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Apartment in Manhattan

hier erhältlich:

Die muntere Endzwanzigerin Tracey kennt keinen Liebeskummer. Sie ist glücklich mit Will - der Mann, mit dem sie aus der Provinz ins brodelnde Manhattan gezogen ist. Bald ist Hochzeit, denkt sie, doch Will denkt das nicht. Er lässt sie sitzen, und die mollige Werbeassistentin steht plötzlich als Single allein in New York. Trotzkopf Tracey baut auf die Radikalkur: raus aus dem öden Job, rein in hippe Klamotten und ab zum Body Work Out! Die Wandlung ist verblüffend. Das merkt auch der gute Freund Buckley


  • Erscheinungstag: 10.12.2012
  • Seitenanzahl: 192
  • ISBN/Artikelnummer: 9783955762230
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Wendy Markham

Apartment in Manhattan

Roman

Aus dem Amerikanischen von
Katja Henkel

Image

RED DRESS INK™ TASCHENBUCH

 

RED DRESS INK™ TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Cora Verlag GmbH & Co. KG,

Axel-Springer-Platz 1, 20350 Hamburg

Deutsche Erstveröffentlichung

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

Slightly Single

Copyright © 2002 by Wendy Corsi Staub

erschienen bei: Red Dress Ink, Toronto

Published by arrangement with

Harlequin Enterprises II B.V., Amsterdam

Konzeption/Reihengestaltung: fredeboldpartner.network, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Titelabbildung und Autorenfoto: © by Harlequin Enterprise S.A., Schweiz

Satz: Berger Grafikpartner, Köln

ISBN 978-3-95576-223-0

www.reddressink.com

eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

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Apartment in Manhattan

Dumm gelaufen, denkt Tracey, als sich ihr Freund Will in ein dreimonatiges Sommercamp und damit auch von ihr verabschiedet. Statt glücklich zu zweit hockt sie nun mit ein paar Pfunden zu viel allein in Manhattan. „Vergiss ihn!“ rät ihre beste Freundin Kate. Doch Tracey will kämpfen. Sie macht eine Diät (er steht auf schlank). Sie geht zum Sport (er steht auf knackig). Sie kauft ihre Sweatshirts nicht nur noch in Schwarz (das war zu trist). Und nicht nur noch zu groß (Ich bin ja jetzt schlank!). Dann aber bekommt sie eine Panikattacke. Und lernt den sympathischen Buckley kennen. Beides führt am Ende des Sommers zu Traceys neuem Kingsize Bett, in dem einer ganz sicher nicht liegen wird: dumm gelaufen, Will!

1. KAPITEL

Und so wird mein Leben später aussehen: Ich heirate Will. Er wird ein großer Star am Theater, und ich werde meine Karriere als Werbekauffrau aufgeben, um bei unseren Kindern zu Hause zu bleiben. Wir werden in New York wohnen bleiben und nicht in den Süden ziehen (denn ich brauche unbedingt alle vier Jahreszeiten), und im Laufe der Jahre werden wir uns unmerklich in Senioren verwandeln, die Seite an Seite in einer kleinen verschwiegenen Nische bei Friendly’s sitzen. Ich war zwar noch nie in einem der Friendly’s in Manhattan, und ich habe auch noch nie neben Will in irgendeinem Restaurant gesessen.

Es ist nämlich so, dass Will viel Freiraum braucht.

In Restaurants.

Generell.

Ich dagegen brauche für mich selbst praktisch keinen Freiraum. Was ich auch meiner Freundin Kate bei einem großen Karamell Macchiato im Starbucks erkläre, nachdem sie mit geradezu unheimlicher Ruhe gesagt hat, dass jeder Mensch seinen Freiraum braucht.

„Ich brauche keinen Freiraum“, sage ich zu Kate, die dabei ihre aquamarinfarbenen Augen (Kontaktlinsen, was sonst) in Richtung ihres blond gefärbten Haaransatzes verdreht. Kate ist im tiefen Süden aufgewachsen, wo man offensichtlich am besten ankommt, wenn man eine dünne Blondine mit blauen Augen ist. Aber wahrscheinlich kommt man als dünne Blondine mit blauen Augen überall gut an, was mir als wohlgerundete brünette New Yorkerin schmerzlich bewusst ist.

„Ja, auch du brauchst deinen Freiraum, Trace“, beharrt Kate, wobei nur ein Hauch von dem Südstaatenakzent zu hören ist, den sie sich so mühevoll abgewöhnt. „Glaub mir, es würde dir überhaupt nicht gefallen, Will jede Sekunde des Tages auf der Pelle zu haben.“

Okay, die Sache ist aber so …

Es würde mir gefallen.

