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Alfie Bloom, Band 03

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Als Drachenburgbesitzer und Hüter einer uralten Zeitreisemagie hat man es nicht leicht … Ausgebüxte Drachen, böse Mächte, die einem an den Kragen wollen, und Freund und Feind lassen sich auch nicht immer so einfach auseinander halten. Deshalb soll Alfie jetzt auch lernen, seine magischen Kräfte richtig zu beherrschen. Dafür reist er zurück ins 14. Jahrhundert, und endlich beginnt das Training mit seinem Lehrmeister Orin, dem mächtigen Druiden. Doch jedes Zeitalter hat seine eigenen Tücken und in diesem lauert ein übler Seuchen-Geist, der das Leben aus allem und jedem zieht, das oder den er berührt!


  • Erscheinungstag: 05.10.2017
  • Seitenanzahl: 320
  • Altersempfehlung: 10
  • Format: E-Book (ePub)
  • ISBN/Artikelnummer: 9783505137204

Leseprobe

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Aus dem Englischen
von Kai Kilian

 

 

 

Für meine liebe Freundin Rhianna und die gesamte Belegschaft der Hartlepool ARU.

Von ganzem Herzen, danke.

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PROLOG

Unter den Eiben

Juni 1417

Newcastle

Nur wenige erinnerten sich noch an den Ursprung des mit Eiben bestandenen kleinen Hügels jenseits der Stadtmauern. Wer es tat und daran vorbeikam, erschauderte jedes Mal, bekreuzigte sich und zog seine Lieben nah zu sich heran.

In dieser kühlen Sommernacht stand ein Mann mit Kapuze im Schatten der Bäume. Er wusste, was hier unter der Erde lag. Deswegen war er gekommen.

Er entkorkte eine Flasche und träufelte eine komplizierte Form ins Gras mit einer zähen Flüssigkeit, die im Mondlicht schwarz glänzte. Dann ließ er sich davor nieder, holte ein Buch unter seinem Umhang hervor und strich mit bleichen ­Fingern über das vor Alter knisternde Pergament. Er begann zu ­singen – ein leises Gemurmel in einer Sprache, die älter war als die Hügel ringsum und dunkler als der Anfang der Zeit. Ein ­Fledermausschwarm stob aus den Bäumen, vertrieben von Worten, die nie hätten ausgesprochen werden sollen.

Der Sprechgesang wiederholte sich, wieder und wieder, brachte die Nacht zum Erstarren, während etwas aus der Erde emporstieg – ein schwarzer Hauch von fast nichts, kaum ein Schatten. Es erhob sich und schwebte über dem Zeichen, das das Gras benetzte. Das Singen dauerte an. Immer mehr hauchzarte Schwaden erhoben sich aus der Erde, wie zur Blüte eines höllischen Gartens.

Durch die Macht des Gesangs verbanden sie sich miteinander und gewannen allmählich an Stofflichkeit. Ein düsterer menschlicher Umriss nahm Gestalt an – ein Geist, so schwarz wie die Schatten, die ihm seine Form gaben.

Das Singen erstarb. Der nahe gelegene Wald hielt den Atem an.

Der Mann klappte das Buch zu, stand auf und schlug die Kapuze zurück. Ein Schauer durchfuhr die Erscheinung vor ihm, als erzitterten sämtliche Schwaden zugleich.

»Was bin ich für dich?«, fragte er den Geist mit einer Stimme so kalt wie der Tod.

»Meister«, erwiderte hundertfaches Geflüster.

»Ja.« Ein Lächeln verzog seine schmalen Lippen. »Nun geh. Suche, bis du gefunden hast, was verborgen wurde. Finde es. Nimm es an dich. Bring es mir.«

Der Geist wandte sich um und glitt den Hügel hinab. Die Grashalme, die er berührte, verdorrten im selben Moment. Als er im Wald verschwand, war die Nacht vom Geraschel der ­Tiere erfüllt, die vor ihm flohen.

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KAPITEL 1

Eine Einladung

Es war Mitternacht am ersten Tag der Sommerferien, und Alfie Bloom war gerade dabei, Orin Hopcraft, den letzten der Großen Druiden, in die hohe Schule des Kekse-in-Tee-Tunkens einzuweihen.

»Du musst mir dringend das Rezept für dieses Gebäck geben«, sagte Orin, wobei er sich einige Kekskrümel von seinem geflochtenen Bart wischte. »Wie hast du die Stückchen da­rin genannt? Schokolade? Die schmeckt einfach fabelhaft, ich muss unbedingt welche auftreiben.«

»Sie werden noch über hundert Jahre warten müssen, bis das Zeug nach England kommt«, antwortete Alfie und schenkte sich eine weitere Tasse Earl Grey aus der Teekanne ein, die er zuvor ganz behutsam durch die Geheimtür in das Studierzimmer des Druiden balanciert hatte, ehe er sechs Jahrhunderte in die Vergangenheit geschlüpft war. »Bei meinem nächsten Besuch bring ich mehr davon mit.«

»Ich darf mich überaus glücklich schätzen, einen Lieferanten in der Zukunft zu haben«, sagte Orin, schnippte sich ein Schokostück in den Mund und schlürfte den Rest seines Tees. Alfie konnte nicht anders, er musste lachen, als er den Druiden aus der zarten, blumenverzierten Tasse trinken sah.

Mit der Unterstützung von Ashford, dem Butler, über den Alfie erst kürzlich voller Staunen erfahren hatte, dass dieser sein Urenkel war, hatte er seine Zeitschlupf-Fähigkeit endlich so weit in den Griff bekommen, dass er nach Belieben in die Vergangenheit und wieder zurückreisen konnte. Während des letzten Monats hatte er dem fünfzehnten Jahrhundert zweimal pro Woche einen Besuch abgestattet, um mit Orin zu ­trainieren. Das Ganze war nicht annähernd so aufregend gewesen, wie er es sich vorgestellt hatte. Bisher hatten sie den Großteil der Zeit damit zugebracht, durch Meditation seinen Geist zu bündeln, etwas, von dem der Druide mit Nachdruck behauptet hatte, es sei eine der wichtigsten Fähigkeiten, die es zu erlernen gelte.

