5
Antibes, Frankreich, Juni 1926
Die Hitze des Tages erreicht ihren Höhepunkt. Das Floß treibt ab, bis sich die Kette strafft, die es in Strandnähe hält. Am Ufer summen die Insekten lauter, ihre Tonhöhe steigt, als würden sie langsam zerquetscht. Die Schatten der Bäume ergießen sich übers Wasser wie Essig auf Öl.
Während Ernest seine Kopfsprünge übt und Hadley sich auf dem Ponton sonnt, hören sie vom Strand her einen langen Pfiff. Eine Schwimmerin nähert sich. Obwohl sie noch weit weg ist und man ihr Gesicht nicht erkennen kann, weiß Hadley, dass es Fife ist. Mit ihren kräftigen Zügen zieht sie klöppelspitzenartige Wellen hinter sich her. Die Hemingways beobachten, wie sie stetig auf sie zukommt.
Fife zieht sich aufs Floß hinauf und lächelt. Nachdem sie einen Moment Atem geschöpft hat, sagt sie mit dem Anflug eines nachgeahmten britischen Akzents: »Hello, chaps. Ihr seid ja schon früh aufgestanden.« Sie hat einen klaren Blick und wirkt energisch, wie sie sich das Wasser aus dem kurzen Haar schüttelt. »Der Ladenbesitzer in Juan meinte, es ist für die Jahreszeit ungewöhnlich heiß. Ce n’est pas de saison, hat er gesagt. Oder bedeutet das ›außerhalb der Saison‹? Keine Ahnung. Aber er meinte, das seien keine Junitemperaturen.«
Eigentlich wollte Hadley gerade gehen – sie hat helle Haut und bekommt leicht einen Sonnenbrand –, aber jetzt muss sie bleiben, um über die Tugend ihres Mannes zu wachen. Zu dritt sitzen sie nun auf dem Floß und lassen die Beine ins Wasser baumeln. Ernest hat jenen mürrischen Gesichtsausdruck, den Hadley nicht an ihm gekannt hat, bevor sie nach Antibes gekommen sind. Sie ertappt seine Geliebte dabei, wie sie verstohlen einen gequälten Blick auf seinen Oberkörper wirft. Ernest ist in diesem gefährlichen Sommer braun gebrannt und noch attraktiver als sonst.
»Ich fühle mich heute Morgen ein bisschen schlapp«, bekennt Fife und richtet ihren Blick auf Hadley. Letzte Nacht haben sie lange zusammengesessen und getrunken und über gemeinsame Freunde getratscht – allerdings mit einer Boshaftigkeit, die auf die jeweils andere gemünzt war, das war ihnen sehr wohl bewusst. Zelda, Scott, Sara, Gerald, jeder musste dafür herhalten.
»Wir haben alle zu viel getrunken«, meint Hadley. »Ich weiß nicht, warum ich so früh aufgewacht bin.«
»Meine Frau hat es sich zur Aufgabe gemacht, mir den Schlaf zu rauben.«
Hadley betrachtet ihre blassen Füße im Meer. »Acht Uhr ist ja nicht gerade Morgengrauen.«
»Ich war noch nie eine Frühaufsteherin«, verkündet Fife und macht sich an den Schulterbändern ihres Badeanzugs zu schaffen. »Jinny war da immer anders.«
Das Licht spielt auf den Wellen, die ein angenehmes Glucksen von sich geben, wenn sie auf die Unterseite des Floßes treffen. Ernest entfernt sich ein Stück und streckt sich rücklings auf der Plattform aus. Hadley beobachtet ihn und weiß, dass er nur Minuten später einnicken wird. Wie leicht vermag ihr Gemahl sich doch aus dieser seltsamen Welt zu stehlen, die er selbst geschaffen hat! Obwohl sie zugeben muss, dass auch sie ihren Anteil an diesem Schlamassel hat. Schließlich war sie es, die Fife hierher eingeladen hat.
Fife, die Vogue-Korrespondentin mit Leib und Seele, schwatzt über ein Paar weiße Lederhandschuhe, das sie gestern in Juan-les-Pins entdeckt hat. »Nun, sie kosten nicht mehr als ein Laib Brot, also werde ich sie mir wohl leisten. Ich rufe den Ladeninhaber an, damit er sie mir zurücklegt. Ich lasse mir nicht gern etwas durch die Lappen gehen.«
Oft starren die beiden Frauen Ernest so lange an, wie sie es riskieren können, ohne von der anderen ertappt zu werden. Als würden sie ihm am liebsten das Salz von der Haut lecken.