Wirke ich Mitleid erregend? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Vorsichtshalber gebe ich es Kate gegenüber nicht zu, die bereits erklärt hat, dass sie sich Sorgen um mich macht. Sie glaubt, dass meine Beziehung mit Will zu einseitig ist.

„Nein“, lüge ich, „jede Sekunde des Tages würde mir auch nicht gefallen. Aber das heißt noch lange nicht, dass ich will, dass er demnächst drei Monate lang bei Sommeraufführungen in den Adirondacks mitwirkt.“

„Tja, ich glaube allerdings nicht, dass du die Wahl hast. Es ist schließlich nicht so, als ob du mitkommen könntest.“

Ich konzentriere mich auf das Getränk vor mir und versuche, den süßen Schaum in die dunklere Flüssigkeit einzurühren. Er widersetzt sich aber und klebt als Flauschbällchen an dem hölzernen Löffel wie das baumwollartige Gespinst der seltsamen Käfer an meinem kränkelnden Philodendron, der bei mir zu Hause steht.

„Tracey“, sagt Kate warnend, offensichtlich etwas entnervt.

„Ja?“ frage ich unschuldig und spiele mit meinem gelben Bic-Feuerzeug, mache es an und wieder aus und sehne mich nach den guten alten Tagen, als man sich noch überall eine Zigarette anstecken durfte.

„Spielst du etwa mit dem Gedanken, Will zu begleiten?“

„Warum nicht?“

„In erster Linie deshalb, weil du keine Schauspielerin bist. Du hast dich für eine andere Karriere entschieden.“

Oh ja richtig. Meine Karriere. Mein Einstiegsjob bei der Blaire-Barnett-Werbeagentur, wo ich dank meines wohlklingenden Titels und der Tendenz, mich ohne sorgfältige Nachforschungen in neue Abenteuer zu stürzen, erst kapiert habe, dass ich eine kleine Sachbearbeiterin bin, als mein Chef mir zum Tag der Sekretärin eine Topfpflanze schenkte.

Dabei handelte es sich um den besagten Philodendron. Genau wie meine Arbeitsstelle erschien er mir am ersten Tag äußerst viel versprechend, mit glänzenden grünen Blättern und in verheißungsvoll knisterndes Cellophan gehüllt, mit bunten Schleifen geschmückt und einer Karte versehen, auf der stand: „Liebe Traci“ (auch noch falsch geschrieben!), „Danke für alles, was du für uns tust. Herzlichst, Jake“. Ich nahm ihn mit nach Hause, stellte ihn auf meine Fensterbank, und eine Woche später war er bedeckt mit den Käfern, die ihn vernichten wollen.

„Ich könnte es sein lassen“, sage ich zu Kate und spiele schon wieder mit meinem Feuerzeug.

„Was? Das Rauchen?“

„Nein, bloß nicht. Das Arbeiten! Ich könnte kündigen.“ Ich werfe das Feuerzeug auf den Tisch.

Mentale Notiz: Unbedingt neue Zigaretten besorgen, bevor ich mich mit Will treffe.

„Das habe ich befürchtet.“ Kate, eine militante Nichtraucherin, verzieht das Gesicht. Sie trinkt einen Schluck, dann sagt sie: „Du würdest also deinen Job kündigen, den du seit nicht mal zwei Monaten hast …“

„… über zwei Monate!“

„Gut, über zwei Monate“, fährt sie fort, „und dann – was? Hast du vor, Will überall dorthin zu folgen, wo er hingeht? Was würdest du tun?“

„Vielleicht Theaterkulissen bauen oder als Kellnerin jobben. Keine Ahnung. Ich habe noch nicht darüber nachgedacht. Ich weiß nur, dass ich den Gedanken nicht ertragen kann, den Sommer in dieser Hölle ohne Will zu verbringen.“

„Weiß Will das schon?“

Ihre Frage ist völlig eindeutig, aber trotzdem zögere ich. „Was soll Will schon wissen?“

„Dass du dir überlegst, ihn zu begleiten.“

„Nein“, gebe ich zu.

„Wann fährt er denn?“

„In ein paar Wochen.“

„Vielleicht ändert er ja noch bis dahin seine Meinung und bleibt hier.“

„Nein. Er sagt, dass er unbedingt mal aus der Stadt raus muss.“

Kate zieht die Augenbrauen hoch und deutet damit an, was sie insgeheim vermutet – dass Will nicht nur vor der Stadt flieht. Wenn sie diesen Verdacht tatsächlich ausspricht, werde ich ihr sagen, dass sie sich täuscht.

Aber so sicher bin ich mir da nicht.

Und das ist der Hauptgrund, warum ich Will in diesem Sommer nicht allein lassen möchte. Denn seit wir vor drei Jahren gemeinsam nach New York gekommen sind, ist unsere Beziehung ungefähr so stabil wie ein japanisches Billigmodel bei hundertdreißig Stundenkilometern – in der Haarnadelkurve. Bei Wind. Und Regen.