»Nun denn«, sagte Orin und stellte Tasse und Untertasse ab. »Versuchen wir uns noch ein letztes Mal an einem Trance­zustand, bevor du nach Hause zurückkehrst.«

Seufzend ließ Alfie sich von seinem Schemel gleiten und hockte sich im Schneidersitz auf den Teppich vor dem Kaminfeuer. Dann konzentrierte er sich auf die Kerze, die der Druide auf ein niedriges Tischchen zwischen ihnen gestellt hatte, und begann, tief zu atmen. Wie Orin es ihn gelehrt hatte, lockerte Alfie die Anspannung in jedem Teil seines Körpers und blende­te alles aus bis auf die flackernde Flamme. Als er schließlich den Eindruck hatte, als existierte um ihn herum nur noch sie, schloss er die Augen und ließ sich sanft in einen Zustand tiefer Entspannung sinken.

Während er sehr langsam ein- und ausatmete, spürte er eine Art Zittern in der ihn umgebenden Luft. Er schlug die ­Augen auf – wenn auch nicht wirklich. Sie waren noch immer geschlossen, aber es fühlte sich an, als wäre er mitten in seiner Trance aufgewacht. Er schwebte im Dunkeln, und im nächsten Moment floss ein silbrig schimmerndes Licht aus seiner Brust und schwirrte um ihn herum. Er streckte die Hand aus, und winzige Funken tanzten, wo es seine Fingerspitzen berührte.

Das Licht erschien beinah verspielt, wie es so um ihn he­rumwirbelte. Alfie zeichnete Formen in die Luft, und das Licht folgte seinem Finger und bildete sie nach. Irgendwann ver­legte er sich darauf, die Formen nur noch mit seinem Geist zu beschreiben – das Licht malte jede von ihnen fehlerlos nach und wurde dabei zusehends lebhafter. Alfie stellte es mit immer komplizierteren Mustern auf die Probe. Als er schließlich innehielt, umwölbte das Licht ihn von allen Seiten und schloss sich zu einer silbrigen Kugel, in deren Mittelpunkt Alfie schwebte, vollkommen entspannt.

Ein Klingeln drang sachte in seinen Tagtraum, worauf ­Alfie sich in die Höhe gleiten ließ. Das silbrige Licht floss in seine Brust zurück, während er das Bewusstsein wiedererlangte. Er schlug die Augen auf. Orin stellte das silberne Glöckchen ab, mit dem er geläutet hatte, dann klatschte er in die Hände.

»Vortrefflich. Wahrhaft vortrefflich! Du hast soeben einen echten Trancezustand erreicht. Deine Atmung ist ruhig und beherrscht gewesen, und ich habe gespürt, dass ein wunder­bares Gefühl des Friedens von dir ausging«, strahlte Orin. »Vor ­einem Monat noch konntest du keine fünf Minuten lang still sitzen. Ich hätte es niemals für möglich gehalten.«

Alfie grinste. »Ich auch nicht. Am Anfang musste ich noch ständig an andere Dinge denken, aber jetzt kann ich ganz einfach alles aus meinem Kopf fließen lassen.« Er erinnerte sich noch gut daran, wie enttäuscht und gelangweilt er in den ­ersten zwei Wochen gewesen war und für wie sinnlos er die Ent­spannungsübungen gehalten hatte. Mittlerweile jedoch genoss er es geradezu, wie es sich anfühlte, in die Trance hinüberzugleiten. Außerdem machte ihm dieser Zustand das Reisen zwischen den Zeitaltern um einiges leichter.

»Etwas war dieses Mal anders«, sagte Alfie, während er aufstand, um seine Beine zu strecken. Er berichtete Orin von dem silbrigen Licht und der Art und Weise, wie er damit in Verbindung getreten war.

Beim Zuhören kaute Orin nachdenklich auf dem letzten verbliebenen Schokokeks herum. »Und weißt du, was dieses Licht gewesen ist?«, fragte er schließlich.

Alfie hatte überlegt, ob es vielleicht bloß ein Traumbild gewesen war, aber es hatte sich wie mehr als das angefühlt – so als ob es ein Teil von ihm wäre.

»Das ist der Zauber gewesen, stimmt’s? Der uralte Zauber, den Sie am Tag meiner Geburt in mir verborgen haben?«

Orin nickte. »Ich hatte nicht erwartet, dass du so rasch ­einen Zugang zu ihm finden würdest. Ich selbst habe Jahre dafür gebraucht. Vielleicht hat der Umstand, dass er schon dein ganzes Leben lang in dir existiert, ihn weit mehr zu einem Teil von dir gemacht, als er es jemals von mir war. Diese Verbindung mit dem Zauber wird eine große Hilfe sein, sollte dich noch einmal irgendjemand seinetwegen herausfordern. Du musst in der Lage sein, ihn zu bezähmen, denn er schätzt es nicht, wenn man ihn unterdrückt. Er möchte benutzt werden und wird der Anziehungskraft jener erliegen, die reichlich Gebrauch von ihm machen wollen, ungeachtet der Folgen.«

»Aber das wird nicht passieren, oder?«, erwiderte Alfie vorsichtig. »Alle, die jemals von ihm gewusst haben, sind fort. Ich bin in Sicherheit, richtig?«

Orins Blick zuckte von Alfie zum knisternden Feuer hinüber. »Wenn die Zeit uns eines gelehrt hat, dann dass es keine Gewissheiten gibt.«

Die Härchen auf Alfies Armen kribbelten, als er an die Gefahr dachte, in die seine Erbschaft ihn und seine Familie und Freunde gebracht hatte, und er schüttelte nur mühsam den Angstschauer ab, der über ihn hinwegkroch. »Falls mich tatsächlich irgendwer wegen des Zaubers herausfordert, muss ich bereit sein, mich zu verteidigen. Also, was können Sie mir beibringen?«

Orin lächelte. »Ich weiß, dass es dir anfänglich öde ­vorkam, doch deinen Geist zu beherrschen ist ganz entscheidend für das, was ich dich zu lehren habe, wenn du erst mein ­Schüler geworden bist. Es gibt so vieles, das du lernen musst: über Zauber­tränke, Kräuterkunde, magische Formeln. All das wird dir dabei helfen, dich selbst zu schützen, und ebenso ­deine Freunde. Es werden einige Reisen notwendig sein. Du wirst oft eine längere Zeit bei mir verbringen müssen. Für den Anfang vielleicht ein, zwei Wochen.«

»Sie meinen, herkommen und in der Vergangenheit bleiben?« Alfies Augen leuchteten auf. Bei keinem seiner ­letzten Besuche im fünfzehnten Jahrhundert hatte er es aus Orins ­Studierzimmer hinausgeschafft. Der Gedanke daran, das mittel­alterliche Hexbridge erkunden zu können, erfüllte ihn mit Begeisterung. Im nächsten Moment biss er sich auf die Lippe, als ihm urplötzlich seine Cousine Madeleine und sein Cousin ­Robin einfielen, und seine beste Freundin Amy Sui. Sie hatten schon so viele Pläne gemacht für Abenteuer während der Sommerferien.

