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Agata und das zauberhafte Geschenk

Als Buch hier erhältlich:

Jedes Weihnachtsfest braucht sein eigenes Wunder

Draußen ist es kalt, Weihnachten steht vor der Tür und der Dorfpfarrer Don Bruno platzt mit einem Bündel im Arm bei Agata herein: Es ist ein Neugeborenes, das er verlassen in der Kälte an einer Straßenecke gefunden hat. Das Mädchen wird von Agata und ihren Freunden liebevoll umsorgt. Die Weihnachtstage verwandeln sich in ein Karussell aus Lachen, Tränen, Vergnügungen, aber auch aus Ängsten und Zweifeln: Wer ist die Frau, die ihr Kind der Kälte überlassen konnte? Ist ihr etwas zugestoßen? Was sollen sie mit diesem Kindchen machen, das bereits die Herzen von mindestens sieben Müttern und fünf Vätern gewonnen hat?


  • Erscheinungstag: 23.09.2025
  • Seitenanzahl: 352
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365008928

Leseprobe

1

Von hier oben, von der Kuppe des Hügels wirkt das Dorf wie ein Haufen Bauklötze in der Hand Gottes, dachte sie. Andere sagten, dieses Dorf sähe aus wie eine Weihnachtskrippe, und vielleicht hatten sie damit recht, aber eine Krippe ist es nur im Dunkeln, sagte sie sich, wenn das Licht der Straßenlaternen die Mauern in eine keksgoldene Farbe taucht und die Hässlichkeiten der Moderne verbirgt.

Es war Heiligabend, und es war eiskalt. Nun fing es sogar an zu nieseln, und sie war ohne Schirm und ohne Mantel hinausgelaufen; im letzten Moment hatte sie einen Schal gegriffen und sich darin eingewickelt wie eine alte Frau, die in dem Schwarz und den Fransen völlig verschwand. Sie wollte nicht erkannt werden, wollte weg von den Festessen und Familientreffen, von den Feierlichkeiten, Umarmungen, der Schalmeienmusik, den Geschenken in Glitzerpapier, dem frohe frohe frohe Weihnachten, das den Ritus der – ernst gemeinten oder vorgeschobenen – Liebesbezeugungen erneuerte, denn es ist doch Weihnachten und so gehört es sich. Sie wollte das alles nicht.

Deshalb war sie hier hinaufgestiegen, über steile Pfade, hatte die Einkaufsstraßen gemieden, die Horde der Auf-den-letzten-Drücker-Käufer, die den Gabentisch noch ordentlich mit Glitzerkram bestückten. Sie wollte weder Lichter noch Glitzer, sondern nur diese atemberaubende Aussicht, auf die verstreuten Häuser am Hang und auf das schwarze Meer im Hintergrund, auf die unzähligen Lichter der Küste, als gäbe es dort eine Metropole, doch da war keine Metropole, sondern nur eine Industrieruine, die das Dunkel mit blauen, rubinroten, smaragdgrünen und goldenen Punkten durchbohrte und in ein Märchenreich verwandelte.

Agata zog den Schal fester um sich. Der Nordwind ließ den Regen wie Nadelspitzen auf ihr Gesicht prasseln. Sie sollte nach Hause gehen, doch sie blieb und betrachtete in der Ferne die Provinzstraße mit der langen Autoschlange der Heimkehrer: Alle fuhren nach Hause, selbst vom Kontinent kamen sie und aus den entlegensten Ecken Siziliens, denn am Weihnachtsfest ist Einsamkeit nicht erlaubt.

»Wenn’s sein muss, hol ich dich mit Gewalt«, hatte Toni Scianna gesagt, ihr bester Freund. Einst war er von ihr verzaubert gewesen, nun jedoch war er wie verrückt in Violante verliebt, seine blutjunge Ehefrau, die ihm erst kürzlich einen zweiten Sohn geboren hatte. »Wir treffen uns alle bei mir. Da dürfen Sie einfach nicht fehlen, Bürgermeisterin.«

Bürgermeisterin … So nannte er sie, wenn er einem Gespräch einen offiziellen Ton verleihen oder eine trügerische Distanz herstellen wollte, mit der sie im Rathaus Schulter an Schulter arbeiteten, sie als Bürgermeisterin, er als Stadtrat für Öffentlichkeitsarbeit und ihr Stellvertreter. Er war der Mann, dem sie so sehr vertraute, dass sie im Notfall sogar ihr Leben in seine Hände legen würde.

»Was sagen Sie?«, drängte er.

»Wir feiern morgen, Professore«, erwiderte sie müde.

»Aber auch heute Abend, Bürgermeisterin!« Es war mehr ein Befehl als eine Bitte.

Sie schüttelte den Kopf. »Ich will allein sein, Toni.«

»Aber warum?« Er war wütend.

Sie hatte ihm nicht geantwortet. Was hätte sie ihm auch sagen sollen? Andrea fehlt mir? Ich kann ohne ihn nicht leben?

Sie wäre sich dumm vorgekommen. Sentimental.

Sie sah zum Haus des Freundes. Es funkelte wie ein Weihnachtsbaum. Diese Überfülle hätte der alte Scianna gehasst, der neue hingegen bestaunte sie genauso fasziniert wie sein Sohn Francesco, ein Knirps von gerade einmal zwei Jahren, der bereits flink durch die Gegend flitzte und unaufhörlich plapperte.

Seit er Violante geheiratete hatte, war Toni ein anderer: Vom besserwisserischen Latein- und Griechischlehrer, Weiberheld, Dichter im Verborgenen, der einst mit Dante und zuletzt auch mit Gott diskutiert hatte, war wenig geblieben. Jetzt schien er sich in einem Zustand ständiger Aufregung zu befinden, und auf ihre diesbezügliche Feststellung hatte er die Arme ausgebreitet und gesagt: »Stimmt. Violante macht mich ganz wuschig. Sie steckt so voller Energie, dass ich neben ihr wieder zwanzig bin oder fünfzehn oder zehn, und manchmal kommt es mir vor, als wäre ich wieder der kleine Junge, den schon ein Lutscher glücklich macht.«

Genervt schüttelte Agata den Kopf. Bist du eifersüchtig auf sein Glück?, fragte sie sich. Und wieder fühlte sie sich töricht. Und traurig. Und betrübt. Und einsam in dieser Dunkelheit und dieser Stille, in dieser Nieselschönheit, die die entfernten Lichter durchfurchte und mit Traurigkeit tränkte.

Agata wollte weinen, doch die Tränen kamen nicht.

Die Uhr am Turm begann zu schlagen. Acht Schläge, die in der kristallklaren Luft noch schärfer klagen.

»Um acht Uhr bei mir«, hatte Toni gesagt.

Und tatsächlich klopften zwei Gäste überpünktlich an seine Tür. Selbst von hier oben erkannte sie Lisabetta an ihren üppigen Locken, die der Wind wie die Schlangen eines Gorgonenhauptes bewegte. Für einen Moment sah Agata sie mit den Augen anderer Leute, dieses Weib, das mit ihren Kräutermischungen selbst Tote wiedererwecken konnte, so hieß es im Dorf; doch statt Angst zu haben oder ehrfürchtigen Respekt zu empfinden, bewunderte Agata sie umso mehr. An ihrem Arm ging Peppino Grimaldi, der Arzt, über den selbst die schlimmsten Giftzungen nur Gutes sagen konnten.

Anfangs, als Grimaldi und Lisabetta ihre Verlobung bekannt gegeben hatten, waren die Leute äußerst verwundert gewesen: Wie jetzt? Der Dottore vertraut der Megäre? Der Mann der Wissenschaft verbürgt sich für ihr Hexengebräu?