Wir haben uns auf dem College kennen gelernt, als wir beide gerade dort angefangen hatten. Will kam von einer bekannten Universität aus dem Mittleren Westen auf die liberale SUNY. Er verachtete das konservative, von traditionellen amerikanischen Werten geprägte Gehabe sowohl seiner alten Uni als auch seiner Familie.

Ich wusste genau, was er meinte. Vielleicht fühlte ich mich deshalb sofort zu ihm hingezogen. Die kleine Stadt im Westen des Staates New York, in der ich aufwuchs, hatte große Ähnlichkeit mit dem Mittleren Westen, den Will verabscheute.

Da war zum einen der Akzent, der die Menschen verriet, egal ob im Bundesstaat New York oder in Chicago. Dazu kam in meinem Fall auch noch, dass ich, wie alle in meiner Familie und meinem Bekanntenkreis, katholisch war. Außer meiner Freundin Tamar Goldstein, das einzige jüdische Mädchen auf der Brookside High School, mussten wir alle bei den religiösen Festivitäten des High Holy Days im Oktober mitmachen. Ausnahmen gab es nicht.

Dann war da meine weit verzweigte italienische Familie, in der Tradition groß geschrieben wurde: Sonntags ging man um 9:30 in die Kirche, anschließend gab es Kaffee und Cannoli im Haus meiner Großmutter mütterlicherseits, gefolgt von Spaghetti im Haus meiner Großmutter väterlicherseits. So begann jeder einzelne Sonntag meines gesamten Lebens, und für immer und ewig werde ich die Narben davontragen – in Form von einer gewaltigen Cellulite.

Will dagegen ist evangelisch, und seine Vorfahren stammen aus England und Schottland. Er spricht akzentfrei, er hat keine Cellulite, und im Haus seiner Eltern kommt die Spaghettisauce direkt aus dem Glas.

Aber trotzdem war uns gemeinsam, dass auch er einer beklemmenden Routine entfliehen und nach New York City gehen wollte, solange er zurückdenken konnte. Doch während er die State University of New York in Brookside als einen großen Schritt in die richtige Richtung empfand, brachte ich es nicht übers Herz ihm zu sagen, dass Brookside kein bisschen besser als Iowa im Mittleren Westen war. Schließlich fand er es selbst heraus, mit dem Ergebnis, dass er nicht mal die Abschlussfeier mitmachte, weil er so schnell wie möglich der spießigen Kleinstadtatmosphäre entrinnen wollte.

Als wir uns im ersten Semester kennen lernten, hatte Will zu Hause in Des Moines eine Freundin, und ich wohnte drei Meilen vom Campus entfernt bei meinen Eltern. Unsere Beziehung entwickelte sich allmählich, und das lag ausschließlich an Will. Im Nachhinein habe ich erkannt, dass er hin- und hergerissen war: Er betrog seine Freundin und wollte mit ihr Schluss machen, während er mich im Grunde genauso behandelte, weil er am liebsten ständig mit anderen Mädchen ins Bett gegangen wäre.

Er sprach ganz frei über sie, in einer so lässigen Art und Weise, dass es mich verrückt machte, denn das musste ja bedeuten, dass er uns beide in erster Linie als gute Kumpel sah und nicht mehr. Wann immer ich unangemeldet in sein Apartment platzte und er gerade mit ihr telefonierte, machte er keinen Versuch, das Telefonat zu beenden. Wenn er schließlich aufgelegt hatte, dann sagte er ganz locker: „Oh, das war Helene.“ Wenn er mehr in mir gesehen hätte als eine Bekanntschaft (wie er es nannte), mit der er rumschmuste, wenn er sie zufällig abends in einer Disco traf, dann wäre er wohl nicht so offenherzig über seine Beziehung mit Helene gewesen.

Sie hieß also Helene, und bei diesem Namen stellte ich mir etwas Exotisches, Rassiges vor.

Dann fuhr Will über Weihnachten nach Hause und vertraute mir den Schlüssel zu seinem Apartment an, damit ich seine Pflanzen gießen konnte. Ja, er hatte Zimmerpflanzen. Nicht Marihuanapflanzen, wie sie häufig in den Studentenwohnheimen auf unserem Campus zu finden waren. Auch nicht so einen Kaktus, den man irgendwo als Gratisgeschenk bekommt, oder eine dieser robusten dickblättrigen Pflanzen, die man ohne einen Tropfen Wasser in den Schrank stellen kann und die trotzdem munter weiterwachsen.

Nein, Will hatte ganz normale Zimmerpflanzen, die Sonnenlicht, Wasser und eine gelegentliche Düngergabe brauchten.

