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Als ich 13 war, überfiel mein Vater seine erste Bank

Im Sommer 1993, als Molly dreizehn wird, überfällt ihr Vater elf Banken. Er wird geschnappt und sitzt jahrelang in Amerika im Gefängnis. Nach seiner Entlassung verhält er sich eine Weile ruhig, dann zieht er wieder los. Dazwischen ist Joseph Brodak für seine Familie da, mit einem Job bei GM, einem Haus mit Garten, einer Ferienreise nach Peru. Als Kind ahnte Molly eine unbekannte Seite; heimlich hatte er schon einmal eine Familie gehabt. Er bleibt tagelang verschwunden, als Geschenk für die Schwester steht plötzlich ein Sportwagen vor der Tür, und er ist ein notorischer Lügner. Als er verhaftet wird, ist niemand wirklich überrascht. Molly Brodak rekonstruiert ihre Geschichte mit rückhaltloser Offenheit; aus der kühlen Präzision entsteht eine mitreißende Wirkung.
  • Erscheinungstag: 22.08.2016
  • Seitenanzahl: 288
  • ISBN/Artikelnummer: 9783312010042
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

 

Zitat S. 251/252: Walter Benjamin, Gesammelte Werke: Literarische und Ästhetische Essays, Rezensionen, Satiren, Autobiographische Schriften, Bd. I (2), IX, «Über einige Motive bei Baudelaire», 1939.

 

 

Titel der Originalausgabe: Bandit. A Memoir © 2016 Molly Brodak

 

Grove/Atlantic Inc., New York 2016

 

 

© 2016 Nagel & Kimche

im Carl Hanser Verlag München

Umschlag: Hauptmann & Kompanie, Zürich © Ayse Yavas

Herstellung: Rainald Schwarz

Satz: Gaby Michel, Hamburg

 

ISBN 978-3-312-01004-2

 

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Kreutzfeldt digital, Hamburg

 

 

1

 

Ich war mit meinem Dad unterwegs, als ich zum ersten Mal etwas klaute.

Es war ein kleines Buch mit Vornamen. Ich war damals sieben und verschlang Wortschätze: Lexika, Vokabellisten, Speisekarten. Die Verlockung dieser Aneinanderreihung von Namen, ihre ansprechende Gestalt und ihre klare Ordnung – das war für mich wie ein unlösbares Puzzle. Ich konnte nicht darum bitten, aber ich konnte es auch nicht liegen lassen. Ich hielt es an die Brust gedrückt, als wir den Laden wieder verließen. Es war hellblau, und über dem Archivbild eines lächelnden weißen Babys mit weißer Windelhose stand, in pastellfarbenen Blockbuchstaben, BABY. In die erste Seite vertieft, wartete ich neben Dad, während er die Tüten mit unseren Einkäufen im Kofferraum seines ramponierten goldenen Chevette verstaute; er hielt inne, als er es sah. Erst sagte er nichts. Er wich meinem Blick aus. Er drückte mir bloß fest die Hand in den Rücken und marschierte mit mir zurück zu der Kasse, von der wir gekommen waren, pflückte mir das bescheuerte Buch aus den Händen und reichte es der Kassiererin.

«Das hat meine Tochter gestohlen. Ich bitte um Verzeihung.» Er strahlte die Menge der Umstehenden mit rechtschaffenem Rundumblick an. Die schlaffe Kassiererin zuckte zusammen und murmelte mit einem gutmütigen Ki- chern, das sei schon okay. Dann beugte mein Dad sich über mich und rief: «Jetzt entschuldigst du dich. Das tust du nie wieder.» Der kalte Zorn in seiner Miene hatte einen glitzernden Rand, den ich nicht deuten konnte. Als er mich an den Schultern packte, lächelte er fast. Ich erinnere mich an seine glänzenden Augen über mir und an den hohen, riesigen Verkaufsraum und an die Helle darin. Bestimmt weinte ich, aber das weiß ich nicht mehr. An eins erinnere ich mich gut: an ein saures Aufwallen in meiner Brust, an den kalten Schweiß, der mir aus allen Poren brach; mir graute vor dem, was ich begehrt und was ich getan hatte; wie beschämt wir jetzt alle meinetwegen waren. Ich stahl nie mehr, bis ich ein Teenager war und er im Gefängnis saß.

 

 

2

 

Dad überfiel einen Sommer lang Banken.

Er überfiel die Community Choice Credit Union in der 13 Mile Road in Warren.

Er überfiel die Warren Bank in der 19 Mile Road.

Er überfiel die NBD Bank in Madison Heights.

Er überfiel die NBD Bank in Utica.

Er überfiel die TCF Bank in der 10 Mile Road in Warren.

Er überfiel die TCF Bank in der 14 Mile in Clawson, in der ich mit siebzehn mein erstes Konto eröffnete. Die mit den Bonbonsträußchen in jedem Fenster und dem säuerlichen Krautgeruch vom Bioladen nebenan.

Er überfiel die Credit Union One in der 15 Mile Road in Sterling Heights.

Er überfiel die Michigan First Credit Union in der Gratiot in Eastpointe.

Er überfiel die Comerica Bank in der 8 Mile, Ecke Mound. Das war ziemlich nahe an dem Viertel in Detroit, in dem er aufgewachsen war, Poletown East, etwa zehn Meilen weiter südlich.

Er überfiel die Comerica Bank in einem Kroger-Supermarkt in der 12 Mile, Ecke Dequindre. Die Supermarktkunden schlenderten vorbei, während Dad stumm einen Zettel über den Schalter schob: Das ist ein Überfall. Ich bin bewaffnet.

Er überfiel die Citizen’s State Bank in der Hayes Road in Shelby Township. Danach stellten ihn die Bullen endlich. Sie schauten in sein Auto, das vor Tee-Js Golfplatz an der 23 Mile Road geparkt war: auf dem Rücksitz eine Tasche mit Geld und seine Verkleidung, unübersehbar. Er selber saß an der Bar, trank Bier und aß ein warmes Schinkensandwich.

 

In dem Sommer wurde ich dreizehn. Nach einer langwierigen Gerichtsverhandlung, die sich immer wieder verzögerte, weil er dauernd Einspruch erhob und seine Pflichtverteidiger feuerte, wanderte er für sieben Jahre ins Gefängnis. Nach seiner Entlassung führte er sieben Jahre lang ein normales Leben, dann raubte er wieder Banken aus.

 

 

3

 

Sehen Sie, das ist es schon. Damit haben wir bereits die Fakten. Die Fakten kann man leicht erzählen; das tu ich ständig. Sie haben mit mir nichts zu schaffen. Sie verbergen das Problem wie ein Deckel. Um die Fakten geht es nicht.

Es geht um alles, was aus dem Erzählrahmen weggeschnitten wird. Die Fettreste, zersplitterten Knochen, Knorpel, Flachsen. Ich und Mom und meine Schwester und er, die eigentliche Ausgabe von ihm, jenseits der Banditenversion aus den Abendnachrichten.

Ich sehe mich dort, als Kind, unter den ganzen Geschichten. Es ist 1987, und ich sitze zwischen meinen Eltern wie ein Kassettenrekorder. Oder Dad auf der Couch, gebannt auf den Fernseher starrend, Mom aus der Küche herüberschauend, ich auf dem klumpigen beigen Teppich mit meinen Rechtschreibübungsblättern. Ich schreibe das Wort people, sehe es von der Bleistiftspitze gleiten, mit einem Mal aber lausche ich so aufmerksam, dass ich nicht mehr sehe, was ich eigentlich tue. Mom mault, was weiß ich denn und was stimmt bloß nicht mit dir, wieder und wieder, und Dad redet währenddessen unbeirrt auf sie ein und lacht, freundlich, ohne den Blick vom Bildschirm zu wenden. Weitere Wörter bilden sich in unsicherer Schrift unter meiner Hand. Meine Schwester, neunjährig, stürmt herein und durch die Hintertür wieder hinaus, die sie ostentativ zuknallt. Die Stimmen unserer Eltern werden laut, reißen aber jäh ab, als von draußen seltsame, knackende Laute hereindringen. Wir schauen alle durch das Panoramafenster: Auf der betonierten Fläche kauert meine Schwester und zertrümmert mit einem Hammer walnussgroße Dekosteine aus dem Garten des Nachbarn. Sie holt so weit aus, wie es geht, und lässt dann den Hammer auf einen Stein hinabsausen, so dass er in Staub und Splitter auseinanderfliegt. Dad wendet sich wieder dem Fernseher zu. Mom hastet hinaus, und jetzt drückt meine Schwester die Waffe an ihre Brust: Mom taucht auf und entreißt ihr den Hammer. Ich registriere das alles so genau, dass ich es nicht sehe, während es passiert.

