten über die nächsten Schritte sprechen“, schlägt Dr. Jacobs vor.

„Ja“, sagt Mom.

„Ja“, sagt Dad.

Einfach weitermachen. Einfach irgendwas machen. Solange etwas geschieht, können wir uns noch an die Illusion klammern, dass alles gut wird.

„Sobald Evie sich von der Operation an ihrem Bein erholt hat, können wir mit einer noch aggressiveren Therapie aus Chemo und Bestrahlung beginnen. Natürlich braucht sie eine Knochenmarktransplantation. Stammzellentherapie. Bluttransfusionen.“

„Oh Gott“, haucht Mom. Sie hält sich die Hand vor ihre zitternden Lippen, als würde das alles hier nicht passieren, wenn sie ihre Angst versteckt.

„Wie hoch sind die Überlebenschancen?“, frage ich. „Wenn ich diese ganzen Behandlungen mache?“

Dr. Jacobs blinzelt, und für den Bruchteil einer Sekunde kann ich sehen, wie seine Zuversicht brüchig wird.

„Vier bis sieben Prozent“, antwortet er und macht dabei das ausdruckslose Gesicht, das nur sehr gute Ärzte und sehr gute Schauspieler beherrschen. „Und das ist nur die Prognose für die nächsten fünf Jahre. Wie du weißt, ist dieser bestimmte Krebs dafür bekannt, dass er wiederkommt.“

Mom weint noch heftiger. Dad seufzt und legt das Gesicht in seine Hände. Über Jenicas Wangen laufen Tränen. Die einzigen mit trockenen Augen sind der Doc und ich.

„Wann können wir anfangen?“, fragt Mom.

„Nun ja, das hängt natürlich zunächst davon ab, wie schnell Evies Bein verheilt. Und die Anzahl ihrer weißen Blutkörperchen sieht auch noch nicht vielversprechend aus. Und …“

„Nein“, sage ich.

„Was?“, meint Dad.

„Nein. Ich will es nicht machen.“

„Die klinische Studie?“, fragt Mom. „Aber wir haben doch nicht mal die Details gehört.“

„Nicht nur die klinische Studie. Ich meine alles.“

„Evie, es geht dir gerade nicht gut“, sagt Dad. „Keiner kann von dir erwarten, jetzt die richtige Entscheidung zu treffen.“

„Dad, es geht mir nie gut. Er sagt, meine Chancen liegen bei vier Prozent. Ich will das alles nicht noch einmal durchmachen, nicht für vier Prozent. Das ist es nicht wert.“

„Natürlich ist es das wert“, sagt er verärgert. Wenn es sehr emotional wird, verwandelt sich seine Traurigkeit in Wut.

„Vier bis sieben Prozent“, wendet Mom ein. „Es könnten auch sieben sein.“ Ihre Traurigkeit verwandelt sich in Verzweiflung und wird absurd.

„Oh Gott“, sagt Jenica aus der Ecke. Sie zittert am ganzen Körper. Könnte sie bitte jemand trösten? Mom, Dad, sie braucht euch auch.

„Dr. Jacobs“, sagt Dad. Sein Gesicht wird rot, und er beißt die Zähne aufeinander. „Würden Sie ihr bitte ins Gewissen reden!“

Der Doc sieht sie beide an, dann mich. Eine Weile blickt er mir fest in die Augen. Er ist auf meiner Seite, das weiß ich. „Als Arzt bin ich fast immer dafür, alles zu versuchen, was möglich ist. Allerdings ist das für eine Familie nicht immer die richtige Entscheidung. Sie sollten die Optionen sehr sorgfältig abwägen. Die Therapie ist wirklich sehr, sehr hart. Körperlich und emotional. Evie weiß das besser als sonst jemand in diesem Raum.“

Mom öffnet den Mund und schaut ihn ungläubig an. Ich glaube, Dad würde ihm am liebsten eine verpassen.