Fife steht auf, legt die Fingerspitzen über dem Kopf aneinander – Hadley sieht ihren rundungslosen Schatten – und taucht ins Wasser ein. Es gibt nur ein ganz leises Platschen, als sie die Wasseroberfläche durchbricht. »Ich bin mir sicher, du könntest auch Kopfsprünge machen, wenn du es probieren würdest«, sagt sie zu Hadley, als sie sich zurück auf die Plattform hievt. An der Innenseite ihrer Schenkel läuft Salzwasser hinab, was Hadley ablenkt. »Versuch es doch mal.«
Fife sitzt so nah neben Hadley, dass sie ihren maillot auf der Haut spürt, die Wolle ist ein bisschen rau. Trotz der Hitze hat Fife eine Gänsehaut. Selbst wenn sie sich vorbeugt, sieht es aus, als hätte sie überhaupt keinen Busen, fällt Hadley auf. Wie kann Ernest eine so knabenhafte Kindfrau lieben?
»Ich will nicht. Ich habe Angst.«
»Wovor?«
»Dass ich mir etwas breche. Das Rückgrat. Den Hals.«
»Das wird nicht passieren, das garantiere ich dir.«
Ihr Sturz kommt ihr wieder in den Sinn. Sie erinnert sich, wie der Arbeiter im Garten in St. Louis zu ihr heraufgewunken hat; wie es krachte, als der Stuhl umfiel und sie den Halt verlor, wie sie vergeblich nach dem Fensterhaken langte, und dann die schreckliche Angst, als sie ins Bodenlose fällt, mit dem Kinn die Ziegelwand entlangschrammt, Blut im Mund schmeckt. Damals war sie sechs Jahre alt. Monatelang wurde sie in einem Kinderwagen herumgeschoben, weil man ihre Wirbelsäule ruhigstellen wollte, weshalb sie sich irgendwann fühlte, als hätte sie ihr ganzes Leben in einem solchen Wagen verbracht. Ihr ganzes Leben in dem unerträglich öden St. Louis! Dann kreuzte eines Abends bei einer Party in Chicago Ernest ihren Weg, unerwartet, ungebeten, und mit einem Mal tat sich ihr eine Welt voller Reichtümer und Möglichkeiten auf.
»Ich habe es einfach nie gelernt.«
»Kopfsprünge kann jeder, Dummchen.«
»Mein Rücken. Der hat mir schon immer Sorgen gemacht.«
»Du brauchst bloß die Arme hochzunehmen und die Knie zu beugen, dann zielst du auf die Stelle, wo du eintauchen willst, und springst kopfüber rein.« Fife gleitet im perfekten Winkel ins Wasser und taucht nass und bezaubernd wieder auf. Zum Glück, denkt Hadley, hat Ernest die Augen geschlossen. »Trau dich.«
Eigentlich will Hadley auf keinen Fall springen. Sie spürt, wie plump sich ihre Gestalt neben der gertenschlanken Fife ausnimmt. Und sie durchlebt noch einmal den Sturz, fühlt das Brechen ihres Kieferknochens, den Rostgeschmack durch den Riss in der Zunge. In einer aberwitzigen Phantasie stellt sie sich vor, wie sie sich durch den Sprung das Rückgrat bricht und von Ernest und Fife im Kinderwagen durch Antibes geschoben wird.
»Mach schon, Hash«, sagt Ernest, und die beiden Frauen, die dachten, er schliefe, drehen sich zu ihm um. Da er mit der Hand die Augen beschattet, können sie seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen. »Nur zu.«
Wenngleich Hadley nicht springen will, ausstechen lassen will sie sich noch weniger. Falls sie bei der Party heute Abend ins Hintertreffen gerät, möchte sie wenigstens hier Eindruck machen. Vor ihr liegt der gleißende Strand. Neben ihr steht Fife. Sie krallt sich mit den Zehen am Rand des Floßes fest. Alles, woran sie denken kann, ist, wie ihr jeder einzelne Wirbel aus dem Rückgrat fliegt, als wären es Perlen, die sich von einer von Saras Halsketten lösen. Das Floß gerät ins Wackeln, als es das Ende seiner Kette erreicht. Hadley befürchtet, sie könnte das Gleichgewicht verlieren, bevor sie so weit ist.
Fife hält Hadley die Hände über den Kopf. »Arme hoch. Noch höher, Hash. Genau. Jetzt stell dir vor« – sie untermalt ihre Worte mit Gesten –, »wie dein Kopf, dein Oberkörper, deine Hüften und dann deine Beine genau der Linie deiner Arme folgen.« Fifes Berührung fühlt sich so schauderhaft weichlich an, dass es Hadley ein Rätsel ist, wie Ernest das ertragen kann. Allein schon, um sich dem zu entziehen, springt sie.
Sie landet mit dem Bauch voran, ein perfekter Bauchklatscher, doch zumindest scheint sie sich nichts gebrochen zu haben. Eine Zeit lang bleibt sie unter Wasser, wo es still und warm ist und Ernest und Fife nicht mehr existieren. Ihr Haar fächert sich ringsum auf, als wäre es wieder lang, nicht so kurz geschnitten nach dieser unvorteilhaften Flapper-Mode, die Ernest mag und sie abscheulich findet. Reglos verharrt sie noch ein Weilchen unter Wasser – Arme und Beine ausgestreckt, losgelöst, leer.