Doch wurden alle eines Besseren belehrt, denn der Doktor und die Megäre gaben ein hervorragendes Paar ab, selbst bei der Ausübung ihrer Berufe, denn dort, wo sie mit ihren Heilkräutern nicht weiterkam, übernahm er mit seinen Pharmazeutika, und noch nie waren Kranke so schnell von ihren Wehwehchen geheilt worden.

Auch Lisabetta hatte sie gedrängt, am heutigen Abend mit den Freunden zu feiern: »Schwes, ich will nicht, das du allein bleibst.«

Schwes, Schwester, so nannten sie sich gegenseitig, denn das waren sie – die beiden Einzelkinder – füreinander wirklich geworden: die Schwester, die die andere nie gehabt hatte.

»Ich muss was erledigen«, hatte Agata geantwortet.

»Wie? Ausgerechnet an Heiligabend? Kommt gar nicht in Frage.«

»Bitte, Lisa, versteh doch …« Ihre Stimme hatte versagt, und Lisa hatte aufgegeben.

»Andrea, wo bist du?«, murmelte Agata und blickte in die Ferne zum Meer.

Als Antwort ertönte ein Klagelied, gespielt von vorbeiziehenden Musikanten, und steigerte ihre Traurigkeit noch.

Agata sah zur Kaserne. Verschlossen und dunkel, nicht ein Fitzelchen erinnerte daran, dass Weihnachten war und man froh sein musste. Besser gesagt, glücklich. Ist es nicht so, Maresciallo?

Ein Kloß verschloss ihr die Kehle. Sie schob den Schal vom Kopf, damit der Wind ihre trübsinnigen Gedanken forttrug. Alles wollte sie vergessen: dass sie die Bürgermeisterin dieses Dorfes war, das sich durch »Poesieschüsse« tatsächlich veränderte – indem es vor allem der Jugend Kultur einflößte –, dass sie die Tabbacchera war, die seit vier Jahren jeden Morgen aufstand und dabei an den toten Ehemann dachte, an Costanzo Di Dio, dem sie am Grab »nie endende Liebe« geschworen hatte, und nie war nun einmal ein bindendes Wort.

Und doch hatte sie sich in den Maresciallo verliebt, ganz langsam: Ein angedeuteter Gruß an einem Tag, ein höfliches Lächeln an einem anderen, dann die Bitte um einen Rat bei einer Sache, die er, der Neuling vom Kontinent, nicht lösen konnte, später ein Buch als Geschenk: »Das müssen Sie lesen, Signora. Es wird Ihnen gefallen.« Und so war aus ihnen Andrea und Agata geworden: Verschwunden war der Maresciallo, verschwunden die Tabbacchera, außer im Scherz oder wenn die Bürgermeisterin sich ganz offiziell an den Maresciallo wandte und sie gemeinsam gegen das organisierte Verbrechen kämpften, das dieses Land wie eine Quecke besiedelte. Er war an ihrer Seite, rücksichtsvoll, hilfsbereit, höflich, nie ein Wort zu viel, nie eine ungebührliche Geste, und doch überkam beide die Glut des Begehrens, und Agata spürte sie, spürte sie in jeder zurückgehaltenen Handbewegung, in jedem unvermittelt abgebrochenen Satz. Andrea Locatelli wusste, dass sie Witwe war und respektierte sie.

Im Laufe der Zeit hatten sie es sich angewöhnt, kurze SMS hin- und herzuschicken, meist poetische Verse, die ihnen wichtig waren. Er hatte angefangen: »Frage uns nicht nach der weltenöffnenden Formel …« Sie hatte sofort geantwortet: »… such nach der Silbe, die knorrig und dürr ist wie Reisig …«

Ein wunderschönes Spiel, das sie einander noch näher gebracht hatte, und das zu einem E-Mail-Wechsel wurde, in dem sie sich ihre Geschichten erzählten.

So erfuhr sie von seiner Kindheit in Turin, seiner Vorstellung von Gerechtigkeit, die er zusammen mit der Milch seiner Mutter eingesaugt hatte, einer eisernen Richterin, die ihm die grundlegenden Prinzipien der Verfassung in Reimform eingebläut und ihm beigebracht hatte, dass das Recht über allem steht.

»Wie hätte ich da nicht Bulle werden sollen?«, schrieb er ihr eines Tages.

Sie wiederum hatte ihm von dem über alles geliebten Vater erzählt, der auch zur Mutter wurde, als diese starb.

Und so hatten sie weitergemacht.

Bis eines Tages plötzlich der eine auf der anderen lag, und dieser eine lange Kuss sie völlig verwirrte.

»Ich liebe dich, Agata«, hatte er gemurmelt.

Und sie liebte ihn, wusste er das etwa nicht? Aber sie war so dumm gewesen zu erstarren, auf Abstand zu gehen, weil sie dem toten Gatten die Treue halten wollte: Wenn ihr Herz raste, nur Geduld, der Körper würde ihr schon noch gehorchen.

Und ihr Körper hatte gehorcht: Hölzern und immer auf der Hut war er, sodass zwischen Agata und Andrea eine Verlegenheit entstand, die die nachfolgende Zeit vergiftete, weswegen sie sich wieder mit vorsichtiger Höflichkeit behandelten, so als wollten sie kein wertvolles Kristall zerschlagen und alles dafür taten, dass dies auch ja nicht passierte. Eine Vorsicht, die das Einvernehmen und das Vertrauen tiefgefror.

Und dann war er gegangen. Einfach so. Von einem Tag auf den anderen. Er hatte seine Rückkehr nach Turin beantragt, und man hatte sie ihm bewilligt.

Schluss. Aus. Ende der Geschichte, hatte Agata sich gesagt und gedacht, dass es so das Beste sei: Sie allein, Costanzo treu, und er lebt sein Leben bei seinen Leuten.

Stattdessen hatte sich Jammer breitgemacht, ein Schmerz aus Vermissen und Begehren, über nicht mehr geteilte Worte, sie wartete, dass er käme und mit ihr spräche, sie sehnte sich nach dem Händedruck, der am Morgen oder am Abend die Freude des Zusammentreffens offenbarte, ihr fehlte der Vormittagskaffee, den sie unter einem Vorwand zusammen im Rathaus tranken, ihr fehlte der Austausch von Blicken, mit denen sie sich das gestanden, was sie mit Worten niemals hätten ausdrücken können.

Die Erinnerungen daran verschlimmerten ihren Schmerz: Ein Köter schlug seine Zähne in das zarte Fleisch ihres Herzens, das alle Schutzschilder und Verteidigungswälle niedergerissen hatte und wie ein Vögelchen im spitzzähnigen Maul des Hundes flatterte.

»Genug!«, sagte sie sich.

Sie drehte der Aussicht den Rücken zu und begann mit dem Abstieg.

War der Aufstieg auch anstrengend gewesen, so »helfen beim Abstieg alle Heiligen«, hatte ihr Vater immer gesagt.

Dieses Mal jedoch nicht. Der Regen verwandelte sich in Schneetreiben, das den Weg rutschig machte. Daher musste sie sich langsam an den Mauern entlangtasten und sich bei jeder Stufe festhalten wie eine alte Frau.

So, mit unsicherem Schritt und eingehüllt in den Schal, hätte in dieser Alten wirklich niemand die herrliche Tabbacchera erkannt, die immer von den begehrlichen Blicken aller Männer verschlungen wurde. Denn Agata war überaus schön: groß, schlank, ein üppiger, heller Busen, runde Hüften, leuchtende azurblaue Augen, mädchenhafte Haut und schwarze Haare, die in langen Wellen auf ihre Schultern herabfielen.

