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Agata und ihr fabelhaftes Dorf

Als Buch hier erhältlich:

Agata gegen Goliath: über Mut und Emanzipation, die von einer Frau und von einer Gemeinschaft erzählt.

Ein kleines sizilianisches Dorf. Das Rathaus wird vom geldgierigen Bürgermeister und seiner Clique verwaltet, die in verschiedene schmutzige Angelegenheiten verwickelt sind. Mafia, was sonst.
Als der Tabacchero Costanzo plötzlich stirbt, wird seine Frau Agata von der Bande rund um den Bürgermeister ins Visier genommen. Sie wollen sie und sie wollen ihr das üppige, mit Orangen- und Zitronenbäumen bepflanzte Land abnehmen, das der Stolz ihres Mannes war.
Doch Agata wehrt sich. Sie schart eine Reihe von Verbündeten um sich: Toni Scianna, der Lehrer, die Kräuterkundlerin Lisabetta, die in der Lage ist, wunderbare Gerichte für Bauch und Seele zuzubereiten, Lucietta, eine einsame Jungfer, die über ungeahnte Kräfte verfügt, und weitere Dorfbewohner. Und die rebellische Gemeinschaft nimmt es mit dem hinterhältigen Bürgermeister und seinen Kumpanen auf.
Tea Ranno lässt uns im Verlauf der Geschichte in die Köpfe der Bösewichte und der Guten blicken.
  • Erscheinungstag: 25.01.2021
  • Seitenanzahl: 432
  • ISBN/Artikelnummer: 9783312012169
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Nagel & Kimche E-Book

Tea Ranno

 

Agata
und ihr
fabelhaftes
Dorf

 

Aus dem Italienischen von

Ulrike Schimming

Für Stefano,
der Sonne und Fröhlichkeit dort sah,
wo ich nur Dunkelheit vermutete.

  

PROLOG

 

Die Saracina erstreckte sich stolz bis ans Meer. In der Mitte des weitläufigen Grundstücks stand ein massives Haus, versehen mit einem Laubengang aus schlanken Säulen, alles ganz in weiß wie der Schleier einer Jungfrau, umgeben von Blumen und blühenden Bäumen, in Jasminduft gehüllt und gekrönt vom Geflatter schneeweißer Ringeltauben.

Lange betrachtete er alles, voller Genugtuung, und je zufriedener er war, desto prächtiger erschien ihm dieses Anwesen, das dem Kommunisten einfach nicht würdig war. Dieser hatte den Hof seines Großvaters geschmackvoll verschönert, hatte einen Samen nach dem anderen ausgesät, einen Mandelhain und einen Obstgarten angelegt. In der Augustsonne, die heftiger brannte als in den Jahren zuvor, dufteten Pinien nach würzigem Harz und fingen den Wind ab.

Aus der Jackentasche zog er die Streichhölzer. Er blickte sich um, wollte sicherstellen, dass er allein war. Dann ging er langsam auf dem Pfad neben dem Zaun entlang. Tags zuvor hatte er ein Loch in den Maschendraht geschnitten, gleich neben einer Rosenhecke, die fast die gesamte Öffnung verdeckte. Auch diese Rosen würden vom Feuer verzehrt werden, denn ordentlich mit Benzin getränkt würde der Maschendraht sich verdrehen, schmelzen, und alle Einbruchsspuren würden vernichtet.

Er hob das Bein, wollte sich durch das Loch schlängeln, als ein unterdrückter Schrei aus seiner Kehle drang. Er krümmte sich vor Schmerz, Benzinkanister und Streichhölzer fielen ihm aus der Hand. Schreiend wandte er sich um, und schreiend sah er ihn: einen riesigen schwarzen Höllenhund, die Zähne in seinen Hintern geschlagen, zog und zerrte der Köter mit einer mörderischen Wut, als wollte er ihm das Fleisch vom Leib reißen.

»Hau ab!«, brüllte er.

Doch der da zerrte noch heftiger.

Er versuchte, ihn an einem Ohr zu packen, aber der andere stürzte sich auf seine Hand und zerfleischte sie. Er schrie und schrie, während er um sich trat, um ihn zu vertreiben. Der Mastiff ließ von der Hand ab und biss ihm in die Wade.

»Lass mich! Hau ab!«, jaulte er.

Noch tiefer vergrub der da die Zähne im Fleisch.

Er keuchte und schnaufte bis zur Atemlosigkeit, ohne Erfolg. Da versuchte er, ihn an der Schnauze zu packen, doch der andere schüttelte wild den Kopf, während er mit neuer Wucht zubiss: in die Wade, die Hand, den Arm, Geifer vermischte sich mit Blut, Geifer mit Geknurre. Da starrte der da auf seine Kehle, und er fühlte sich verloren.

»Hierher«, schrie er da. »Helft mir!«

Doch wer sollte ihm hier her zu Hilfe eilen? Es war niemand da, und niemand wäre vorbeigekommen. Nur die Saracina bezeugte ungerührt die Besudelung ihrer bräutlichen Reinheit.

Der Hund starrte auf seine Kehle, sprang und war auf ihm.

Mit den Händen in die Hecke gekrallt versuchte er, das Gleichgewicht zu halten. Doch es misslang, denn plötzlich war ihm, als lösten sich die Rosen in Rauch auf und verdampften, so als wäre zwischen seinen geballten Fäusten nur noch Luft.

Und so fiel er.

Doch zuerst kippte der Kanister um, sodass er sich in einer fürchterlich nach Benzin stinkenden blauen Pfütze wiederfand.

Er hoffte, dass kein Funke sich entzünden, dass kein Feuer ausbrechen möge. Doch schon zog eine Funkenprozession von sonst woher heran, stürzte in die Pfütze und entzündete das Benzin, entzündete die Kleidung, während der Hund endlich abließ und ihn unbeweglich anstarrte: Seine Augen hatten die Farbe der Flammen und den Ausdruck eines Henkers.

Seine Exzellenz hatte nicht einmal Zeit, seine Seele Gott zu befehlen, denn schon verschlang das Feuer alles, und die Welt endete.

 

»Wir brauchen ein Losungswort,

mein Herr,

mit dem wir die Räume

des Lebens erobern,

ein besonderes Wort

der Sehnsucht und der Kühnheit,

welches das Eis bricht

und voller Schönheit

funkelt und strahlt.

Kennen Sie so ein Wort,

mein Herr?«

»Liebesbezeugung«,

sagt er, ohne zu zögern.

Und die Türen öffnen sich,

die Sonne lacht,

und das Leben

singt.

1

 

»Darum also geht es«, sagte Costanzo. Er schloss die Kasse mit einem Rums, dass die Münzen klimperten. »Und sag mir ja nicht«, fügte er hinzu, »dass das die einzige Lösung ist, denn das stimmt nicht! Es gibt andere Lösungen. Nehmt die Ländereien der Mantò, die der Ferrara oder der Pinto, aber die Saracina schlagt euch aus dem Kopf, das ist mein Land, und das bleibt es auch!« Seine Stimme wurde rau, brüchig, getränkt von Wut, die sich nicht richtig entladen konnte. Unwillkürlich fasste er sich mit der Hand an das plötzlich rasende Herz, so als könnte er es damit beruhigen.

»Meinst du, das hätte ich ihm nicht gesagt?«, erwiderte Roberto.

»Dann sag es ihm noch mal!«, ereiferte er sich ein weiteres Mal. »Sag ihm: ›Die Saracina wird nicht angerührt!‹«

Der Junge ließ den Kopf hängen, sah auf seine verstaubten Schuhe mit den leicht abgewetzten Spitzen. »Wenn ich du wäre, würde ich mich damit abfinden«, presste er heraus und kam sich wie ein Verräter vor, denn Costanzo hatte recht, absolut recht: Die Saracina war ein Paradies, und ausgerechnet er war hergeschickt worden und sollte ihn überreden, auf dieses Paradies zu verzichten. »Sie haben das Gesetz auf ihrer Seite…«, fuhr er gequält fort. »Und sie wissen es … Und du weißt es auch.«

»Ist mir egal!«

Langsam und betreten hob Roberto den Blick.