Diese Schlüsselgeschichte fand jedenfalls statt, bevor wir miteinander schliefen, aber bereits nachdem er so oft an meinem BH-Verschluss rumgefummelt hatte, dass ich beschloss, in leichter zugängliche Wäsche zu investieren. Mein normaler BH war eine bodenständige Angelegenheit, sehr stabil mit vier Haken und Ösen, die an einem elastischen Streifen festgenäht waren, der ungefähr so breit wie ein Klebeband war.

Ich war sehr erstaunt, dass er mir nicht nur das Gießen der Pflanzen, die er im September im nahe gelegenen Wal-Mart gekauft hatte, überließ, sondern mit der Schlüsselübergabe praktisch den gesamten Bestand seines Apartments, das er sich mit zwei anderen teilte, anvertraute.

Vermutete er wirklich nicht, dass ich stundenlang durch die Kisten in seinem Schrank schnüffeln würde, um alle Briefe von Helene zu lesen und nach Fotos von ihr zu suchen?

Ich weiß es nicht – wahrscheinlich hegte er den Verdacht. Vielleicht wollte er sogar, dass ich herumschnüffelte. Es war ganz leicht, die Fotos zu finden. Sie lagen vorne in einem in Stoff gebundenen Buch, zusammen mit einer Notiz von Helene, die lautete: „Benutze es als Tagebuch, während du fort bist, so dass wir es eines Tages zusammen lesen können und ich das Gefühl habe, ich wäre mit dir zusammen weg gewesen.“

Schadenfroh stellte ich fest, dass noch alle Seiten leer waren.

Aber noch hämischer wurde ich, als ich schließlich die Fotos der geheimnisvollen Helene betrachtete. Ich wusste, dass sie blond war, denn das hatte Will oft genug erzählt. Und okay, ich gebe zu, sie hatte ganz hübsches Haar, lang und glänzend. Sie trug es mit einem Mittelscheitel. Aber davon mal abgesehen war sie völliger Durchschnitt. Ihr Gesicht war sogar runder als meines, und ihre rot karierten Bermudashorts sahen bei ihren breiten Hüften und Oberschenkeln ausgesprochen unvorteilhaft aus. Dazu hatte sie ein rotes Poloshirt an, das sie in die Hose gesteckt hatte.

In meinem ganzen Leben habe ich noch nie ein Shirt in die Hose gesteckt, aber wenn ich es jemals tun sollte, dann gewiss nicht in rotkarierte Bermudashorts.

Nachdem ich dieses Foto von Helene gesehen hatte, hörte ich auf, mir Sorgen über sie zu machen.

Als Will dann zurückkam, seine Pflanzen bei bester Gesundheit, seinen Schrank offensichtlich völlig unberührt und leckere selbst gebackene Kekse in der Küche vorfand, informierte er mich, dass er und Helene am Silvesterabend Schluss gemacht hätten. Ich in meiner „nicht nur ein Freund, aber nicht sicher Was-mehr-Rolle“ wusste nicht genau, wie ich reagieren sollte. Ich erinnere mich, dass ich Will gegenüber Mitgefühl zeigte, während ich mir insgeheim selbst begeistert auf die Schulter schlug, weil ich gewonnen hatte. Ich hatte Helene besiegt. Die schattenhafte Heimatfreundin war nicht länger im Wettbewerb.

Doch es war ein hohler, kurzlebiger Sieg, denn ich entdeckte schnell genug, dass ich noch lange nicht am Ziel war. Sogar jetzt, drei Jahre später, ist die Ziellinie nirgends in Sicht.

Kate fragt: „Glaubst du nicht, du solltest Will sagen, dass du kündigen willst, um mit ihm in die Adirondacks zu gehen?“

„Ich habe nicht gesagt, dass ich es wirklich tue. Ich habe nur gesagt, dass ich es gern tun würde.“

Verdammt. Kate schaut mich an, als hätte ich erzählt, ich würde erwägen, jeden Gast in diesem Starbucks-Restaurant mit einer abgesägten Schrotflinte abzuknallen.

„Ich muss jetzt los“, sage ich abrupt, nehme meinen weißen Pappbecher und meine riesige schwarze Umhängetasche.

„Ich auch“, erwidert Kate und nimmt ihrerseits ihren weißen Pappbecher und ihre riesige schwarze Umhängetasche. „Ich bringe dich zur U-Bahn.“

Na großartig.

Einige Straßenblöcke lang muss ich jetzt Kates Bemühungen ertragen, mir den Sommer in der City schmackhaft zu machen. Lächerlich, denn ich habe bereits so viele kochend heiße, stinkige Augusttage in dieser Großstadt erlebt, dass es mir ein Leben lang reichen würde.