Gleich nach Costanzos Tod waren die Verehrer über sie hergefallen wie Raubvögel über ein Lamm, aber dort, wo sie dachten, Weichheit vorzufinden, waren sie auf die Stahlhärte eines Panzers gestoßen: Uneinnehmbar war diese Tabbacchera, gepanzert durch ihre Witwenschaft, die keine Eindringlinge duldete.

Die Gehässigen lästerten, dass sie ihrer Schönheit künstlich nachhalf: Denn wie konnte man mit siebenunddreißig Jahren noch so schön sein?

»Wie erklärt ihr euch denn sonst so eine?«, fragte die neue Zeitungsverkäuferin, eine Klatschbase aus Syrakus, schnatternd wie ein Papagei.

»Das werden die Kräuter der Megäre sein«, antwortete der Automechaniker, der ebenfalls von auswärts kam und daher nicht dieser Frau verfallen war, die von viel zu vielen geliebt wurde.

»Aber die Megäre wird sich doch auch ihren Matsch ins Gesicht klatschen, oder?«, erwiderte die Zeitungsfrau. »Und ihr sieht man ganz deutlich an, wie die Jahre vergehen!«

»Wollen Sie damit sagen, dass die Tabbacchera einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hat?«

»Natürlich! Ein Teufel mit Vornamen Plastischer und Nachnamen Chirurg«, und damit lachte sie sich kaputt.

»Und warum sollte sie das bitte tun?«, mischte sich Roberto Mancuso ein, der sich für die Tabbacchera hätte vierteilen lassen.

»Junge, dieses Weib ist einfach viel zu schön«, antwortete der Mechaniker mit leiser Stimme, um nicht die Zeitungshändlerin zu verärgern, hinter der er her war. »Oder glaubst du etwa, die Schönen tun nichts, um das Geschenk der Schönheit zu behalten, das die verräterische Zeit ihnen mit scharfen Krallen raubt?«

»Die Zeit erweist der Tabbacchera die Ehre«, schnitt Roberto ihm das Wort ab. Dann wandte er sich an Agata, die gerade dazukam: »Signora Tabbacchera, es heißt, dass Sie einen Pakt mit dem Teufel geschlossen haben, um so frisch und jung zu bleiben. Geben Sie das zu?«

»Aber selbstverständlichst!«

Sie brachen in Gelächter aus. Dann sagte Agata: »Los, Roberto, beeilen wir uns. Wir müssen neuen Tabak bestellen.« Aber schon verdüsterte sich ihr Blick. Dieses Gerede tat ihr nicht gut, ganz und gar nicht gut.

Und während der Junge – der mittlerweile die Leitung des Tabakladens übernommen hatte und ihn mit der gleichen Leidenschaft wie Costanzo führte – die Bestellung von Zigarren und Zigarillos vorbereitete, stellte sie sich vor den Spiegel und musterte sich: Also sehen die anderen diese Merkwürdigkeit auch, sagte sie sich, also sehe nicht nur ich mich so.

Es war, als ob das Alter ihr aus dem Weg ging, als ob die Zellen, aus denen sie bestand, sich nicht im verlangsamenden Rhythmus des Älterwerdens erneuerten, sondern sich weiter mit der Euphorie der Jugend teilten und sie immer noch wie ein junges Mädchen aussehen ließen.

Aus einer Seitengasse tauchten plötzlich zwei Personen auf. Agata erkannte sie sofort, es waren Sarino Motta und seine Ehefrau Franca Cortese, Robertos Mutter.

Rasch drückte Agata sich in eine Nische zwischen zwei Mauern: Schal oder nicht, Franca hätte sie auf jeden Fall erkannt. Sie war Schneiderin und es gewohnt, alle zu vermessen. Sie brauchte den Menschen nicht ins Gesicht zu sehen, um sie zu erkennen: Taillen-, Hüft- und Brustumfang, Schulterbreite, Länge von Schulter zu Ellenbogen, von Ellenbogen zu Handgelenk, Schenkellänge: Sie hatte die Maße von allen im Kopf und irrte sich nie.

Die beiden waren wie ein verliebtes Pärchen, obwohl sie erst in spätem Alter geheiratet hatten, nachdem Franca – sie war Witwe geworden, als Roberto erst vier war – der Beharrlichkeit dieses Mannes nach zwanzig Jahren nachgegeben hatte, der wie ein steter Tropfen, langsam und unerbittlich, den Stein ihrer Ablehnung durch rastlose Verehrung gehöhlt und schließlich das große Glück der Ehe mit ihr erlangt hatte. Mit einer Hand umfasste Sarino ihre Taille, in der anderen Hand hielt er einen großen Korb mit gefüllten Fladenbroten frisch aus dem Ofen, die verführerisch nach Kartoffeln, Brokkoli, Paprika und Würsten dufteten. Vier Hunde lauerten schon in dieser Duftwolke, vier hungrige Streuner, die knurrend die Zähne fletschten: Doch statt sie mit Fußtritten zu vertreiben, holte Sarino eins der Fladenbrote aus dem Korb und zerbröselte es an einer Hausecke. »Kommt, auch für euch ist heute Weihnachten«, sagte er.

Tränen stiegen Agata in die Augen.

Raubein nannten die Leute den Bauern Motta, der mehr den Umgang mit dem Vieh auf seinem Land gewohnt war als den mit Menschen und den Franca Cortese zunehmend in einen Mann verwandelte, der sich in Gesellschaft sogar anständig benahm.

Das Fladenbrot verschwand in den vier Mäulern, die Hunde bettelten jaulend um mehr. Sarino sah Franca an, die nickte und sagte: »Aber dann ist genug«, und schon riss er ein zweites auseinander, »denn was bringen wir sonst dem Professore mit?«

Eng aneinandergeschmiegt gingen sie weiter, als eine Stimme rief: »Franca! Sarino! Wartet auf uns.«

Agata drückte sich noch weiter in die Nische, gerade noch rechtzeitig, denn fast hätte ein anderes Pärchen sie gestreift: Carmine Acquaforte und seine Frau Luisa, auch sie auf dem Weg zu Scianna, auch sie mit einem Mitbringsel in der Hand.

Sie hörte, wie Carmine sagte: »Verdammt, Franca, jetzt habe ich deinetwegen eine Wette verloren!«

Sie hörte, wie Luisa lachte und hinzufügte, dass sie sich absolut sicher gewesen war, dass Franca gefüllte Fladenbrote backen würde, auch wenn Toni befohlen hatte: »Ihr bringt nichts mit, es gibt genug zu essen für ein ganzes Regiment!«

»Ja, habt ihr etwa geglaubt, dass Franca Cortese mit leeren Händen kommt?«, fragte Luisa.

»Und habt ihr etwa geglaubt, dass Franca Cortese«, Sarino zwinkerte, »sich mit Fladenbroten begnügen würde?«

»Was hast du noch gemacht?«, fragte Carmine.

»Zimtgelee.«

»Geil!«

Berühmt war dieses Gelee »auf der Insel und außerhalb der Insel«, um es mit Mottas Worten zu sagen, dem glühendsten Verehrer von Francas Kochkünsten.

»Ich hab ein paar Flaschen Nero d’Avola mitgebracht«, erwiderte Carmine. »Den Guten, für besondere Anlässe. Damit kann man nichts falsch machen.«

»Hast du etwa«, fragte Franca, »einen Wein der ersten Liga und einen der zweiten?«

»Du etwa nicht?«

Sarino flüsterte etwas, das alle zum Lachen brachte.