»Könnten die Zwillinge und Amy auch mitkommen und hierbleiben?«, fragte er. »Robin sind Sie schon begegnet, als er damals versehentlich mit mir zusammen gezeitschlüpft ist, und auch die zwei andern wissen über Sie Bescheid. Bitte!«

Orin kratzte sich über die Wange. »Hmm, die drei haben sich bereits als würdige Gefährten erwiesen. Es kann wohl nicht schaden, wenn auch sie sich ein wenig von dem aneignen, was ich dich lehren werde.«

»Ist das ein Ja?«, erwiderte Alfie und wartete gespannt auf die Antwort des Druiden.

»Sie sind hier mehr als willkommen«, sagte Orin. Alfie stieß beide Fäuste hoch in die Luft. »Aber! Wir müssen das redlich vorbereiten. Mir scheint, es wird höchste Zeit, dass ich mich erneut deinem Vater vorstelle.«

»Dir ist schon klar, dass ich dich abmurksen muss, falls du uns hier grade veräppelst«, knurrte Amy und fuchtelte ­derart bedrohlich mit dem Marmeladenlöffel herum, dass Alfie ­komplett überzeugt war, sie könne damit echten Schaden anrichten. Sie saßen in Hexbridges neustem Café – einer viktorianischen Teestube, gemeinsam betrieben von Lizzie Tiptree, Amys Oma, und Gertie Entwhistle, Inhaberin der Dorfbäckerei mit angeschlossenem Süßigkeitenladen.

»Kein Witz«, sagte Alfie und parierte den Löffelangriff mit seinem Buttermesser, während Madeleine und Robin in die Hände klatschten. »Orin hat mich eingeladen, zwei Wochen dort zu bleiben, und er hat gemeint, ihr drei könntet auch kommen.«

»Waffen runter!«, befahl eine kleine Frau in viktorianischer Dienstmädchentracht und weißen Turnschuhen, während sie eine gigantische Schokotorte an ihnen vorbeitrug.

»Kampfhandlungen eingestellt, Oma«, antwortete Amy, steckte den Löffel zurück in die Johannisbeermarmelade und riss beide Hände nach oben. Über den mit Sandwiches und süßem Gebäck randvollen Kuchenständer strahlten die vier Freunde einander an.

»Und worin genau wird Orin dir Unterricht geben?«, erkundigte sich Robin.

Alfie zuckte die Schultern. »Teil der Ausbildung sind auf jeden Fall Kräuterkunde, magische Tränke und Zauber­sprüche. Er will mir zeigen, wie ich sie als Schutz einsetzen kann.«

»Nach allem, was seit deinem Umzug hierher passiert ist, dürfte das keine schlechte Idee sein«, meinte Robin.

»Du solltest ihn bitten, dir beizubringen, wie du mit deiner Magie Sachen erschaffen kannst, so wie Ashford!«, sagte Madeleine. »Dann könntest du dir alles herbeizaubern, was du willst, zum Beispiel ein Kanu … oder ’ne hölzerne Festung … oder ’ne Zielscheibenanlage fürs Bogenschießen!«

»Ähm, sind das alles nicht eher Sachen, die du willst, Madds?«, erwiderte Amy und versetzte ihr einen Stups.

»Ich glaub nicht, dass ich irgendwas in der Art tun werde«, sagte Alfie. »Und ich würd’s auch nicht wollen.« Ihn schauder­te. Bei den wenigen Malen, die sich die Magie gezeigt hatte, ­hatte sie mehr Kontrolle über ihn gehabt als er über sie. Orin hatte recht: Es war zu gefährlich, den Zauber zu benutzen.

»Die alten Druiden waren Philosophen, Kräuterheil­kundler, Lehrmeister, Dichter, Sternforscher, Magier …«, sagte Robin mit leuchtenden Augen. »Überleg dir bloß mal, wie unendlich viel er dir beibringen könnte, all dieses uralte Wissen, das du wieder zurück in die Welt bringen könntest!«

»Hört sich an, als ob du mehr Lust auf diesen Unterricht hast als Alfie«, erwiderte Madeleine.

Amy trommelte mit den Fingern auf dem Tisch herum. »Okay, also wann geht’s los?«

»Genau!«, rief Madeleine. »Ich muss massenhaft Sachen einpacken! Ich brauch meinen Bogen samt Pfeilköcher, mein Taschenmesser, Angelhaken, Wanderstiefel …«

»Bei den Wanderstiefeln wär ich eher vorsichtig«, gab Amy zu bedenken. »Sollten wir uns nicht lieber so anziehen, als ­würden wir aus Orins Zeit stammen? Du willst ja wohl nicht als Hexe verbrannt werden, bloß weil du in Klamotten aus der Zukunft steckst!«

»Nee, oder? Haben die das zu Orins Lebzeiten echt schon gemacht?«, keuchte Madeleine.

»Tatsächlich begannen die Hexenverfolgungen in Europa etwa um 1450 –«, setzte Robin an.

»Immer mit der Ruhe!«, ging Alfie dazwischen. »Bevor hier irgendwer packt und sich über solchen Kram Sorgen macht, muss sich erst mal rausstellen, ob mein Dad überhaupt einverstanden ist. Orin möchte sich morgen früh mit ihm treffen, und es wird schon heftig genug für Dad zu begreifen, dass ich jetzt zeitschlüpfen kann.«

»Onkel Will ist cool«, meinte Robin. »Der sagt bestimmt Ja, oder nicht?«

Alfie gab keine Antwort, doch unter dem Tisch drückte er beide Daumen ganz fest.