Ich lebe hier seit über einem Jahr, und die ersten Monate habe ich mir eine Wohnung in Queens mit einer mir völlig Fremden geteilt, die ich durch eine Annonce in der Village Voice kennen gelernt habe. Sie hieß Mercedes, und die paar Mal, die sie in der Wohnung an mir vorbeischlich, sah sie völlig auf Droge aus. Sie schlief den ganzen Tag, während ich jobbte, und nachts tat sie weiß Gott was. Ich fragte sie mal danach, aber sie gab nur ausweichende Antworten. Wir zogen beide am Labour Day aus, weil der Schauspieler, der uns das Apartment untervermietet hatte, von den Sommeraufführungen außerhalb New Yorks zurückkam. Ich habe sie nie wieder gesehen, aber es würde mich nicht wundern, wenn ich sie eines Tages in einer Folge von Cops sehen würde.

Dank jenes Sommers in einem relativ erschwinglichen Bezirk kratzte ich genug Geld zusammen, um mir ein eigenes Apartment in Manhattan, im East Village, zu mieten. Sehr east – ganz weit im Osten. So weit, wie man nur gehen kann, bevor man im East River landet. Das Apartment hat etwas Deprimierendes an sich. Es scheint einfach nur in schwarz-weiß zu existieren, egal wie sehr ich auch versuche, es aufzupeppen. Aber meine Bestrebungen sind auch nur halbherzig.

Kate, die ich am dritten Tag bei einem meiner Jobs in New York kennen gelernt habe und die dank ihrer reichen Eltern in Mobile in einem eleganten, aus Backsteinen erbauten Haus in einer begehrten Gegend im West Village wohnt, drängt mich immer wieder, mir eine bunte Tagesdecke für meinen Futon zu kaufen. Dann entgegne ich, dass ich pleite bin, was auch immer stimmt, aber dazu kommt, dass ich kein Geld für dieses Apartment ausgeben möchte.

Und zwar deshalb: Wenn ich es mir richtig gemütlich mache, dann bekommt es etwas Permanentes – so, als ob ich dort bleiben möchte. Und ich will keineswegs allein in diesem deprimierenden Apartment im East Village bleiben.

Ich möchte mit Will zusammenleben.

Bald.

Und für immer.

„Denk doch nur“, sagt Kate. „Die Veranstaltungen von ‚Shakespeare in the Park‘.“

Ich zucke mit den Schultern. „Vielleicht tritt Will bei den Sommeraufführungen auch in einem Stück von Shakespeare auf.“

„Glaubst du?“

Ich zucke wieder mit den Schultern. Wahrscheinlich eher in Little Shop of Horrors.

„Wir können uns italienisches Eis vom Straßenstand kaufen“, preist sie an. „Wir verbringen das Wochenende in den Hamptons.“

Ich schnaube verächtlich.

„Ich habe mich in den Hamptons eingemietet“, sagt sie. „Du kannst mich dort besuchen kommen.“

Sie erzählt immer weiter vom Sommer, der an diesem grauen Samstag im Mai schwer vorstellbar ist. Es nieselt, und es ist kühl.

Auf diesem Straßenabschnitt des unteren Broadway wimmelt es von gepiercten Typen, die wahrscheinlich auf die NYU gehen, von Familien mit Buggies, von Teenagergruppen aus den Vororten und den allgegenwärtigen Flugblattverteilern.

Kate und ich werfen unsere Pappbecher in einen bereits überquellenden Mülleimer an der Ecke Achte Straße – Broadway. Während sie ein Paar Ohrringe im Schaufenster einer Boutique bewundert, die fluoreszierende korallenfarbene Maulesel darstellen, verabschiede ich mich und steige in die Tiefen der U-Bahnschächte hinab.

Während ich auf dem Bahnsteig der Uptown-Züge auf Zug N warte, bleibe ich so weit wie möglich von den Schienen entfernt. Fast berühre ich mit dem Rücken die Wand, aber eben vorsichtshalber doch nicht ganz, denn man weiß schließlich nie, welcher mysteriöse Schmutz darauf lauert, sich an dem alten Lieblingspulli festzusetzen. Ich beobachte mit scharfen Blicken einen heruntergekommenen Typen, der die Kante des Bahnsteigs auf- und abtigert. Ein erster Hinweis darauf, dass er nicht alle Tassen im Schrank hat, ist die Tatsache, dass er bei 7° Celsius einen freien Oberkörper hat und Shorts und Badelatschen trägt. Er murmelt laut vor sich hin, irgendwas über Läuse oder Lichter, und ich bin nicht die Einzige, die einen großen Bogen um ihn macht.

