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Anna Göldin. Letzte Hexe

Als Buch hier erhältlich:

Eveline Haslers Roman über die letzte Frau, die in Europa als Hexe hingerichtet wurde, ist in der Schweiz ein Klassiker. 1743 wird Anna Göldin als Kind armer Bauern geboren. Die Eltern sterben früh, Anna wird Dienstmagd, geschwängert und, weil der uneheliche Säugling kurz nach der Geburt stirbt, wegen Kindsmord verurteilt. Nach Verbüßen ihrer Strafe findet Anna Arbeit bei der Familie von Regierungsrat Tschudi. Als eine Tochter Tschudis Stecknadeln spuckt, wird die Magd beschuldigt, sie verhext zu haben. Göldin flieht ins Toggenburg, wird steckbrieflich gesucht, verraten und schließlich verhaftet. Unter Folter gesteht sie, die Kräfte des Teufels zu nutzen. 1782 wird sie hingerichtet. Eindringlich und einfühlsam hat Eveline Hasler das Leben der unglücklichen Frau zu einer Geschichte gestaltet, die niemanden kaltlässt.


  • Erscheinungstag: 17.03.2017
  • Seitenanzahl: 240
  • ISBN/Artikelnummer: 9783312010455
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Anna, traurige Berühmtheit.

Steine, wo man hinschaut, wenn man auf ihrer Spur zurückgeht. Dort, wo die Göldin herkommt, im Sennwald, sind Wiesen und Äcker abschüssig, voller Geröll, Felsen wachsen aus ihnen heraus, Berge mit Zacken, Hörnern, Bröckelgestein.

Irgendwann ging ein Bergsturz von den Kreuzbergen nieder zum Rhein; Tannen halten bei Salez die Brocken mit ihren Wurzeln im Griff, nichts rollt mehr, der Staub hat sich verzogen, Vögel fliegen durch die Zweige, ein scheinheiliger Friede.

Steine hatten auch der kleinen Grafschaft den Namen gegeben: Sax, Sassum, Stein. 1615, als den Grafen von Sax das Geld ausging, nur noch Steine übrig blieben, haben sie das Gebiet den Zürchern verkauft; bis zur Revolution steht es unter der «gewalt und bothmässigkeit des Löbl. Standes Zürich».

Die Zürcher, die einmal Leben und Gut eingesetzt haben für ihre Freiheit, schicken Vögte, einen Ziegler, einen Ulrich, der wohnt auf Forsteck, auf den Felsen des Bergsturzes, wo die Buchen eine Lichtung ausgespart haben, sitzt an seinem schweren Eichentisch, führt in Frey- und Eigen-Büchern säuberlich Buchhaltung über die Untertanen. Da gibt es freie und unfreie Familien und solche, in denen diese beide Kategorien von Abhängigkeit vermengt sind: Heiratet eine Freie einen Unfreien oder umgekehrt, so gehört das erste Kind dem Vogt, das zweite ist frei, das dritte unfrei und so fort. Aber auch die sogenannten Freien unterstehen der zürcherischen Obrigkeit, sie haben sich nur von gewissen Abgaben freigekauft. Auf Annas Spuren habe ich in diesen Büchern nach den Bebauern der steinigen Äcker gesucht. Schon im 18. Jahrhundert heißen mehr als ein Drittel der Einwohner von Sennwald Göldi. Ein Name, in dem kaum Gold steckt, eher der im Dialektwörterbuch vermerkte Wortstamm Gôl, Gôleten, Geschiebe, Geröll. Auch die Vornamen gleichen sich: so viele Annas, so viele Anna Göldins.

Um die Zeit, in der Anna geboren wurde, Ende August 1734, hatte ihr Vater die ersten Kartoffeln gepflanzt, auch ein Band mit Mais, «Türken» genannt. Mit diesen neuen Gewächsen konnte man sich für eine Weile dem obrigkeitlichen Zehnten entziehen, Verordnungen, die von den gnädigen Herren und Obern in Zürich visiert und approbiert wurden, hinkten hintendrein, eine Galgenfrist, dank der man überlebte.

In Adrian Göldis Flachsfeld steht ein gewaltiger Felsbrocken. Das Kind Anna kennt ihn genau, seine Fugen, Kerben, aus denen Zittergras und Storchenschnabel wachsen, die weißlichen Quarzadern. Eine Burg mit Zinnen, ein kleines Forsteck mitten im Flachsacker. Die Ziegen recken auf dem Stein ihre Hörner in den von faserigen Wolken durchzogenen Föhnhimmel, Anna und ihre Schwester Barbara klettern ihnen nach, vertreiben sie mit Haselruten.

Der Vogt hat etwas gegen den Stein.

Von den gesäuberten Äckern der Untertanen verspricht er sich mehr Frucht. Der Schlossknecht soll mit dem Vater den Stein sprengen.