Nach einer qualvoll langen Pause sagt Dr. Jacobs schließlich: „Ich denke, Sie sollten auf Ihre Tochter hören.“

Ja. Endlich. Jemand interessiert sich dafür, was ich denke. Eine Welle der unterschiedlichsten Gefühle durchflutet mich, doch sie verschwinden so schnell wieder, dass ich kein einziges von ihnen benennen kann. Weiß ich überhaupt, was ich denke?

„Ich will eine zweite Meinung“, sagt Dad sofort.

„Das ist Ihr gutes Recht“, erwidert Dr. Jacobs. „Aber ich möchte Sie daran erinnern, dass ich der Leiter der Onkologie bin und die Diagnosen und Prognosen von einem ganzen Ärzte-Team gestellt werden. Alle waren an Evies Behandlung beteiligt. Ich fürchte, Sie werden hier keinen Arzt finden, der Ihnen etwas anderes sagt.“

„Dann gehen wir in ein anderes Krankenhaus.“

„Dad, nein“, sage ich. „Dazu kannst du mich nicht zwingen. Ich kann nicht mehr. Und ich will auch nicht, dass ihr das noch mal durchmacht.“

„Mach dir um uns keine Sorgen, Evie. Wir werden alles tun, was wir können. Koste es, was es wolle.“

„Ich weiß. Das ist ja das Problem. Manchmal muss man auch wissen, wann Schluss ist.“

Stille. Zu viel Stille. Sie ist schwer und erdrückend. Sie wird uns alle plattmachen.

Da klingelt Jenicas Telefon und klärt die Luft.

„Verdammt, Jenica!“, schreit Dad. „Schalt das verfluchte Ding aus!“

„Entschuldigung.“ Mit zittrigen Händen fummelt sie an ihrem Smartphone herum. Insgeheim bin ich dem unbekannten Anrufer dankbar.

„Könnten Sie uns eine Weile allein lassen?“, fragt Mom den Arzt leise. „Das ist doch ein bisschen viel auf einmal.“

„Sicher. Sagen Sie einfach einer Schwester Bescheid, wenn sie mich anpiepen soll, ja?“ Er legt mir die Hand auf die Schulter. „Das gilt auch für dich, Kleine. Falls du irgendwelche Fragen hast. Ich und Dan und die Schwestern und die Psychologen – wir sind alle da, um dir zu helfen.“

„Ich weiß“, sage ich. „Okay.“

„In der Zwischenzeit stelle ich ein Team für Evies Palliativversorgung zusammen. Ich werde dabei sein, Dan, ein Sozialarbeiter, ein Psychologe, ein Geistlicher, wenn Sie möchten, und eine Krankenschwester – vermutlich Schwester Moskowitz.“

„Och nee“, sage ich.

Dr. Jacobs lacht leise, und es klingt etwas böse. „Wofür Sie sich auch entscheiden, wir stehen das gemeinsam durch und sorgen dafür, dass Sie sich so gut aufgehoben fühlen wie möglich.“

„Vielen Dank, Dr. Jacobs“, sagt Mom. Dad schüttelt ihm zögerlich die Hand, dann geht der Arzt durch die Tür und wir sind uns selbst überlassen.

Bevor ein anderer die Chance dazu hat, ergreife ich das Wort: „Ich will heute Abend nicht weiter darüber sprechen.“

„Aber Evie …“

„Bitte, Dad. Ich habe Migräne. Ich bin echt müde.“

„Sie soll sich ausruhen“, sagt Mom, obwohl ich weiß, dass es ihr wehtut. Ich weiß, dass sie eigentlich Tag und Nacht bei mir sein, meine Hand halten und mit mir reden möchte. Jetzt erst recht, da sie erfahren musste, dass ihre Zeit mit mir zu Ende geht. Vermutlich sollte ich das auch so sehen. Dennoch wünsche ich mir gerade nichts mehr, als allein zu sein.