Immer wieder mal hört man in den Nachrichten, dass unschuldige New Yorker vor einfahrende Züge gestoßen werden. Mein Freund Raphael hat das mal mit eigenen Augen gesehen, aber zum Glück konnte sich das Opfer gerade noch rechtzeitig von den Schienen rollen. Der Täter sah wie ein ganz normaler Geschäftsmann aus, sagt Raphael. Er trug einen Anzug und hatte eine Aktentasche bei sich. Als die Polizei ihn festnahm, stellte sich allerdings heraus, dass die Aktentasche voll lebendiger Nagetiere war. Welche tiefere Bedeutung das hat, weiß ich zwar nicht, aber es erscheint mir wichtig, in New York mit dem Rücken zur Wand zu stehen, wenn man von Fremden umgeben ist.

Was ich auch tue.

Schließlich erklingt aus der Ferne das unmissverständliche Geräusch des nahenden Zuges. Kurz darauf sieht man die Scheinwerfer im Tunnel. Während der Zug N in die Station braust, gehe ich vorsichtig in Richtung Bahnsteigkante und bleibe schließlich genau vor einer sich öffnenden Tür stehen, eine Fähigkeit, die man nur hat, wenn man monatelang Tag für Tag mit demselben Zug fährt.

Im Waggon ist es brechend voll und viel zu warm; es riecht nach Schweiß und chinesischem Essen. Während ich mich an der bakterienverseuchten Haltestange festklammere höre ich Hip-Hop Musik, die aus dem Kopfhörer des Typen neben mir dröhnt. Ruckartig fährt der Zug an, die Lampen gehen kurz aus, und ich muss wieder an Will denken. Ich frage mich, ob er wohl wach ist, wenn ich in sein Apartment komme, das er sich mit Nerissa teilt, die er letztes Jahr beim Vorspielen kennen gelernt hat. Samstags schläft er gern bis zum frühen Nachmittag.

Macht es mir etwas aus, dass er mit einer anderen Frau zusammenwohnt?

Nein, natürlich nicht – würde ich gern sagen.

Aber die Wahrheit ist, dass ich nichts dagegen hätte, wenn irgendjemand Nerissa vor einen einfahrenden Zug stoßen würde. Sie ist eine zarte und wunderschöne Tänzerin aus England, die seit einigen Monate in einer Off-Broadway-Show auftritt. Sie schläft auf ihrem Futon hinter einem Paravent von Ikea und Will in seinem breiten Bett, und niemals sollen sich ihre Wege kreuzen.

Ja, das glaube ich wirklich. Ich zwinge mich, es zu glauben, denn Nerissa hat einen Freund, einen schottischen Profi-Golfer, und Will hat mich. Trotzdem sind mir nicht die Blicke entgangen, die er ihr zuwirft, wenn sie durch das Apartment schwebt, mit ihren Sweatpants und dem Tanztrikot, das ihre schmalen Hüften und ihre hohen, kleinen Brüste so vorteilhaft zur Geltung bringt.

Ich dagegen bin der fleischige Typ, egal ob man mich nun mit Nerissa vergleicht oder nicht, ganz Hüften, Oberschenkel und Pobacken. Wie ich schon sagte, ist mein BH auch keine filigrane, spitzenbesetzte Angelegenheit. Meine Unterhosen würde niemand Slips nennen, eine Bezeichnung, die an zarte, glatte Mädchenkörper aus der Werbung erinnert. Feste Wäsche aus Baumwolle ist vonnöten, um die Tendenz meines Körpers zu schwabbeln und zu hängen so gut wie möglich einzudämmen.

Will steht total auf edle Dessous, die Sorte, die zweifelsohne die oberste Schublade von Nerissas geschmackvoller Kommode füllt. Ich weiß das, weil er mir einmal, in unserem zweiten College-Jahr, einen Body gekauft hat. Damals waren wir offiziell seit ein paar Monaten zusammen und wussten, dass wir bald Sex haben würden. Der Body bestand aus champagnerfarbenem Satin mit Spitzenbesatz, war von Christian Dior – und zwei Größen zu klein. Ich wusste nicht, ob das nun ein Kompliment oder ein Wink mit dem Zaunpfahl sein sollte.

Immer, wenn ich ihn anzog, trug ich darunter meine normale Wäsche. Den BH brauchte ich, weil es bei meiner Figur obszön wäre, keinen zu tragen. Die Unterhosen hatte ich an, weil die Druckknöpfe des Bodys bei jeder Bewegung aufsprangen, entweder weil ich zu groß oder zu breit dafür war. Wahrscheinlich beides. Schließlich ersetzte ich die Druckknöpfe durch Haken und Ösen. Ich hatte an der Brookside School nähen gelernt, aber mir damals nie träumen lassen, dass ich diese Fähigkeit zu etwas so Illustrem benutzen würde, wie den Zwickelverschluss eines sexy Dessous zu verändern, das mir ein Mann geschenkt hatte, mit dem ich vor der Ehe Sex haben würde.