Die Mutter schaut unter der Haustür zu, die Kinder, Neugier und Furcht in den Gesichtern, hängen an ihrem Rockzipfel. Nein! Nein!, hat Anna geschrien, aber die Männer haben den Rücken gedreht, nicht hingehört, haben weiterhantiert mit Pulver und Zündschnur.

Der Stein hat Steine ausgespuckt, faustgroße, in den Flachsacker sind sie geprasselt, durch die Maisstauden gekollert.

An den Steinen soll sich keiner vergreifen, hat schon Vaters Vater gesagt, und der hat sich sonst an allem vergriffen, ist immer wieder vor den Vogt citiert worden, weil er ein Raufbold war, ein kriegerischer Haudegen.

Einen Stein wollten sie weghaben, jetzt hat er Hunderte geboren, zwischen den Schollen, in den Wind sirrenden Maisstauden, alles voll, die Kinder bücken sich, klauben sie auf, tasten nach dem schmerzenden Rücken.

Im September 1780 hat Anna ihre letzte Stelle, die beim Arzt und Fünferrichter Tschudi in Glarus, angetreten.

Schon früher war sie im Glarnerland gewesen, war weggezogen, zurückgekommen, hatte mehrmals die Stelle gewechselt, eine vertrackte Spur.

Hierhin, dorthin.

Und das in einem Alter, wo sich andere längst festgesetzt haben. Das macht sonst keine Frau.

Wenigstens keine aus ihrem Stand.

Das Gesetz der Steine aufheben, die dort liegen bleiben, wo sie hinfallen. Im Sennwald hätte sie bleiben sollen, sagen die Verwandten. Man bleibt, wo man hingehört. Wer nicht bleibt, gehört nirgends hin.

Selber schuld.

Vierzig Jahre und einige darüber, und immer noch dieser Drang, sich zu verändern. Einen andern Winkel suchen, einen Platz unter einem fremden Dach, an einem andern Herd.

Sie zieht am Glockenstrang, schaut, den Kopf in den Nacken gelegt, an der Mauer hoch. Eines dieser Glarner Herrenhäuser im alten Stil: fünf Stockwerke, steiler Giebel, ein Türmchen überm Treppenhaus. Klotzig, trutzig, eine kleine Burg. Schwer müssen die Häuser sein, wenn sie bestehen wollen zwischen den Bergwänden.

Sie hätte gerne in einem der neumodischen Herrenhäuser gedient, mit Schweifgiebeln, Säulenfassaden, Gärten mit Miniaturbeeten und Labyrinthen, im Haus «in der Wiese» zum Beispiel, das jetzt der Fabrikant Blumer bewohnt. Doch auch das Haus, vor dem sie steht, ist ihrer würdig. Berufsehre, wenn man Stufe um Stufe des Dienens durchlaufen hat, Empfehlungsschreiben vorzuweisen hat aus besten Häusern. Mit vierzehn hat sie als Bauernmagd angefangen in Meyenfeldt, auf einem Hof, wo die Kammern eng und dreckig waren, kaum mehr zu beißen da war als im Elternhaus, von dem sie hat wegmüssen, um nicht zu verhungern.

Beim Büchsenmacher in Sax war alles schon behaglicher, sonst hätte sie es nicht sechs Jahre lang ausgehalten, aber im Vergleich mit dem Pfarrhaus in Sennwald war es eine einfache Haushaltung gewesen. Um die Stelle im Pfarrhaus hatte man sie beneidet, so einfältig waren die Leute, war sie selber gewesen, das bäurische Holzhaus für vornehm zu halten; was wirklich vornehm war, hatte sie erst im Glarnerland, im Zwickihaus in Mollis gelernt. Gewiss, das Zwickihaus, eine Stelle für ein ganzes Leben, von so etwas träumt jede Magd, wenn sie sich das Heiraten hat aus dem Kopf schlagen müssen. Komfortables Haus, großzügige Wirtschaft, milde Herren. Aber eine Stelle fürs Leben ist daraus nicht geworden, das Leben hat sie eingeholt, geschüttelt, weggetrieben. Sich festsetzen. Für ein und alle Mal. Das war ihr bisher nicht vergönnt. Wo sie hinkam, kräuselten sich die Wellen, als hätte man einen Stein geworfen.

Die Tschudis mochten ihre achte oder neunte Herrschaft sein, wenn sie die Stellen zwischendurch, beim Garnherr in St. Gallen, beim Buchbinder in Glarus, nicht mitzählte. Falls es klappte mit der Anstellung.

Aber daran zweifelte sie nicht. Es stand einer Magd nämlich im Gesicht geschrieben, ob sie von der Wirtschaft etwas verstand. Wer über Menschenkenntnis verfügte, sah das. Wer es nicht sah, verdiente auch keine gute Magd.

Ihre Hand strich über die Türfalle, dunkelgelbes Messing, fast blind, auch die Beschläge kaum geputzt. Wenn sie das Haus übernimmt, wird das anders glänzen!