Wo bin ich, wenn ich so aufmerksam lausche und schaue?

Ich sitze am Esstisch und beobachte das Crescendo der Salven, die meine Eltern gegeneinander feuern, von wütenden Gabelhieben über Tellerwürfe bis hin zu zornschnaubenden Abgängen und schrillem Gekreisch, meine Schwester in die Gemeinheiten einstimmend, nur um sich nicht ausgeschlossen zu fühlen, während ich einfach zusehe, wie man vom Sofa aus fernsieht: Ich konnte sie sehen, aber sie mich natürlich nicht. Ich schob mein zerkochtes, zerdrücktes Gemüse auf dem Teller herum, gebannt auf das Drama starrend, als sähe ich Scooby Doo oder GI Joe im Fernsehen. Ich hätte schlafen können, mich davonschleichen, hätte summen, tanzen, sogar reden können, sie hätten mich nicht bemerkt, ich war ihr blinder Fleck. Schreiben konnte ich, stellte ich fest, und niemand hörte mich.

Eine Überlebenstechnik ist Kleinwerden. Wenn die Möglichkeiten knapp sind und du ausharren musst, wo du bist, wie es ein Kind nun mal muss, ist Unsichtbarkeit eine nützliche Sache. Diese Familie, die gelegentlich vollzählig unter einem Dach, häufiger aber in unterschiedlichen Kind-Erwachsenen-Teilkombinationen zusammenkam, umwob mich als lose Problemkonstellation. Auf meinem kleinen Territorium, als wäre es in einem anderen Land, war ich kein Problem. Ich hielt mich still und brav, schlau und verschwiegen und sauber, las und spielte mit mir allein, fing Käfer, sammelte Steine, lesend, zeichnend, stumm. Und ich wollte noch weniger werden, ein Nichts, denn ich dachte, dann könnten sie alle wenigstens das haben, dieses eine Nichtproblem im Haus, das nicht brüllte und nicht schrie, das die Küche fegte und die geworfenen Sachen aufklaubte und insgeheim ganze zerkämpfte Zimmer wiederherstellte und manchmal sogar leise sang, froh, damit sie es womöglich doch hörten. Mein ganzes Leben lang habe ich über das alles geschwiegen.

 

 

4

 

Eines Tages ist es plötzlich so, als sei eine Membran durchstoßen worden: vorher. Dad war ein Dad wie alle anderen, und auf einmal ist er es nicht mehr. Wir saßen uns im Big Boy gegenüber, jeder auf seiner Bank, der Tisch direkt vor den winterschwarzen Fenstern, die unser Spiegelbild schwach zurückwarfen, und ich fragte ihn beiläufig, wie es in einem Aufnahmestudio zugeht und wie dort gearbeitet wird. Ich dürfte ungefähr elf gewesen sein, und ich hatte die nebelhafte Vorstellung, dass es aufregend und romantisch wäre, in einem Aufnahmestudio zu arbeiten, in irgendeiner Funktion bei der Entstehung von Musik mitzuhelfen, aber sie nicht selber machen zu müssen. Er ließ seine Lider flattern, wie er es oft tat, und antwortete ohne Zögern.

Er sprach über die Studioausstattung, über die Zusammenarbeit der Band mit dem Produzenten, wie viel Toningenieure verdienen und wie ihre Zeitpläne aussehen. Details, die er unmöglich wissen konnte, wie mir allmählich dämmerte. Irgendwo hinter meinen Augen setzte ein gewaltiger Trommelwirbel ein.

Ich sah, dass er log. Seine Augenpartie veränderte sich, während er sprach, es war wie eine Trübung oder Farbveränderung, und von diesem Moment an konnte ich es immer erkennen.

Während er redete, spürte ich, wie sich mein Vertrauen – von dem ich gar nicht wusste, dass ich es hatte: das merkte ich erst, als es sich zu verabschieden begann – von meinem Dad abwandte, bis es fort war, und ich blieb allein zurück, nickte und lächelte. Aber was für eine erstaunliche Sache, ihn zu beobachten, wie er Unsinn verzapft, und den Unsinn endlich zu erkennen.

Mitten in einem Satz über Groupies stockte er.

«Iss fertig», sagte er. Ich starrte ihn an. Sein Gesicht wurde leer wie eine Mauer.

«Danke, ich bin satt», sagte ich munter, und versuchte meine Gedanken zu verbergen. Ich beobachtete den neuen Mann mir gegenüber. Er nahm Geld aus der Brieftasche, um zu bezahlen, und beobachtete mich seinerseits. Zwischen uns war eine Schranke der Peinlichkeit, die er nicht überquerte. Er hätte seine Orientierung verloren.

 

 

5

 

Ich ziehe einen Plastikcontainer voller Notizbücher unter dem Bett hervor. Tausende beschriebene Seiten, Tage, die ich festgehalten habe, seitdem ich acht war. Ich gäbe alles, um die Artefakte wiederzusehen – die echten Tage, die ich mit meiner Familie zusammen war – sie in den Händen hin und her zu drehen und ihre Fakten aus meiner jetzigen erwachsenen Sicht zu ordnen. Aber wer wünschte sich das nicht. Jetzt gibt es diese Tage nur noch als Papierversionen, jeder Eintrag schief und krumm im kontextlosen Begreifen eines Kindes.

Das früheste Tagebuch ist ein liniertes Buch mit festen schwarzweißmelierten Deckeln. Die ersten Seiten sind gefüllt mit Zeichnungen von Einhörnern mit Regenbögen und gebauschten Phantasiekleidern, mit Bleistift und neongrellen Buntstiften gemacht. Dann ein paar eingelegte Seiten aus einem Schreibheft –

 

Schuhe

            von Molly

Ich habe neue Sandalen.

Ich habe auch knöchelhohe Turnschuhe.

Meine Schuhe sind immer voller

            Sand.

 

Andere Seiten, auf denen von Pfützen, Ballons, Halloween die Rede ist, klingen froh und zufrieden, sind voller Ausrufezeichen und normaler Kinderbeschäftigungen mit der Welt. Immer wieder lese ich «Schuhe». Dieses Buch lasse ich neben mir liegen, während ich die übrigen Tagebücher auf meinem Bett staple, und suche weiter. Ein paarmal bleibt mein Blick an von Molly hängen, bis ich es wage, die Seite noch einmal anzusehen. Ich habe mich so lange ignoriert. Die ganze Person, die hier zum Vorschein kommt, in tapsender Blindheit katalogisiert, in einem Container verstaut und versteckt. Meine Schuhe sind immer voller Sand.

Ich schlage das Buch noch einmal auf. Der erste echte Eintrag ist vom 25. Juni 1988.

 

Heute ist nix geplahnt. Also ich weis nicht. Gestern hab ich dort gespielt, wo die Bäume gefellt wurden, und Mom sagte, es ist ein heißer Sommer. Ich habe Essen für die Elfen rausgelegt, aber heut früh war es noch da. Am Abend wurde meine Schwester nach Hause gebracht. Sie war wütend und sagte kein Wort. Sie weinte und wurde ganz rot und dann strümte sie raus und sagte sie rennt jetzt weg. Ich hab ihren Teller Tunfischauflauf gegessen. Wir haben sie gesucht und sie war unter der Kiefer. Sie sagte nix. Sie schrie nur ich hasse euch. Heute is mir egal, was sie macht.

 

Winzige Käsewürfel und Minimarshmallows zum Dessert. Dass ich den Elfen Essen hinlegte, weiß ich noch, alles andere habe ich vergessen. Zu dem Zeitpunkt war ich alt genug, um zu erkennen, dass unser Überleben nicht selbstverständlich war, verglichen mit den anderen Kindern, die ich kannte, was wohl erklärt, weshalb ich meiner Schwester ihre Portion Thunfischauflauf wegaß, nachdem sie rausgestrümt war; und es erklärt wohl auch das Gefühl eines fast widerlichen Staunens über neue Schuhe im anderen Eintrag, sie schienen mir wohl fast zu schön. Und ich weiß noch, wie meine Schwester an Mom und mir raspelte, dieses raspelnde Gefühl in meiner Brust, wenn wir zusammen waren, genau dieses Bild, ein Raspeln. Immer wieder und wieder wandte ich mich ab, heute is mir egal, aber das Raspeln blieb.