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KAPITEL 2

Die Bedingungen

Juli 1417

Northumberland

Tief im Wald, in den Schatten des Mondlichts, stieß ein Kauz einen Warnruf aus und zog sich in seine Bruthöhle zurück. Ein Reh hob schnuppernd den Kopf. Ein rotbraunes Eichhörnchen unterbrach seine Futtersuche und stellte die Ohren auf. Leises Gewisper kroch durch die Bäume heran. Irgendetwas näherte sich.

Das Eichhörnchen flitzte zu seinem Nest hinauf, wo es ­schützend den Schwanz um seine Jungen legte. Das Reh nahm Reißaus und sprang durchs Unterholz davon. Selbst die ­Spinnen huschten in Deckung und kauerten sich unter gefalle­nes Laub. Kurz darauf herrschte Stille im Wald, bis auf die ­klagenden Flüsterstimmen, die durch die Luft schwirrten.

Der Geist glitt hinaus auf die Lichtung – ein Schatten so schwarz wie ein in die Nacht gerissenes Loch. Er hielt schwebend inne, fasrige Dunkelheit trieb ihm nach. Er besaß ­keine Augen, mit denen er hätte sehen können, sondern ­witterte ­forschend umher. Sein Ziel kannte er nicht, es war, als existierte es nicht einmal, doch wenn er in die kühle Umarmung der Erde zurückkehren wollte, musste er finden, wonach sein Meister trachtete. Ein nahes Dorf lenkte seine Aufmerksamkeit von der Suche ab … Leben, flüsterten seine unzähligen Stimmen sehnsuchtsvoll. Lautlos trieb er davon, verschwand von der Lichtung. Kaum war er fort, atmete alles im Wald vor Erleichterung auf.

Der Geist bewegte sich auf die friedliche Ansiedlung zu. Pflanzen welkten bei seiner Berührung, als er einen Kräutergarten durchquerte und auf eine kleine Behausung am Dorfrand zuschwebte. Aus dem Innern der Hütte ­drangen ­Gelächter und Stimmengewirr. Eine Familie. Der Geist erinner­te sich an Familie. Auf der Schwelle verharrte er und hob Arme aus ­wabernden Schatten, ertastete Schwingungen in der Luft. Es hatte hier einmal Magie gegeben, wenn auch nur einfache Volksmagie, nicht den uralten mächtigen Zauber, nach dem er suchte. Er wandte sich ab, doch die Wärme und Freude im Inne­ren ließen ihn umkehren. Leben, flüsterten die Stimmen erneut. Unfähig, seinen Hunger zu zähmen, glitt der Geist in die Hütte.

Als er sie wieder verließ, reckte er einen langen pech­schwar­zen Finger und zeichnete ein Symbol auf die Außen­seite der Tür, ein Symbol, das jede der in ihm gefangenen ­Seelen erkannte. Nun etwas weniger kalt und furchtsam, schwebte der Geist davon, zog sich zurück in die Nacht.

In der Hütte mit dem schwarzen Kreuz auf der Tür war das Gelächter verstummt.

Am nächsten Morgen saß Alfies Dad voller Unruhe in ­einem der Lehnstühle vor dem Kamin in der Burgbibliothek, die Hand um einen Brief gekrallt.

»Und was jetzt?«, fragte er Alfie.

Ein Rabe der Anwaltskanzlei Muninn und Bone hatte den Brief am gestrigen Nachmittag überbracht. Beinahe hätte der Vogel eine Explosion ausgelöst, als er durchs Werkstattfenster hereingeflogen war und den Umschlag geradewegs ins Getriebe eines ziemlich störrischen Miniatur-Generators hatte fallen lassen, an dem Alfies Dad gerade arbeitete. Das kurze ­Schreiben lautete wie folgt:

Anwaltskanzlei Muninn und Bone (gegründet 1086)

Sehr geehrter Mr William Horatio Bloom,

um den Beginn von Master Alfie Blooms Lehrzeit zu besprechen, hat unser Klient Orin Hopcraft ein Treffen mit Ihnen erbeten, und zwar um 10 Uhr vormittags am Dienstag, den 25. Juli 1417.

Ort der Zusammenkunft ist die Burgbibliothek. Ihre Reise ins fünfzehnte Jahrhundert wird von Ihrem Sohn bewerkstelligt ­werden.

Mit freundlichen Grüßen

Caspian Bone

Seniorpartner

Alfie hatte die Bibliothek als Schauplatz des Treffens vorgeschlagen und war erleichtert gewesen, als Orin sofort zugestimmt hatte. Das Studierzimmer des Druiden sollte ein Geheimnis allein zwischen ihm, den Zwillingen und Amy bleiben, denn er hatte die leise Befürchtung, sein Dad würde es vielleicht für sich selbst beanspruchen, sobald er die Regale voller handschriftlicher Folianten und sonderbarer, wunderlicher Gegenstände zu Gesicht bekäme.

Ein lautes Zwitschern lenkte seine Aufmerksamkeit auf ­einen weiteren sonderbaren und wunderlichen Gegenstand in der Burg, der auf dem Kopf einer der Moiren über dem ­Kamin hockte und auf sie herunterblickte: Leonardo da Vincis silberner Spatz. Sie hatten ihn in jenem Raum des Ostturms entdeckt, dem Alfie den Namen Schatzkammer verpasst hatte. Nachdem die Elfenkönigin einen Teil ihrer Zauberkraft auf den winzigen Vogel übertragen hatte, wirkte er fast lebendig. Alfie war ganz zufrieden damit, dass dessen Zuneigung hauptsächlich seinem Dad galt, denn ihm selbst ging der Piepmatz ziemlich auf die Nerven. Sie hatten ihn Fünkchen getauft, weil er seit seiner Begegnung mit der Königin ein Fünkchen echten Lebens in sich zu tragen schien.

»Kann’s losgehen, Dad?«, fragte Alfie.