Als sie zum Luftschnappen hochkommt, verklebt ihr das Salz die Augen, sodass die Umrisse des Paars verschwimmen. Hadley blinzelt und sieht wieder klar: Die beiden blicken lächelnd zu ihr hinunter, strahlen sie aufmunternd an. Wieder taucht die Erinnerung an den Kinderwagen auf, und Ernest und Fife kommen ihr vor wie ein stolzes, gerührt grinsendes Elternpaar.
Hadley klettert aufs Floß und stellt sich tropfend über Ernest. Dann küsst sie ihn und überrascht ihn mit ihrer Zunge. Wahrscheinlich hat er immer schon gewollt, dass sie ein bisschen waghalsiger ist. »Nicht schlecht«, meint er.
»Der Sprung?«, fragt sie. »Oder der Kuss?«
»Beides.« Er lächelt zu ihr hoch. Aus dem Augenwinkel sieht Hadley Fife zusammenzucken und zum Strand hinüberschauen.
»Ich habe Hunger«, verkündet Hadley.
»Habt ihr nicht gefrühstückt?«, fragt Fife, noch immer von ihnen abgewandt.
»Ich esse nachher was«, erwidert Ernest und fährt mit den Fingern über Hadleys Rückgrat, als erinnerte auch er sich gerade an ihre Verletzung. »Ich gehe dann gleich mit euch zurück.«
Eine Weile herrscht Schweigen. Alle drei sitzen da, als warteten sie auf etwas. In der Ferne scheinen die Bäume und Hügel am Ufer zu verschwimmen, sie werden konturlos wie auf einer alten Fotografie. Dann steht Fife auf und springt ins Wasser – auch diesmal perfekt. Kaum ist sie aufs Floß zurückgeklettert, federn ihre langen Beine sie gleich wieder ins kühle Nass.
Ein ums andere Mal vollführt sie ihre Sprünge und demonstriert ihr Können, aber Hadley weiß, dass ihre Vorstellung nicht gut ankommt. Denn was Fife nicht hören kann oder nicht zur Kenntnis nimmt, ist, dass er jedes Mal noch lauter aufseufzt, wenn das Floß erneut zu schaukeln beginnt. Er möchte seinen Kater ausschlafen, denkt Hadley, und findet dieses possierliche Spektakel reichlich nervtötend.
Berechnend – denn sie weiß, dass er nicht mit Fife allein gelassen werden will – erklärt Hadley, sie habe Kopfschmerzen und werde deshalb zurückschwimmen. Gelegentlich fällt ihr auf, wie Ernest ein gequältes Lächeln aufsetzt, als wäre er sich nicht ganz sicher, was seine Geliebte angeht; als wüsste er nicht, ob er wirklich mit ihr allein sein möchte.
»Was ist mit Mittagessen?«, fragt Fife, während Tropfen in die Pfütze um ihre bemalten Zehennägel fallen. »Sollen wir nicht ins Dorf gehen?«
»Geht ihr zwei ruhig ohne mich.« Hadley schenkt Ernest ein Lächeln. »Wir sehen uns in der Villa.«
Und sie steigt die Leiter hinab, um zum Strand zurückzuschwimmen.
»Kommst du heute Abend zur Party?«, ruft Fife ihr von der Plattform nach.
Hadley dreht sich um, tritt Wasser und ruft: »Na klar! Quarantäne beendet! Hurra!« Sie winkt und verabschiedet sich mit ihrem strahlendsten Lächeln.
Von der Straße aus schaut sie aufs Meer hinunter. Das Floß ist ein regloser brauner Fleck. Die Augen zusammengekniffen, versucht sie, auf der Plattform die zwei Gestalten auszumachen. Vielleicht sind sie gerade schwimmen. Oder sie sind das Ufer hochgeklettert und treiben es miteinander, spüren die Hitze der prallen Sonne auf der Haut des anderen. Hadley empfindet Fifes Verlangen nach Ernest mit jeder Faser ihres eigenen Körpers.
Als sie Fife schrieb und sie einlud zu kommen, war sie davon ausgegangen, dass die Spannungen von Paris auch in Antibes anhalten würden. Sie dachte, dieser Urlaub würde die gegenseitige Zuneigung zerstören. Stattdessen war daraus ein langweiliges Wassertreten geworden: Unter der Oberfläche strampelten sich die Beine ab, während oben die Köpfe lächelten und nickten. Außerdem war ihr nie in den Sinn gekommen, wie oft Fife einen Badeanzug tragen würde. O nein, das hatte sie nicht bedacht.