„Ihr könnt genauso gut nach Hause gehen“, sage ich. „Ich werde jetzt sowieso nur schlafen.“

„Bist du sicher?“, fragt Mom. „Ich könnte hierbleiben. Weißt du bestimmt, dass du nicht reden willst? Es gibt so viel zu verarbeiten. Es fühlt sich nicht richtig an, dich hier ganz allein zu lassen.“

„Mom“, sagt Jenica. „Sie will, dass wir gehen. Wir sollten ihre Wünsche respektieren.“ Danke, Jenica.

Einer nach dem anderen küsst mich zum Abschied, und mir fällt auf, wie gut meine Familie darin geworden ist, ihre Liebe zu dosieren. Es kostet mich meine ganze Kraft, meinen neutralen Gesichtsausdruck so lange zu wahren, bis sie zur Tür hinaus sind. Kaum hat sich die Tür hinter ihnen geschlossen, können sich meine Mundwinkel endlich entspannen. Ich drücke auf den Schwesternrufknopf, um nach einer Schlaftablette zu fragen.

Später liege ich im Bett, allein im Dunkeln, und warte darauf, dass eine andere Tablette die Schmerzen lindert. Hoffentlich tritt die Wirkung ein, bevor mich die Gefühle überfallen, die ich bis jetzt unterdrücken konnte. Wenn das Sterben etwas Tröstliches hat, dann die Tatsache, dass es nicht lange dauert, bis ich aufhören kann, so zu tun, als würde ich nicht sterben.

Und die Zeit zu sterben ist jetzt gekommen. Es ist Zeit, alle vom Haken zu lassen. Mom und Dad können ihr Leben führen, ohne ihre ganze Energie auf die falsche Tochter zu verschwenden. Kasey sollte ihre kostbare Freizeit nicht neben meinem Bett verbringen. Und Will – mein süßer, treuer, perfekter Will – er wird etwas anderes erleben als Liebe, die in einer Sackgasse endet. Er soll einen Menschen finden, mit dem er eine Zukunft hat, und nicht länger nur der Typ mit der todkranken Freundin sein. Es ist höchste Zeit, sie alle gehen zu lassen, statt sie länger mit mir in die Tiefe zu ziehen.

Die Sache ist nur: Sie verstehen nicht, dass dies kein Leben ist, sondern ein schwacher, grausamer Schatten davon. Ich bin bereit, auch wenn sie es nicht sind. Ich bin bereit, mich zu verabschieden.

3. KAPITEL

Es gibt nichts Deprimierenderes als einen Valentinstag in einem Kinderkrankenhaus. Nichts.

Trotzdem muss ich ihnen eines hoch anrechnen: Sie sind sehr darum bemüht, dass es nicht allzu ätzend ist. Alle Krankenschwestern tragen pinke Kittel mit verschiedenen herzförmigen, glitzernden Accessoires. Im Spielzimmer gibt es Millionen Bastelmaterialien, um Valentinsgeschenke zu basteln. Als wir heute Morgen aufgewacht sind, hingen an allen Türen pinke Täschchen, die mit Süßigkeiten, hübschen Stiften und anderen Kleinigkeiten gefüllt waren. Die Mutter von jemandem tauchte mit mehreren Tupperdosen voll selbst gebackener Kekse auf – mindestens zwei für jeden jungen Krebspatienten.

Die kleinen Kinder sind darüber hergefallen, und ich bin froh darüber. Es ist schön, sie lächeln zu sehen, wenn sie sich mal mit etwas anderem beschäftigen und nicht nur im Bett sitzen oder mit ihren erschöpften Familien fernsehen. Ich wünschte, ich könnte mich ihnen anschließen wie früher, aber jeder Versuch, hier drin wieder ein normales Leben aufzubauen, jedes besondere Ereignis, jede besondere Tätigkeit macht mich bloß traurig. Eigentlich sollte ich bei ihnen sein, so wie Caleb, der in Erinnerungen an seine Zeit als Assistenzlehrer an der Sonntagsschule schwelgt und Scheren und Glitzer ausgibt und die Kinder zum Lachen bringt. Doch stattdessen sitze ich im leeren Aufenthaltsraum und beobachte Stella dabei, wie sie die aktuelle Ausgabe von Seventeen verunstaltet. Dieser Akt der Zerstörung scheint eher zu meinen Gefühlen zu passen. Ich kann momentan nicht mit kranken Kindern umgehen.