Michigan erlebte 1988 tatsächlich einen heißen Sommer. Und das war auch das letzte Jahr, in dem wir als vollzählige Familie zusammenlebten: Mom, Dad, meine Schwester, ich. Wieder sehe ich den Container mit den Tagebüchern an und bin überwältigt. Da ist so viel zu erfahren, so vieles von meiner Familie, das ich nicht weiß.

Dass Dad ein Spieler war zum Beispiel, das wusste ich nicht. Meistens Sportwetten – Football, Baseball, College-Basketball, Punktedifferenz, Gesamtergebnisse, sämtliche Angles, Buchmacher, Anrufe nach Vegas, Siegwetten, was halt im Angebot war. Zwei, drei Bildschirme gleichzeitig.

Ich will rundheraus alles sagen, was ich nicht wusste. Jetzt weiß ich ein bisschen was und will es hochhalten und vor mir hertragen. Das muss sein, es geht nicht anders.

Ich wusste, dass es kleine Zettel gab und durchgedrehte Anrufe und wildes Geschrei um die Sportwetten – so wild, dass es maßlos übertrieben wirkte –, aber es lief dann doch nur auf eine private Anspannung hinaus, die sich um ihn ballte und uns aussperrte. In diesem Dunkel wuchs ich auf.

Der letzte Eintrag im schwarzweißen Buch aus dem Jahr 88 lautet:

 

Niemand zu Hause. Heute war ich

 

Damit hört es auf.

 

 

6

 

Sportwetten unterscheiden sich deshalb so extrem von Karten- und anderen Glücksspielen, weil der Spieler streng genommen keiner ist: Er spielt das Spiel nicht, auf das er wettet. Sein Spiel ist die Analyse der Information – man muss herauskriegen, welche Spieler unerkannt verletzt oder krank sein könnten, welcher Schiedsrichter welches Team favorisiert und welche besondere Stimmung in welchem Stadium herrscht, wie sich die Kombination von bestimmtem Pitcher und bestimmten Wetterbedingungen auswirkt –, und es ist das Zusammentreffen von Ahnungen, Aberglauben, Wünschen, Loyalitäten. Und außerdem geht es darum, welche Quoten die Buchmacher anbieten, die ja die Vorhersagen aller sonst noch Beteiligten spiegeln: auch das ein Faktor, der in die Entscheidung einfließt. Perfekt für jemanden, der sich für schlauer hält als alle anderen.

Bevor Detroit große Casinos in der Innenstadt baute, war es vor allem das Windsor Casino, gleich hinter der Grenze, also gab es immer auch Blackjack. Aber Genaueres weiß niemand – meine Mom, meine Schwester, seine Kollegen, seine Geschwister – niemand sah ihn spielen, niemand wurde aufgefordert, ihn zu begleiten oder gar eine gemeinsame Strategie mit ihm zu spielen, ihm auch nur Glück zu wünschen. Es war alles total geheim. Vielleicht wäre es nicht so schlimm gewesen, wenn es nicht so privat gewesen wäre. Mom erfuhr von seiner Spielerei nur durch seine gigantischen Verluste: ein abgeräumtes Sparbuch, das Auto plötzlich weg, Rechnungen und Schulden, Drohanrufe. Manchmal kam er mit gebrochenen Rippen nach Hause oder einer gebrochenen Nase, und es wurde kein Wort darüber verloren. Der seltene Großgewinn dürfte auf der Stelle reinvestiert worden sein, verjubelt mit weiterem Glücksspiel, manchmal auch in etwas Protziges und Sinnloses wie eine neue Uhr, die er sich kaufte. Und natürlich seine Schulden, seine ewigen Schulden. Beim Glücksspiel weiß man das Ergebnis immer gleich. Im normalen Leben dauert es Jahre, bis man weiß, ob ein hohes Risiko sich gelohnt hat; das erhöht natürlich den Druck bei der Entscheidung für einen Beruf, einen Partner, ein Haus, eine Familie, eine ganze Identität – einem ungeduldigen Menschen, einem, der sich als Drahtzieher fühlen will und nicht als Spielball des Schicksals, kann das zu viel sein. Er will dann entweder aus konfuser Gier sämtliche Optionen auf einmal haben und legt sich gleichzeitig mehrere Partnerinnen, seichte Hobbys, diverse Gesichter zu; oder er scheut vor überhaupt allem zurück und geht gar kein Risiko ein. Letztlich läuft es auf dasselbe hinaus. Mehrere Beziehungen auf einmal zu führen schließt eine echte Beziehung mit einer einzigen Frau aus. Wer glaubt, er kann gleichzeitig ein guter, arbeitsamer Vater und ein Krimineller sein, schafft weder das eine noch das andere.

Zumal ein Süchtiger ja schon etwas hat, dem er treu ergeben ist, das er über alles andere stellt. Gerade der Spielsucht kann man leicht verfallen; in der Regel muss man dafür nichts Kompliziertes oder Illegales tun, muss sich auch nicht mühevoll irgendwelche Stoffe zuführen, denn sie formatiert den Körper unter Verwendung von dessen eigenen chemischen Substanzen. Adrenalin, Endorphine, jähe Freuden. Als Kind, gerade acht, sah ich einmal, ein einziges Mal Dads Gesicht nach einer Nacht im Casino. An einem frühen Sonntagmorgen, als Mom und meine Schwester noch schliefen, lag ich bäuchlings mit einer kleinen Lego-Baustelle auf dem Wohnzimmerteppich und sang vor mich hin; es war noch nicht ganz hell. Die Haustür wurde aufgesperrt, ging auf, und ich sah hin und war starr vor Schrecken. Dad als dunkle Silhouette, aber irgendwie glänzend, mit irgendwie nassem Haar, nassem Gesicht. Steinerne Miene: die Augen starr, der Mund eingezogen. Das Hemd hing schwer an ihm. Ich starrte stumm vom Boden zu ihm hinauf. Er sah mich nicht. Er drehte sich um, immer noch ausdruckslos, und verschwand durch den Flur. Auf seinem Hemdrücken ein schweißdunkles V. Ich wandte mich wieder meinem Lego zu, schaute auf die Bausteine und sah nichts, stumm.

Was wusste ich denn vom Glücksspiel. Auch als ich älter wurde, mied ich Sport, mied ich Casinos und Spielkarten, mied sogar die Lotterie. Als Erwachsene war ich nicht gerüstet, ihn zu verstehen, wenn ich nicht erst das Glücksspiel verstand.

Ich dachte erst, beim Glücksspiel gehe es, was sonst, um Glück, um Zufall, einfach um die Möglichkeit, aus nichts etwas zu machen, Geld zu vervielfachen, durch reine Geschicklichkeit. Das wird ihm bestimmt gefallen haben. Aus nichts etwas machen. Und das ist der erste Zauber. Aber ich weiß, dass es beim Spiel um Gewissheit geht, nicht um Glück. Ob Gewinn oder Verlust – das Ergebnis ist eindeutig, unmittelbar und klar. Anders gesagt: Jeder Einsatz hat auf jeden Fall ein Ergebnis, einen bestimmten Zeitpunkt, zu dem aus dem Risiko Gewissheit wird und das Können, der Weitblick des Spielers sich eindeutig ermessen und beurteilen lassen. Ein Adrenalinschub schießt durch den Körper: gewinnen oder verlieren. Das ist nicht chaotisch, nicht konfus oder unkontrollierbar, wie die Liebe, wie andere Menschen, die zu kontrollieren Dad sich sehr anstrengte. Der Raum, in dem das Glücksspiel stattfindet, bietet dem Spieler Zuflucht vor der Ungewissheit, dem Unbekannten, dem Lauf der Welt.

 

 

7

 

Mein Dad wurde am 19. August 1945 in einem DP-Lager geboren. So begann er sein Leben: von seiner Mutter heimlich ausgetragen, während sie stumm Zwangsarbeit für die Nazis leistete, in Kempten.