Auf jeden Fall konnte ich nie feststellen, ob Will mein Anblick im zwickelkorrigierten Body mit den breiten BH-Trägern darunter und den warmen, festen Unterhosen, die unter dem Body bis auf meine dicken Oberschenkel herausragten, wirklich anmachte. Ich würde gern glauben, dass er mich unwiderstehlich fand, bin mir jedoch nicht sicher, ob das tatsächlich der Fall war.

Als wir zum ersten Mal miteinander schliefen, geschah das, nachdem wir zwei Flaschen Rotwein getrunken hatten. Die beiden anderen Typen, mit denen Will sich das Apartment teilte, waren bei Proben zu dem Stück Guys and Dolls. Will war nicht engagiert worden. Er war fest davon überzeugt, dass das die Schuld von Geoff Jefferson, dem heterophobischen (meinte jedenfalls Will) Professor für Theaterinszenierungen, war. Wir tranken Wein, und er zog über Geoff Jefferson her, und dann tranken wir noch mehr Wein, und schließlich hatten wir Sex auf dem Bett, das am dichtesten stand, und das war das von seinem Mitbewohner André. Da verlor ich also meine Jungfräulichkeit, auf italienischen Importlaken aus bester ägyptischer Baumwolle. Dabei starrte ich über Wills verschwitzte Schulter auf das berühmte Poster von Marilyn Monroe, das sie auf dem Gitter eines U-Bahnschachtes zeigt, als ihr weißes Kleid hochgeweht wird.

Apropos U-Bahn: Ich steige am Times Square aus, verlasse den Bahnhof und finde mich auf der überfüllten Straße wieder. Ein Spezialitätenrestaurant reiht sich an das andere, dazwischen haben sich Klamottenläden verschiedener Ketten eingemietet. Früher gab es hier nur Pornoläden und -kinos, Peepshows und jede Menge Obenohne-Bars. Im engen Schulterschluss mit Einwanderern jeder Hautfarbe, übergewichtigen Touristen mit diagonal umgehängten Taschen und einer Schulklasse, die fasziniert die MTV-Studios am Broadway anstarrt, laufe ich in Richtung Nordwest: zwei kurze Straßenblöcke in der Längsrichtung Manhattans, zwei lange Straßenblöcke quer dazu.

Ich kaufe meine Zigaretten und eine „Post“ an dem vertrauten Zeitungsstand an der Ecke, an dem mich der pakistanische Besitzer an manchen Tagen wie eine alte Bekannte begrüßt, während er mich an anderen Tagen gar nicht zu kennen scheint. Was mich ziemlich nervt.

Heute grinst er mich an. Wir sind wieder alte Freunde, die sich bloß aus den Augen verloren hatten.

„Hallo!“ ruft er mir zu, wie es so seine Art ist. „Wie geht’s heute?“

Ich lächele zurück. „Ganz gut. Und Ihnen?“

Er schüttelt den Kopf und deutet nach oben. „Dieses Wetter. Zu kalt. Zu grau.“

Ich nicke. Abgedroschene Phrasen sind ganz nach meinem Geschmack. „Dieses Jahr will es einfach nicht Sommer werden.“

„Oh, wird schon kommen“, sagt er so überzeugt, wie ein Kellner einem ein Gericht auf der Tageskarte anbietet. „Und wenn kommt, dann du beschwerst dich.“

Ich frage mich, ob er damit die New Yorker generell meint, oder ob ich es als Omen betrachten soll, dass ich mich in diesem Sommer schrecklich fühlen werde, nicht nur, weil es von Juni bis September in der Stadt so gottverdammt heiß ist, sondern weil Will nicht bei mir sein wird.

2. KAPITEL

Wills Studioapartment liegt im sechsundzwanzigsten Stock eines mehrstöckigen Gebäudes, in dem es eine in Marmor gehaltene Lobby und drei Aufzüge gibt. Es kommt dem am nächsten, was ich mir mit meiner kleinstädtischen Fantasie immer unter einer typischen New Yorker Unterkunft vorgestellt habe. Das Gebäude, meine ich. Das Apartment hingegen ist eine ziemliche Enttäuschung. Aber ist das nicht meistens so?

Da ich in Brookside aufgewachsen bin, saß ich früher natürlich sehr häufig vor dem Fernseher. Am liebsten sah ich mir Sitcoms an, und die meisten spielen eben in New York. Folglich war ich an geräumige Wohnungen mit übergroßen Fenstern und einer riesigen Feuerleiter gewöhnt, oder an das ausgeklügelte Brownstone-Haus der Huxtables in Brooklyn Heights mit einem echten Garten oder an Jerry Seinfelds geräumiges Ein-Zimmer-Apartment inklusive seiner schrulligen Nachbarn.