Meine Eltern haben meine Entscheidung am Ende doch akzeptiert. In zwei Tagen kann ich nach Hause. Zuvor mussten Dr. Jacobs und Dan ihnen anschaulich beschreiben, welche Schmerzen und Qualen es für mich bedeuten würde, wenn wir die Behandlung fortsetzten. Wollten meine Eltern tatsächlich die geringe Chance auf ein paar Monate Lebenszeit in Kauf nehmen, obwohl diese Zeit einfach nur schrecklich für mich sein würde?

Glaubten sie wirklich daran, dass ich es schaffen könnte, oder wollten sie nur der unvermeidlichen Tatsache nicht ins Auge sehen, dass sie mich gehen lassen mussten? Dan hielt meine Mutter fest, während sie schluchzte, und sie sah in seinen großen Armen so klein aus.

Als sie sich nach einer Weile aufraffte, um Luft zu holen, konnte sie mich nicht ansehen. „Na gut“, sagte sie schließlich. Ich sah aus dem Fenster. Meine Mutter hatte mir gerade die Erlaubnis gegeben, zu sterben.

Seitdem haben wir einen neuen Frieden gefunden. Hin und wieder bricht Mom in Tränen aus, und ab und zu schwebe ich noch weit weg von allem, aber meistens gelingt es uns als Familie ganz gut, uns nicht unterkriegen zu lassen. Es war nicht so schlimm, wie ich dachte, es Stella und Caleb zu sagen. Vielleicht weil wir die Tatsache längst als Teil unserer Freundschaft akzeptiert haben, dass jederzeit einer von uns sterben kann. Wir umarmten uns und vergossen ein paar Tränen und schworen einander dann, nicht mehr darüber zu sprechen.

Schwerer war es bei Kasey, weil sie im Gegensatz zu Stella und Caleb nicht so höflich war, sich die heftigen Gefühle für später aufzuheben, und ich sie während ihres Zusammenbruchs trösten musste. Ich war diejenige, die ihr sagte, dass alles gut wird und das Leben auch ohne mich weitergeht. Das ist echt eine seltsame Situation – jemand anderen zu trösten, weil man selbst sterben wird.

Aber nichts ist schlimmer als der letzte Teil. Ich weiß nicht, wie ich Will sagen soll, dass ich das Versprechen breche, das wir uns gegeben haben – nämlich: das hier gemeinsam durchzustehen. Keine Ahnung, wie ich ihm beibringe, dass ich ihn verlassen werde und er alleine damit fertig werden muss.

„Ist dieser Dreck hier zu fassen?“, sagt Stella und hält mir ihre Zeitschrift hin. Auf der Seite ist ein knapp bekleidetes Mädchen zu sehen, das ein Mathebuch in der Hand hält und ein verwirrtes Gesicht macht. Über dem Kopf des Mädchens hat Stella eine Gedankenblase gemalt, in der steht: Bring mir nichts bei, damit ich keine Fragen stelle. „Ich kann nicht glauben, dass das legal ist. Das ist doch wie Kinderpornografie.“

„Sie ist ganz bestimmt schon achtzehn“, sage ich und bin dankbar, dass jemand das deprimierende Chaos in meinem Kopf zum Stillstand gebracht hat. Stella verdreht die Augen.

„Hey Leute“, sagt Caleb, als er mit zwei gebastelten Papierherzen durch die Tür kommt. Jeder von uns drückt er eines in die Hand und grinst dabei dämlich.