»Du kämpfst allein gegen alle, mein Freund. Denk darüber nach …«

»Das heißt, ich soll sie aufgeben?«, fragte Costanzo mit kaum noch zu zügelnder Wut. »Damit aus meinem Paradies eine Deponie wird? Eine stinkende Müllhalde? Dreck und Gift dort, wo jetzt Blumen und Jasmin blühen?« Er tat, als spuckte er auf den Boden. »Niemals!«

Er setzte sich. Das Blut pochte ihm heftig in den Schläfen, während sein Herz unregelmäßig schlug. Er schloss die Augen. Der Arzt hatte ihm geraten, dass er ruhig bleiben und die Wut an sich abperlen lassen sollte. ›Ich habe keinen Regenmantel‹, hatte er geantwortet. ›Dann besorgen Sie sich einen‹, hatte der Arzt ohne zu lachen erwidert, denn es gab nichts zu lachen: Ein Blutdruck von Hundertachtzig zu Hundertzwanzig war kein Spaß. ›Ich hatte schon immer hohen Blutdruck‹, hatte Costanzo abgewiegelt, ›das ist eine familiäre Veranlagung. Ich bin aus Stahl, Dottore, mich haut nichts um.‹

Er räusperte sich, wobei er wegen der großen Anstrengung, die ihm das Atmen bereitete, den Mund verzog. Wäre doch nur Agata bei ihm, nur einen Schritt, nur einen Millimeter entfernt: ›Darf ich Sie küssen, Signora?‹ Von ihr, von ihrem Atem, hätte er die Luft bekommen, die er gerade brauchte.

»Woran denkst du?«, fragte Roberto, als er sich beruhigt hatte.

»An nichts.«

Es war zwei Uhr nachmittags am 12. August 1994 – das Jahr, das große Veränderungen bringen würde, jedenfalls behaupteten das die Politiker. Die Sonne ließ die Straßen schmelzen, prallte von der Fassade der Kirche ab und vom Weiß der Balkone, das noch mehr blendete als sonst.

»Siehst du das?«, fragte Costanzo und zeigte auf die leere Piazza. »Um diese Uhrzeit sind alle zu Hause, liegen auf den Betten bei laufenden Ventilatoren, Wasserkaraffen mit Eis auf dem Nachttisch und halten ihr verdientes Nickerchen. Später werden sie herkommen und sich eins feixen: ›Na, Costanzo, was macht die Saracina? Habt Ihr darüber nachgedacht?‹«, äffte er sie im Falsett nach. »›Nehmt das Geld, das wir Euch bieten, denn früher oder später enteignen wir das Land ja doch. Und das wisst Ihr.‹«

Er sagte es in der feinen Sprache der Verräter, bestens verkörpert durch die Freier, die Proci, die Odysseus um Weib und Reich bringen wollten, und doch selbst die Gelackmeierten waren.

Sicher, er war nicht Odysseus, und Agata verbrachte ihre Zeit nicht damit, Totentücher zu weben und wieder aufzutrennen. Die anderen jedoch waren die Proci: ein schlimmes Volk, das die Besitztümer der Leute plünderte und sich gleichzeitig gut und schlecht gab. Mit ihren Hintern klebten sie an den Rathaussesseln und entschieden willkürlich, wann, wie, warum und vor allem zu wessen Nutzen etwas gemacht wurde. Und da Costanzo nie irgendwelche Gefälligkeiten angenommen hatte – denn seine Geschäfte erledigte er immer ohne die Hilfe der Paten –, so trafen ihn jetzt unerklärlicherweise all die Unannehmlichkeiten, all die Hindernisse, die selbst einen Heiligen zur Weißglut gebracht hätten.

Bis jetzt hatte er nie die Geduld verloren, hatte sich viel mehr einen Spaß daraus gemacht, diese Unannehmlichkeiten mit einem Lachen und einem Leckmich zu vertreiben, was beständig die Gemüter all derjenigen verbitterte, die es auf ihn abgesehen hatten.

Eines Tages jedoch hatte Don Saverio Pallante – Bürgermeister und krimineller Anführer der Proci – seinen wunden Punkt entdeckt: die wunderschöne Saracina am Meer, mit Orangen- und Zitronenbäumen, mit Gemüsebeeten, Obstwiese, Garten und einem weißen Haus, dessen Holzofen weit und breit die herrlichsten Pizzen und Focaccen lieferte. Nun also hatte der Herr Bürgermeister ein Auge auf die Saracina geworfen und beschlossen, dass dort, da ein überaus dringendes Bedürfnis nach Müllentsorgung bestand, eine neue Deponie entstehen sollte.

›Leckt mich!‹, antwortete Costanzo, als man ihn über die notwendige Enteignung zugunsten öffentlicher Nutzung informierte.

›Leck der mich doch, der Typ ist sie los!‹, erwiderte der Bürgermeister jedem, der ihm von der Unnachgiebigkeit des Tabbacchere, des Tabakwarenhändlers, erzählte.

Denn die Müllentsorgung war eine Goldgrube, die das Gesetz den Kommunen auf einem Silbertablett servierte.

›Und? Sollen wir das etwa nicht ausnutzen?‹, hatte er seine Kumpanen im Amt gefragt.

Alle hatten sich in ihren Sesseln gewunden, denn wenn man eine Niederlage wegen einer Laune, wegen einer persönlichen Angelegenheit kassiert, kann man sich zwar auf alle Gesetze der Welt berufen, doch es bleibt immer noch eine Niederlage: Und um eine Mülldeponie zu errichten und in Gold zu baden – wie der Bürgermeister es ständig wiederholte –, gab es neben der Saracina viel geeignetere Grundstücke, Grundstücke voller Steine, auf denen außer Disteln nichts wuchs.

›Also?‹, sagte er.

›Was den Schadensersatz angeht…‹, versuchte Orlando einzuwenden.

›Schadensersatz?‹ Der Bürgermeister brach in Gelächter aus. ›Welcher Schadensersatz!? Wir nehmen sie uns und basta. Bestenfalls – aber nur weil wir Männer mit weichem Herz sind – geben wir ihm etwas Fliegendreck für ne Hennenhütte!‹

Ein Hühnerstall statt dieses Paradieses?

Manch einer räusperte sich, manch anderer versenkte die Nase im Taschentuch.

Was hätten sie auch sagen sollen? Um dem Tabbacchere die Saracina abzuluchsen, musste man mit falschen Karten spielen, und dafür würde man die Korruptionsmaschinerie ordentlich schmieren müssen: Also Zeit und Geld verschleudern. Aber niemand von ihnen hatte die Absicht, Zeit und Geld für Costanzo Di Dio zu verschwenden, der allen auf den Sack ging.

›Aber…‹, wagte es Vaccaro trotzdem.

›Hier gibt’s kein Aber!‹, regte sich Seine Exzellenz auf. ›Wir müssen dem Tabbacchere das Handwerk legen, denn mit all seinen kommunistischen Scheißideen könnt er uns glatt gefährlich werden. Und dann? Wenn er sich wirklich mit uns anlegt und Revolution macht, und sein Grund und Boden dann zum Terroristennest wird, was machen wir dann, hä? Sagt schon, was dann?‹

Und der Krieg begann.

 

Costanzo sah Roberto an. Der Junge tat ihm leid: Er schien wie ein Küken zu sein, ein zartes Wesen, das diese Bastarde mit einem Bissen verschlingen würden, ohne auch nur zu kauen.

»Gehst du nichts essen?«, fragte er.

»Doch, doch. Denk drüber nach …«

»Geh essen«, unterbrach Costanzo ihn. »Deine Mutter wartet schon auf dich.«

»Der Vorteil …«, versuchte Roberto, den Vortrag zu vollenden, den er auswendig gelernt hatte und der jetzt völlig durcheinanderzugeraten schien.

»Vorteil? Sei bloß still, Roberto. Ist besser so. Wir sehen uns später für eine Runde Scopone. Aber streng’ dich dann endlich mal an und erinner’ dich an deine Karten, sonst gewinnst du ja nie.« Er verpasste ihm eine fürsorgliche Kopfnuss.

»Gegen dich gewinne ich nie«, erwiderte der Junge. »Du bist mit den Karten verheiratet.«

»Sie sind Partnerinnen«, sagte Costanzo, »ehrliche und unparteiische Partnerinnen. Auf Papier gemalt sind sie völlig unbestechlich.«

»Falschspieler betrügen«, entgegnete Roberto und hörte auf zu lächeln.