Auch die Sandsteintreppe ist fleckig, weist vom Putzen Kratzspuren auf. Eine dieser unverständigen jungen Mägde ist da am Werk gewesen, hat mit Tuffstein, diesem Bauernmittel, gescheuert. Solch überholte Methoden hat sie selber noch beim Pfarrer in Sennwald gebraucht, im Zwickihaus hat sie dazugelernt. Jetzt nähern sich Schritte. Sie rückt die Haube zurecht, zupft an den Sonntagsröcken.

Eine alte Frau führt sie die Treppen hinauf, Anna atmet den scharfen Geruch der Medikamente ein, Heimatluft, Zwickihausluft, Melchior hatte nach dem Tod des Vaters im untersten Stockwerk eine Arztpraxis eröffnet.

Das Wohnzimmer geräumig, hell, aber Anna erschrickt, die Fenster sind, obwohl es draußen klar war, dunkel gefüllt durch die bedrohlich nahen Felsen. An der Decke Stuckaturen: Allegorien der vier Jahreszeiten. Das Kanapee, die geschweiften Stühle mit Blumenmuster, ein wandhoher Spiegel mit Goldrahmen, ein Kachelofen mit Kuppelaufsatz und ländlichen Szenen auf den Füllkacheln. Ein Buffet mit Zinnkrügen, Ehrensilber.

Das blitzschnelle Überschlagen des Inventars mit dem geübten Blick derer, die viel in fremden Häusern zu tun haben, erfüllt sie mit Befriedigung. Unter eine gewisse Stufe der Behaglichkeit will sie nicht gehen, da hat sie ihren Stolz.

Davon ahnen ja die Herren nichts, dass die Häuser eigentlich den Mägden gehören, und den Katzen.

Da weben sich Beziehungen zwischen Wänden, Möbeln. Wie Spinnweben sähe das aus, wäre es sichtbar. Die Hausfrau, die im Hintergrund neben dem Fenster gesessen hat, lässt Stickrahmen, farbige Garnfäden, Nadeln sinken, geht der Magd entgegen.

Grüezi, Frau Tockter, ich bin die Anna Göldin.

Der Schlosser Steinmüller, der ihr heute früh von der vakanten Stelle erzählt hat, weiß, dass Elsbeth Tschudi Ende zwanzig ist, fünf Kinder hat; weitläufig ist er mit ihr verwandt. Er hat ihre Gesichtszüge, ihre Haut gerühmt; weiß, fein und durchsichtig soll sie sein wie eine englische Teetasse, die man ans Licht hebt.

Kurioser Vergleich. Dass Anna nicht lacht. Der verkniffene Zug um den Mund, die haarfeinen Falten über den Brauen, sind die seinen zwinkernden, vom Schmiedefeuer verdorbenen Augen entgangen?

Freilich, an Föhntagen ist hierzulande das Licht wie ein Messer. Unbarmherzig scharf legt es bloß.

Jetzt kommt auch der Herr aus dem Sprechzimmer, auf einen Sprung nur, er will wissen, wen man ins Haus aufnimmt.

Grüezi, Herr Tockter und Fünferrichter.

Sie kennt sich aus in der Vielfalt der glarnerischen Titel, ein Strauß von Pfauenfedern, aus fremden Kriegsdiensten heimgebracht, ererbt, erworben, durch das Los zugefallen, von denen sich jeder, der auf sich hält, möglichst viele auf den Hut steckt: Herr Lieutenant, Commandant, Chorrichter, Fünferrichter, Neunerrichter, Rat, Bannerherr, Seckelmeister … Man sagt von ihr später, als schon üble Dinge im Umlauf sind, sie sei «keine ungeschlachte Person».

Ein stattliches Weibsbild, denkt Doktor Tschudi, kein so blutleeres Geschöpf mit Steckliarmen wie die Letzte, der man kaum hat zumuten können, einen Wasserkessel zu tragen. Nicht mehr ganz jung. Aber auch noch lange keine Anzeichen, dass man auf ihre Jahre Rücksicht nehmen muss.

Wie alt seid Ihr?

Gegen vierzig.

Die Jahre, die wie Unkraut darüber hinausschießen, verschweigt sie. Privatsache. Sie weiß, man schätzt sie jünger, in die Haarkringel, die dunkel unter der Haube hervorschauen, mischen sich keine Silberfäden. Wer sich immer wieder den Staub von den Schuhen schütteln muss, bleibt jung. Wer festsitzt, erstarrt. Sie nimmt es, was Kräfte und Beweglichkeit betreffen, mit jeder Jungen auf.

Der Doktor hat sich in letzter Zeit in Lavaters ‹Physiognomische Fragmente› vertieft: von fülliger, aber gutgegliederter Gestalt, der Hals ist wendig, die flinken grauen Augen zeugen von beweglichem Geist. Die starke Nase, schmal an der Wurzel, dürfte von Selbständigkeit sprechen, auch das Kinn drückt diese Art von Autonomie aus, während das nach unten zulaufende Oval des Gesichts Harmonie und Ebenmaß verspricht.

Gesund, ohne Zweifel.