»Ja, aber ich begreife das immer noch nicht. Wie um alles in der Welt können wir ins Jahr 1417 reisen, um uns mit Orin Hopcraft zu treffen?«

Alfie atmete einmal tief durch und hockte sich auf das Tischchen unmittelbar neben dem Lehnsessel. »Okay, Dad. Erinnerst du dich noch an die Nacht, in der ich geboren wurde? Du hast mir erzählt, ihr wärt damals irgendwie sechshundert J­ahre zurück durch die Zeit geschlüpft, bis ins Mittelalter, als Orin hier lebte.«

»Wie könnte ich das vergessen?«, antwortete sein Dad. »Es kam mir vor wie ein schräger gemeinsamer Traum von deiner Mutter und mir. Jedenfalls bis zu dem Tag, an dem dieser seltsame Nachlassverwalter Caspian Bone uns eröffnet hat, Orin habe dir Burg Hexbridge hinterlassen.«

»Tja, also … als Caspian uns damals erzählt hat, wir würden noch vor meinem dreizehnten Geburtstag in die Burg ziehen dürfen, hat er auch den Grund dafür erwähnt: nämlich dass er mich hat zeitschlüpfen sehen.«

Alfies Dad fiel die Kinnlade hinunter. »Du bist wirklich gezeitschlüpft? Wie ist das möglich?« Ehe Alfie zu einer Antwort ansetzen konnte, schlug sein Dad sich mit der flachen Hand an die Stirn und fuhr fort: »Aber klar ist das möglich! Immerhin bist du vor sechshundert Jahren in der Vergangenheit geboren worden, also gehörst du ebenso sehr dorthin wie hierher. Es ergibt absolut Sinn, dass du Teil beider Epochen bist. Sag mal, tickt die Zeit hier eigentlich ganz einfach weiter, wenn du die Vergangenheit besuchst? Meiner Ansicht nach müsste sie’s, weil es ja nur die Dauer eines einzigen Lebens ist, die du in zwei Zeitaltern verbringst …«

Stumm lauschte Alfie dem begeisterten Selbstgespräch ­seines Dads und konnte kaum fassen, wie schnell dieser sich mit dem Gedanken abgefunden hatte, dass sein Sohn ein Zeitreisender war. Die anfängliche Verblüffung hatte er längst überwunden und war bereits dazu übergegangen, verschiedene Überlegungen zur Natur des Zeitreisens anzustellen.

»Wie oft bist du denn bisher in der Vergangenheit gewesen? Hast du Orin etwa bereits getroffen?«

»Wir sollten jetzt besser loslegen, Dad«, erwiderte Alfie ­hastig. »Sonst kommen wir noch zu spät.« Er wollte seinem Dad lieber nicht erzählen, dass seine ersten paar Zeitschlupfe eine Art Nahtoderfahrung gewesen waren oder dass er dem Mittelalter schon mehrere heimliche Besuche abgestattet hatte, um mit Orin zu trainieren.

»Na schön, also wie läuft diese Sache ab?«

»Solang du dich an mir festhältst, während ich zeitschlüpfe, reist du mit mir. Ist vermutlich am besten, wenn du die Augen zumachst.« Als Alfie bei einem Zeitschlupf einmal probehalber die Augen offen gehalten hatte, war er danach tagelang völlig verwirrt gewesen. Deswegen schloss auch er sie jetzt, hakte sich bei seinem Dad unter und presste sich fest an ihn. Kurz darauf spürte er das vertraute Ziehen in der Brust und ließ sich in die Vergangenheit gleiten, zurück in jenes Jahrhundert, das sein zweites Zuhause war.

»Wir sind da, Dad«, sagte er und löste nach einem kurzen Moment der Benommenheit seinen Arm. Sie befanden sich nach wie vor in der Burgbibliothek, die noch ziemlich genauso aussah wie in der Gegenwart, mit einer Ausnahme: Ihnen gegenüber saß nun Orin Hopcraft, ein breites Grinsen auf dem Gesicht.

»Mr Bloom«, sagte er, indem er sich vorbeugte und ­Alfies Dad kräftig die Hand schüttelte. »Welch eine Freude, Sie wieder­zusehen.«

Alfies Dad klappte sinnlos ein paarmal den Mund auf und zu, ehe er schließlich ein gestammeltes »Gleichfalls« zustande brachte. Er ließ seinen Blick durch die Bibliothek schweifen. »Dann sind wir jetzt also … ähm … tatsächlich in der Vergangenheit?«

»Nun, soweit es mich betrifft, handelt es sich durchaus um die Gegenwart«, antwortete Orin. »Aber ja, ich bin froh, Sie erneut hier begrüßen zu dürfen, beinahe dreizehn Jahre nach ­Ihrem letzten Besuch.« Er führte seine Gäste zum Fenster, durch das ein vollkommen anderes Hexbridge zu sehen war, mit weniger Häusern und weitaus mehr Bäumen.

»Alfie«, sagte der Druide sanft. »Dein Vater und ich haben vielerlei auszutauschen und zu bereden. Macht es dir etwas aus, wenn wir das Gespräch unter vier Augen führen? Gewiss ­hätte er auch gern eine Führung durch die Burg, ehe er wieder abreist.«

Alfie spähte zu seinem Dad hinüber, der aussah, als könnte er sich gerade nur mit Mühe davon abhalten, schnurstracks hinunter ins Dorf zu laufen, um das ländliche England des Mittelalters zu erkunden.

»Na gut«, murmelte Alfie leicht widerstrebend, während er überlegte, ob es da wohl etwas gab, von dem der Druide nicht wollte, dass er es hörte. »Aber zeigen Sie ihm auf keinen Fall irgendwelche Gerätschaften, sonst bleibt er den ganzen Tag hier, um das Zeug auseinanderzunehmen und wieder zusammenzusetzen.«

»Schluss mit den Frechheiten«, erwiderte sein Dad und versetzte ihm einen Stups. »Los jetzt, ab mit dir. Amy und die Zwillinge werden sicher schon ungeduldig.«

Alfie fand die drei wartend in seinem Zimmer, kaum dass er ins Heute zurückgeschlüpft war.

»Und? Was hat Onkel Will gesagt?«, rief seine Cousine aufgeregt.