Agata fühlte sich wie eine Diebin, die das Leben der anderen plündert, um ihrem eigenen einen Sinn zu geben. Sie stellte sich die Freunde zu Hause in ihrer Privatsphäre mit all den kleinen vertrauten Gesten vor: Sie steht am Herd, er deckt den Tisch, sie fällt müde ins Bett, er massiert ihr die Füße, sie erzählt von dem Mal, als sie als Kind … er erinnert sich an eine ähnliche Situation, sie kuschelt sich im Bett an ihn, er schlängelt sich zwischen ihre Schenkel …

Am Ende der Gasse ertönte derweil ein altes sizilianisches Weihnachtslied: »’Na rutta c’è friddu, ci cari lu jelu, c’è u Re do Celu, si chiama Gesù …« Ein paar Sackpfeifenspieler sangen von Kälte und Eis in der Grotte, dem Himmelskönig Jesus, von Hirten, die sich aufmachen, die nicht schlafen sollen, denn das Jesuskind sei geboren. Besser gesagt: Einer sang und die anderen spielten.

Schon wurde es lebendig auf der Straße, Türen und Fenster gingen auf, manch einer stimmte in den Gesang mit ein, Grüße zogen von Haus zu Haus wie ein Band: »Wir sehen uns später in der Kirche …«.

»Aber seid pünktlich.«

»Vergiss die Blumen nicht.«

»Die habe ich schon in die Sakristei gebracht …«

Sackpfeifen und Handtrommeln, Freude über eine Feuerschale, die irgendjemand auf die Straße zerrte, und von der sofort durch den Wind lange, lebendige Funken aufstoben.

Lisabetta behauptete, dass man aus diesem explodierenden Gewirr das Schicksal herauslesen kann. Sie sagte es natürlich im Scherz, denn das Schicksal bedient sich nicht eines entzifferbaren Codes, um irgendjemandem mitzuteilen: Hör mal, morgen lasse ich eine Blume des Glücks in deiner Brust erblühen, oder: Morgen werden deine Augen nicht genug weinen können über das Unglück, das ich in deinem Herzen ausschütten werde. Das Schicksal lässt dich nicht wissen, ob du morgen glücklich oder unglücklich, lebendig oder tot sein wirst, denn es interessiert sich nicht für die Dinge des Lebens und des Todes.

›Was für törichte Gedanken‹, sagte Agata sich, doch umso mehr wurde sie von den Funken angezogen, die der Wind aus den Kohlen hochwirbelte, von diesem verrückten Lichterspiel, das ihr vorkam wie der Wink eines schicksalhaften Grenzbeamten, der die Trauer abweist und nur das Leben passieren lässt.

Eine Glücksvision, die jedoch nur ein paar Momente andauerte. Denn schon wurde die Feuerschale wieder ins Haus gezogen, die Funken verglühten, die Freunde verstreuten sich, die Musiker ebenso, Stille umfing die Mauern, die Puppen in den Schränken schlossen die Augen, die Engel an den Krippen gähnten, und Agata war wieder allein.

Immer allein war diese schöne Tabbacchera; der Tod hatte ihr alle genommen, die sie geliebt hatte.

Jetzt liebte sie Andrea.

War er gegangen, um sich zu retten? Um nicht wie die anderen zu sterben?

»Was reden Sie da für einen Schaisz, Signuruzza?«, schrie jemand aus einem Fenster.

Sie erschauderte, sie meinte, Costanzos Stimme zu hören: der gleiche höhnische Ton, die gleiche liebevolle Offenheit.

Sie dachte an ihn, sie dachte an Andrea und war fix und fertig.

2

So gut es ging, versuchte Lori, sich zu schützen, sich in die ranzige Daunenjacke zu hüllen. Sie hatte sich unter dem Vordach ausgestreckt, der Regen verwandelte sich in Schnee, und langsam breitete die Eiseskälte sich in ihr aus. Um sie herum war es dunkel, nur das Flackern der Festbeleuchtung – glänzendes Rot, Gelb und Blau – erhellte in regelmäßigen Abständen die Hausdächer jenseits des Hofes.

Sie erinnerten Lori an glückliche Zeiten, als ihre Eltern noch bei ihr gewesen waren, als sie sich an Weihnachten an Tüten voller Röstkastanien die Hände gewärmt und die lebendige Krippe mit Menschen und Tieren bewundert hatten: das Holzhäuschen mit dem Ofen, wo man ein Stück warmes Brot bekam, der Hirte einem etwas Käse schenkte, eine Verkäuferin eingelegte Oliven und hartgekochte Eier verteilte, und dann der Töpfer, die Weber, der Schmied, der die Funken auf dem Amboss sprühen ließ, und der Tischler, der das Kind bewachte wie Josef, Marias Mann, in der Grotte neben Ochs und Esel.

Sie war aus dem Bus ausgestiegen, weil sie meinte sterben zu müssen. Nicht einen Moment länger hielt sie es in dieser überfüllten und überhitzten Kiste aus, in der ein Typ Brot und Pecorino futterte, ein anderer sich die Schuhe ausgezogen hatte und das widerliche Parfum der Frau neben ihr sie benebelte. Sie musste würgen und sprang auf, drängte sich mühsam zum Ausgang, wo sich bereits andere Fahrgäste zum Aussteigen sammelten.

Die roten Ziffern ihrer Uhr zeigten 17 Uhr 17 an: Sie hatte sich gefragt, ob es in Terramarina auch 17 Uhr 17 wäre, ob auch in Terramarina die Uhren elektronisch wären oder eher große dickbäuchige Wecker, die niemals all die Zeit herauslassen würden, die sie in sich trugen.

»Nach Terramarina ziehe ich, wenn ich nicht wach bin, aber auch nicht schlafe«, sang ihre Mutter leise. »… wenn meine Füße im Wasser die Goldnetze der Sonne zerreißen … wenn der Frieden mit Brot im Mund lacht «

Terramarina. Immer sprach sie von Terramarina, als ob dort, in diesem wunderschönen Land, ein Stück ihres Herzens zurückgeblieben wäre, das ihr mit Sirenenstimme zurief: »Komm, komm.« Aber vielleicht stammte diese Stimme gar nicht von einer Sirene, sondern von einem Mann, der Filippo hieß und sie viel zu früh verlassen hatte.

»Eines Tages fahren wir dahin, Lori, ich versprech’s dir«, wiederholte ihre Mutter. »Und es wird wunderschön.«

»Wann ist eines Tages, bald oder irgendwann?«

»Vielleicht bald, vielleicht irgendwann. Wer kann das schon sagen?«

Eines Abends hatte Lori beim Herumwühlen in einer Schublade ein Foto von einem Haus mit einem Laubengang gefunden, weiß wie der Schleier einer Braut, mit dem Meer im Hintergrund, und zwischen den Blumen des Gartens lachte ihre Mutter und winkte. Auf der Rückseite stand geschrieben: ICH LIEBE DICH, TERRAMARINA.

»Also bist du Terramarina«, hatte Lori gerufen und ihr das Foto gezeigt.

Sie hatte den Kopf geschüttelt. »Ich bin Concetta.«

»Nein, nein, hier stehts doch. Du bist Terramarina.«

»Concetta …«

»Terramarina ist viel schöner.«

Sie hatte gequält gelächelt und dann gesagt: »Der Name ist viel zu lang, Nnica.«

Nnica, Kleine. Niemand nannte sie mehr so.

»Also dann eben Mina«, hatte Lori beschlossen. Und davon hatte sie sich nicht mehr abbringen lassen und sagte ständig: »Mina, ich will Brot … Mina, ich hab Durst … Mina, erzähl mir eine Geschichte … Mina, halt mich ganz fest … Mina, lass mich fliegen …«

Dann war ihre Mutter gestorben. Concetta war gestorben. Mina jedoch lebte in ihr weiter.

Nein. In ihr war dieses Ding, das jeden Tag ein Stück größer geworden war. Und das keinen Namen hatte.

Während sie auf die roten Ziffern ihrer Uhr blickte, bemerkte sie nicht, wie ein Mann sie musterte: Er kniff die Augen zusammen, als erinnerte er sich an etwas, runzelte die Stirn, als wollte er diese Erinnerung mit einer Vision in Einklang bringen.