Das sieht man der hellen, reinen Haut an, den fleckigen Rötungen auf den Jochbögen, die von guter Verdauung und Durchblutung sprechen.

Eine währschafte, propere Person.

Besser als so ein unausgegorenes Geschöpf wie die Letzte, die Stini. Da hat er doch gerade eine beängstigende Schrift des Kollegen Friedrich Benjamin Osiander gelesen, der über Brandstiftungstendenzen junger Mägde schreibt. Die Feuerlust oder der Hang, Feuer zu legen, hängt mit der hämatologischen Situation der Weibspersonen zusammen. Das weibliche Geschlecht wird in den Entwicklungsjahren von übermäßiger Venosität beherrscht, venöser Stau in der Gegend der Augennerven erzeugt Lichtgier … Theorien, die mit Beispielen aus nächster Nähe belegt sind. Da hat doch neulich in Näfels eine Sechzehnjährige, ohne vorausgehenden Zwist, im Hause ihres Dienstherrn Feuer gelegt …

Wichtig also, sich seine Dienstboten genau anzusehen.

Eine Magd, der man etwas zumuten kann, denkt Frau Tschudi. Erfahren, bewandert in allen Hausgeschäften, so dass man sie selbständig schalten und walten lassen kann.

Aber gerade das ist ein beklemmender Gedanke.

Schon der Gestalt nach nimmt diese Frau doppelt so viel Raum ein wie sie selbst.

Freilich, mit den ganz Jungen hat sie Pech gehabt, die Stini, diese Nachgiebige, Furchtsame. Hat die Kinder auf ihrem Buckel tanzen lassen, ist ihr dann zu bunt geworden, ging gestern auf und davon. Just jetzt, wo man Gäste geladen hat. Den Lieutenant Becker, den alt Landammann Heer, den Bannerherrn Zwicki ausladen, das ziemt sich nicht, ginge wie ein Lauffeuer durch die Stadt. Man redet schon, bei ihr halte es auf die Dauer keine Dienstmagd aus. Diese hier sieht aus, als ob sie das Essen für zwölf Personen in Ruhe und kurzer Zeit auf den Tisch stellen könnte …

Trotzdem. Sie weiß nicht recht.

Vielleicht hängt es mit der Haltung dieser Göldin zusammen, da liegt nichts Devotes drin, andere hat sie gekannt, die händeringend um Anstellung baten. Diese steht aufrecht, begegnet frei dem Blick.

Wenn sie’s recht bedenkt, so ist ihr die Person zu hoffärtig gekleidet. Frau Tschudi mustert den Rock der Göldin. Eine modefarbene Jüppen! Nur die Frau Lieutenant Marti trägt eine solche Jüppen; dieses schillernde, ins Bräunliche spielende Violett soll, so heißt es, die neueste Mode in Paris sein. An der letzten Teegesellschaft haben es die Damen festgestellt: Heutzutage muss man zweimal hinschauen, um herauszufinden, wer Herrin, wer Dienstbote ist.

Auch das seidene Band um den Hals, was für eine Modetorheit. Heißt im Volksmund Bettli und soll die Halshaut weißer erscheinen lassen.

Anna begegnet ihrem prüfenden Blick.

Wo wart Ihr in Stellung?, fragt die Frau schnell.

An einigen Orten. Bei einem Garnherrn in St. Gallen, dann in Sennwald im Pfarrhaus …

Und im Glarnerland?, will der Doktor wissen.

Bei einem Buchbinder zuletzt. Vorher in einem Pfarrhaus.

Wo?

In Mollis.

Sie spürt seinen nachdenklichen Blick, wird rot, verhaspelt sich, als sie erklärt: Der Pfarrer ist gestorben, als ich dort mein viertes Dienstjahr tat, dann bin ich bei der Frau Pfarrer geblieben, bei den erwachsenen Kindern, einer der jungen Herren ist Arzt geworden …

Etwa bei Zwickis an der Kreuzgasse?

Ja, dort.

Merkwürdig, dass sie die Zwickis aufzählt unter ferner liefen! Potz Geck und kein End, das ist doch eine Empfehlung! Gedient bei Zwicki-Zwicki, der, so heißt es wenigstens, reichsten Familie im Land, in einem herrschaftlichen Haus, bei einer Frau, deren großzügige Wirtschaft und Gastfreundschaft man rühmt! Eine Referenz für jeden, der in diesem Haus aus und ein geht. Und sie erwähnt den Dienst so nebenbei. Ob man am Ende mit ihr unzufrieden war?

Habt Ihr eine Referenz vom Zwickihaus?

Sie entnimmt ihrem Ridicule ein Papier, streckt es ihm hin.

Ein Dienstzeugnis, unterzeichnet von Dorothea Zwicki-Zwicki, Wittib des im Herrn entschlafenen Johann Heinrich, gewesener Pfarrer in Bilten. Sie empfiehlt die Magd mit warmen Worten. Bedauert ihren plötzlichen Wegzug, gibt Segenswünsche mit für den weiteren Weg.