»Gib ihm ’ne Minute, er ist doch grade erst angekommen!«, erwiderte Alfie und warf sich zu den anderen auf sein riesiges Bett. »Irgendwann nach dem Mittagessen wird er wieder hier sein.«

»Ach!«, blaffte Madeleine und ließ sich heftig zurück auf die Kissen plumpsen. »Du hättest uns wenigstens mitnehmen können.«

»Nur Geduld, Maddie«, meinte Robin. »Wenn Onkel Will Ja sagt, werden wir jede Menge Zeit dort verbringen.«

»Du hast gut reden«, schnaubte sie. »Immerhin bist du schon mal mit Alfie in der Vergangenheit gewesen und hast ­dabei auch noch Orin getroffen!«

Blitzartig kehrten Alfies Gedanken zurück zu dem Tag, als er sich in den Höhlen unter den Hügeln von Hexbridge den Kopf angeschlagen und Robin versehentlich mit sich in die Vergangenheit gerissen hatte. Dort waren sie Orins Freund begegnet, dem Förster Bryn, der Alfies Wunden versorgt und ihnen geholfen hatte, wieder nach Hause zu kommen.

»Das ist nicht fair, Maddie. Die Nummer war echt kein Spaß für Robin.«

»Ach ja? Und wie kommt’s dann, dass er monatelang von nix anderm geredet hat?«

»Schluss damit!«, fauchte Amy und hielt sich demonstrativ die Ohren zu. »Mir dröhnt schon der Kopf von eurer Streiterei. Los, sehen wir lieber mal nach, was Ash so treibt.«

Ashford war gerade dabei, den Kräutergarten zu jäten und einige neue Pflanzen ins Beet zu setzen. Mittlerweile hatte er sich vollständig von seinen Verletzungen erholt, nachdem er vor ein paar Monaten von einem Pfeil getroffen und von Elfen entführt worden war. Alfie fand es ein wenig seltsam, dass sein ­eigener Nachfahre für ihn arbeitete, doch Ashford schien mit der Vereinbarung überaus zufrieden zu sein, besonders weil er dadurch einer anderen Bestrafung entging, die ihn wegen ­seines früheren Lebens als größter Dieb aller Zeiten erwartet hätte.

Die vier Freunde gesellten sich zu ihm und halfen beim ­Jäten, Harken, Gemüseernten und Zurückschneiden allzu ­üppig wuchernder Pflanzen.

»Hast du eigentlich in letzter Zeit mal mit Emily gesprochen, Ashford?«, fragte Alfie, während er eine Handvoll ­Möhren aus dem Boden zog und von der lehmigen Erde befreite.

»Genau«, grinste Amy verschmitzt. »Hat sie sich schon ein Hochzeitskleid ausgesucht?«

»Emily geht es sehr gut, danke«, antwortete Ashford. »Im Moment allerdings hilft sie noch ihrer Mutter dabei, das ­Elfenreich zu stabilisieren, weshalb die Hochzeit voraussichtlich noch eine ganze Weile auf sich warten lassen wird.«

Madeleine prustete dermaßen plötzlich los, dass alle anderen sich zu ihr umdrehten und sie anstarrten.

»Mir ist bloß was eingefallen«, kicherte sie. »Emilys Mum, die Elfenkönigin, die beinahe Alfies Burg zerstört hätte – die wird jetzt bald deine Schwiegermutter!«

Seufzend machte Ashford sich wieder ans Graben. »Glaub ja nicht, ich hätte darüber noch nicht nachgedacht!«

Alfies Dad kehrte erst gegen drei Uhr am Nachmittag aus der Vergangenheit zurück, als die Freunde sich allesamt in der Burgküche aufhielten und Ashford dabei halfen, ­Gemüse zu schneiden, Kräuter aufzuhängen und aus verschieden­farbigen Tomaten, die sie im neuen Gewächshaus gepflückt hatten, Chutneys zuzubereiten. Mit einem leisen Knall erschien er urplötzlich mitten im Raum, sodass Alfie die Tomate, die er gerade schälte, vor lauter Schreck zerquetschte und alle ­Anwesenden mit Saft und Samenkörnern bespritzte.

»Hervorragend, ihr seid alle hier!« Alfie hatte den Eindruck, dass sein Dad fast ebenso überrascht war, sie zu sehen, wie sie es über sein plötzliches Auftauchen waren. »Was für ein Erlebnis. Zeitreisen! Ich meine, welcher Erfinder hat nicht schon mal mit dem Gedanken gespielt, eine Zeitmaschine zu konstruieren? Aber das Ganze tatsächlich zu erleben … tja, ich glaube, ich könnte jetzt eine kräftige Tasse Tee vertragen!«

Ashford stellte ein großes Tablett mit Tee und Keksen zusammen, über das sie sich im Abernathy-Zimmer hermachten, während Alfies Dad von seinem Ausflug ins mittelalterliche Hexbridge berichtete.

»… und vom Ostturm aus konnte ich eine Wassermühle erkennen, unten am Fluss, kurz bevor er in den ­Archelon-See mündet. Heute ist von ihr nichts mehr übrig außer einem Umriss im Gras – wie aufregend, mit eigenen Augen sehen zu ­können, was einst dort gestanden hat! Und dann das Dorf! Habt ihr gewusst, dass –«

»Dad!«, unterbrach Alfie ihn und gab sich alle Mühe, trotz seiner Ungeduld nicht zu schreien. »Das alles ist echt ­interessant, aber was hat Orin gesagt? Hat er dich gefragt, ob wir ihn für zwei Wochen besuchen dürfen?«

»Ja, hat er.«

»Und …?«

»Es wäre das erste Mal, dass du so lange von zu Hause weg bist, Alfie.«

»Ich weiß, aber eigentlich wär ich ja noch zu Hause, bloß in ’ner anderen Zeit, und außerdem können wir ja sofort zurückkommen, falls wir Heimweh kriegen.«

»Was wir nicht kriegen werden!«, fügte Amy hinzu.

»Also, dürfen wir?«, fragte Alfie.

»Mir ist klar, du bist dort geboren worden, aber dieses ­Zeitalter wird dennoch sehr fremd für dich sein. Überall könnten Gefahren lauern, an die ich noch nicht mal gedacht habe.« Er kratzte sich am Kopf. »Andererseits ist Orin Hopcraft wirklich intelligent … Ich bin sicher, er hat an alles gedacht –«

»DAD!« Alfie schlug dermaßen hart auf die ausgefranste Sofaarmlehne, dass er im nächsten Moment beinahe an einer Staubwolke erstickte. »Ja oder nein?«, hustete er.