»Das ist noch nicht deine Haltestelle«, sagte der Busfahrer.

Sie nickte mehrmals, um anzudeuten, dass sie das wusste, dass es ihr aber egal war.

Die frische Luft belebte sie und vertrieb die Übelkeit.

Eingehüllt in die zwei Nummern zu große Daunenjacke lief sie los. Sie wusste nicht, wohin. Dieser Ort war ihr fremd, sie war noch nie hier gewesen.

Eine steile Gasse. Oben die Spitze einer Kirche. Darüber viele Lichter. Ein Kreuz.

Sie hatte keine Tasche. Nicht mal einen Schirm.

Aufgetrennte Mädchen haben nur sich selbst, sonst nichts, dachte sie und stieg den Weg hoch, bis die Kirche halb zu sehen war. Das restliche Stück – etwa zwei Dutzend Stufen – schaffte sie nicht mehr.

Ausgestreckt lag sie nun unter dem Vordach, die Augen geschlossen, die Kälte fraß ihre Beine, Erinnerungen kamen und gingen, da spürte sie plötzlich auf dem Gesicht einen warmen Hauch, als ob ein Tier an ihr schnupperte und gleich zubeißen wollte. Sie drückte sich hoch und riss die Augen auf.

Da war kein Tier.

Langsam stäubte der Schnee zur Erde. Weihnachten wärmte die Herzen in den fremden Häusern. Aus den angelehnten Fenstern erklang fröhliches Kindergeschrei, Geschirr klapperte, das normale Glück derjenigen, die sich lieb haben.

Ihr taten die Knochen weh, das Herz. Für sie verging die Zeit mit dem Schritt eines Soldaten, der einen Krieg verloren hatte: Müde schleppte er sich in seiner zerrissenen Uniform voran, gestützt auf einen Stock, den Trompetenstoß im Ohr, der die Niederlage verkündete.

Erneut schloss sie die Augen.

3

Agata machte die Tür hinter sich zu. Sie lehnte sich dagegen, um wieder zu Atem zu kommen. Für einen Moment funkelten die Schneekristalle in ihrem Haar.

Sie zog die Schuhe aus, die nassen Strümpfe. Barfuß trat sie zum Balkon. Durch die angelehnten Fensterläden sah sie, was gegenüber, im Hause Scianna, vor sich ging: Lichterglanz, ein geschmückter Tisch, ein Weihnachtsbaum bis unter die Decke, Geschenke und Durcheinander. Leute kamen und gingen, der Fernseher zeigte Bilder von erleuchteten Städten, Toni kümmerte sich um die Gäste, hin und wieder schielte er zu ihrem Balkon (wie gut, dass sie kein Licht gemacht hatte), als fragte er sich, ob er sie überfallen und zu ihnen herüberzerren sollte.

»Wag es ja nicht!«, murmelte sie leise.

Sie war genervt: Konnte es sein, dass sie wirklich so verbittert war?

»Lasst mich bloß in Ruhe!«, beharrte sie.

Die gleichen Worte hatte sie Franca gesagt, als auch diese darauf bestand, dass sie das Fest nicht allein verbringen sollte, wie Eine ohne Familie.

Barfuß ging Agata in die Küche. Sie hatte keinen Hunger, trotzdem öffnete sie den Kühlschrank. Sie zog einen Mozzarella auf einem Tellerchen heraus: klein, blass, erfroren; er erinnerte sie an das Krankenhaus, in dem man ihr vor langer Zeit den Blinddarm herausgenommen hatte. Sie bekam Mitleid und stellte ihn wieder zurück. Dann schloss sie den Kühlschrank.

Sie nahm ein Stück Brot, biss hinein. Es schmeckte bitter. Sie öffnete das Fenster und legte den Rest des Brotes auf die Fensterbank, als Futter für die Spatzen am Morgen.

Nervös war sie. Unruhig.

»Kann man denn zwei Männer gleichzeitig lieben? Einen aus Fleisch und Blut und einen Geist?«, fragte sie die Stehlampe. ›Verdammt, Agata!‹, antwortete ihr Costanzos Stimme. ›Jetzt ist aber endlich mal Schluss!‹

Sie hörte ihn nicht.

Sie trank etwas Wasser. Auch das hinterließ einen bitteren Geschmack im Mund.

Agata kehrte ins Wohnzimmer zurück und beobachtete das Haus gegenüber. Sie sah, wie Violante mit Marco, dem Neugeborenen, auf dem Arm eintrat. Sie sah, wie sie sich auf das Sofa setzte und sich den Sohn an die Brust legte. Violante kam ihr vor wie eine Madonna: Die langen Haare fielen ihr wie ein Schleier über die Wange, ein süßes Lächeln ließ ihr Gesicht strahlen, ihre ganze Gestalt verströmte den Eindruck der Vollkommenheit, die Agata beunruhigte. Sie wünschte sich, an Violantes Stelle zu sein. Sie wünschte sich, die Mutter dieses Kindes zu sein, das an ihr saugte und den eigenen Daumen mit seinen kleinen, neugeborenen Fingern umkrallte. Sie wünschte sich, dass Costanzo sich zeigte, hier in dieser Dunkelheit, in dieser Stille und ihr sagte: ›Ich bin hier, bei dir, amore mio, ich verlasse dich nicht, was glaubst du denn?‹ Aber die Dunkelheit blieb dunkel, und von Costanzo gab es schon seit Langem keine Spur mehr.

Dennoch war er dort, neben ihr, und regte sich über sie auf und litt mit ihr: Wie war es möglich, dass sie nicht begriff, dass er mittlerweile jenem anderen Leben angehörte, in dem die Liebe ein Teil der universellen Liebe ist, die sich nicht um Ehemänner, Kinder, Verlobte und Verliebte scherte? War es möglich, dass sie nicht begriff, dass der Maresciallo sie glücklich gemacht hätte, und dass ihr Glück auch sein Glück gewesen wäre, weil er sie an der Seite dieses Prachtburschen gewusst hätte und dann beruhigt gewesen wäre? Kann das sein, Agata Lipari?

Nichts. Auf diesem Ohr war Agata Lipari taub.

Den Blick auf das Haus gegenüber gerichtet, sah sie zwei weitere Gäste ankommen, genauer gesagt, drei: Lucietta mit ihrem Ehemann Ugo und dem Hundchen Patuzzu. Das Trio brachte sie zum Lächeln: Vom früheren Klageweib – das aus Verzweiflung über die eigene Einsamkeit auf allen Beerdigungen geweint hatte – war nicht das kleinste bisschen übrig geblieben, und wenn heute noch jemand diesen Spitznamen in den Mund nahm, so geschah das nur zum Trost, zur Unterscheidung zwischen einem Davor und einem Danach, als wollte diese Person sagen: Siehst du, das Leben kann alles, es verwandelt sogar ein unscheinbares Wesen wie das alte Klageweib in eine strahlende Frau. Es war das Verdienst dieses Hundchens, das ihr einen Ehemann gefunden hatte, sagten die Missgünstigen: einen schmucken Ingenieur – dazu noch einen Catanesen –, der sie wie ein Zuckerpüppchen behandelte, besser gesagt, wie eine Reliquie!

Eine Reliquie … Agata musste lachen.

Bei diesem Lachen hob Patuzzu die Schnauze, witterte in ihre Richtung – sie stand im Dunkel, von der Straße aus nicht zu sehen – und bellte.

»Du vermisst Agata, nicht wahr?«, fragte Lucietta ihn. Sie starrte ebenfalls zu dem Dunkel, das die Tabbacchera verbarg.

