Kapitel 5
Am nächsten Tag stehe ich im Wohnzimmer. In der kupferfarbenen Lampe über der Kommode sehe ich mein gekrümmtes Gesicht. Auf dem Tisch liegt noch die Silberfolie einer Schokolade, die ich gestern gegessen habe. In den Badezimmerrohren rauscht es, nachdem jemand in einem der Stockwerke über mir die Toilettenspülung betätigt hat. Ich lausche dem alltäglichen Geplauder über Wetter, Wind und nichts, von dem ich einmal ein Teil war. Ich habe einen Termin mit einem Masterstudenten verschwitzt, den ich im Fach Bühnenkunst betreue. Jetzt muss ich mich entschuldigen und einen neuen Termin vereinbaren. Die Kontrolle ist brüchig. Ich muss versuchen, den Alltag und die Arbeit im Griff zu behalten. Studierende betreuen und ein paar Stunden im Monat an der Theaterhochschule unterrichten ist mein Brotjob, der mir genügend Raum lässt, um für die Bühne zu schreiben, wie ich es in den letzten Jahren getan habe. Ein angefangenes Drama liegt schon viel zu lange herum. Was mich sonst immer in Schwung gebracht und mir geholfen hat, die Widrigkeiten der Realität zu vergessen, hat seinen Reiz verloren. Den Termin mit dem Studenten verschwitzt! Wo ich sonst nie etwas vergesse. Die Erinnerung ist ein Fluch. Liebeskummer ist wie die Angst nach einem Vollrausch, sich danebenbenommen zu haben, nur dass sie nie vergeht, eine schwere Bürde, die man nicht ablegen kann. Ich quäle mich nicht mit einer Schwere. Mich quält das eingebüßte Wurzelwerk. Die Leere.
Das grelle Licht, das durch die dreckigen Wohnzimmerfenster drängt, verheißt Sommer. Ich werde wie jeden Sommer am Orrestrand in Jæren stehen, Jæren mit seinen weißen Stränden, den in Sonne getauchten Sanddünen, am Horizont das glitzernde Meer. Nirgendwo Hindernisse. Es wird leer sein. Wenn ich mich umdrehe, werde ich die Nordsee im Rücken haben, und Mamas Asche, ihre karbonisierte Essenz, dürfte sich mit den Sandkörnern und dem Tang auf dem Meeresboden vermischt haben. Ich werde wie immer eine der höchsten Sanddünen erklimmen und ins Landesinnere schauen, sehen, wie die Schatten der Wolken in der Ferne über die blauen Konturen der Berge ziehen, der Himmel über mir wird eine weiße Fläche sein, so als hätte man den Überblick über das ganze Land und alles, was sich darin bewegt. Aber es wird ein Wüstenflimmern sein, die Wirklichkeit dieses Sommers ist eine andere.
Der Gedanke, dass ich Sommer für Sommer in die Landschaft von Jæren zurückkehren kann, gibt mir Halt, wo nichts anderes mehr selbstverständlich ist. Ich lausche den Reiseplänen und Schilderungen meiner Freunde, kann ihr Reisebedürfnis nachempfinden, aber mich zieht es in die Vergangenheit. Zurück zu den Orten, an denen ich gewesen bin. Vielleicht liegt es an den vielen Umzügen in meiner Kindheit, dass ich wiedersehen will, was einst verloren ging. Ich muss nur einmal an einem Ort gewesen sein, schon will ich dorthin zurück, will wieder im selben Haus wohnen, im selben Bett schlafen, durch dieselben Straßen streifen, in derselben Bucht baden und im selben Wirtshaus essen. Das gilt auch für Menschen. Ich will zu ihnen zurück.
In meiner Kindheit war das Gegenteil der Fall. Umzüge waren für die Familie eine Belastung. Für Mama, weil sie keinen der Umzüge wollte, für Papa, weil er nach Konflikten mit seinen Chefs wieder den Job wechseln musste, und für uns Geschwister, weil ein neues Zuhause, ein neuer Kindergarten, eine neue Schule und neue Freunde auf uns warteten. Die Stimmung war bei allen gedrückt. Ich war von der Last und der Trauer, einen Ort zu verlassen, befreit. Meine Aufgabe war eine andere. Ich musste in der gedrückten Familie die Lustige, Fröhliche und Optimistische geben. Stellt euch vor – eine neue Wohnung, eine neue Schule, neue Freunde! Für meine zwei Jahre ältere Schwester Sirin war es am schlimmsten. Sie fand nicht leicht neue Freunde, blieb oft für sich und war sowieso das schwarze Schaf in der Familie, obwohl sie die älteste war. Papa hatte sie als Sündenbock auserkoren. Sie ähnelte ihm am meisten.