Im Jahr zuvor waren seine Mutter und sein Vater und fünf Geschwister aus dem polnischen Szwajcaria deportiert worden. Meine Tante Helena, ein paar Jahre älter als mein Dad, sagte mir, dass sie sich an den Zug erinnert, daran, wie ihre Mutter Stanisława einmal, als der Zug auf offener Strecke hielt, absprang, um Holz für ein Feuer zu sammeln. Stanisławas Eltern und drei ihrer Geschwister waren ein paar Jahre zuvor in Sibirien, wohin sie deportiert worden waren, um für den russischen Nachschub Bäume zu fällen, ums Leben gekommen. «Vor Kälte zersplitterten die Bäume, sobald sie auf dem Boden auftrafen. Niemand hatte genug zu essen und genug anzuziehen, und die meisten starben», schrieb mir meine Tante zur Antwort auf meine Fragen nach unserer Familiengeschichte. Sie hat einzelne Erinnerungen an ihr Leben während des Kriegs, «aber sie scheinen mir nicht real», sagte sie. Sie erinnert sich an die Stimmung im Zug: an die animalische Furcht jedes Mal, wenn sie anhielten, an die Sorge der Erwachsenen, ihre eigene Sorge, als ihre Mutter verschwand. Sie wurden ins KZ Dachau gebracht, wo mein Großvater täglich verhört und geschlagen wurde, weil sie ihn verdächtigten, ein Partisan zu sein wie sein Bruder.

Der Vater meines Dads wurde von der Familie getrennt. Die Übrigen lebten und arbeiteten zusammen und hofften, ihn wiederzusehen. Bei den Verhören kam nichts heraus.

Wenige Monate später wurden sie nach Kempten in ein KZ-Außenlager verlegt, wo sie Zwangsarbeit auf dem Bauernhof leisteten, der sie ernährte. Hier wurde meine Großmutter mit meinem Vater schwanger. Sie verheimlichte ihre Schwangerschaft, denn sie fürchtete, zur Abtreibung gezwungen zu werden; sie arbeitete weiter und verbarg ihren Körper, so gut es ging. Arbeiten mussten alle, auch die Kinder, auch die Kranken. Meine Tante erinnert sich daran, sagt aber nicht viel darüber. «Es gab Greuel jeden Tag», sagt sie, und ich bedränge sie nicht. Ende April war der Krieg vorbei, und im August kam mein Dad auf die Welt.

Nach dem Krieg lebten sie in diesem DP-Lager, während sie versuchten, aus Deutschland fortzukommen. Mein Großvater, den die Vorstellung von einem eigenen Gehöft, dem freien Leben als Landwirt verlockte, wollte unbedingt nach Australien. Aber er starb wenige Monate vor der geplanten Ausreise, und eine Witwe mit fünf Kindern war in Australien nicht willkommen. Eine katholische Organisation ermöglichte ihnen die Überfahrt nach Amerika, und sie nahmen an. Das Erste, woran mein Dad sich erinnert, ist dieses Schiff: ein Truppentransporter, alles kalt und grau, das Meer und der metallische Geruch. Am 4. Dezember 1951 trafen sie auf Ellis Island ein, und Dad verwandelte sich von Jozef in Joseph. Mit dem Zug fuhren sie nach Detroit. Die Organisation brachte sie zur katholischen St.-Albertus-Kirche Ecke St. Aubin und Canfield Street, östlich der Interstate 75, in einer Gegend, die Poletown heißt. Sie wohnten im obersten Stock der angrenzenden, 1916 erbauten Schule, bis meine Großmutter Arbeit in der Kantine der Detroit News gefunden hatte und ein Apartment für die Familie mieten konnte. St. Albertus, seit 1990 entweiht, steht jetzt zwischen urbaner Brache und verlassenen Häusern.

Angeregt von den Erzählungen meiner Tante, mailte ich Dad und bat ihn, mir von seiner Jugend in Detroit zu berichten – er hatte bisher nie ein Wort darüber verloren. Ich hatte nicht gewusst, wo er zur Welt gekommen war, und keine Ahnung von den Torturen seiner Familie gehabt. Hatte er aus Scham geschwiegen? Würde er mir überhaupt antworten? Er schrieb rasch zurück und sagte, er werde mir einen Brief schreiben, oder lieber zwei, denn es werde sicher nicht alles in einen einzigen Umschlag passen. Ich wartete einen Monat, zwei Monate: Das war untypisch für ihn. Vielleicht war er krank oder Schlimmeres, dachte ich. Aber schließlich kam der Brief doch – er habe Ärger im Job gehabt, sagte er, weil er einen Befehl missachtet habe, und habe die letzten Wochen in Einzelhaft zugebracht.

Der erste Brief, auf gelbem, liniertem Papier geschrieben, war lang und heiter. Ich war argwöhnisch. Immer argwöhnisch und zugleich argwöhnisch gegen meinen Argwohn, wenn ich Dad zuhörte. Was, wenn es diesmal nicht lauter Lügen waren? Was, wenn er sich mir ausnahmsweise öffnete – wäre ich stark genug, um ihm zu folgen? Vor allem aber erwartete ich eines – und hatte, wie sich zeigte, recht: eine harmlose und leicht heroische Selbstdarstellung, seine offizielle Geschichte, nichts Tiefergehendes.

Er beschrieb das Viertel, eine engmaschige Miniaturausgabe von Osteuropa, kleine Volksgruppen, die sich in je eigenen Vierteln um ihre jeweilige Kirche scharten, Familienbetriebe im Wechsel mit Doppelhäusern. Seine Familie war schrecklich arm, sie lebten von Almosen und dem mageren Lohn, den seine Mutter als Tellerwäscherin in der Kantine des Innenstadtbüros der Detroit News heimbrachte. Er bezeichnete sie als «abergläubisch religiös». Jeden Tag besuchte er vor der Schule die Messe in St. Albertus, auch am Sonntag; nur der Samstag war kirchenfrei. Seine ganze Welt wurzelte in der Kirche – seine Familie, sein Viertel, seine Schulbildung, seine Staatsangehörigkeit in diesem Land. Als sie schließlich aus der Schule auszogen, wohnten sie nur ein paar Straßen weiter. Er sei nie so weit entfernt gewesen, sagt er, dass er nicht alle fünfzehn Minuten die Kirchturmuhr habe schlagen hören. Er habe die Kirche geliebt, sagt er. Die überwältigende Detailfülle der Glasfenster, die Deckenbemalung, die riesige Orgel, das großartige Zeremoniell – sicher war ihm dies alles Trost und Geborgenheit im neuen Land; ihnen allen.

Ich hörte es gern, muss ich zugeben, und es leuchtete mir auch ein – ich hätte kaum sagen können, inwieweit ihn die katholische Kirche geprägt hatte, außer in seiner Liebe zum Luxus. Der Kontrast zum moralischen Tenor der mütterlichen Erziehung hätte nicht größer sein können: Das proletarische Arbeitsethos des Mittleren Westens, das Trägheit, Schwäche und den Weg des geringsten Widerstands als schwere Sünden verurteilt, hat mit dem Katholizismus einzig das Schuldgefühl als Motivationstechnik gemeinsam. Luxus stieß mich ab. Er schien mir falsch, so real die Materialien, so groß das Gepränge, so ehrlich die Finanzierung sein mochten – praktiziert wurde er, wie mir schien, aus der Vorstellung heraus, dass Geld als solches etwas bedeute, etwas Großes, Grandioses. Wäre ich, wie mein Dad, in Armut aufgewachsen, hätte ich sie wahrscheinlich doch ganz anders erlebt als er.