Noch lauter bellte das Hundchen. »Hoffentlich überlegt sie es sich noch«, sagte Lucietta. »Es macht mich traurig, dass das Kind an Heiligabend allein ist!«

Falls Patuzzu lächelte, so merkte sein Frauchen es nicht, denn in diesem Moment öffnete jemand die Haustür, und alle drei wurden vom Licht geblendet.

Agata zog sich zurück. Sie seufzte. Du kannst immer noch hingehen, sagte sie sich.

Ach was!

Störrisch war sie, und wenn sie einmal eine Entscheidung getroffen hatte, änderte sie ihre Meinung nicht, selbst wenn der Papst höchstpersönlich vorbeikäme – so hatte ihr Vater es immer gesagt.

Sie dachte an ihn, als ein stürmisches Klopfen sie aufschreckte.

Agata wurde wütend. »Toni Scianna, was erlaubst du dir?«, rief sie, weil sie den Überfall des Freundes vermutete und fest entschlossen war, nicht zu öffnen.

Fäuste polterten gegen ihre Haustür.

Sie tat, als hörte sie nicht.

Fäuste und noch mehr Fäuste.

Wie wäre es mit ein bisschen Respekt? Sie trat ins Treppenhaus, um dem Freund ein paar Takte zu erzählen, als sie die Stimme des Priesters erkannte.

»Mach auf, schnell!«, rief Don Bruno.

»Ich will allein …«

»Schaisze, mach endlich auf!«, brüllte er.

Sie stürzte die Treppe hinunter. Noch nie hatte Don Bruno sich so aufgeführt.

Sie öffnete.

Blitzschnell trat er ein, blitzschnell sauste er an ihr vorbei, flog die Stufen hinauf und stürmte ins Badezimmer.

Verwundert folgte sie ihm: Ein dringendes körperliches Bedürfnis mag so eine Eile sicher rechtfertigen, auch das schlimme Wort und dieses fast gewaltsame Eindringen … Aber war das wirklich Don Bruno?

Durch die offene Tür sah sie, wie er den Hahn aufdrehte und die Temperatur des Wassers kontrollierte. Er war es.

»Don Bruno …«, sagte sie.

In diesem Moment zog er etwas unter seiner Soutane hervor, etwas, das sie nicht sofort erkannte: ein bläulich-rotviolettes Wesen voller Blut mit einer verkrusteten Nabelschnur auf dem Bäuchlein …

Sie presste sich eine Hand vor den Mund, um den Schrei zu unterdrücken, während er flüsternd befahl: »Hol den Doktor.« Dann tauchte er das Kleine langsam in das warme Wasser und murmelte: »Schätzchen, schönes Schätzchen, Töchterlein des Herren, mach die Äugelchen auf. Los, Schatz, atme …« und zärtlich streichelte er es und wusch es vorsichtig. »Kindchen«, säuselte er weiter mit honigsüßer Stimme, die man einem Koloss wie ihm nie zugetraut hätte, »öffne die Augen, komm, Liebling, Töchterlein des Herren …«

Nichts, es bewegte sich nicht, es atmete nicht.

»Ist es tot?«, fragte Agata leise.

Wütend drehte er sich zu ihr. »Du bist ja immer noch da!«, knurrte er.

Sie schreckte auf, stürzte die Treppe hinunter und lief auf die Straße. Barfuß war sie, barfuß lief sie hinaus, ohne Schal rannte die verrückte Tabbacchera flink wie ein Wiesel um die Ecke, fiel hin, sprang wieder auf, lief weiter und spürte nicht den vom Sturz schmerzenden Knöchel, keuchend lief sie, keuchend erreichte sie Sciannas Haus, klopfte und hämmerte stürmisch an die Tür.

Toni öffnete. »Oh, Tabbacchera!«, sagte er und zog sie in eine erdrückende Umarmung, die seine ganze Freude offenbarte.

Sie schob ihn zur Seite, machte sich los, während die anderen auf sie einredeten und lachten und sagten, dass es also doch nur ein Scherz gewesen sei, Tabbacchera, nur um sich den triumphalen Auftritt zu sichern: »Herrgott, ich hab mir solche Sorgen um dich gemacht!«, und Küsse und Umarmungen, und niemand merkte, dass sie barfuß und zerzaust war, dass ihr das Herz bis zum Hals schlug: Zu viel Liebe macht blind, meine Herrschaften, und verhindert das Zuhören.

»Ruhe!«, schrie sie da.

Alle wunderten sich.

»Wo ist der Dottore?«, fragte sie außer Atem.

Barfuß und zerzaust, gerötete Wangen, wehende Haare: Nun erst sahen die Freunde sie richtig an.

»Was ist passiert?«, fragte Grimaldi und drängte sich durch die versammelten Gäste. Das Unglück erkannte er bereits an ihrer Stimme.

»Ein Baby …«, presste sie heraus. »Vielleicht ist es tot.«

»Was?«, schrie Toni.

Aber Grimaldi war schon draußen und Agata mit ihm.

Er läuft wie eine Katze, dieser Dottore, der die Fünfzig längst überschritten hat, und sie neben ihm, der Schnee rieselt, und die Leute in den Häusern lachen, die Leute in den Häusern essen: gekochten Fisch, gebackenen Fisch, mit Brokkoli und Kartoffeln gefüllte Fladenbrote. Und die beiden laufen, immer schneller laufen sie.

Im Hause Scianna bricht das Chaos aus, Violante zieht sich die Stiefel an, um ihnen nachzurennen, die Kinder heulen, die Frauen wundernehmen sich.

»Was ist?«, fragt Lisabetta, als sie vom Balkon zurückkommt, von dem sie sonst was geholt hat.

»Keine Ahnung …«, murmelt Franca. »Ein totes Baby«, fügt sie weinend hinzu. Sie zittert, denn sie durchlebt wieder den Moment, als man ihr mitteilte, dass ihr Mann gestorben war: »Giorgio ist tot! Schnell, Francuzza, schnell!«

Sie zittert und weint. Franca, die Schneiderin, die die Maße aller im Kopf hat, verliert vor der Maßlosigkeit des Todes die Fassung.

Lisabetta zieht sie an sich, umarmt sie fest, und mit der Anmaßung – oder Voraussicht? – einer Megäre flüstert sie: »Hab keine Angst. Es ist nichts. Niemand ist gestorben.« Dann nimmt sie ihren Mantel. »Ihr bleibt hier«, sagt sie und reicht Franca an Lucietta weiter, dann rennt auch sie hinaus, gefolgt von Toni und Sarino, von Ugo Calcaterra und Giulio, dem Sohn der Acquafortes, Medizinstudent und Grimaldis Schatten.

Langsam nimmt das winzige Geschöpf eine normale Farbe an. Langsam beginnt es sich zu bewegen: die Hände, die Finger umklammern den, der es hält, die Beine strecken sich, der kleine Kopf dreht sich zur Quelle des so liebevollen Klangs. Dann beginnt es zu weinen. Anfangs ist es nur ein Jammern, wie ein verängstigtes und verlorenes Kätzchen. Aber schon wird es lauter: Es brüllt vor Hunger und Durst, jetzt da es nicht mehr wegen der Kälte jammern muss, und es brüllt vor Wut über den schlechten Empfang, den die Welt ihm bereitet.

Um dieses Geheul zu beruhigen reicht diese eine Stimme aber nicht mehr aus, die unentwegt flüstert: »Schönes Kindelein, süßes Kindelein.« Don Bruno weiß nicht, was er noch tun soll und betet zum Allmächtigen, damit ihm jemand zu Hilfe eile, da er leider wirklich ungeeignet ist.