Manchmal ist es immer noch krass, ihn zu sehen, weil er so anders ist als der Rest von uns. Wir sind alle so offensichtlich krank, aber Caleb wirkt immer noch gesund. Die meiste Zeit über geht er sogar ohne Hilfe durch die Flure. Er läuft herum und bespaßt die kleinen Kinder. Meistens wirkt er überhaupt nicht krank, auf jeden Fall nicht krank genug für eine stationäre Behandlung. Doch dann verschwindet er für einen oder zwei Tage, weil er sich wegen einer Migräne nicht bewegen kann. Oder er ist auf einmal total durcheinander und vergisst, wie man spricht. Dann müssen wir eine Krankenschwester holen, die ihn wegbringt, aber er kommt immer fröhlich und voller Hoffnung zurück, selbst wenn er alles doppelt sieht oder von der Bestrahlung wunde Stellen im Mund hat. Ein Gehirntumor kann so seltsame Sachen auslösen. An einem Tag machst du deine Mathehausaufgaben und am nächsten vergisst du ganz plötzlich deinen eigenen Namen. Dann kriegst du einen Anfall und landest schließlich hier, wo die Ärzte einen Tumor von der Größe eines Tischtennisballs in deinem Kopf finden.

Als Caleb sechs Jahre alt war, wurde sein Hirntumor „geheilt“. Ganze neun Jahre glaubte er, es geschafft zu haben. Er hatte neun Jahre, um zu vergessen, wie es sich anfühlt, krank zu sein. Um die Angst zu vergessen. Neun Jahre, ein normales Leben zu leben. Er hatte neun Jahre, in denen er dankbar sein konnte; in denen er glauben konnte, dass jeder Tag ein Wunder war. Doch mit fünfzehn – nach dem ersten Halbjahr an der Highschool, nur eine Woche nachdem er eine Rolle im Schulmusical bekommen hatte – stellte er fest, dass Gott einen Fehler gemacht hatte. Er hatte die Heilung zurückgenommen. Und trotzdem glaubt Caleb noch immer an Gott, jetzt mehr denn je.

Das Herz, das Caleb für mich gebastelt hat, klebt auf einem weißen Spitzendeckchen und ist von mehreren glitzernden Herzaufklebern übersät. Offensichtlich hatte er leichte Schwierigkeiten mit einem Klumpen Pailletten. In sauberer violetter Kursivschrift steht darauf: Für Evie. Dein Caleb.

„Glitzer“, sagt Stella ernst. „Der Herpes der Bastelwelt.“ Sie beugt sich zu mir rüber, sieht sich mein Herz an und schaut dann wieder auf ihr eigenes. „Moment mal“, sagt sie. „Warum steht auf Evies Herz ‚Dein Caleb‘ und auf meinem einfach nur ‚Von Caleb‘?“

Caleb errötet und guckt weg, bevor er zum Fernseher eilt und scheinbar schwer beschäftigt ein Videospiel startet. Ich warte darauf, dass Stella weiterspricht, um ihn noch mehr bloßzustellen, doch sie guckt nur zu mir herüber, lächelt traurig und widmet sich dann wieder ihrer Zeitschrift.

„Seid ihr drei zu cool, um mit den anderen abzuhängen?“, fragt Dan, als er das Zimmer betritt. Er muss den Kopf leicht einziehen, wenn er durch den Türrahmen geht, und um ein Haar hätte er einige der pinken Herzen abgerissen, die an einer Girlande dort befestigt wurden. Wie er aussieht, sollte er lieber in einem NBA-Team Basketball spielen, als hier mit uns rumzuhängen. Er will uns nicht verraten, wie groß er genau ist, aber ich weiß, dass es über zwei Meter sind.

„Hi Danimal“, gurrt Stella und winkt ihm albern mit den Fingern zu. Dan verdreht die Augen.

„Evie, meine Freundin“, sagt er und setzt sich auf einen Stuhl neben mich. „Wie geht’s dir?“

„Ganz okay.“

„Ich will schon den ganzen Tag herkommen, um nach dir zu sehen, aber heute Morgen sind zwei Kinder operiert worden, und die brauchten mich.“

„Schon okay.“

„Du weißt ja, dass es auch okay ist, wenn nicht alles okay ist, nicht wahr?“, fragt er leise. Als hätten wir in diesem winzigen Raum mehr Privatsphäre, wenn er die Stimme senkt. „Du könntest es mir sagen.“

„Ich weiß.“ Muss er das wirklich vor Caleb und Stella machen?