Seine Mutter heiratete schließlich noch einmal, einen älteren Litauer, dessen Geld der Familie enorm half. Sie ließen die ewigen Absteigen hinter sich und zogen in ein richtiges Haus, und auf einmal hatte er einen Stiefvater. Er bezeichnete ihn immer nur als «griesgrämig». Seine Brüder stritten regelmäßig mit ihm, mein Dad hielt sich raus. In einem Brief erwähnt er ein von seinem Stiefvater geschnitztes Holzgewehr – das einzige Geschenk, das er je von ihm bekam; er habe es sehr geliebt, schreibt er. Einen ganzen Brief widmet er der Beschreibung seines Stiefvaters, der Häuser, in denen sie wohnten, der Aufzählung, wer von seinen Geschwistern wann auszog. Dieser zweite Brief ist kühler, zögernd. Dad zog als Letzter von zu Hause aus. Ich stelle ihn mir vor, mit seiner Mutter, mit der er fast nichts anfangen konnte, und seinem fernen Stiefvater, einem Nichtvater eigentlich, denn er hatte keine echte Rolle in seinem Leben. Dad zog sich in sich zurück. Das kenne ich von mir. Vielleicht fühlte er sich im Stich gelassen oder einsam. Das kann ich jetzt erst sehen.

Als er die Grundschule hinter sich hatte, begann sich sein Viertel ebenfalls zu verändern. Die polnischen Einwanderer zogen nach Hamtramck, auch andere Weiße wechselten von der Innenstadt in die Randbezirke. An ihrer Stelle kamen Schwarze – ein Menschenschlag, mit dem er bis dahin nie zusammengekommen war. «Mit ihnen», schrieb er, «kamen Kriminalität und Drogen. Es war niederschmetternd, wie diese fremden schwarzen Menschen, die ich früher nur aus der Ferne gesehen hatte, jetzt direkt nebenan wohnten.»

Seine Kindheitswelt, so klein und kulturell monolithisch, wie Kindheitswelten nun mal sind, brach auf. Die polnische Familie an der Ecke zog aus, und innerhalb weniger Monate war aus dem Anwesen ein Drogenumschlagplatz geworden. Die kleinen Geschäfte im Familienbesitz, mit denen er aufgewachsen war, sperrten zu oder zogen fort. Spannungen brodelten. Neueröffnete Läden von Schwarzen wurden abgefackelt. Bürgerwehren bildeten sich und patrouillierten durch die Straßen, um zu verhindern, dass verfeindete Gruppen ins Revier der jeweils anderen eindrangen. In der Hoffnung, anderswo wieder ein ethnisch homogenes Zusammenleben zu organisieren, gaben weiße Einwandererfamilien ganze Blocks auf und zogen geschlossen weg. So war es in ganz Detroit während der fünfziger und sechziger Jahre; der Wegzug der Weißen, angetrieben von Krawallen und Hassverbrechen, schuf eine «weiße Schlinge» rund um die Stadt. Dad schreibt, die meisten Menschen hätten keinen «guten Grund» für ihre Antipathie gegen Schwarze, er hingegen schon; ich zucke zusammen bei diesem Satz und frage mich, welche potentielle Wärme durch seine Wende zu nachbarschaftlichem Hass von seiner Persönlichkeit abgeschnitten wurde.

Er blieb in Detroit, bis er Mitte der siebziger Jahre nach Vietnam einberufen wurde; und nach seiner Rückkehr zog er mit seiner ersten Frau und der gemeinsamen Tochter, meiner Halbschwester, in eine Wohnung nur ein paar Straßen von St. Albertus entfernt. Und jeder Brief, in dem er mir von seinem Leben erzählte, endet hier. Vielleicht hat es einfach praktische Gründe, vielleicht denkt er, die weitere Geschichte sei mir bekannt. Aber das ist wichtig. Dieser Teil seines Lebens – alles, was er erlebte, ehe er meine Mutter traf – ist der Teil, den er als unversehrt präsentieren kann. Damals war er unschuldig, kein krimineller Kriegsveteran – zumindest konnte er behaupten, dass er damals unschuldig war. Alle Briefe enden hier.

 

 

8

 

Ich weiß, dass mein Dad ein Vakuum hat, wo sein Vater sein sollte. Jeder in seiner Familie kannte seinen Vater, nur er nicht. Sein erster Brief an mich beginnt so: «Du weißt wahrscheinlich, dass mein Leben einen ganz anderen Verlauf genommen hätte, wenn mein Vater länger gelebt hätte.» Oberflächlich betrachtet, ist klar, was er meint: Sie wären nach Australien ausgewandert. Aber meinem Gefühl nach steckt mehr dahinter. Wie gut ich das verstehe, ist ihm wahrscheinlich gar nicht bewusst.

Ich habe ein paar Fotos von ihm als Kind gesehen. Eins, das weiß ich noch, hing gerahmt neben anderen Fotos – und jemand hielt ihn, ein Mann, womöglich sein Stiefvater, der mit seiner Mutter und seinen Geschwistern vor einem Haus und einer Landschaft steht. Seine Miene ist ernst, aber ein Baumstamm steht so exakt hinter ihm, dass es aussieht, als wachse der Stamm direkt aus seinem Kopf. Meine Schwester und ich lachten oft darüber. Ich sah es mir genau an, dieses kleine Schwarzweißfoto, es ist traurig und steif, aber ich lache.

Ein Foto, das ich besitze – es ist eine neue Hochglanzreproduktion eines Fotos, und ich weiß nicht genau, wie das Bild in meinen Besitz gelangt ist. Wahrscheinlich habe ich es irgendwann aus einem Fotoalbum entwendet. Dads Familie ist vollzählig um das frische Grab seines Vaters versammelt. Wahrscheinlich sind sie in Deutschland, in der Nähe des Lagers, in dem Dad zur Welt kam. Seine älteste Schwester steht neben dem Holzkreuz am Kopfende – an dem ein kleines Foto des Toten hängt, eigentlich kaum zu erkennen – und blickt auf das Grab. Dads zwei Brüder knien am Fuß des Grabs und blicken mit kleinen traurigen Gesichtern auf den Fotografen. Erschöpfte Gesichter, schon als Kinder. Neben ihnen die andere Schwester; sie schaut mit zusammengezogenen Brauen, die Hände zum Gebet gefaltet, ebenfalls in die Kamera. Sie sieht ernst und intelligent aus. Und in der Mitte die Mutter, ebenfalls kniend, mit dem Jüngsten, meinem Dad, auf dem Arm. Die Mutter blickt direkt zum Betrachter, den Kopf leicht gesenkt, den Mund geöffnet, als sage sie gerade etwas. Sie ist hübsch und wirkt unverwüstlich; die hohen breiten Backenknochen habe ich offensichtlich von ihr. Dad ist ein kleines Baby und ganz in Schwarz gewickelt. Er schaut mit neutraler Miene irgendwohin. Hängende Pausbacken. Er ist der einzige Anwesende, der keine Ahnung hat, was hier vor sich geht.

Der Hintergrund ist einfach grau; ferne verschwommene Hügel. Geisterhafte Leere. Ich bewahre dieses Foto mit dem Gesicht nach unten in der Mappe mit seinen Briefen auf. Es ist wie eine Herausforderung an mich: Wer fotografiert eine Familie im Augenblick höchster, intimster Trauer, nicht posierend, sondern am Grab des Vaters? Tue ich jetzt nicht das Gleiche, wenn ich über unsere Familie schreibe?

Der Vater meines Dads hieß Kazimierz und war Bauer und berühmt dafür, dass er Pferde im Fluss Strypa zuritt. Seine Eltern, Dads Großeltern, kamen 1941 in Polen um. Kurz vor seinem Tod erfuhr er noch, dass seine vier Brüder wegen Hochverrates hingerichtet worden waren, er selbst starb im März 1948, an seinem sechsunddreißigsten Geburtstag, an einem Herzinfarkt. Da war mein Dad zwei.

Geht es uns da nicht gleich, Dad, vermissen wir nicht beide unseren Dad, hat dieses Vermissen nicht mit uns beiden das Gleiche gemacht? Du hast uns eine Person dagelassen, die unkenntlich ist, deine Tarnlegende, dein Ausweichmanöver, und ich bin dir gefolgt, folge immer noch, mehr denn je, wie verliebt in dieses Chaos, in diese schwierige Familie, in meine verstörte Mutter und meine Schwester und auch in dich, vor allem in dich, den Unkenntlichen.

 

 

9

 

Im Taxifenster näherte sich unser Strandhotel wie ein Traumbild, auch so falsch wie ein Traumbild, und ich fühlte mich überfordert vom Luxus der phantastischen Palmen und adretten Bogentüren. Das schien mir alles einfach nicht richtig. Ich sperrte den Mund auf, als wir aus dem Taxi stiegen – freudig, ungläubig; und absichtlich, damit er es sah. Er machte eine übertrieben ausladende Demonstrationsgeste zum Eingang hin und sagte: «Na los, marsch», albern, wie es seine Art war. Im Nachhinein denke ich, das Hotel war wahrscheinlich nichts Besonderes, vielleicht sogar billig, aber das konnte ich nicht wissen.