Sirins Tod liegt jetzt drei Jahre zurück, und in letzter Zeit habe ich angefangen, mit ihr zu reden. So, als wäre sie erst jetzt zu mir zurückgekommen, nach der langen Zeit, die verstrichen ist, seit ich in der Palliativabteilung an ihrem Bett stand und meine tote, von der Krankheit bis zur Unkenntlichkeit entstellte Schwester angestarrt habe, doch sosehr ich sie auch anstarrte, mir begegnete nur die elementare Realität des Todes – die Abwesenheit.
An Ostern war sie erkrankt, ein aggressiver Krebs, der bereits in die Leber gestreut hatte, drei Monate später war sie tot. Ein Jahr später erfuhr ich, dass es das Jahr war, in dem Ulf sein Doppelleben mit einer anderen Frau begonnen hatte. Für mich werden die beiden Ereignisse für immer miteinander verbunden sein. Sirins Krankheit und Tod und dass ich, ohne es zu wissen, den Menschen verloren habe, der mir am nächsten war. Als würden sich diese Ereignisse gegenseitig bedingen. Ich verlor meine geliebte Schwester, ich verlor meinen geliebten Mann, und in der Zeit danach sollte mein geliebter Sohn auf die andere Seite des Globus ziehen. Wer sollte ich sein, wenn all das weg war?
Ich muss einkaufen, schultere den Rucksack und renne die Treppe hinunter. Der Kiwi-Markt am Fuß des Berges, kurz vorm Krankenhaus, ist das nächstgelegene Lebensmittelgeschäft. Das Osloer Krankenhaus strahlt etwas Vergangenes aus mit seinem von einer Mauer eingefassten Klostergarten. In meiner Fantasie sehe ich mich mit einem Buch und einer Art sanften milchigen inneren Stille unter einer der Eichen im Garten sitzen.
Ich gehe in den Kiwi, um fürs Abendessen einzukaufen, und drücke mich lustlos zwischen den Regalen herum, gleichzeitig schäme ich mich dafür, dass ich das Glück habe, völlig frei wählen zu können. Fisch oder Fleisch. Vegetarisches? Ein Hefebrötchen? Früher war ich eine effektive Einkäuferin mit Einkaufsliste. Aber es kommt vor, dass man die Kontrolle über Einkaufslisten, Termine und das eigene Leben verliert. Es passiert, wenn wir von einer Krankheit heimgesucht werden, jemanden verlassen oder verlassen werden. Es kann passieren, wenn wir aus irgendeinem Grund zu weit gehen und eine Grenze überschreiten. Genau dort nämlich liegt der Wahnsinn und der verführerische Rausch, denke ich, als ich unschlüssig vor der Kühltheke mit tiefgefrorenem Fisch stehe. Im Wissen darum, verlieren zu können, was wir lieben, und es nie mehr zurückzubekommen. Vielleicht fühlen wir uns dann am lebendigsten, wenn wir am Abgrund stehen, straucheln, aber noch nicht gefallen sind. Vermutlich ist er evolutionär in uns angelegt, dieser Kipppunkt zwischen Verantwortung, Fürsorge, Sicherheit und Lust, Grenzüberschreitung und Zerstörung. Wenn es nicht so wäre, bliebe alles einfach so, wie es war. Wir hätten über das rein Reproduktive hinaus kaum Lust auf Sex, würden keinen Sinn sehen in Abenteuern, im Risiko, in der Konkurrenz und der Kunst. Wir würden bei denselben Leuten bleiben, in derselben Herde, wären blinde Opfer von Inzest, würden vor lauter Wiederholungen und Langweile verdummen, wir würden niemals neue Menschen, Wege, Sprachen, Gedanken, Technologien finden. Vermutlich aber auch keine Kriege anzetteln, allenfalls ab und an jemandem eins überbraten. Ich lege eine Packung Kabeljaufilets in den Einkaufskorb.
Auf dem Rückweg den steilen Berg hinauf zu meinem Block überlege ich, dass ich mich damit abfinden muss, allein zu sein. Bestimmte Dinge sind passiert, ohne dass ich sie verhindern konnte. Oder denke ich das nur, um mich zu schützen?
»Und jetzt?«, höre ich Sirin fragen, »was machst du jetzt?«
»Jetzt entwirre ich die Zusammenhänge«, antworte ich, »wie ältere Menschen es tun, um meine Sünden auszumachen. Um dem Sumpf und dem Nebel zu entkommen. Ich hasse Geheimnisse und Lügen, auch meine eigenen, ich hasse Überraschungen. Die letzten Jahre waren voll davon.«
Oben angekommen stoße ich nach der großen Anstrengung einen Seufzer der Erleichterung aus, und plötzlich schreit es in mir wie aus einer frisch erweckten Seele, dass ich mich noch nie im Leben lebendiger gefühlt habe. Ehe ich erneut den Kopf senke.