„Na gut“, sagt er, aber ich weiß, dass er mir nicht glaubt. „Ich bin dann mal weg für heute. Morgen komme ich wieder vorbei und sehe nach dir. Versprochen. Braucht ihr noch irgendwas? Caleb? Alles okay da drüben?“

Caleb starrt auf die Fernbedienung in seiner Hand und wirkt unschlüssig, wie sie da hingekommen ist. Nach ein paar Sekunden blickt er auf und lächelt. „Hi Dan“, sagt er, als hätte er ihn eben erst bemerkt.

„Meine Schultern sind so verspannt, Big Dan“, sagt Stella. „Kann ich eine Massage kriegen?“

„Gute Nacht, Miss Hsu“, erwidert er. Stella lacht laut los und ich kichere auch ein bisschen. Sie kommt nur deshalb mit so was davon, weil sie Stella ist.

„Es macht so einen Spaß, mit ihm zu flirten“, sagt sie, nachdem er gegangen ist.

„Das solltest du mal meiner Schwester verraten“, schlage ich vor. „Sie liebt ihn.“

„Deine Schwester“, beginnt Stella und macht dann eine dramatische Pause, „hat einen riesigen Stock im Arsch. Und zwar keinen von der angenehmen Sorte.“

Ich mag es, wie vulgär Stella sein kann, und dass sie alles Mögliche sagt, um andere zu einer Reaktion zu zwingen. Mit ihr und Caleb zusammen zu sein ist das Einzige, was mein neues Todesurteil erträglich macht. Sie sind die Einzigen, die nicht darüber reden müssen.

Caleb gibt beim Videospiel auf und legt die Fernbedienung weg. „Ich kapier das nicht“, sagt er und kratzt sich die schuppige Haut hinter dem Ohr. „Warum willst du mit Dan flirten, wenn du lesbisch bist?“

„Oh Gott!“, ruft Stella in gespieltem Entsetzen. „Ich bin so was von nicht lesbisch. Lesben stricken, haben zehn Katzen und trinken Kräutertee. Nur weil ich mit ein paar Mädels rumgemacht habe, brauchen wir mich noch lange nicht abstempeln. Und falls du es vergessen hast: Ich habe einen Freund.“

„Ja, aber war er nicht …?“ Caleb bricht mitten im Satz ab, denn Stella wirft ihm einen Blick zu, der mehr als deutlich macht, dass sie nicht daran interessiert ist, den Rest der Frage zu hören.

„Dann bist du bisexuell?“, frage ich.

„Ich bin einfach nur Stella.“ Sie grinst und tippt sich vielsagend an den Hut. Ende der Geschichte.

Eine Freundschaft wie unsere gibt es nur auf einer Kinderkrebsstation. Wenn du so krank bist wie wir, kommt es nicht mehr darauf an, wie du dich der Welt präsentierst. Wenn man stundenlang nebeneinandersitzt und Bluttransfusionen kriegt, interessiert es niemanden, was für Hobbys der andere hat oder wie man sich anzieht. Wenn du deinem Freund über den Rücken streichelst, während er in eine Bettpfanne kotzt, denkst du nicht mehr daran, cool sein zu müssen.

Plötzlich wird mir klar, dass ich mich auch von ihnen verabschieden muss. Nicht nur von der Welt der Gesunden. Auch von dieser. Ich verlasse auch meine kranke Welt.

„Ich bin müde“, sage ich. „Ich lege mich ein bisschen hin, bevor meine Eltern und Jenica kommen.“

„Soll ich dich zurück in dein Zimmer schieben?“, fragt Caleb.