»Hast du’s endlich kapiert?«, fragte Costanzo, während sein Herz erneut zu rasen begann und ihm das Gefühl einer sehr großen Dringlichkeit gab: Er musste etwas sagen oder machen, sich bewegen, er musste die Worte ordnen, die sich in seinem Geist drängten, um die richtigen zu finden, die den Bürgermeister an seine heilige Pflicht erinnerten.

Roberto strich sich mit der Hand über die Stirn. Es behagte ihm nicht, was er hier tun sollte, diese Selbstverleugnung behagte ihm nicht, und auch die Fäden an Händen und Füßen behagten ihm gar nicht, die ihn zu einer Marionette des schamlosen Puppenspielers werden ließen, Seiner Exzellenz, des Bürgermeisters.

»Du bist ja immer noch hier«, drängte Costanzo ihn.

»Schon gut«, sagte er. »Ich hau’ ab. Aber du gehst auch nach Hause.«

»Und mach den Laden dicht? Kommt nicht in Frage! Ich bleib hier.«

Costanzo sah ihn an und lächelte. Er hatte Roberto aufwachsen sehen, er wusste, dass er ein guter Junge war. Er war schlau, aufgeweckt und kam mit allen klar. Schade, dass er in die Fänge der politischen Karrieristen geraten war, dass sie ihn mit dem Versprechen »eines Postens« geködert hatten, und dieser Posten war, wie jeder weiß – in Zeiten der herrschenden Arbeitslosigkeit –, eine blind machende Sirene.

›Pass auf dich auf‹, hatte er Roberto gewarnt, als dieser ihm die großartige Neuigkeit überbrachte, dass auch er endlich eine Arbeit bekommen würde. ›Lass dich nicht kaufen. Die versprechen dir das Blaue vom Himmel, um dir deine Stimme zu klauen, und das war’s dann.‹

Der Junge wurde rot, denn er wusste genau, dass er dem Teufel seine Seele verkaufte, er aber keine andere Wahl hatte: Seine Verlobte Maria hatte so sehr geschachert, dass es fast schon würdelos war, nur um ihm einen Job bei der Trexo – einer der wichtigsten Erdölraffinerien des Mittelmeerraumes – zu verschaffen, ansonsten würde sie ihn nicht heiraten.

›Es sind nicht alle schlecht‹, verteidigte Roberto sie.

Costanzo antwortete ihm: ›Ich bin fünfunddreißig Jahre alt, Kumpel, ich hab schon viele krumme Dinger in diesem Land erlebt: Lass dich nicht über den Tisch ziehen, lass dir nicht die Freiheit nehmen … Und überhaupt, weißt du nicht, was du in der Raffinerie für Zeug einatmen musst, hä? Reicht dir das Gift nicht, das bis hierher weht?‹

Roberto senkte den Blick, um nicht zu zeigen, dass es ihm peinlich war, und sagte: ›Ich brauch die Arbeit.‹

›Wer braucht keine Arbeit? Aber besorg dir bloß selbst
eine, gib dem Gesang der Sirenen nicht nach. Sie singen und bezirzen dich und wollen dir einreden, dass Schaisze Gold
ist.‹

Doch er hatte nachgegeben. Und jetzt war er hier, verlegen und zögernd.

»Geh. Lauf.«, sagte Costanzo und lachte gezwungen. Wieder war da diese Dringlichkeit, das galoppierende Herz, das ihm bis zum Hals schlug, der Schweiß auf den Augenlidern. Auf den Augenlidern … konnte das sein?

»Du wirfst mich raus?«

Er räusperte sich: »Ja, Roberto. Ich kenn’ deine Mutter, sie steht am Fenster und schaut auf die Straße und wird gleich die Carabinieri rufen, wenn du nicht bald zum Mittagessen auftauchst.«

Franca Cortese – genannt ›die Acitana‹, weil sie aus Aci Reale stammte – war verrückt nach ihrem einzigen Sohn, einem Geschenk des Himmels. Sie war nur verständnisvoll und ruhig, wenn dieser Sohn in Sichtweite war.

»Und was sage ich denen?«, fragte der Junge da.

»Dass sie mich mal können.«

»Aber denk trotzdem drüber nach …«

Rasch schüttelte Costanzo den Kopf: »Sollen sie doch singen wie hundert räudige Sirenen!«, sagte er. »Das ist mein Land, und das wird nicht angerührt.«

Roberto nickte. Was sollte er noch machen? Sein Freund hatte recht, mehr als das. »Auf Wiedersehen«, sagte er im Hinausgehen. »Und sei mir nicht böse, ich hab nichts damit zu tun.«

»Meinst du, das weiß ich nicht?« Costanzo ergriff seine Hand und zog ihn sich an die Brust. Roberto war nur Haut und Knochen. »Du musst mehr essen«, sagte er, »sonst fliegst du beim nächsten Windstoß davon.«

»Ich esse wie ein Schwein, nehme aber kein Gramm zu.« Roberto lachte.

»Du Glückspilz. Und jetzt hau bloß ab. Los!«

Er sah ihm nach, wie er auf der abschüssigen Straße ein paar Schritte in Richtung Rathaus machte. »Und bind’ dir die Schuhe zu«, rief Costanzo, als er seinen offenen Schnürsenkel sah.

Da öffnete sich eine Tür, eine Hand ergriff den Jungen und zog ihn ins Haus.

»Tja, jetzt muss er berichten«, sagte Costanzo wütend.

 

Und so war es: Don Saverio Pallante, der Bürgermeister, der in einem der Häuser an der abschüssigen Straße wohnte, hatte sich Roberto geschnappt. »Komm rein!« Und sofort fragte er: »Was hat er gesagt?«

»Das, was Ihr schon wisst«, antwortete Roberto. Er wunderte sich, mit welcher Gewalt er in die Höhle des Löwen gezerrt worden war.

»Das heißt?«

Roberto sah den Bürgermeister angewidert an. Alles an ihm ekelte ihn: das Alter, das er durch die wenigen blond gefärbten Haare zu kaschieren versuchte, das strahlende Gebiss im welken Mund, die Arroganz, mit der er über das Schicksal von anderen herrschte, die Allmacht, die seine gesamte Person ausstrahlte …

»Entschuldigt mich«, sagte er, »aber ich hab’s eilig.«

»Eilig?«, sagte Seine Exzellenz verblüfft. Noch nie hatte jemand in diesem Ton mit ihm gesprochen, denn die Leute zahlten sogar bares Geld für ein Gespräch mit ihm und waren bereit, für einen Gefallen von ihm mit falschen Karten zu spielen. »Von wegen eilig«, knurrte er. »Erst erzählste mir haargenau, was der Kommunist gesagt hat!«

Roberto ging in die Hocke, um sich den Schuh zuzubinden. ›Mistkerl‹, dachte er. Ausgerechnet der Bürgermeister hatte ihn damit beauftragt, seinen Freund zu überreden. »Du bist doch ein aufgewecktes Kerlchen«, hatte er ihn gelockt, »und wickelst dieses jämmerliche Arschloch um den kleinen Finger. Und wenn nicht, weshalb sollte ich dir dann diesen verantwortungsvollen Job bei der Trexo besorgen?«

»Los!«, forderte der Bürgermeister ihn jetzt auf. »Was hat er genau gesagt?«

»Dass er Euch die Saracina nicht gibt, selbst wenn ihr sie mit Gold aufwiegt«, antwortete Roberto, während er langsam wieder aufstand und sich so auf die Seite des ›Arschlochs‹ stellte, das er hätte überzeugen sollen.

»Elender Hurensohn!«, zischte Seine Exzellenz durch die Zähne. »Weiß er etwa nicht, dass wir sie uns trotzdem nehmen?«

»Doch«, sagte Roberto, ohne die Befriedigung zu unterdrücken, dass sein Freund ein so mutiger Mann war, »aber er wird darum kämpfen.«

»Wen interessiert das schon!«

Der Bürgermeister war eine Schlange, und je näher die Stunde ihres Todes rückte, umso giftiger wurde sie. Er hatte einen schmalen Mund, nicht ein Barthaar, weiße Augenbrauen, milchige Haut, und seine Augen waren so hellblau, dass sie ihm den Spitznamen Occhi janchi, weiße Augen, eingebracht hatten.