Das war die längste Zeitspanne, die wir als Vater und Tochter zusammen waren. Ich war neun oder zehn, und er war mit mir in Cancún – ein abwegiger Ort, um ohne besonderen Grund ein Kind in die Sommerferien zu führen. Es machte grundsätzlich nie mit uns beiden zusammen Ferien, sondern nur mit mir oder nur mit meiner Schwester, und übrigens nie mit Mom, auch als sie noch verheiratet waren. Ich glaube, wir reisten niemals alle vier gemeinsam irgendwohin, denn Mom und Dad hassten einander meistens; aber warum meine Schwester und ich nicht gemeinsam irgendwo sein konnten, habe ich nicht verstanden. Jetzt, im Nachhinein, stelle ich alle möglichen Spekulationen darüber an: Am einen, dem praktischen Ende stehen Kosten und Zeit und die Logistik der Planung und am anderen, dem dunkleren Ende absichtliches Fernhalten.

 

Tagsüber ließ er mich allein. Ich wachte auf und fand ein bisschen Geld mit einem Schlüssel und einer Nachricht darauf: Viel Spaß! Und krem dich ja ein! Ich zog meinen genoppten gelben Badeanzug an und ging zum Strand oder zu dem kleinen stark gechlorten Pool und bemühte mich sehr, die Spaßferien zu haben, die ich haben sollte.

Was tat er währenddessen? Saß er irgendwo in der Nähe am Spieltisch? Wahrscheinlich. Vielleicht gab es auch eine Frau, mit der er sich traf? Abends kam er zurück und führte mich zum Essen aus, und immer bestellte er Hamburger und Cola für mich, ohne zumindest mal einen Blick auf die Speisekarte zu werfen, obwohl ich Hamburger und Cola nicht ausstehen konnte. Mom ließ mich keine Limonaden trinken, und wahrscheinlich war es ihm wichtig, diese Regel zu brechen.

«Hahmm-borrr-gesa», sagte er zum Kellner. Zog kindisch die Silben auseinander und gestikulierte maßlos übertrieben, als wäre der Kellner halbblind und schwerhörig, «und CokaColé!», schloss er, sprach den zweiten Teil wie «Olé!» aus und tat so, als trinke er aus der Flasche. Kellner behandelte er überall herablassend, als wäre er was Besseres, und hier ganz besonders. «Das ist das einzige Wort, das du kennen musst», sagte er, mir gegenüber auf der Sitzbank. «Hamburguesa». Ich erstickte meinen Widerwillen in einem gefälligen Lachen, denn diese Veranstaltung war ja für mich gedacht. Seine Goldkette, den goldenen Ring kannte ich nicht. Ich beobachtete ihn aufmerksam und wartete, ob wir irgendwann wirklich miteinander reden würden.

Ich sagte ihm nicht, dass ich es toll fand, die Tage hier am Strand zu verbringen, allein wie eine Erwachsene. Allein, aber beunruhigt. Dieses Gefühl des Freischwebens war mir zwar angenehm, aber es gehörte sich einfach noch nicht. Ich hätte ihm erzählt, dass ich den ganzen Tag auf meinem blauen Handtuch lag, einfach nur dalag, stundenlang, mich von der Sonne brutzeln ließ und zwei halbwüchsigen Mexikanerinnen neben mir zuhörte, die zwischen Spanisch und Englisch wechselten und nicht ahnten, dass sie belauscht wurden. Sie schwärmten davon, wie wunderbar es wäre, wenn sie als gringa geboren wären, was für ein Haus sie dann hätten und was für einen Freund und wie ihre Daddys sie verwöhnen würden, mit Autos und Klamotten und phantastischen Geburtstagspartys.

Einmal ging er morgens nicht weg, sondern wartete, bis ich aufgewacht war, denn wir wollten Maya-Ruinen besichtigen. Vor dem Rundgang zog es uns Ausländer wie von selbst zu den riesigen steilen Stufen einer Pyramide, und wir fingen an hinaufzuklettern. Es war brütend heiß, und ich fühlte mich so jung und klein, die anderen Touristen plagten sich entsetzlich mit dem Aufstieg, während ich die alten Steinblöcke hinaufsprang, mich oben dem endlosen Blätterdach unter mir zuwandte und lächelte. Dad tief unten. Ich winkte ihm, aber er schaute nicht herauf. Wir wurden zur Besichtigungstour zusammengerufen, und die Kinder meines Alters, auch ältere, jammerten bereits. Mir wäre nicht im Traum eingefallen, mich auch nur halb so viel zu beschweren, wie sich die Gleichaltrigen beschwerten. Ich fand es erschreckend, wie sie ihre Forderungen stellten. Hunger und müde und Durst und langweilig und wäh, Dad, wann gehen wir endlich wieder? Ein Stück weiter schilderte ein Fremdenführer am Rand eines Cenote, wie die Mayas junge Frauen geopfert hatten; hier hinein wurden sie geworfen, «Mädchen in deinem Alter», sagte er und deutete auf mich. Die Touristengruppe kicherte unbehaglich, doch ich richtete mich auf.

Ich saß auf einem Felsen, der zu einem Schlangenhaupt gemeißelt war, auf dem Kopf die einzige Mütze, die ich als Kind besaß, eine Baseballkappe mit schwarz-buntem Tropenmuster, die sicher aus einem Kids Meal von Wendy’s stammte. Ich glaube, es entstand damals ein Foto, das mir in Erinnerung geblieben ist; vielleicht existiert es noch irgendwo. Ich erinnere mich, dass ich auf dem Schlangenkopf saß, und ich erinnere mich auch an das Foto von mir auf dem Schlangenkopf. Mir gefiel dieser Tag, ich fand es schön, dies alles zu sehen, das mir so wichtig vorkam, während Dad sich meist abseits im feuchten Schatten am Dschungelrand aufhielt, er kletterte nirgends hinauf. Er hatte mich hierhergebracht, und ich war froh. Ich hatte ein heimliches Bedürfnis, wie Kinder es oft haben, nämlich verloren zu gehen und dann irgendwo die Nacht verbringen zu müssen, an irgendeinem tollen Ort, einem Museum oder in einem Einkaufszentrum; ganz allein und privat dort sein zu können. Ich umrundete die Pyramide in der Hoffnung, eine Höhle zu entdecken, in der ich mich dann versteckt hätte, damit ich über Nacht an diesem uralten magischen Ort bleiben könnte, wie ein gutes Opfer, brauchbar für etwas Ernstes. Aber es war heiß, und wir mussten weiter. Dad wirkte müde und skeptisch gegenüber allem und nicht besonders interessiert an dem, was unser Fremdenführer zu sagen hatte, so wenig wie an den Ruinen. Aber ich freute mich, und das freute wieder ihn, er schien mir meine Freude lassen zu wollen, ohne sie darum unbedingt teilen oder bereden zu müssen. Vielleicht ist es einfach, sich über Kinderfreude hinwegzusetzen; sie wirken ja so unwissend.

Auf dem Rückweg musste unser Bus zum Tanken anhalten. Kinder in meinem Alter, aber viel magerer, kamen mit ausgestreckten Händen zum Fenster und flehten und starrten uns eindringlich an. Manche Touristen im Bus gaben ihnen Münzen. Diejenigen, die Münzen ergattert hatten, ließen sie in der Tasche verschwinden und streckten sofort wieder die leere Hand aus. Ich sah meinen Vater an. Er lachte verächtlich. «Alles Faulenzer. Sie können arbeiten wie jeder andere auch.»