Was den Zwickis recht war, soll ihm gut genug sein. Zumal die Aussicht besteht, dass sie in dem gastlichen Haus eine delikate Küche erlernt hat; eine gute Köchin zu sein, traut man ihr zu, wie sie so dasteht, füllig, rotwangig, sauber, Lebensfreude im Gesicht.

Habt Ihr im Zwickihaus gekocht?

Zur Zufriedenheit, darf ich sagen.

Sparsam setzt sie die Worte. Nichts von dem üblichen Wortschwall, den salbungsvollen Reden, Schwüren, Beteuerungen, wie er sie von Weibspersonen, die eine Gefälligkeit erwarten, kennt.

Ihm sei es recht, wenn die Anna Göldin gerade dabliebe … Wozu lange fackeln, er muss zurück ins Sprechzimmer.

Da habe sie vielleicht auch etwas dazu zu sagen?, bemerkt die Frau.

Sein Lächeln gerinnt. Er habe gedacht, es dränge … Hinterm Haus würden schon die Hühner gemetzget, in ein paar Stunden seien die Gäste da …

Die Frau winkt ab, nestelt an den Haubenbändeln.

Ich bin ja einverstanden.

Mit der letzten Dienstmagd sei es der Kinder wegen nicht gegangen, sagt Frau Tschudi, während sie mit Anna über den Flur zur Küche geht, die habe immer bloß lamentiert und getratscht und wehleidig geschnupft, beim geringsten Anlass, dabei seien die Kinder gutwillig, ein wenig ausgelassen vielleicht, aber wenn man sie zu nehmen wisse, habe man leichtes Spiel. Sie lege Wert darauf, dass Anna mit den Kindern auskomme, sonst pfeife sie auf eine Hilfe, eine halbbatzige Magd sei eine pure Narretey!

Anna nickt, lässt die Augen über die Kupferpfannen schweifen, prüft sie auf ihre Dicke, die Sauberkeit, blickt von den rötlich blinkenden Lichtern hinüber zum Herd, zu messingenen Sieben, Trichtern, Schwingbesen, Kellen, nickt zu dem, was die Frau sagt, folgt ihr ans Fenster, das Überblick gibt über Hof und Garten.

Der Garten erhält durch den Umstand, dass er an die Schützenwiese grenzt, Weite und Tiefe, Grünzeug wuchert gegen die Mauer hin, die einen Wall bildet dem Wildwuchs der Bäume, dem verstockten Grün; der Zimtgeruch des Eibenholzes weht ihr zu.

Steil unter dem Fenster der gepflasterte Hof, irgendwo, durch das Vordach des Anbaus verdeckt, müssen Kinder sein, die man lachen und rufen hört. Anna kann, wenn sie sich vorbeugt, nur einen Hackklotz sehen: ein Huhn, von einer Männerhand gepackt, zappelt, das Beil blinkt, saust nieder auf den Hühnerhals.

Kindergekreisch.

Der alte Jenni, der in der Pressi wohne, mache dem Federvieh den Garaus. Ein Fest für die Kinder, meint die Frau Doktor. Aber sie wolle jetzt die Kinder heraufrufen. Nur die drei Größeren. Die dreijährige Barbara und die einjährige Elsbeth seien von einer Nachbarin abgeholt worden zu einem Spaziergang nach Ennetbühls, im Glarnerland müsse man eben mehr als anderswo der Sonne nachlaufen.

Sie beugt sich heraus, ruft: Züsi! Anna Migeli! Heiri!

Susanna, die Älteste, kommt zuerst, in zwei Jahren das schönste Mädchen von Glarus, hat Steinmüller prophezeit, damit kann er recht haben. Wie artig sie das Haar aus dem Gesicht streicht, bevor sie Anna die Hand gibt, wie sie ihr zunickt mit diesem hellwachen Blick. So groß schon und vernünftig, Anna ist erleichtert, mit kleinen Kindern hat sie wenig Erfahrung. Jetzt künden sich die zwei andern mit Gepolter und Gelächter vom Treppenhaus her an, rennen, einander stoßend, zur Küche herein.

Nicht so wild! Die Mutter hält sich die Ohren zu.

Der Vierjährige hat die Arme ausgebreitet, schlägt mit flatternden Bewegungen um sich, kräht: Kaputt! Kikeriki!

Sag Grüezi, Heiri, ruft ihm die Mutter zu, aber er ruckt und wackelt mit dem Kopf, als hänge der nur noch an einer einzigen Sehne am Rumpf.

Endlich beruhigt er sich. Schiebt Anna auf den erneuten Befehl der Mutter seine Patschhand hin. Rundlich, braungebrannt, ein putziger Kerl. Er wolle Doktor werden wie der Vater, sagt Frau Tschudi, aber damit habe es noch Zeit. Und hier, sie schiebt das zweite Mädchen vor, die Zweitälteste, Anna Migeli oder Anna Maria. Sie sei nicht dafür, dass man die schönen, althergebrachten Namen verhunze, Züsi sage anstatt Susanna, aber in Glarus sei das Verstümmeln der Rufnamen gang und gäbe, auch sie müsse sich immer von neuem einen Ruck geben, die Taufnamen ganz auszusprechen.