Weiß wie die eines Ertrunkenen, so dachte Franca Cortese. Sie erschauderte jedes Mal, wenn der Blick des Bürgermeisters sie musterte, weil sie trotz ihrer fünfzig Jahre immer noch das Blut der Männer zum Kochen und ihre Gedanken auf Abwege brachte.

Für Roberto sah der Bürgermeister eher wie der Nazi aus, den man vor ein paar Monaten in Argentinien erwischt hatte, wie dieser Priebke, der wahllos Männer hatte erschießen lassen, einer mehr, einer weniger, was machte das schon für einen Unterschied? Das waren alles Verbrecher. Ich habe Befehlen gehorcht. Roberto machte einen Schritt zurück. »Auf Wiedersehen«, sagte er.

»Warte!« Der Alte packte ihn am Arm, trat so dicht an ihn heran, dass Roberto den Knoblauchgestank aus seinem Mund riechen konnte. »Was hat er noch gesagt?«

Er befreite sich mit einem Ruck. »Nur, dass die Saracina nicht angerührt wird! An Eurer Stelle würde ich es echt lassen.«

»Lassen?« Der Bürgermeister sah ihn erstaunt an. »Wann im Leben habe ich schon mal was gelassen? Hä? Wann?« Er kniff die Eisaugen zusammen: »Tja, dann kennst du mich also nicht«, flüsterte er. »Dann weißt du also nicht, wer ich bin!«

»Die Saracina wird nicht angerührt«, beharrte der Junge, der plötzlich das Anwesen verteidigte, als wäre es seins.

»Ha!«, lachte der Alte und sah ihn überrascht an. »Was ist, husten jetzt etwa schon die Flöhe?«

Roberto überging die Provokation und fügte hinzu: »Das Land von den Pintos ist nichts wert, nehmt das für die Müllhalde. Es liegt sogar noch viel günstiger und …«

»Dieser Kommunist«, unterbrach der Alte ihn, »wird mir noch zu Füßen liegen und um das elende Geld betteln, das wir ihm bieten. Aber wenn das Ding durch ist, sieht er keinen Centesimo, wir enteignen seine Saracina. Basta!«

Ekel überwältigte Roberto. Costanzo hatte Recht. Diese räudigen Mistkerle lebten nur dafür, andere zu betrügen. Er musste einen weiten Bogen um sie machen, damit er sich nicht bei ihnen ansteckte.

Der Alte schien seine Gedanken zu lesen. »Du weißt, dass der Job auf dich wartet, nicht wahr?«, erinnerte er ihn und zog damit an der Leine, die er ihm vermeintlich um den Hals gelegt hatte.

Roberto zuckte mit den Schultern: »Wenn Ihr das sagt.«

»Du glaubst mir nicht?«

»Ich glaube es erst, wenn ich mir die Hände schmutzig mache.«

›Verdammter Dreckskerl‹, dachte der Alte und kicherte dann. »Ah, du verweigerst mir also den Respekt?«, sagte er zuckersüß. »Du glaubst mir also nicht?«

Roberto verjagte eine Fliege, die sich auf seinen Arm gesetzt hatte.

»Also?«, beharrte der Alte.

Die Fliege ließ sich auf dem Rand eines Honigglases nieder, krabbelte eine Weile darauf entlang, dann fiel sie hinein. Sie sirrte wie betrunken herum, tastete nach dem süßen, klebrigen Gelb und fing an, vor Genuss zu zittern.

Der Alte sah sie an, nahm den Deckel und schraubte das Glas zu. »Sie wird an ihrer Lust sterben«, sagte er lächelnd.

Die Fliege versuchte tatsächlich abzuheben, fiel jedoch wieder hin und verklebte sich Flügel und Beine. Sie bewegte sich unbeholfen, wackelte, gelangte zur Glaswand, versuchte hinaufzuklettern und fiel wieder hinunter.

»Lasst sie raus«, sagte Roberto.

»Die Weichherzigen gewinnen kein Land«, seufzte der Bürgermeister. Und gleich darauf: »Willst du den Job bei der Trexo? Das ist ein guter Job als Werksleiter, nach dem sich alle die Finger lecken«, sagte er verführerisch.

Die Fliege bewegte sich nicht, sondern sammelte ihre Kräfte für einen neuen Versuch. Der Junge riss den Blick los, er traf den des Alten. Ja, er brauchte diese Arbeit, um Maria heiraten und eine Familie gründen zu können.

»Du bekommst ihn«, erklärte der Bürgermeister, »aber nur, wenn du den Kommunisten überredest, uns das Land zu geben, ohne uns auf die Eier zu gehen.«

»Das mache ich nicht.«

»Nicht?« Der Alte lächelte. Freundlich sagte er: »Hör mal, es ist nicht gut für dich, wenn du dich gegen mich stellst.«

Und das sollte Roberto angeblich nicht wissen? Er kannte den da schon seit ewigen Zeiten: Pallante war Anwalt, der – mithilfe der Kunst der Gaunerei, in der er ein Meister war – aus der Politik seine Kampfarena gemacht und betrogen hatte und weiterhin alle betrog. So hatte er ein Vermögen angehäuft, das seine vielen unehelichen Kinder nur mit Mühe würden durchbringen können.

»Das Anwesen ist ein Paradies …«, murmelte Roberto. »Nicht mal Gott will …«

»Gott? Komm mir bloß nicht mit Gott! Der scheißt doch auf unsere Angelegenheiten.«

Roberto wurde rot. Noch nie hatte er den Namen Gottes in so einem vulgären Zusammenhang gehört. Sein Erröten amüsierte den Alten: »Och, so zarte Öhrchen hast du? Na, da hab ich mich wohl in dir getäuscht, bist wohl eine Tucke, was? Das muss ich aber gleich mal Maria erzählen, ich muss doch meine Patentochter warnen, dass sie womöglich eine Schwuchtel heiratet.«

Ein bitterer Geschmack erfüllte Robertos Mund und ihm kam die Galle hoch. Er ballte die Fäuste, zwang sich, ruhig zu bleiben, denn mit einem Schlag hätte er Seiner Exzellenz die Fresse polieren können und zwar richtig. Er betrachtete die Fliege, die sich nicht mehr bewegte, gestorben an ihrer eigenen Lust. Er wünschte dem Alten den gleichen Tod, aber qualvoller, länger, schrecklicher.

»Zurück zum Kommunisten«, sagte der Bürgermeister rasch. »Rede noch mal mit ihm: heute, morgen, übermorgen. Rede solange mit ihm, bis du ihn überzeugt hast. Erst dann gehört der Job dir, ansonsten ciao.« Und als Roberto kein Wort erwiderte, packte er ihn an den Schultern und schüttelte ihn heftig: »Du musst wie ein Wassertropfen sein, kapiert? Wie ein steter Tropfen, der selbst einen Stein aushöhlt.«

Mit einem Ruck machte Roberto sich los. »Costanzo gibt Euch die Saracina nicht«, zischte er. »Niemals. Niemals wird aus diesem Paradies eine Kloake. Nie!« Er brüllte. »Und den Job könnt Ihr behalten«, fügte er zitternd hinzu. »Lieber verhungere ich, als so niederträchtig zu werden wie Ihr!«

Der Bürgermeister erbleichte: »Du miese Ratte, du!«, schimpfte er. »Verpiss dich! Und komm mir ja nie wieder unter die Augen!«

Eine Ratte? Lieber eine Ratte als ein Arschloch! Roberto trat auf die Straße. Ihm war, als erkannte er das Gesicht von Costanzo hinter der Fensterscheibe, er hob die Hand zum Gruß, später würde er ihm erzählen: ›Ich hab meinen Vertrag als Arbeitsloser unterschrieben.‹ Er würde lachen, und Costanzo, da war er sich ganz sicher, würde mit ihm lachen und rufen: ›Na also, hast ja doch Eier, Junge!‹ Später – jetzt musste er nach Hause, denn seine Mutter wartete schon.

»Ich komm nachher vorbei«, rief er zum Tabakladen hinüber.

Er sah, dass sein Freund nickte.