Danach verliefen die Tage wieder wie zuvor und zogen sich noch länger hin. Ich hatte den hübschen Strand allmählich satt. Die Touristen lärmten und wirkten irgendwie verzweifelt, wie sie tranken und ihr Radio plärren ließen. Ein paar Tage lang saß ich allein im Hotelzimmer, und die Ferien schrumpften ihrem Ende entgegen. Das Zimmer war gelb und sauber und hatte einen kleinen Fernseher; ich zappte mich endlos durchs Programm. Meine Schwester hätte gewusst, selbstverständlich hätte sie gewusst, was sie hier anfangen sollte. Sie bestand doch aus Stränden und lauten Radios und alkoholfreien Cocktails, Virgin Strawberry Daiquiri, und sie hätte über Dads Witze gelacht und für seine Kamera posiert. Ich stellte sie mir mit mir hier im Zimmer vor: ihre korrekte Freude und totale Akzeptanz dieses Neon-Spaßes. Sie hätte mich nicht in Cancùn im Badeanzug auf dem Bett liegen und fernsehen lassen. Aus diesen Fluren, durch die ich ziellos irrte – braune Fliesen, zwischen denen der Chlorgeruch vom Pool sich bei Tag und bei Nacht hielt –, hätte sie mich hinaus ins Freie gescheucht. Ohne sie wanderte ich vom Zimmer durchs Hotel und zurück ins Zimmer, in der Hand den Zwanzigdollarschein, den er mir dagelassen hatte, damit ich mir Essen kaufen konnte, aber ich wusste nichts damit anzufangen.

 

 

10

 

Wie kommt es, dass ich meines Vaters Tochter bin? Irgendetwas scheint mir an unserer Blutsverwandtschaft unehrlich. Ehe meine Schwester und ich zur Welt kamen, gab es einen unwiderruflichen Betrug, den Dad gegen meine Mom beging, und ich kann nicht anders – ich muss ihn ernst nehmen. Dieser Betrug bedeutet etwas.

Zu ihrer ersten Verabredung führte Dad meine Mom durch die weiten Türen des Restaurants, das zur Hazel-Park-Rennbahn gehörte. Der alte Wirt strahlte, begrüßte ihn mit Namen und geleitete die beiden zu einem Tisch vor den Panoramafenstern. Auch die Bedienungen kannten ihn, und er verteilte sagenhafte Trinkgelder. Mom trug einen schlabbrigen weißen Hänger, ein mit winzigen roten Blümchen besticktes Hippiekleid (das, sagte sie, wie «eine freie Interpretation von Baseball» war), und ihr ungestümes schwarzes Lockenhaar offen wie eine Wolke. Dad trug ein Sportjackett mit Goldknöpfen, Knitterhosen, glanzpolierte Schuhe und pomadisiertes Haar, fast ein Robert De Niro. Sie hatten sich bei einem Werkzeugmacher kennengelernt, wo sie beide arbeiteten, 1977, in Romeo, Michigan. Mom war von einer Zeitarbeitsfirma geschickt worden und war erst seit wenigen Wochen dabei.

Als sie ein paar Monate zusammen waren, lud Dad sie zu einem aufwendigen Urlaub nach Südamerika ein, um Machu Picchu zu sehen. Er hatte erst Mexiko vorgeschlagen, aber Mom wollte nicht. Sie mochte Mexiko nicht, es machte sie nervös.

Die Reise war spontan und seltsam; meine Mom war bestimmt begeistert. Und er schien so reich zu sein! Auf seine scheue Art, die jedem Blickkontakt ausweicht, wird er ihr gesagt haben, dass sie, sollte er jemals heiraten, seine Erwählte wäre. Mom fühlte sich angebetet, aufgehoben im wahrsten Wortsinn, umschlungen von seinen großen Gebärden, in die Gewissheit zwischen ihnen eingebunden. Ich habe ein paar Fotos von dieser Reise gesehen. Sie wirken beide so begeistert und frei und ausgelassen, in Jeans und dünnem T-Shirt, lachend und fast wie Kinder vor den alten Baudenkmälern und grünen Panoramen. Er inszenierte diese Reise aus reinem Selbstvertrauen, seelenruhig, überwand Sprachbarrieren mit Gewalt und verteilte milde Gaben an meine Mom wie der Prinz beim Umzug.

«Ich wusste nicht», sagt meine Mom am Ende dieser Geschichte, «dass er völlig abgebrannt war und eine Lebensversicherung aufgelöst hatte, um mich zu der Reise einladen zu können. Am Ende hatte er überhaupt kein Geld mehr, und wir irrten durch Lima und lebten von den Hot Dogs eines Straßenverkäufers und Obst, das Dad auf dem Markt stahl.»

Ich muss sie unterbrechen. «Moment. Hast du gewusst, dass er Obst stahl? Hast du mitgestohlen? Du musst doch gemerkt haben, dass er pleite war?»

«Nein, ich habe es nicht gewusst. Er ließ mich irgendwo warten, während er losging, um uns ein Mittag- oder Abendessen zu besorgen. Kapiert hab ich es erst später, als ich die Sache mit der Lebensversicherung erfuhr.»

«Und wie hast du das erfahren?»

«Oh, seine Frau hat es mir gesagt, als ich sie kennenlernte.»

Seine Frau. Dad hatte eine Ehefrau, als er die Beziehung mit Mom anfing. Eine Zeitlang sitzen wir schweigend mit den Fakten auf dem Sofa. Dad in Peru, stiehlt für seine Freundin Obst auf dem Markt wie ein Junge, verschweigt ihr Frau und Kind, verschweigt ihr den Diebstahl, verschweigt ihr alles. Für Mom war es nur Obst und Urlaub und dieser tolle Mann. Was er ihretwegen alles auf sich genommen hatte. Die unglaubliche Energie, die er aufwandte, um zu lügen und zu verheimlichen und die zugunsten seiner Familie abgeschlossene Lebensversicherung zu stehlen, um meiner Mom einen Urlaub zu bescheren, den er ihr dann in die Hand fallen ließ wie einen kleinen Apfel. Auf den Fotos sieht er völlig entspannt aus. Keine Spur von Stress.

Kurz nach ihrer Rückkehr stellte sie fest, dass sie schwanger war, mit meiner Schwester.

Im Geschäft begann Moms Schwangerschaft sichtbar zu werden und löste bei der verbitterten Empfangschefin mit der toupierten Bienenkorbfrisur wachsame Blicke aus. Mom entgingen die Blicke nicht, und sie wollte sie darauf ansprechen, im Pausenraum, rundheraus, wie sie es immer macht, wenn etwas geklärt werden muss.

«Schätzchen», sagte die Empfangschefin mitleidig, noch ehe Mom ein Wort gesagt hatte, «er hat dir nicht gesagt, dass er verheiratet ist, oder.»

Mom lachte nur und sagte nichts. Die Empfangschefin wiederum gluckste und schüttelte mitleidig den Kopf. Mom konnte Mitleid nicht ausstehen. Sie wird es ignoriert haben. Dass er, wenn er schon verheiratet wäre, guten Gewissens auf die Idee kommen könnte zu sagen, er würde sie heiraten, wenn er denn je heiraten sollte, kam ihr einfach völlig abwegig vor. Er war so entzückend. Er war so großzügig, so liebevoll.

Dennoch begann der Gedanke an ihr zu nagen. Sie fand es merkwürdig, dass sie nie bei ihm zu Hause gewesen war und keine Telefonnummer von ihm hatte, dass er nur vage Auskünfte gegeben hatte, wo er wohnte. An diesem Abend fragte sie ihn direkt, ob er verheiratet sei, und er sagte nein. Er reagierte aufrichtig verwirrt auf ihre Frage, er sagte, die Empfangschefin sei eine neidische Kuh und eifersüchtig, weil er nicht mit ihr geflirtet habe. Seine Antwort war goldrichtig. Mom war vollkommen zufrieden. Außerdem hatte sie jetzt an ein Baby zu denken. Sie ließ es auf sich beruhen. Bald zog sie mit ihm in ein Apartment und hörte zu arbeiten auf. Meine Schwester war unterwegs, es standen Veränderungen an.

Für ihren ersten Arztbesuch gab ihr Dad seine Versicherungskarte und nannte ihr die Klinik, zu der sie gehen sollte, während er bei der Arbeit war. Sie gab die Karte der Empfangsdame, die eine Akte heraussuchte, aufschlug, stockte. Sie sah Mom an, blickte in die Akte, sah wieder Mom an und so weiter, blickte auch zu den Schwestern in der Nähe hinüber, um ihr Unbehagen auf mehreren Schultern zu verteilen. Ein entrüsteter Blick verhärtete ihre Züge. Mom war befremdet. «Ist alles okay?», fragte sie schließlich.