»Ja, denke ich …«

Mit einem Satz waren Alfie, die Zwillinge und Amy auf dem Sofa und hüpften in einer Gruppenumarmung so heftig auf und ab, dass die Sprungfedern um Gnade winselten.

»Unter einer Bedingung.«

Ruckartig warf Alfie den Kopf herum und überlegte fieberhaft, welche unerträgliche Regel sein Dad ihnen wohl auferlegen würde.

»Ich muss in den kommenden Wochen einige wichtige Patente einreichen, und ich möchte nicht, dass ihr vier ganz ­allein geht.«

Alfie stöhnte. Wollte sein Dad ihn etwa wochenlang warten lassen? Wenn sie die Reise nicht möglichst bald antraten, konnten sie sie womöglich komplett vergessen, denn im September fing die Schule wieder an.

»Aus diesem Grund … schlage ich vor, dass Ashford euch begleitet.«

Alfie sah zu dem Butler hinüber, der gerade nachschenkte und um ein Haar die Teekanne fallen ließ.

»Ashford, da Sie von Muninn und Bone zu uns geschickt worden sind, nehme ich an, dass Sie weitaus mehr über Alfies Zeitschlupf-Fähigkeit wissen als ich. Außerdem haben Sie für seinen Schutz gesorgt, als diese Elfen-Soldaten in die Burg einmarschiert sind.«

Alfie bemerkte, dass Ashford ihm einen schuldbewussten Blick zuwarf. Sein Dad hatte keine Ahnung davon, dass es in Wirklichkeit die vier Freunde gewesen waren, die während der Be­lagerung für den Schutz des verwundeten Butlers gesorgt hatten.

»Nun, wenn sie mich dabeihaben wollen …«

»Klar wollen wir!«, rief Alfie.

»So weit in der Vergangenheit bin ich noch nie gewesen. Und es wird meine erste Begegnung mit Orin sein. Jedenfalls in chronologischer Hinsicht.«

»Soll das heißen, du hast ihn schon mal getroffen?«, ­staunte Alfie und fragte sich, wie viele Geheimnisse der Butler noch immer vor ihnen verborgen hielt.

Doch Ashford zwinkerte ihm nur kurz zu und sagte dann statt einer Antwort: »Es wäre mir eine Freude, euch zu ­begleiten!«

Alfie schlang die Arme um die Schultern seines Dads und drückte ihn einmal kräftig, ehe er vom Sofa hüpfte und sich mit dem Butler abklatschte.

»Also dann«, grinste Amy. »Wann geht’s los?«

*

Zwei Tage später lag Alfie vor lauter Aufregung hellwach im Bett, während sich draußen schon munter die ­Vögel durch ihren Morgengesang zwitscherten – er hatte die ­ganze Nacht kaum ein Auge zugetan. Ständig musste er an die Reise in die Vergangenheit denken, auf die er sich in nur wenigen Stunden begeben würde. Seine Tasche stand längst fix und fertig gepackt auf dem Schreibtisch. Sie war ziemlich leicht, da Orin die Freunde mit angemessener Kleidung versorgen würde, auch wenn Robin ihnen eingeschärft hatte, auf jeden Fall massenhaft ­Unterwäsche mitzun­eh­men:

»Ich bin nicht ganz sicher, woraus die im Mittelalter die Unterhosen gemacht haben, aber ich wette, bequem waren die Dinger nicht.«

Alfie stöhnte, als ihm schlagartig einfiel, dass er das Shampoo vergessen hatte. Er sprang aus dem Bett und bereute es auf der Stelle, denn der Teppich sauste ihm jäh unter den Füßen davon und schickte ihn krachend zu Boden.

»Was denn? Ist’s schon so weit? Machen wir uns jetzt auf den Weg?«, meldete sich dröhnend eine tiefe Stimme. »Abär ich bin doch eben erst eingeschlummert!«

»Artan! Schhh!«, ächzte Alfie, während er sich auf­rappelte und sich den schmerzenden Hintern rieb. »Es ist erst fünf Uhr.« Er hatte völlig vergessen, dass der fliegende Bärenfellteppich ja auf dem Fußboden vor seinem Bett übernachtete, um später gemeinsam mit ihnen die Reise in Orins Zeit anzutreten. Aber Schreck hin oder her, wenigstens wusste er jetzt, was in seinem Gepäck noch fehlte. Er hinkte hinüber zu dem Wandpaneel neben seinem Kleiderschrank und drückte auf das dunkle Astloch im Holz, mit dem sich die Geheimtür zu seinem eigenen Badezimmer öffnen ließ. Eilig schnappte er sich das Shampoo, verstaute es in einem Reißverschlussfach seiner Tasche und kletterte dann zurück in sein riesiges Himmelbett, während Artan sich erneut auf dem Fußboden niederließ.

Kaum hatte Alfie die Augen geschlossen, hörte er ein scharfes Klopfen gegen die Fensterscheibe. Seufzend fand er sich ­damit ab, heute wohl keinen Schlaf mehr zu finden, schlug die Decke zurück und stapfte zum Fenster hinüber. Als er den Vorhang zur Seite zog, ließ der grelle Morgenhimmel ihn blinzeln.

Auf dem Sims hockte ein großer Rabe, die Flügel ordentlich an den Körper gefaltet, und pickte ungeduldig gegen das Glas. Es war nicht das erste Mal, dass Alfie durch einen von Caspians Boten geweckt wurde. Er öffnete das Fenster und streckte die Hand aus.

»Okay, gib mir den Zettel und richte Caspian aus, er soll gefälligst aufhören, mitten in der Nacht Botschaften zu verschicken!«

Der Rabe würdigte die Hand keines Blickes, sondern hopste stattdessen mit hoch erhobenem Schnabel durchs offene Fenster herein. Federn raschelten, und Alfie sprang jäh von der Fenster­bank zurück, wo sich die Gestalt des Vogels nun urplötzlich zu verändern begann. Artan glitt neben Alfie und knurrte, während der Rabe sich schimmernd vor ihren Augen streckte, die Flügel zu Armen wurden und die Krallen sich in glänzende schwarze Schuhe verwandelten. Der Schnabel schrumpfte zurück in ein immer blasser werdendes Gesicht, bis schließlich ein hochgewachsener Mann auf der Fensterbank saß und das Revers seines makellos sitzenden viktorianischen ­Anzugs glatt strich.