Roberto lächelte: Endlich fühlte er sich frei! Frei und glücklich, großer Gott! Glücklich. Hände und Füße waren frei, frei von den Fesseln, die dieser Herr ihm hatte anlegen wollen, sein Geist war befreit von der schwarzen Wolke des Diktats Seiner Exzellenz, von dem Gift des Verrats, von den Machenschaften des Klüngels, der sich die Hände schmutzig macht, um Abfall in Gold zu verwandeln – denn das war das neue Erdöl: der Müll, der Dreck, der den kommunalen Kassen (und nicht nur ihnen) die Früchte der Entsorgung bringen sollte. Frei und glücklich lief Roberto die abschüssige Straße hinunter, auf der die Kinder mit ihren selbst gezimmerten Skateboards hinabrasten, ein paar Zähne verloren, sich einen Arm oder ein Bein brachen oder gleich den Hals.

 

2

 

Seine Mutter Franca, »die Acitana«, erwartete ihn tatsächlich. Sie blickte von der Straße zur Uhr am Handgelenk und fragte sich, warum er noch nicht zurück war. Die Vorstellung eines Unglücks lähmte sie. Blitzartig sah sie wieder die Szene vor sich, als man ihr damals gesagt hatte, dass ihr Mann gestorben war: ›Tot, Franca, verstehst du? Tot!‹ Sie sah sich, während sie die Steigung hinaufgehastet war und sich eingeredet hatte, dass es nicht wahr sein könne, dass das alles Unsinn wäre, alles Unsinn, ihr Mann war ein kräftiger Kerl, der den Tod mit Spucke ertränken würde. Tot? Niemals! ›Giorgio‹, hatte sie im Laufen geschrien. ›Giorgio …‹

Sie schüttelte den Kopf und kehrte in die Gegenwart zurück. Ein Schatten kam schnellen Schritts näher.

»Roberto!«, seufzte sie und schlug das Kreuz, um Gott und allen Heiligen zu danken. Und in ihr begann das Leben wieder zu singen.

Während sie vom Fenster wegtrat, erblickte sie gerade noch Sarino Motta, der wie zufällig daran vorbeiging. Immer ging er wie zufällig dran vorbei: Seit dem Tag, an dem sie nicht mehr Trauer trug, hatten die Männer ihr wieder den Hof gemacht – ›Wollen wir dem Jungchen nicht einen Vater geben?‹ – und er war von allen der Beharrlichste.

Sie hatte ihm die Tür vor der Nase zugeknallt, ihm und all den anderen. Die anderen hatten aufgegeben, er nicht. Seit zwanzig Jahren belauerte er sie, beobachtete sie, hoffte, dass sie ihre Meinung änderte; ab und zu wiederholte er seinen Antrag, und immer lehnte sie ab: ›Ich will keine Männer in meinem Leben, mir reicht mein Sohn.‹ Und Motta: ›Nur für ihn wollen Sie da sein?‹ Und sie: ›Ganz genau.‹ Verärgert zog er ab, entschlossen, nie wieder bei ihr aufzutauchen, und für eine Weile verschwand er. Für eine Weile trat sie immer wieder ans Fenster, aber er war nicht da, und die Straße kam ihr – überraschenderweise – viel leerer und viel einsamer vor. Dann jedoch tauchte er wieder auf, und sie fühlte in der Brust die Blume der Genugtuung erblühen, die ihr bei den langen Näharbeiten tagsüber Gesellschaft leistete, während im Hintergrund der Fernseher lief. Wild war Motta und grob, aber auch … ausdauernd.

»Was ist passiert?«, fragte sie, kaum dass der Sohn die Tür öffnete. »Wieso kommst du so spät?«

Roberto, der in diesem Moment keine Lust hatte, ihr von Costanzos Wut, der Gemeinheit der Exzellenz und dem verlorenen Job bei der Trexo zu erzählen, sagte dramatisch: »Wenn ich nicht sofort was esse, sterbe ich.«

»Schatz!«, rief sie, lief in die Küche und bereitete ein Mittagessen vor, das eine ganze Armee hätte satt machen kön-
nen.

Roberto ging sich die Hände waschen. Er fühlte sich immer noch leicht, so als würde er statt der Trümmer einer Katastrophe, die auf seinen Schultern lasteten, nicht einmal das Gewicht der eigenen Knochen und Muskeln tragen. Er betrachtete sich im Spiegel: strahlende Augen, glückliches Gesicht, das Lächeln von einem, der seine heißgeliebte Verlobte heiraten würde … Maria … der verlorene Trexo-Job … Verdammt! Das würde noch richtig bitter werden.

Die Stimme seiner Mutter drang aus der Küche: »Essen ist fertig!«

»Komme gleich.«

Maria war zu allem fähig, nur um den Status »Ehefrau eines Trexo-Arbeiters« zu erlangen, gefolgt von dem Kindersegen. Aber die Trexo … aus und vorbei! Der Bürgermeister würde seine Worte nie zurücknehmen, also würde Roberto auch nie dort arbeiten.

Ist auch egal, dachte er.

Und Maria?

Er würde mit Maria sprechen und ihr alles erklären: ›Die Selbstachtung geht über alles‹, würde er ihr sagen. ›Es gibt doch nicht nur die Petrochemie auf dieser Erde! Soll ich denn täglich Gift einatmen?‹

Er strich sich mit den nassen Händen über Gesicht und Haare: »Ist denn nur die Kohle wichtig?«, fragte er den, der ihn aus dem Spiegel anstarrte.

»Es wird kalt!«, rief seine Mutter von fern.

Roberto schloss die Augen und seufzte tief: »Ich komme.«

Er trat zu ihr, setzte sich vor einen überquellenden Teller mit gebratenen Spaghetti, die nach Feiertag dufteten, versenkte zerstreut die Gabel darin und dachte an Maria. ›Ich bitte den Tabbacchere und seine Frau um Hilfe‹, würde er ihr sagen. ›Sie wissen, wie man anständig lebt, ohne die Freiheit aufzugeben.‹

»Bist du müde?«, fragte Franca.

»Nein.«

Seit ewigen Zeiten hörte er Costanzo und Agata predigen, dass man Mensch bleiben müsse und nicht zur Witzfigur werden dürfe, dass man sich die Hände nicht schmutzig machen dürfe, selbst wenn man sie mit Erde, Mehl oder Tinte besudelt, je nachdem, welche Arbeit man verrichten kann. ›Denn genau das musst du tun, Roberto: Das, was du kannst. Besser gesagt: Das, was du willst. Das hört sich für dich nach unverständlichem Mist an? Nein, mein Junge. Man muss bis zur Selbstaufgabe kämpfen, um Mensch zu bleiben.‹

Franca betrachtete ihn verständnisvoll. »Was ist?«, flüsterte sie.

Genervt schüttelte Roberto sich. »Kannst du zwölf Minuten warten?«

»Warum gerade zwölf?«

»So lange brauche ich, bis ich satt bin. Genau zwölf Minuten.«

Franca verzog das Gesicht, zerkrümelte ein Stück Brot und sah ihn wieder an: »Warst du bei Costanzo?«

Roberto schaltete den Fernseher an.

Da begriff sie, woher der Wind wehte, und hob die Hände. »Schon gut, ich sage nichts mehr. Heute schweigen wir also.« Doch bevor sie in das andere Zimmer ging, sagte sie: »Die Koteletts stehen da«, und wies mit dem Kinn auf einen abgedeckten Teller.

Er hörte auf zu essen. Ein Streit mit der Mutter hätte ihm gerade noch gefehlt, denn damit würde dieser Tag in einer kompletten Katastrophe enden. »Mamma«, rief er.

Stille.

Er schaltete den Fernseher aus. »Franca Cortese …«

Stille.

»Stell dich doch nicht so an.«

Taub und stumm.

»Francuzza!«

Nichts.

Er nahm den Teller und ging in das Zimmer, in dem sie tagsüber Kleider nähte. In diesem winzigen Loch standen ein Tisch, übersät mit Schnittbögen, zwei Stühle und ein Kleiderständer mit ihren Arbeiten. Sie saß neben dem Fenster, hinter ihr eine Schneiderpuppe mit einem halben gelben Kleid, und beugte sich über einen blauen Stoff.

Er setzte sich auf den anderen Stuhl.