„Gerne. Danke.“

„Ich komme auch mit“, meint Stella. „Vielleicht schläft meine Bettnachbarin ja gerade und ich kann Telefonsex mit Cole haben.“

„Bah“, sagen Caleb und ich gleichzeitig.

Ich will einfach nur einschlafen, bevor ich anfange zu weinen. Ich habe Angst, dass ich nie wieder aufhöre, wenn ich einmal damit anfange.

Das Zweittraurigste nach dem Valentinstag in einem Kinderkrankenhaus sind Valentinstagsgeschenke von den eigenen Eltern. Der weiße Stoffhund, den meine Eltern mitbringen, hat ein Herz im Maul, auf dem steht: Du bist wow. Er sitzt jetzt neben dem Wasserkrug aus Kunststoff auf meinem Nachtschränkchen und hat ein teuflisches Grinsen auf seiner kleinen Hundeschnauze. Seine wachsamen Augen sagen: „Keine Romantik für dich, Fräulein Krebs.“

Weiß der weiße Hund, dass heute mein zweijähriger Jahrestag mit Will ist? Heute vor genau zwei Jahren hatten wir unser erstes Date – Burger bei Barney’s und Casablanca im Arthouse-Kino in der Telegraph. Er küsste mich zum ersten Mal, als Ilsa zu Humphrey Bogart sagte: „Küss mich. Küss mich, als wäre es das letzte Mal.“ Das Kino zeigt den Film jedes Jahr am Valentinstag und wir waren auch letztes Jahr dort, kurz vor meiner ersten Diagnose. Wir wollten es zu unserem Ritual machen. Wir hatten für heute Abend schon alles geplant – die gleichen Burger, der gleiche Film –, aber das war bevor mein Bein zersplitterte und ich mal wieder hier gelandet bin. Und jetzt ist die Besuchszeit um.

Ich liege hier, seit meine Eltern und Jenica gegangen sind. Sogar Kasey war da, ist aber schnell wieder gegangen, um sich mit einem Jungen zu treffen, den sie vor Kurzem kennengelernt hat. Mir ist nicht entgangen, dass sie nicht über ihre Pläne sprechen wollte oder über das Leben, das außerhalb dieser Wände weiterging, während meins kurz vor dem Aus stand. Schließlich habe ich ihr die Informationen geradezu aus der Nase ziehen müssen, und sie konnte mir nicht in die Augen sehen, während sie mir davon berichtete.

Meine Lieblingsnachtschwester, Suzanne, hat heute Dienst und kommt in regelmäßigen Abständen herein, um nachzusehen, ob ich etwas brauche oder mit dem Seelsorger sprechen möchte, der heute Rufdienst hat. Alle versuchen mich zum Reden zu zwingen. Das ist jetzt wohl Teil meines Behandlungsplans. Wahrscheinlich poppen jedes Mal große, blinkende rote Buchstaben auf, wenn jemand meine Krankenakte im Computer öffnet: Bringt sie dazu, über ihre Gefühle zu sprechen!!! Aber mir ist nicht nach reden. Was bringt es, immer wieder die gleiche Unterhaltung zu führen? Was bringt es zu reden, wenn es nichts ändert?

Immerhin habe ich Suzanne gesagt, dass mir das Bein wehtut. Denn wenigstens kann ich über die Schmerzen sprechen, die sich mit Medikamenten ausschalten lassen. Es heißt, sie wollen mich auf eine patientengesteuerte Schmerztherapie setzen, mit der ich selbst die Kontrolle über meine Schmerzmittel hätte – ein Knopfdruck und fertig. Aber noch ist niemand bereit, das Ganze anzuleiern. Sobald das geschieht, ist es nämlich vorbei. Dann gibt es keinen Weg zurück.

Ich höre ein Klopfen an der Tür. „Abendessen“, ruft Suzanne von der anderen Seite.

„Ich habe schon gegessen“, antworte ich.

„Es ist ein besonderer Leckerbissen“, sagt sie. „Mach die Augen zu.“

„Ich habe keinen Hunger.“

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