Das Weinen dringt bis zum Hauseingang, bis zur Tabbacchera, die beim Eintreten atemlos ruft: »Es lebt.« Und allen Engeln und Heiligen dankt, die sie auf dem Hin- und Rückweg angefleht hat, und noch nie hat sie ein schöneres Weinen gehört als dieses, so verständlicherweise wütend und beleidigt, vor allem aber lebendig.

»Schönes Kindelein …«, versucht es Don Bruno noch einmal verzweifelt. Er fürchtet, dass seine großen Hände etwas kaputt gemacht haben könnten, dass seine Unzulänglichkeit Schaden angerichtet hat.

Da taucht Grimaldi hinter ihm auf und sagt: »Geben Sie es mir.« Er hält ihm ein Frotteehandtuch hin, in das er das Baby einhüllt. Dann murmelt auch er mit zuckersüßer Stimme: »Schätzchen! Schnuckelchen …«, und nur kurz fällt er in einen Befehlston: »Dreht sofort die Heizung voll auf.« Und schon wird seine Stimme wieder Zucker, ein Singsang, während er dem Baby geschickt eine Hand auf die Brust legt, die Herzschläge zählt, das Gehör prüft, die Regelmäßigkeit der Atmung, während er die Reflexe untersucht, indem er über den winzigen Mund streicht, der sofort aufgerissen wird.

»Es hat Hunger«, murmelt er.

»Gebt es mir«, sagt da Violante, nass und durchgeschwitzt auch sie von der Rennerei, mit roten Wangen und strahlend vor Glück, weil dort, wo sie fürchtete, den Tod zu finden, jetzt dieses quicklebendige Würmchen ist und gefüttert werden will. Sie knöpft sich die Bluse auf und flüstert: »Süße, komm her.«

Dann nimmt sie es in den Arm. Sie sucht sich einen Sitzplatz – der Rand der Badewanne reicht vollkommen –, lässt sich nieder und legt sich das Baby an die Brust.

Die Clique ist vollständig eingetroffen, es herrscht absolute Stille. Nicht einmal das Atmen ist zu hören. Nur das hungrige Saugen, wobei das winzige Mädchen die Augen öffnet – die groß, tief und dunkel sind, noch voll des Bewusstseins für die Bilder des Jenseits. Es schaut zu Violante. Diese sieht das Baby an und lächelt, sie schuckelt es ein bisschen und sagt: »So hübsch bist du, Maus, so hübsch und süß. Aber wer bist du denn? Wo kommst du denn her? Hat ein Engel dich gebracht?« Sie drückt das Baby an sich.

Und niemand fragt: »Wieso hat deine Mutter dich ausgesetzt? Wieso hat deine Mutter dich vor den Müllcontainer gelegt?« Nicht in den Müllcontainer, zum Glück, wie Don Bruno berichtet. War es Glück oder ein Anfall von Mitleid?

»Was’n für Mitleid? Hier streunen hungrige Köter durch die Straßen. Die hätten sie in Nullkommanichts zerfleischt!«, regt sich später Sarina Motta auf.

Niemand spricht. Alle schauen das Wunder an, das sich vor ihren Augen abspielt.

Agata ist verstört, von wegen Lasst mich in Ruhe!, von wegen Dunkelheit und Klage: »Zündet alle Lichter an«, sollte sie rufen, »lasst uns feiern, weil der Schmerz sich in Freude verwandelt hat, jetzt da der Herr uns dieses Kind geschickt hat, jetzt ist wahrlich Weihnachten!«

Doch stattdessen schwankt sie zwischen Lachen und Weinen, was sie auf dieses Übermaß an Emotionen zurückführt. Und während sich bei den anderen unverhohlene Freude breit macht, wird ihr, während sie unbeweglich am Türrahmen steht und wieder ruhig atmet, plötzlich bewusst, dass, wäre auch Andrea hier, ihr Glück vollkommen wäre.

Der Euphorischste von allen ist ausgerechnet Sarino. Er betrachtet das Baby mit leuchtenden Augen, mit einer so offensichtlichen Freude, dass Franca sich umgehend Sorgen macht: Sie ist schon alt, hat aber immerhin einen Sohn; Sarino jedoch hat keine Kinder. Hätte er eine Jüngere geheiratet, hätte auch er jetzt Vater sein können. Bei diesem Gedanken schmerzt ihr das Herz.

Da dreht sich Sarino zu ihr, er versteht den Schatten nicht, der über ihr liegt, er zieht sie an sich und flüstert ihr durch das Haar zu: »Was hast du für schlimme Gedanken, Francuzza? Bist du etwa eifersüchtig auf die Kleine?«

»Niemals!«

»Was dann?«

Sie zögert, ein bisschen schämt sie sich, doch dann antwortet sie: »Ich kann dir kein Kind mehr schenken.«

»Jetzt hör mal zu!«, flüstert er völlig beglückt. »Hab ich je Kinder von dir gewollt? Hab ich dir je das Gefühl gegeben, dass ich Kinder will?« Er drückt sie noch fester an sich. »Ich will dich, mein Schatz, nur dich!« So vertreibt er ihre üblen Gedanken und Gewissensbisse, aber weil auch der betrübte Blick der Hausherrin ihm nicht gefällt, fragt er: »Also, Tabbacchera, wollen wir nich was essen?«

Franca bringt ihn mit einem Ellenbogenstoß zum Schweigen.

Schaisze!

»Was denn? Hab ich was Falsches gesagt?«, fragt er verwirrt.

Agata denkt mit Schrecken an den leeren Kühlschrank, an den verwaisten Mozzarella, an das harte Brot und dass sie nichts anderes im Haus hat. Sie hat absichtlich nicht eingekauft, hat absichtlich Weihnachten in eine Fastenzeit verwandelt.

Und jetzt?

Verlegen breitet sie die Arme aus: »Ich hab nichts vorbereitet«, sagt sie. »Ich kann euch nichts anbieten …«

»Du lässt uns verhungern?«, fragt Toni mit gespielter Enttäuschung.

Sie sieht ihn entgeistert an. Sie wird rot, dreht sich zu Lisa auf der Suche nach Hilfe, aber die sagt nur zärtlich: »Ach, du Dummerchen!«

Und die Freunde um sie herum brechen in Gelächter aus.

Und so beginnt der Umzug vom Hause Scianna in das Haus der Tabbacchera. Eine Prozession aus Töpfen und Pfannen, Schüsseln, Blechen und sogar einer Terrine mit Stockfischsoße.

Lisabetta übernimmt das Kommando über die Operation Weihnachtsessen und besetzt die eiskalte Küche: Sie wirft den Ofen an, um einzuheizen, kocht Milch mit Stärke und Zucker auf, die sich in eine weiße Masse mit Zimtgeschmack und sonst noch etwas verwandelt: Die Süßspeise wird dieser Nacht den exotischen Geschmack des Landes verleihen, das von einem Gotteskind aufgesucht wurde, zu dessen Füßen Hirten und Könige niederknieten.

Lisabetta bewegt sich flink und sicher in diesem Haus, in dem sie nach Costanzos Tod eine Weile gewohnt hat, jeder Handgriff sitzt, sie sagt kein Wort zu viel, nur, um so schnell wie möglich wieder in das Zimmer zu können, in dem das Baby Aufnahme gefunden hat.

Carmine Acquaforte und Sarino Motta kümmern sich um die Weine, Toni um seinen Sohn Francesco, der auf dem Arm der Mutter ein fremdes Baby gesehen hat und nun ganz verwirrt ist. »Das ist meine Mama!«, hat er geschrien und sich sofort auf sie gestürzt, um die Besitzverhältnisse klarzustellen.

Toni schnappt ihn sich. »Wollen wir Verstecken spielen?«

Die Augen des Jungen leuchten, denn Verstecken ist das, was er im Leben am liebsten hat (nach seiner Mama natürlich).