»Franca Cortese …«

Sie tat, als sähe sie ihn nicht, als hörte sie ihn nicht. Sie war stinkig. Und zwar richtig. Und wenn das der Fall war, konnte sie stundenlang so weitermachen.

»Signora Cortese, würden Sie mich freundlicherweise anschauen?«

Sie fädelte blauen Zwirn in etwa zwei Dutzend Nadeln, die auf einem Nadelkissen steckten. Das war ein Grundsatz ihrer Arbeit: Sie bereitete zuerst ihre Werkzeuge vor, um später das Nähen nicht unterbrechen zu müssen. Franca war schön, eine helle Locke fiel ihr auf die Wange, ihr Profil war perfekt, der Mund sinnlich, die Brille saß auf der Nasenspitze. Wäre Roberto nicht ihr Sohn gewesen, hätte er sich in sie verlieben können. Er wurde rot und hustete verlegen. Was kamen ihm nur für Gedanken? Er drehte die Gabel in den Spaghetti und führte sie zum Mund.

Von der Straße erklang eine Stimme, die Io muoio di te, Ich sterbe von dir, sang.

›Wie bescheuert‹, schoss es ihm durch den Kopf. ›Was heißt das, ich sterbe von dir? Ich sterbe für dich, ich lebe für dichSchlagerrhetorik, so hätte Costanzo das genannt und hätte die kommunistische Faust hochgereckt und erklärt: Ich sterbe für die Sache, Genossen.‹

»Franca Cortese«, murmelte er also mit Unheil verheißender Stimme. »Es gibt etwas, das du wissen musst.«

Ihr gefror das Blut in den Adern. Sie atmete langsam, so wie der Dottore es ihr damals beigebracht hatte, als Giorgios Tod ihr die Kehle zugedrückt und sie keine Luft mehr bekommen hatte. »Was ist?«, hauchte sie.

Zwischen Wahrheit und Lüge schwankend betrachtete Roberto sie und erwog, wie seine Worte wohl wirken würden, dann sagte er: »Deine Bratnudeln sind echt lecker.«

Unwillkürlich verpasste sie ihm eine Kopfnuss, doch sie streifte ihn nur und das mit Absicht. »Eines Tages bringst du mich noch um«, sagte sie. Dann blickte sie wieder auf die blaue Seide und verstummte.

Roberto, mit dem Teller auf den Knien, aß weiter.

Eine Weile war es still. Er starrte auf den Teller, um sie nicht ansehen zu müssen. »Franca Cortese«, sagte er schließlich mit tonloser Stimme.

»Was ist?«

»Ich hab den Job bei der Trexo verspielt.«

Ruckartig hob sie den Kopf: »Was heißt das?«

»Na, genau das.«

 

Nachdem der Junge gegangen war, begab sich Occhi janchi in sein Büro, blätterte in ein paar Gesetzesbüchern, prüfte lange den Bebauungsplan des Dorfes, überflog einige geografische Karten, auf denen mit Rotstift Kreuze eingezeichnet waren. Dann telefonierte er, ohne den Blick zu heben, mit einem Angestellten des Katasteramtes.

»Natürlich wird die Unannehmlichkeit großzügig kompensiert«, erklärte er. Alle wussten, dass er sich seiner Pflichten mit klingender Münze entledigte, daher waren ihm alle zu Diensten.

Er notierte auf einem Blatt einige Zahlen, stellte weitere Fragen, die der Gesprächspartner zu beantworten versuchte, und sagte dann plötzlich: »Ist die Sache für dich machbar?«

»Exzellenz …«

»Ist es für dich machbar?«, beharrte er, nicht nur, um sich davon zu überzeugen, dass der andere verstanden hatte, sondern vor allem, um ihn für den Fall des Falles auf seine genaue Verantwortung hinzuweisen, falls er sich in Zukunft hinter Phrasen wie ›Entschuldigt, Exzellenz, das hatte ich nicht verstanden‹ verstecken wollte. »Also?«

»Sehr machbar.«

»Bravo. So gefällst du mir.«

»Aber …«

»Ich hab doch gesagt, ich kümmer’ mich drum. Oder muss ich meine Meinung ändern? Soll ich etwa annehmen, dass du so etwas nicht schaffst?«

»Natürlich nicht. Es ist nur …«

Der Bürgermeister legte auf, klappte die Gesetzesbücher zu, rollte den Bebauungsplan zusammen, trat auf den Balkon und blickte zum offenen Fenster des Tabakladens, hinter dem der Kommunist stand. Der Sieg war Pallante ins Gesicht geschrieben, und in der Hand hielt er ein Blatt Papier, das er langsam, aber mit Kraft zusammenknüllte, bis es nur noch eine kleine Kugel war. Diese warf er hinter sich, so als wollte er sagen: ›Siehst du? Ein Niemand bist du. Und ich hol mir die Saracina.‹ Costanzo trat einen Schritt zurück. »Arschloch!«, fluchte er, während die Wut, die sich ein bisschen gelegt hatte, wieder in ihm hochkochte, und das Herz in seine Brust biss, sodass ein Schmerz von der Schulter durch den Arm bis in den kleinen Finger schoss. Costanzo wartete, dass sich der Schmerz legte. In seinem Kopf führten Unmengen an Gedanken Krieg gegeneinander.

Der Bürgermeister – ein Faschist in Pose und Charakter –blickte immer noch vom Balkon auf die Straße. Costanzo reckte ihm die kommunistische Faust entgegen. Geschlossen. Stark. Kraftvoll wie ein Hammer, der niederfällt und jeden Amtsmissbrauch zermalmt.

»Nie«, brüllte er. »Niemals bekommst du von mir auch nur die kleinste Kleinigkeit.« Er schloss das Fenster und drehte ihm den Rücken zu.

Ob der Bürgermeister lachte oder schimpfte, erfuhr er nicht. Er massierte sich den schmerzenden Arm und betrachtete zufrieden den Laden, den er fast genauso liebte wie die Saracina.

Das Geschäft war groß und elegant ausgestattet, sodass seine Freunde damals gespottet hatten: »Verdammt, Genosse, diese bürgerliche Bonboniere ist alles andere als ein proletarischer Ausschank!«

»Verdammt, Genossen«, hatte Costanzo sich verteidigt, »ich muss mein ganzes Leben hier drin verbringen, da erlaubt mir bitte, dass ich mir meinen Schatz schön mach!«

›Meinen Schatz‹, so nannte er den Laden, als wäre er seine große Liebe. Dabei verzehrte er sich damals die ganze Zeit nach Agata, sammelte allen Mut, sie anzusprechen, und brachte ihn dann doch nicht auf. Er mutlos! Er, der im Leben immer dreist gewesen, den anderen immer einen Schritt voraus, er, der immer bereit gewesen war, eine Lektion zu lernen und nie zurückzuweichen. Agata Lipari aber erschien ihm weiter weg als ein Stern. Still machte er ihr den Hof, während sie so tat, als existierte er nicht. Nachts träumte er von ihr, nachts sagte er ihr: ›Über alle Maßen liebe ich Euch, Signora, über alle Maßen. Ihr werdet nie wissen, wie sehr, denn ich werde nie fähig sein, es Euch zu sagen.‹ Auch tagsüber sagte er es ihr, aber nur still, mit der Verlegenheit eines Pubertierenden, der die Klassenschönste anhimmelt.

Er betrachtete den Kirschholztresen, die Regale aus demselben Holz mit den Zigarettenschachteln, den Postkartenständer, das Regal mit Bonbons, Lakritz, Schokolade und Kaugummis. Er trat zur Vitrine mit den Pfeifen, wischte mit dem Hemdsärmel ein paar Fingerabdrücke von der Schreibe und ging zur Kredenz – antik, aus Nussbaum –, in der er die Kräuter aufbewahrte.

»Kräuter und Zigaretten zusammen?«, hatte ein Lieferant ihn erstaunt gefragt.

»Warum nicht?«

Er nahm eine Tüte Kardamom heraus, roch daran und erinnerte sich an das erste Mal, als Agata sich für ihn ausgezogen hatte. Sein Herz verkrampfte sich. Er schloss die Augen, verschluckte einen Bissen Luft, der ihm lächerlich wenig vorkam. Er wickelte ein Bonbon aus und steckte es sich in den Mund. Doch sofort spuckte er es wieder aus. Er brauchte mehr Luft. Um besser atmen zu können, trat er an die Tür.