»Guten Morgen«, sagte Caspian Bone.

Alfie wurde puterrot, als ihm klar wurde, dass er soeben den Anwalt höchstpersönlich angeschnauzt hatte.

»Ich bitte um Verzeihung, sollte ich Sie durch mein Erscheinen gestört haben.«

»Nicht weiter schlimm«, murmelte Alfie. »Ich war sowieso schon wach.«

»Artan«, grüßte Caspian mit einem knappen Nicken den schwebenden Bärenfellteppich.

»Caspian«, erwiderte der Bär und zuckte kurz auf und ab.

Der Anwalt ließ den Blick durch das Zimmer schweifen und bemerkte die gepackte Tasche auf dem Schreibtisch. »Wie ich sehe, sind Sie für die Reise bereits gerüstet.«

»Ja«, bestätigte Alfie, auf einmal beunruhigt. »Sie findet doch statt, oder? Sagen Sie jetzt nicht, Orin hätte ’ne Nachricht geschickt, dass wir nicht kommen können!«

»Sie werden nach wie vor in die Vergangenheit reisen«, antwortete Caspian. »Allerdings ist mir zur Kenntnis gelangt, dass Sie sowohl den Bären als auch den Butler mitzunehmen be­absichtigen.«

Alfie fragte erst gar nicht danach, woher er das wusste. Die Raben, die auf den Wehrmauern Wache hielten, meldeten ­nahezu alles, was auf Burg Hexbridge geschah, geradewegs an die Kanzlei Muninn und Bone.

»Wir haben Ashford die Erlaubnis erteilt, Sie zu begleiten. Artan jedoch muss hierbleiben.«

»WAS?«, grollte Artan und sauste so aufgebracht kreuz und quer durchs Zimmer, dass Comics und Schulhefte hinter ihm herflatterten. »Wie können Sie’s wagen, hier reinzusegeln und Alfie vorzuschreiben, was ich kann oder nicht kann, als wär ich noch nicht mal im Raum!«

»Beruhigen Sie sich«, zischte Caspian. »Alfie, könnten wir das unter vier Augen erörtern?«

Alfie erwischte eine der Tatzen des Bären, als dieser an ihm vorbeirauschte, und brachte ihn mühsam zum Anhalten.

»Das hier betrifft Artan, also sollte er sich auch anhören dürfen, was Sie zu sagen haben«, erwiderte Alfie und strich dem ­Bären sanft übers Fell, um ihn zu beruhigen. »Er war Orins Freund. Wieso kann er dann nicht mitkommen, um ihn zu besuchen?«

»Exakt darin liegt das Problem. Im Jahre 1417 ist Orin noch keineswegs Artans Freund. Zu jener Zeit existiert der Bär in ­seiner jetzigen Gestalt nämlich nicht.«

»Und was soll daran schlimm sein?«, fragte Alfie. »Ich mach die beiden einfach miteinander bekannt.«

Caspian seufzte, doch noch ehe er zu einer Erklärung ansetzen konnte, legte Artan sacht eine Tatze auf Alfies Schulter.

»So ungern ich es auch zugebe, der Vogel hat recht«, brummte er. »Orin hat mich erschaffen, nachdem mein ­Leben als Bär früh beendet wurde. Ich kann mich daran kaum mehr erinnern, aber wenn ich Orin vor unserm tatsächlichen ­Kennenlernen begegne, na ja … dann könnte das den Lauf der Dinge ver­ändern.«

»Aber Ashford kann von sich aus eigentlich auch nicht so weit in die Vergangenheit reisen. Also wird er Orin doch auch vor ihrem tatsächlichen Kennenlernen begegnen. Warum kannst du’s dann nicht?«

Artan schüttelte seinen struppigen Kopf. »Wenn der Vogel meint, dass ich nicht mitkommen soll, dann hat er dafür bestimmt einen triftigen Grund.«

Es tröstete Alfie ein bisschen zu sehen, wie gereizt der Anwalt darauf reagierte, nun schon zum zweiten Mal einfach »der Vogel« genannt worden zu sein.

»Dann ist es hiermit beschlossen«, schnarrte Caspian, kletter­te hinaus auf den Fenstersims und wandte sich noch einmal kurz zu Alfie um. »Artan bleibt hier.«

Mit diesen Worten sprang er vom Sims. Nur einen Augenblick später stieg ein großer schwarzer Rabe hoch in den Himmel und glitt im Licht des frühen Morgens davon.

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KAPITEL 3

Orins Burg

Punkt zwölf Uhr mittags standen Alfie, die Zwillinge und Amy Sui mit gepackten Taschen im Burghof. Alfie hatte beschlossen, dass sie das Hauptgebäude wie echte Besucher durch die Eingangstür betreten sollten, anstatt einfach in Orins Studier­zimmer anzukommen. Madeleine und Robin hatten sich ihre ­Bogen und Pfeilköcher über den Rücken gehängt, und Alfie hatte fünf Riesentafeln Schokolade und eine Dose Kakaopulver für den Druiden dabei.

Alfies Dad hatte den Eltern der Zwillinge und Amys Großmutter eine Geschichte über ein Mittelalter-Sommercamp aufgetischt.

»Eigentlich ist es nicht mal gelogen«, sagte er schuldbewusst. »Immerhin werdet ihr wahnsinnig viel übers Mittelalter lernen, und zwar aus erster Hand!«

Tante Grace und Onkel Herb fanden es toll, die ­Zwillinge auf eine kostenlose Bildungsreise schicken zu können, und Amys Oma hatte sofort eingewilligt, als sie erfuhr, dass es am Zielort keine Computer und Handys geben würde.

»Es wird euch mehr als guttun, mal für eine Weile von diesen Bildschirmdingern wegzukommen«, hatte sie Amy vor zwei Tagen erklärt. »Aber sieh zu, dass du mir dreimal die ­Woche schreibst.«

»Bäh, schreiben! Etwa mit ’nem Stift? Auf Papier? Wie so ’ne Art Höhlenmensch?«

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