Dass Anna Maria der Susanna ähnlich sah, war nicht zu ihrem Vorteil, unwillkürlich zog man sie in den Schatten der Älteren, gegen die alles an ihr eine Spur blasser ausfiel, die Augen, das Haar, auch das Gesicht war weniger offen und ausdrucksvoll, allein betrachtet, wäre sie ein nettes, in keiner Weise auffälliges Mädchen von acht oder neun Jahren gewesen.

Heinrich, der hinter seiner Schwester steht, kichert, gibt ihr von hinten her einen Stoß.

Anna Maria reicht der neuen Dienstmagd die Hand.

Anna lässt sie gleich wieder fahren, Allmächtiger, sie hat etwas Starres ergriffen, das ist keine Hand, das ist eine Klaue!

Beinahe hätte sie geschrien.

Die Hühnerklaue, die in Anna Marias Ärmel gesteckt hat, fällt zu Boden.

Ätsch! Bätsch! Hereingefallen!, schreit Heinrich, will sich kugeln vor Lachen.

Einfälle hat das Kind, meint die Mutter kopfschüttelnd. Besonders an Föhntagen wie heute brächten sie die Kinder manchmal fast um den Verstand. Am besten gehe Anna jetzt in ihr Zimmer hinauf, ziehe sich um, mit dieser Jüppen wolle sie ja wohl nicht arbeiten? Sie starrt wieder auf Annas schillernden Rock. Anna sagt, sie habe ein Arbeitskleid bei sich in der Tasche. Das Übrige werde mit dem Werdenberger Boten zu Steinmüllers geschickt — ja, die Steinmüllers kenne sie schon lange, als sie beim Buchbinder in Glarus gedient habe, habe sie sich mit ihnen angefreundet. Ja, ja, er sei schon kurios, der Steinmüller. Aber man könne mit ihm und seiner Frau Dorothea gut reden, kluge, verlässliche Leute seien es.

Ihr Zimmer? Fünf Treppen hinauf. Nein, mit ihrem Kopfweh komme sie nicht mit nach oben, der Föhn mache ihr zu schaffen, zudem sei sie vor einem Monat im Kindsbett gelegen, ein Mädchen, eine Totgeburt. Susanna solle ihr die Kammer zeigen.

Nein, ich! Ich will!, schreit Anna Maria.

Sie rennt schon die Treppe hinauf, Heinrich folgt ihr, nimmt Stufe um Stufe mit seinen drallen kleinen Beinen, hält sich dabei an den gedrechselten Sprossen des Geländers.

Die übliche Mägdekammer. Anna hat nichts anderes erwartet. Auf dem Dachboden, hinter abgestellten Möbeln und Gerümpel, ein schmaler, von einem Mansardenfenster schwach erhellter Raum. Das Bett wirkt darin übergroß, füllt die Kammer wie ein Lastkahn mit zerknitterten Segeln.

Das Laken fleckig, noch von der Stini, stellt Susanna fest. Anna zieht das Bett ab. Es sieht so aus, als habe die Frau schon lange nicht mehr den Kopf in diese Kammer gesteckt. Diese Luft. Anna stößt das Fenster auf, lässt die Septemberluft einströmen. Von hier aus scheint es, als ob der Glärnisch auf ihren Schultern stehe mit seinen Felsabstürzen und Schründen. Auf diesen Ausblick unter dem Giebel hat sie gehofft. Sollen die Kinder hinter ihrem Rücken die Schubladen der Kommode aufmachen, die Schlüssel herausziehen, egal, sie steht dem Berg gegenüber wie damals in Mollis, kann mit ihm abrechnen, ist überzeugt, dass es gut ist, zurückgekehrt zu sein, nach allem Zögern, vor zwei Wochen …

Keine bessere Reisezeit als Mitte September.

Der Kutscher hatte auf dem Ricken auf die Wälder gezeigt, die sich in den Senken, den Wasserrinnen entlang, dahinzogen, bunt, üppig. Wie Hahnengefieder sieht das aus, hat Anna gedacht.

Ein Glück, dass sie der alte Hilari wie früher schon einmal von Wattwil aus mitgenommen hatte, eine Plackerei wär’s gewesen, den Hummelwald hinauf zu Fuß. So vorne auf dem Kutscherbock, von milder Luft umstrichen, war die Reise ein Fest.

Kühe weideten. In den Glocken, die an ledernen Bändern an ihren Hälsen hingen, schwangen die Klöppel hin und her. Abgehackte, metallene Töne blieben über den Wiesen hängen. Da und dort stand zwischen dem Emdgras fremd und gläsern eine Herbstzeitlose.

Anna betrachtete sie mit Widerwillen als Vorboten des Winters. Das Jahr ist über den besten Punkt hinaus, lass dich durch diese Nachsommertage nicht täuschen, die Schatten nehmen zu. Die Brombeere, deren Saft in der letzten Wärme des Jahres auskocht, zittert vor dem Reif.