Die Piazza war leer, ebenso die Arkaden, leer war auch der Aussichtspunkt, von dem aus man das Panorama auf Täler, eine wunderschöne Küste mit schaukelnden Booten und einen Postkartenhimmel genießen konnte. Ich gehe nach Hause, beschloss er da, entgegen all seiner Gewohnheiten.

Er würde sich aufs Bett legen, und Agata würde seine Wut vertreiben. Er war rettungslos in sie verliebt. Rettungslos, Signore, rettungslos. Er liebte ihren Gang und ihre Stimme, liebte ihre Augen, ihre großen weißen Brüste, ihr Lachen, das plötzlich aus ihr hervorbrach, ihren Wagemut, ihre Unschuld, ihr Fieber, ihre Leidenschaft, ihre Bedürfnisse und ihre Fröhlichkeit. Er liebte alles an ihr. Und zusammen mit ihr würde er diesen Bastard, der ihm die Saracina wegnehmen wollte, an den Pranger stellen. Und sie würden lachen, lachen, lachen, und das Herz würde sich beruhigen, und der Atem würde wieder normal gehen …

Costanzo schloss die Glastür ab, hängte das Schild »ÖFFNE UM VIER« an die Scheibe und trat zur Treppe, die in den ersten Stock führte, wo er und Agata wohnten.

 

Agata hörte ihn husten, noch bevor sie ihn sah.

»Hast du was in den falschen Hals bekommen?«, fragte sie, während sie ihm entgegenging.

Er antwortete nicht, sondern umarmte sie. Einfach so, um sie an sich zu spüren, ihre Wärme zu fühlen, ihren Duft zu riechen, sie lebendig und wirklich neben sich zu wissen: Sie war viel zu schön für ihn, viel zu zart, viel zu sensibel, viel zu elegant, viel zu gebildet, viel zu viel …

Er drückte sie fest an sich. »Du bist mein Leben«, sagte Costanzo.

»Wirklich?« Sie lachte. »Komm, trink einen Schluck Wasser.«

»Nein, warte. Halt mich ganz fest«, murmelte er, während ihm am ganzen Körper der Schweiß ausbrach.

Agata drückt ihn an sich.

Eine starke Übelkeit stieg in ihm auf. Ein extremes Bedürfnis, selbst den Magen auszuspucken. Er suchte Halt, etwas, woran er sich festklammern konnte. Er würgte heftig.

»Was ist, Costanzo?«

Er antwortete nicht, er konnte nicht.

»Ich ruf den Dottore«, sagte sie da.

Er hielt sie auf, vergrub das Gesicht in ihren Haaren und sagte noch einmal: »Du bist mein Leben.« Und noch einmal: »Du bist …«, aber nun gingen seine Gedanken völlig durcheinander, und ihm war kalt, trotz des Schweißes. So eiskalt, Allmächtiger!

»Nimm mich in den Arm.« Er fühlte sich wie betrunken. Eine freudlose Trunkenheit. Kopfschmerzen und Übelkeit.

»Komm«, sagte sie stattdessen, zog ihn zum Bett und half ihm beim Hinlegen. »Ich ruf Pulizzi an.«

»Wegen dem bisschen Husten?«

»Das ist nicht nur Husten …«

»Aber natürlich …« Und trotzdem war ihm sterbenselend.

»Du gefällst mir nicht, Costanzo«, murmelte sie, hin und hergerissen zwischen der Notwendigkeit, Hilfe zu holen, und dem Wunsch, ihn nicht allein zu lassen.

»Ich … gefall … dir also nicht?«, versuchte er zu scherzen. Doch er ließ diesen Versuch gleich wieder, wegen all dieser Verwirrung. Er versuchte viel mehr, ein paar Worte auf die Reihe zu bringen, eines nach dem anderen, aber es kam nur ein Gebrabbel heraus.

»Costanzo …«

Er atmete schwer. »Ist gleich vorbei«, sagte er zitternd. Eiskalt stand ihm der Schweiß auf der Stirn und durchnässte sein Hemd.

Agata rannte zum Telefon. »Kommen Sie!«, sagte sie dem Arzt. »Ein Notfall!«

Costanzo versuchte nicht einmal zu widersprechen. Er hatte die Augen geschlossen, der Schmerz im Arm wurde immer heftiger, die Hand war taub, am kleinen Finger nagten die geschlossenen Scheren eines Krebses.

»Red mit mir«, sagte Agata, als sie zu ihm zurückstürzte. »Erzähl mir etwas.«

»Das Land …«, brachte er heraus. »Das Arschloch, unser Land.« Er bekam einen Wutanfall, zuckte wie jemand, der alle Kraft für einen erfolgreichen Ausbruchsversuch zusammennahm.

»Beruhig dich, bitte.«

»Aber wie?« Fast weinte er. »Er will mir das Land wegnehmen … wo unsre Kinder … spielen … und unsre Enkel …« Er versuchte, ganze Sätze zu sprechen, doch es fiel ihm immer schwerer.

»Welche Kinder, Costanzo?«

»Die Kinder kommen … bald … ganz bestimmt.« Er wurde vom Husten geschüttelt. Und während er noch hustete, griff er sich an den Hals, als würde er erdrosselt und bekäme keine Luft mehr. Er riss den Mund auf, er schnappte mit den Zähnen nach der Luft. Es war ihm, als läge eine Marmorplatte auf seiner Brust, in seinem Kopf rauschte das Wasser, ein Sturm, viel mehr ein Orkan, das Geräusch von rauschendem Wasser, überall Wasser, so dachte er, während der Schmerz von der Brust in den Bauch wanderte und ihm unendliche Übelkeit verursachte.

»Ich ruf den Dottore noch mal an«, sagte Agata und sprang auf.

Er hielt sie zurück. »Lass mich nicht allein.«

Costanzo blickte sie verloren an, so als sähe er etwas vor sich, das er aber nicht erkannte. Er blinzelte, als wäre diese Sache eine große Sonne, und man sieht die Sonne und denkt, dass man von ihr verschluckt wird, von diesem verschwenderischen Licht, das so strahlt und blendet, und alles, alles vermischt sich plötzlich, während Agata nur noch schreit, seinen Namen ruft, versucht, sich aus seinem Griff zu lösen, aus der Hand, die sie immer noch umklammert, während seine Augen verloren die große Sonne anstarren, die nun in ihrem Gesicht strahlt, in ihren aquamarinblauen Augen, in ihrem Mund, der ständig wiederholt amore mio amore mio amore mio amore mio, während die Hand, die sie umklammert, plötzlich loslässt, herabfällt und ihr Gesicht zu Funken explodiert, zu Myriaden von Sternen im unendlichen Universum, und alles, alles in einem donnernden all umfassenden Sturz endet, der alles weit weit … wegreißt.  

3

 

Schwarze Schleier. Beileidsbekundungen. Männer in Anzug und Krawatte. Die Proci stehen aufgereiht da, ihre Ehefrauen ebenfalls. Ihre Kinder tragen Sonntagskleider, denn morgen würden diese Kinder die Positionen ihrer Väter einnehmen und im Geschäft mitmischen. ›Denn man lebt von der Politik, meine Herrschaften, und der Sessel klebt einem erbarmungslos am Hintern. Man lebt von diesem Sessel, meine Herrschaften, der Sessel ernährt einen, mit dem Sessel bescheißt man und erweist Gefallen. Die eigenen Kühe werden fett, die der anderen verrecken. Vom Sessel aus stiehlt man, meine Herrschaften, und stehlend entgeht man auf diesem Sessel dem Knast, in dem all die Diebe landen, denen kein Sessel am Arsch klebt‹, so sagte es Costanzo.

Und Agata steht aufrecht vor dem Sarg in der von Blumen und Menschen überquellenden Kirche, in ihrem Geist hallen diese Worte ihrer großen Liebe nach und sie betrachtet die Proci und die Kinder der Proci, die weitere Proci in der langen Kette des politischen Überlebens in die Welt setzen werden, und bewegt sich keinen Millimeter.

Man kommt, man verbeugt sich.

»Mein Beileid, Signora«, sagt Occhi janchi und streckt ihr die Hand hin, die sie nicht ergreift.