Das Haus füllt sich mit Lichtern, Geplapper, Durcheinander, einer Invasion, während Costanzo, oben auf dem Spiegel sitzend, mit den Beinen baumelt und mit Patuzzu einen verschwörerischen Blick tauscht. Ein Blick, der zu sagen scheint: ›Und wieder einmal wird alles gut!‹, und der Costanzo ein Lachen entlockt.

Agata steht einfach nur da, steht verzückt vor Violante und dem Baby, so wie die Hirten ganz verzückt vor Maria gestanden haben müssen, als sie ihr Kind stillte.

»Wie nennen wir sie?«, fragt Grimaldi plötzlich.

Alle sehen die Tabbacchera an, die ohne nachzudenken sagt: »Luce.«

Licht.

Absonderlicher Name, denkt Sarino Motta, der in seinem Wesen und seinen Gedanken immer noch ein Raubein ist.

»Ein großartiger Name«, erklärt Don Bruno. Er sieht auf die Uhr. »Ihr Lieben, beeilt euch, denn um Mitternacht ist Messe.«

»Machen Sie sich keine Sorgen, Hochwürden«, beruhigt ihn Luisa Acquaforte, »es wird gleich angerichtet.« Still und leise, da eh schon zu viele um das Kind herumstehen, hat sie bereits die vielen Kaltspeisen, die Platten mit den Süßigkeiten und die Weinflaschen auf das Büffet gestellt und dazu diesen großen goldschimmernden Kranz, das wackelnde Zimtgelee, auf das immer wieder wie zufällig die begehrlichen Blicke der Anwesenden fallen.

»Dieses Mädchen ziehen wir groß«, sagt da Ugo Calcaterra, ein Ingenieur der Tat und Signore der guten Manieren, der bis zu diesem Moment abseits stand und nun bereit ist, alle Anwesenden über seine Projekte bezüglich dieses Geschöpfes zu unterrichten.

»Dieses Mädchen …«, setzt Sarino an, der sich jegliche Einmischung in die Vaterschaft verbittet.

»… dieses Mädchen muss erst einmal was zum Anziehen bekommen!«, fällt Violante ihm resolut ins Wort, wie es nur eine Mutter kann.

Sie hat noch nicht zu Ende gesprochen, als Toni ihr schon die winzigen Kleidungsstücke von Marco reicht, die er geholt hat, während alle anderen die Verpflegung herübergeschafft haben.

»Aber die sind ja hellblau«, ruft Sarino. »Können wir denn das Weibchen hellblau anziehen?«

»Seit wann macht eine Farbe aus einem Baby Männlein oder Weiblein?«, fragt Franca, die ihn immer ein wenig – wenn auch liebevoll – wegen seiner unverwüstlichen Raubeinigkeit aufzieht.

»Aber, Signuruzzu, erklären Sie mir doch mal«, erwidert er überheblich, »welche Farbe haben denn die Taufbonbons: etwa hellblau für die Weiblein und rosa für die Männlein?«

»Werden wir jetzt etwa kleinlich?«, entgegnet sie, die sich niemals geschlagen geben würde.

»Notgedrungen!«, ruft er, der diesen Ausdruck in einem Wörterbuch gefunden hat und ihn immer wieder einstreut, ganz gleich, ob er grade passt oder nicht.

Und während die anderen lachen – denn notgedrungen ist einfach kein Wort, das aus dem Munde Mottas stammen kann –, zieht Violante das Baby an: Ganz in hellblau strahlt dieses Kind ein Licht aus, so wie das Haus der Tabbacchera, das bis vor einer Stunde noch im Dunkel lag, nun Signale wie ein Leuchtturm aussendet, die man im Tal sieht und sogar noch auf dem Meer, die klar machen, dass wir der Hafen sind, meine Herrschaften, der Hafen, der wie eine Mutter aufnimmt und nicht abweist, sich öffnet und nicht verschließt, umarmt und den Hunger stillt, allen Kötern zum Trotz, die etwas von Grenzen dichtmachen und Pause knurren und von Abschiebungsgesetzen, während das Leben mitten auf dem Mördermeer mit dem Tod ringt – und verliert.

»Es sieht wie ein Jungelchen aus«, murmelt Lucietta mit glänzenden Augen.

»Wie ein Mädelchen«, verbessert Sarino sie sofort, denn selbst im hellblauen Strampler ist unmissverständlich klar, dass das Baby ein Weiblein ist.

Es wird still. Don Bruno bemerkt, wie plötzlich alle ehrfürchtig das Geschöpf ansehen, und denkt, dass er in seiner Predigt von dem Wunder dieses Kindes erzählen sollte, das von der Vorsehung gerettet wurde.

›Wehe Euch!‹, ruft jemand.

»Was?«

Er sieht sich um, niemand hat gesprochen: Alle betrachten die Kleine, die Münder der Anwesenden sind verschlossen.

Und doch …

Er denkt wieder an seine Predigt, ruft sich die Verse ins Gedächtnis, die von der Freude singen: »Tochter Zion, freue dich! Jauchze, laut, Jerusalem!« Soll er so anfangen? Natürlich. Und weiter: »Heute feiern wir das Leben.« Das wird er sagen. Und dann?

Er sieht das Kind an, es ist so klein und hilflos: Nur ein Hauch ist jeder Mensch, wie fest er stehe, denkt er noch in den Worten des Psalms, nur als ein Schattenbild geht der Mensch einher … Und doch, wie viel Kraft, wie viel Entschlossenheit steckt in diesem Hauch, der die Erde bevölkert, wie viel Zähigkeit ist in diesem Geschöpf, das sich mit seinen winzigen Fingerchen an den Fingern Violantes festklammert.

»Darf ich es mal nehmen?«, fragt er plötzlich.

Sie reicht ihm das Kind.

Er setzt sich, er hält es wie ein wertvolles Geschenk. Er mustert vor allem seine tiefgründigen Augen, in denen noch das Geheimnis unseres flüchtigen Lebens inmitten der Ewigkeit zu lesen ist.

Die anderen stehen um sie herum und lächeln das winzige Mädchen an, das sich rekelt und gähnt.

»Sieh doch nur«, sagt Sarino zu Franca, als würde die Kleine eine außergewöhnliche Heldentat vollbringen. Und er lacht und fühlt sich so glücklich. »Was ist, essen wir endlich?«, fragt er, denn dieses Ereignis muss gefeiert werden, groß gefeiert, so als wenn der verlorene Sohn nach Hause zurückkehrt und der Vater das fetteste Kalb schlachtet und den besten Wein aus dem Keller holt.

Aber niemand rührt sich. Alle stehen da, in vollkommener Stille, die mit einem Mal von den schlagenden Kirchturmglocken durchbrochen wird, weshalb Don Bruno zusammenzuckt. »Liebe Leute«, flüstert er, damit das Kind nicht aufwacht, »Beeilung, in einer Stunde muss ich die Messe zelebrieren.«

Niemand scheint ihn zu hören.

»Liebe Leute …«, wiederholt er ein bisschen lauter.

Nichts.

»Leute!«, und dieses Mal tönt das Wort laut und drängend. Er vergisst das Kind, das aufwachen könnte.

Aus den Mündern der Frauen prasselt ein »Ruhe!« mit der Entschiedenheit eines Hagelschauers auf ihn herab, sodass er verstummt. Und da es ihm gar nicht ähnlich sieht, still zu sein – denn für ihn gibt es keine menschliche Kraft, die seinen Mund einfach so verschließen kann –, lacht Violante und sagt: »Hochwürden, nur keine Hektik, lassen Sie uns noch ein paar Minuten und dann decken wir blitzartig den Tisch.«

Blitzartig?

Mitnichten!

Denn während die Mannsbilder im Zimmer herumstehen, ohne genau ...

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