Such dir ein Dach.

Locker trabten die Pferde nach dem Weiler Schobingen die Rickenstraße bergab, die Ebene kam ihnen entgegen, durchzogen von den Wassersträngen der Linth.

Wie das glitzert, sagte sie.

Schön? Hilari schickte dem Wort ein Lachen nach, zog die Nase kraus, die rot und aufgedunsen war von den vielen Halben Veltliner in den Susten und Pinten längs der Straße. Die sumpfige Ebene sei alles andere als schön, sie bringe Mückenplage, Krankheiten für die Bewohner der angrenzenden Dörfer. Man müsse den Flusslauf korrigieren, aber die Glarner würden lieber zuwarten, bis die Schwyzer in den Sack griffen und umgekehrt.

Bei der Biäsche, Weesen gegenüber, hieß er Anna absteigen, er fahre weiter, dem Walensee entlang nach Walenstadt. Er hielt die Pferde am Flussufer an, Anna winkte zum Dank, stieg dann, ihre Röcke raffend, vom Trittbrett. Den Trick, drei Röcke übereinander anzuziehen, benutzte sie schon lange, alles Notwendige für die Reise war dann schnell in einer Tasche verstaut. Was das Reisen anbetrifft, ist die Göldin gewieft, kaum eine Frau aus ihrem Stand kann es darin mit ihr aufnehmen. Auf staubigen Straßen, zu Fuß oder mitgenommen von Fuhrwerken: nach Werdenberg, ins St. Gallische, ins Glarnerland, nach Straßburg und nun, nach einem Abstecher ins heimatliche Rheintal, zurück nach Glarus. Wege dahin, dorthin, immer auf der Flucht vor dem Schatten, der ihr doch auf den Fersen folgt. Wie überdehnte Bänder lässt sie die Wege zurückschnurren. Schilf und Weidenstrünke säumen die Straße, dahinter blitzt Wasser.

Ein Floß ist auf Sand aufgelaufen, Männer stochern mit Stangen im seichten Wasser.

He, wollt Ihr mitkommen?, ruft einer herüber.

Wohin geht’s denn?, fragt sie leichthin.

Nach Amsterdam in Holland.

Ei der Tausend, so weit? Auf dem schmalen Wasser da?

Da lassen auch die zwei andern Männer ihre Stangen ruhen, schauen her. Der Erste, ein langer Blonder, sagt: Vom Walensee auf der Maag in die Linth, von da zum Zürichsee, dann auf der Limmat zur Aare, von der Aare zum Rhein. Und wo wollt Ihr hin?

Sie zeigt zu den Bergen hinüber.

Ins Glarnerland? Die drei lachen. Da kommen wir her, aus Elm, wo die Plattenberge sind. Da unter der Blache sind Schieferplatten für Tische, die stehen bald in vornehmen Häusern in Amsterdam!

Der singende Glarnerdialekt.

Jetzt artig vermischt mit dem Plätschern der Wellen. Lange hat sie ihn nicht mehr gehört.

Überlegt es Euch, Jungfer, sagt der Kleinste, der listige Augen hat wie ein Murmeltier. Für Euch machen wir gerne Platz.

Ihre braungebrannten Gesichter. Augenblitze durch die malvenfarbenen Schatten des Schilfs. Der Sommer, schon verloren geglaubt, treibt sein Flirr- und Verwirrspiel; ein leichter Wind streift vom See her durchs Riedgras, Wasservögel fliegen auf.

Annas Augen, zuerst noch verloren den Bergen zugewandt, gewinnen an Munterkeit und Glanz. Den Kopf schief gelegt, als wollte sie allen Ernstes über eine Reise nach Holland räsonieren, steht sie da, eine gutgewachsene, stattliche Person, die angenehme Empfindungen weckt, auch wenn sie nicht mehr die Jüngste ist. Alles hängt in der Schwebe an diesem perlmutterfarbenen Föhntag, noch kann sie sich umdrehen, weiten Ebenen zutreiben auf dem glitzernden Wasserstrang.

Aber dieses Bergtal drüben, diese Engnis zwischen Bergleibern, übt einen unerklärlichen Sog aus.

Sich hineinstrudeln lassen wie ein Fisch in die Reuse, zappeln wie letztes Mal, als sie mit knapper Not durch die einzige Öffnung entkommen ist, den schmalen Durchlass bei Mollis.

Noch könnte sie umkehren.

Es soll nicht sein. Vom Zollhäuschen her ertönt Hufgetrappel, unwillkürlich hebt sie den Arm, gibt dem sich nähernden Fuhrwerk ein Zeichen.

Staubwolken. Die Pferde schnauben, ungehalten über den brüsken Halt.

Ein schwerfälliger Leiterwagen ist es, von einer Harztuchdecke überspannt, das Gesicht des Kutschers beugt sich zu ihr herab, beschattet von der Krempe des Filzhutes.