»Mein Beileid«, flüstert der Gauner Acquaforte, groß und muskulös wie ein Kinoheld, mit fast blauschwarzen Haaren und einer schmalen Krawatte, die an bessere Zeiten erinnert.

»Herzliches Beileid«, bekundet Vaccaro, der wegen seines übertriebenen Hanges zur Vorsicht »Angsthase« genannt wird.

»Er war ein großartiger Kerl«, sagt Orlando, »eine vorzügliche Persönlichkeit.« Er schüttelt den Kopf und zieht heuchelnd die Mundwinkel herunter. Er ist Haushaltsexperte des Stadtrats und ein Meister der Unangemessenheit. Er trägt als Einziger zu diesem Anlass goldene Manschettenknöpfe.

»Wirklich ein großer Verlust«, murmelt Scimò, der stellvertretende Bürgermeister, Diener von Occhi janchi, der nur eine Woche zuvor über Costanzo sagte: ›Wir lassen ihn Blut spucken, das schwöre ich.‹ Und jetzt steht er da mit Tränen in den Augen, dem Hut in der Hand, ein billiger Schmierenkomödiant, der sich, wenn schon keinen Applaus, doch wenigstens ein bisschen Aufmerksamkeit erwartet.

Aber Agata tut nichts. Sie steht unbeweglich da. Stumm. Starrt die anderen nur an, sucht in deren Augen ihre schäbige Seele, die sich hinter den halbgeschlossenen Lidern im trüben Grund ihres Gewissens, in der Asche ihrer Schuld versteckt. Falls die da überhaupt eine Seele besitzen.

»Mein Beileid«, sagen die Ehefrauen.

»Mein Beileid«, sagen die Kinder.

Und dabei sehen sie sie an. Alle sehen Agata Lipari an, ab heute Witwe Di Dio. Groß und schön ist sie. So schön wie sie ist sonst niemand, schlank und geschmeidig, mit zarten Fesseln, einer stolzen Brust, einem langen weißen Hals, umschmeichelt von schwarzen Haaren, die ihr bis über die Schultern fallen. Alle sehen sie an.

Agata atmet kaum. Ihr Geist ist erfüllt von Costanzo, erfüllt von seinen Worten, seiner Wut, seinem Fehlen, das so lange dauern wird, bis sie ihn in der anderen Welt wiederfindet, in die er durch die mörderische Hand der immer noch Trauer Heuchelnden gelangt ist: »Nur Mut, Signuruzza.«

»Kopf hoch, meine Tochter.«

»Mein Beileid.«

Heute Nacht hat sie von ihm geträumt, von ihrer großen Liebe, fröhlich, lachend, die Haare etwas zerzaust, so wie immer, wenn er von Politik sprach, mit den Armen fuchtelte und seine Locken scheinbar zum Leben erwachten und seiner nachdrücklichen Stimme noch mehr Nachdruck verliehen. Genau deswegen hatte sie sich in ihn verliebt, während sie seine Reden hörte, die er jedes Mal auf der Piazza oder vor seinem Laden mit brennender Leidenschaft schwang, sobald jemand seine Begeisterung für ein neues, starkes, azurblaues und telegenes Italien äußerte, das aus lächelnden Gesichtern und schönen Mädchen bestand, aus einem Freihandel, der bedeutete: ›Ich denke nur an mich, an meinen Bauch, wer zurückbleibt, muss sich arrangieren.‹

›Also ein freier Wolf in einem freien Hühnerstall, um es mit Che zu sagen‹, bestätigte er und lieh sich dafür die Worte des argentinischen Guerilleros.

›Mit wem?‹, provozierten sie ihn.

›Mit Sche Kewahra, verstehst du? Alles, was der sagte, ist wahr. Kennst du vielleicht noch so einen?‹, frotzelte er im großen Stil, aber es gab viele, die ihn einfach nicht verstehen wollten. Manche lachten, andere schüttelten den Kopf, manch einer stieß den schrillen Pfiff eines Ziegenhirten aus und machte sich damit über die Diskussion lustig.

›Willst du etwa Revolution machen, Tabbacchere?‹

›Ja, mit Poesieschüssen.‹

Mit Poesieschüssen Sie hatte ihn angesehen und sich verliebt. Sie trug ihn in ihrem Herzen, diesen frechen Typen, der in ihrer Gegenwart seinen Übermut und seine Dreistigkeit verlor und an einer Überdosis Luft zu ersticken schien. Unaufhaltsam füllte die Liebe sie aus wie das Wasser einer Lagune, das langsam Straßen und Plätze überflutet. Er merkte davon nichts, denn sie zeigte es nicht: Sie wollte diese aufkeimende Liebe in aller Ruhe genießen, wollte sie nicht wie ein Strohfeuer abfackeln, sondern wie einen Holzklotz, der, wenn er erst einmal Feuer gefangen hatte, eine Ewigkeit brannte. Sie träumte fast jede Nacht von ihm, sie sah sich, wie sie ihren Kopf auf seine Brust legte und sein Herz schlagen hörte. Dieses Herz, das so plötzlich …

Die Tränen schnüren ihr die Kehle zu. Doch nicht eine quillt aus ihren Augen.

›Ich will Costanzo Di Dio heiraten‹, hatte sie ihrem Vater gesagt.

›Bist du verrückt?‹

›Ich bin überaus gescheit.‹

›Du entscheidest dich für ein Leben in der Hölle.‹

›Es wird das Paradies.‹

›Sie machen ihm das Leben sauer, und dir wird es genauso ergehen.‹

›Ich will mein Leben mit ihm verbringen.‹

›Bist du sicher? Denk gut darüber nach, mein Schatz.‹

›Ich denke seit einem Jahr darüber nach, Papa. Ich will
ihn.‹

Und als Costanzo endlich sagte: ›Signora, dürfte ich mit Ihnen reden?‹

Antwortete sie: ›Ja.‹

›Es gibt da eine Ausstellung …‹

›Ja.‹

›In Syrakus …‹

›Ja, Costanzo, ja!‹, sagte sie ungeduldig.

›Ja … was?‹

›Ich will deine Frau werden.‹

Er starrte verträumt vor sich hin, und seine hellen Locken standen wie ein Kranz aus Gold um seinen Kopf. Sie lachte. Er war verwirrt und brabbelte irgendwas. Dann nahm er sie in den Arm und wirbelte sie dort, mitten auf der Straße, herum, drehte und drehte sie, während die Leute ungläubig stehenblieben.

»Nur der gewissenlose Kommunist kann so ein respektloses Spektakel veranstalten. Und die Tochter von Umberto Lipari? Hat sie etwa auch schon allen Anstand und alle Schicklichkeit verloren? Aber kuckt sie euch an, Signuri, kuckt sie euch an …«

»Wir heiraten, sobald wir die Papiere zusammen haben«, sagte Costanzo. Drei Monate später (denn Occhi janchi hatte seine Finger im Spiel, damit selbst die einfachsten Dinge dem kommunistischen Bastard schwer gemacht wurden) waren sie verheiratet.

Das Glück dauerte nicht einmal zwei Jahre. Denn jetzt liegt er da, in diesem Armensarg. ›Wenn ich mal sterbe, dann legt mich gefälligst nicht in so einen protzigen Sarg. Ich will als Armer unter der Erde ruhen.‹ Ein einfacher, schmuckloser Sarg.

Und schon lästern die Leute, flüstern, nennen sie geizig: »Nicht mal einen ordentlichen Sarg gönnt sie ihrem Mann.«

Die Männer verschlingen sie derweil mit Blicken: der Busen unter dem gespannten Stoff, die Beine, die Fesseln, die seidigen Haare, die blauen Augen, der rote Mund, der knackige Hintern. Dort, vor der geweihten Hostie ziehen sie Agata mit Blicken aus, bereit, ihre Witwenzeit abzuwarten, bis sich eine Gelegenheit ergibt, und sei es nur, um sich die Genugtuung zu verschaffen, dort zu weiden, wo der kommunistische Bastard geweidet hat: Das denkt der Bürgermeister, und stellt sich bereits vor, wie er diese großartige Kleine nimmt, die sich unter ihm hingibt, das denkt der stellvertretende Bürgermeister, das denken Giardino, Russo, Acquaf...

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