«Ja, aber … Tut mir leid, Ma’am … aber Sie sind nicht Misses Brodak.»

Mom lächelte höflich. «Nicht offiziell, noch nicht, aber ich bin jetzt bei ihm mitversichert, und das müssen Sie akzeptieren …»

«Nein, ich meine …» Die Schwestern sahen jetzt besorgt herüber. «Misses Brodak und ihre Tochter sind ebenfalls Patientinnen bei uns. Erst letzten Mittwoch waren sie hier. Sie sind nicht Misses Brodak.»

Zu dem Zeitpunkt, sagte sie später, hätte es aus sein müssen. Es war noch nicht zu spät. «Alles», sagte sie zu mir, «hätte sich vermeiden lassen, wenn ich von der Klinik einfach zu meinen Eltern zurückgegangen wäre statt zu ihm.» Ich nicke, stelle mir vor, wie viel besser es für sie gewesen wäre, und meide den Gedanken, dass dieses «alles», was sie hätte vermeiden können, auch mich einschließt. «Aber ich konnte offenbar nur lauter Fehler machen», sagte sie.

Sie fühlte sich winzig. Das ist eine Version von Mom, die mir unbekannt war. Sie schien mir so schwach in dieser Geschichte, so sehr getäuscht von ihm, dass mir die ganze Sache allmählich ein bisschen unglaubwürdig vorkommt. War Dad wirklich derart stark? Oder war Mom damals einfach schwächer, ein naives Kind?

Sie drehte sich um und verließ die Klinik, während die Schwestern hinter ihr in scharfem Flüsterton die Situation kommentierten. Vielleicht war es aber ein Missverständnis. Ihre Gedanken kehrten zu ihrem Baby zurück.

In dem Augenblick, als er abends zur Tür hereinkam, erzählte sie ihm die Geschichte mit der Versicherungskarte und der Klinik und wollte wissen, wer die richtige Mrs. Brodak sei. Er ließ die Schultern hängen und tapste lieb zu ihr hin, umschlang sie mit beiden Armen und streichelte sie, während sie weinte. Seine Sanftheit und sein überzeugtes Leugnen verschlossen ihr wieder einmal den Mund. Er sagte, die Frau sei nur eine Freundin, der er manchmal seine Karte gebe, er tue ihr nur einen Gefallen damit, aus Freundlichkeit, und selbstverständlich sei er nicht verheiratet. Er lachte darüber, neckte und lockte sie zum Mitlachen, während er ihr die Tränen abwischte.

Das konnte er, einen einfach so umdrehen. Er ließ nicht zu, dass schlechte Stimmungen die Oberhand gewannen. Er nahm einem die zornigen Worte aus dem Mund und wiederholte sie so lange, bis sie absurd wurden, zum Lachen, er stach einem mit dem Finger gegen die verschränkten Arme, bis sie sich öffneten, grinste einem spöttisch ins schmollende Gesicht, bis man lächeln musste, und wenn es noch so lang dauerte. Er entlockte einem, was man wirklich wollte – Zuneigung –, und überschüttete einen damit, bis alle Kränkung darunter erstickt war.

Kaum war sie allein, nagten wieder allerlei Gedanken an ihr, bohrender diesmal. Es schien ihr alles falsch. Ein paar Tage später rief sie im Standesamt an und bat um eine Auskunft. Die Beamtin am anderen Ende erteilte sie ihr in dem sachlichen Ton, den sie vermutlich immer anschlug. Er war erst seit ein paar Jahren verheiratet. Er hatte eine Tochter, vierjährig.

Sehen Sie, so fängt mein Dad als mein Dad an – gestohlen von einer anderen Familie.

Mom packte ihre kleinen Koffer und kehrte noch am selben Tag in ihr Elternhaus zurück, und auch das hätte das Ende sein sollen. Sie saß in ihrem Zimmer. Die Straße zum Haus ihrer Eltern im Norden von Rochester, Michigan, war noch nicht geteert, und wo heute der kurzgeschorene Musterrasen der Nachbargärten ist, waren noch Felder, wuchernder Flieder, Geißblatt, Pestwurz.

Sie dachte an seine Zärtlichkeit. Lange Phasen des Getrenntseins zwischendurch schrumpften durch seine Anbetung zu Augenblicken zusammen, sobald sie wieder vereint waren. Aufrichtig und unbeirrt sahen seine Augen sie an, wenn er ihr seine Liebe erklärte. Manchmal riss er sie stürmisch hoch und walzte mit ihr durch die Küche. Das alles hatte er schon mit seiner richtigen Ehefrau geübt. In aller Stille brachte sie meine Schwester zur Welt.

Aber er ließ sie nicht in Ruhe. Er fand sie bei ihren Eltern und kam, sobald er Zeit fand, warf nachts Steinchen an ihr Fenster wie ein Teenager, bis ihr Vater ihn verscheuchte, oder legte ihr Blumensträuße samt langen Liebesbriefen vor die Haustür. Vielleicht war es genau diese aberwitzige Beharrlichkeit, die sie letztlich überzeugte: die Unmengen Rosensträuße, die Geschenke, Schmuckstücke, langen Briefe, die um Vergebung flehten, ihre Tugenden priesen, Trennung von seiner Ehefrau versprachen, «und Gedichte», sagte Mom. «Du hättest die Gedichte sehen sollen, die er mir schrieb. Fast tut’s mir leid, dass ich sie alle weggeworfen habe.»

Als Erstes wollte sie die wahre Mrs. Brodak kennenlernen. Mom suchte im Telefonbuch ihre Nummer heraus, rief an, stellte sich vor und sprach eine Einladung aus, die Mrs. Brodak steif annahm.

Es war ein schwüler Sommer. Dads Ehefrau erschien vor der Fliegengittertür und stand nur da, ohne anzuklopfen. In einem warmen blauen, in der Taille fest gegürteten Kleid. Sie sagte nichts, als Mom die Tür öffnete. «Möchten Sie das Baby halten?», fragte Mom.

Meine Schwester wurde ihr in den Schoß gelegt wie eine Bombe. Man konnte nichts tun als höfliche Konversation treiben, mit tiefem Schmerz im Herzen, der ihre Stimmen weicher machte. Die echte Mrs. Brodak war ebenfalls verstört. «Wie haben Sie einander kennengelernt?», fragte Mom Dads Ehefrau.

Sie kannten sich aus der Highschool. Aus Vietnam zurückgekehrt, hatte er sie spontan geheiratet. Sie habe keine Zeit zum Nachdenken gehabt, sagte sie. Baby, Arbeit, keine Zeit zu denken. So ist das Leben: Man rennt so schnell wie möglich durch die schwierigen Momente, bis das Gerenne sich verhärtet und versteinert, und dann wird das die Vergangenheit, und das war dann alles, das Gerenne. Sie fragte Mom, wie es jetzt weitergehe.

«Jetzt», sagte Mom, «verlassen wir Joe Brodak. Unsere Kinder sollen keinen Kontakt mit ihm haben. Er ist kein guter Mensch.» Sie beugte sich zu ihr, beide Hände ausgestreckt. Sie umarmten einander flüchtig und nickten unter Tränen. Mom hätte Mrs. Brodak gern geholfen. Mom wäre nicht imstande gewesen, ihr zu helfen.

Innerlich wird Mom auch ein bisschen triumphiert haben. Als hätte sie ihn errungen. Was immer es da zu erringen gab. Wahrscheinlich wollte sie, ungeachtet dessen, was sie zu Mrs. Brodak gesagt hatte, nicht einfach so aufgeben. Sie hatte jetzt ein Baby und keine nennenswerten beruflichen Aussichten, nachdem sie ihr Referendariat geschmissen und, nach ihrem Bachelor in Sonderpädagogik, die Zulassungsarbeit nicht ganz abgeschlossen hatte. Ihre Eltern sahen es mit verhaltener Sorge. Nachdem Dads Ehefrau gegangen war, kam Mom in die Küche, wo ihre Eltern dem Gespräch aufmerksam gelauscht hatten. Sie tranken Kaffee, schauten hinaus aufs Vogelfutterhäuschen. Hilflos riet ihr die Mutter, zu ihm zurückzukehren. «Es ist besser, verheiratet zu sein», sagte sie. «Du musst dich einfach arrangieren.»

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