Den kennt sie doch! Der Sarganser Bote. Sie hat den Kutscher mit der Pfeife zwischen den schadhaften Zähnen vom Küchenfenster des Zwickihauses aus gesehen, sein Fuhrwerk stand auch manchmal vor dem Wilden Mann in Glarus.

Er greift nach ihrem Arm, zieht sie hinauf auf den Bock.

Ob sie denn nur diese kleine Tasche bei sich habe, die sehe ja wie ein Hebammenkoffer aus?

Es sei auch einer, meint Anna lachend, ihre Base, die im Werdenbergischen Hebamme sei, habe sie ihr mitgegeben. Dann sei sie wohl eine Werdenbergische und unterstehe dem Glarner Landvogt?

Sie komme zwar aus dem Rheintal, aber aus der Grafschaft Sax, die gehöre den Zürchern.

Da habe sie Glück gehabt, sagt der Kutscher, so schlimm und blutsaugerisch wie die Glarner Vögte seien keine. Die bekämen von den Glarnern ein so kleines Gehalt und müssten die Schmiergelder und Auflagen herausschlagen, die sie das Amt gekostet habe.

Die Straße führt südwärts durch die Ebene auf den Bergwall zu.

Ein Ortsunkundiger würde nicht ahnen, dass sich hinter der Felsmauer ein Tal auftut, dass die Bergleiber, je näher man ihnen kommt, auseinanderrücken, Sesam öffne dich, just Platz machen für eine Straße, die Linth, ein bisschen Talsohle links und rechts des Flusses.

Der Bote schiebt die Pfeife in den Mundwinkel, macht Platz für einen Schwall von Worten, von scharfem Ziegergeruch. Sie lässt ihn reden, den Fremdenführer spielen, lässt ihn: dort ist Mollis, hier Näfels sagen, den Palast erklären, der an der Straße das Auge jedes Fremden auf sich zieht: Ein Freuler hat ihn erbaut, der Hauptmann gewesen ist in Fontainebleau, Geld wie Heu heimgebracht hat und die fixe Idee, der König von Frankreich käme ihn besuchen. Versprochen habe es der König, und unsereiner glaubt daran, aber bei den Herren und Gnädigen pfeift ein anderer Wind, und der Freuler hat gewartet, bis er alt und arm geworden ist, und der Palast tut so, als halte er noch immer nach dem König Ausschau — oder?

Sie nickt abwesend, mit abgewandtem Kopf, um den Ziegerdünsten zu entgehen. Ihre Augen klettern an den schroffen Felswänden des Wiggis empor.

Hinter Erlenstauden rauscht die Linth.

Über dem Hauptflecken Glarus, vor dem sich das Tal nochmals verengt, hängt ein faseriger Mond.

Ein stattlicher Ort, bemerkt der Kutscher, als sie an den ersten Häusern vorbei gegen den Spielhof fahren. Die Baumwollspinnerei ist sehr in Übung gekommen, vierzehn Fabriken habe er letzthin vom Burghügel aus gezählt, wie Pilze sind sie herausgeschossen, die kostlichen Fabrique-Anstalten am Oberdorfbach, auf der Abläsch, auf der Insel.

Von Venedig beziehen sie die Baumwolle, verkaufen das Garn den Zürchern, St. Gallern, Appenzellern. Kürzlich sei der Landmajor Streiff gestorben, anderthalb Tonnen Gold soll er zurückgelassen haben, ja, eine Goldgrube, seine Zeug- und Schnupftuchdruckerei, das große Geld habe er mit einer blauen Druckfarbe gemacht, die Indigo heiße. Keinen einzigen Sohn habe der Streiff gehabt, alles sei dem Schwiegersohn zugefallen, dem Richter und Ratsherrn Johannes Tschudi …

Quatsch und Tratsch.

Zu einem Ohr hinein, zum andern heraus.

Vom Kutscherbrett hinunter begrüßt sie ihr Glarus. Sie freut sich am Wiedersehen mit den stattlichen Häusern, deren Schindeldächer von Steinen beschwert sind, mit den Handlungen, Bögen, Läden — hier das Geschäft des Perückenmachers, dort die Boutique des Goldschmieds Freuler, drüben ein neues Geschäft mit Luxusgetränken.

Hier rollt das Geld durch die Straße, hat sie gedacht, als sie zum ersten Mal hierhergekommen ist, aus den kärglichen Verhältnissen von Sax und Sennwald.

Vaters Stimme aus Kindertagen im Ohr: Goldgräberstädte, Anni. Sein Glück müsste man machen. Ein paar Toggenburger sind fort nach Pennsylvania.

Die Jagd nach allem, was glänzt, ihre Empfänglichkeit für das Bequeme, die Goldstadt-Phantasien: ein Frierender, der vom warmen Ofen träumt.

Nach Vaters Tod hatte der Schuldenvogt geholt, was zu holen war.

Immer schickte die Mutter sie zum Nachbarn, um dies und das zu erbitten. Ja, Anni, du.

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