Ha.

Meine Wohnung kennen Sie ja bereits.

Wills Wohnung würde ich als einen einigermaßen großen quadratischen Raum mit einem büroartigen Fenster auf der einen und einer abgetrennten Küche von der Größe der Treppe, die in das viktoriansche Haus meiner Eltern führt, auf der anderen Seite. Sein Bett steht unter dem Fenster; Nerissas Futon und Schrank befinden sich hinter dem vorhin erwähnten Wandschirm in der Nähe der Küche. Dazwischen hat eine nicht sonderlich geschmackvolle schwarze Ledercouch Platz gefunden, die Will seinem Vormieter, dessen Verlobte sich weigerte, das gute Stück zu behalten, abgekauft hat. Außerdem drängen sich Wills Trainingsgeräte und ein Regal voller CDs, Drehbücher, Playbills und „echter“ Bücher – meistens Klassiker im Taschenbuchformat, die er nach zwei Semestern amerikanische Literatur im Second-Hand-Buchladen der Uni nicht hatte loswerden können.

Nachdem Will den Türöffner gedrückt hat sollte man meinen, dass er mich an der Tür erwarten würde oder zumindest irgendwo in ihrer Nähe. Aber nein, ich muss erst zwei Mal klopfen, und als er endlich öffnet, gähnt er und sieht ganz zerknittert aus, offensichtlich ist er soeben erst aus dem Bett gestiegen.

Er sieht trotzdem fabelhaft aus. Zumindest finde ich das.

Kate hat einmal nach zwei starken Bourbon im Royalton verkündet, dass Will für ihre Begriffe ein wenig tuntig wirkt und sie sich nicht im Geringsten zu ihm hingezogen fühlt. Das hat mich tief erschüttert, aus Gründen, die ich nicht wirklich greifen kann. Seitdem gibt es jedenfalls Momente, in denen ich Will betrachte und nach Zeichen einer latenten Homosexualität suche, halb erwarte, dass er affektiert spricht oder herumtänzelt oder dem Portier James, der viel zu hübsch ist, um heterosexuell zu sein, ein lüsternes Grinsen zuwirft. Bisher ist das nie geschehen, und ich weiß nicht, wie Kate auf die Idee kommt, er wäre unmännlich. Und sie weiß noch nicht einmal was von den Pflanzen, die er seit seiner College-Zeit hat, und die noch immer auf seinem Fensterbrett blühen und gedeihen.

Vielleicht liegt es ja nur an der Musical-Szene; so viele Schauspieler sind schwul, und vermutlich kann sie sich von diesen Vorurteilen nicht lösen, schließlich stammt sie aus dem tiefsten Süden.

Wie auch immer, soweit es mich betrifft, ist Will die Männlichkeit in Person.

Er ist einsneunzig groß und glatt rasiert, mit einem gut definierten Kiefer und einem Grübchen im Kinn. Er hat dichtes dunkelbraunes Haar, das – ob mit langen Koteletten oder struppig um seine Ohrläppchen herum abstehend oder kurz geschnitten wie zur Zeit – stets unglaublich gut aussieht. Seine weder ganz blauen noch ganz grauen Augen haben genau die Farbe meines Lieblingspullovers von J. Crew, die im Katalog als „Smoke“ bezeichnet wird. Er arbeitet viel im Freien, was zur Folge hat, dass er mager und muskulös ist. Manchmal trägt er einen schwarzen Rollkragenpullover und immer Eau de Cologne.

Wo ich herkomme wird Eau de Cologne, genauso wie Schmuck, ausschließlich von Italienern getragen – meine Brüder und mein Vater eingeschlossen – oder von Jason Miller, dem örtlichen Friseur, dessen sexuelle Neigungen etwas unklar sind. Okay, zumindest meine Mutter empfindet sie als unklar, und mehr als einmal hat sie betont, wie merkwürdig es sei, dass ein so netter und gut aussehender Mann noch nicht verheiratet ist. Meine Mutter geht zweifellos auch davon aus, dass Lee Harvey Oswald ein Einzeltäter war, dass O.J. Simpson nach den wahren Mördern seiner Frau sucht, und dass ich mein ganzes Erwachsenenleben lang sonntags zur Messe und samstags zur Beichte gehe.

Wie auch immer, vielleicht ist ja das Eau de Cologne Schuld daran, dass Kate Will tuntig findet.

Selbst jetzt, so früh am Morgen – zumindest ist es für Will früh am Morgen und für jedermann sonst Mittag – riecht er großartig und sieht in seiner aufregend verknitterten Art unheimlich anziehend aus.

„Habe ich dich geweckt?“ frage ich und stelle mich auf die Fußspitzen, um ihn auf die Wange zu küssen, die ein wenig stoppelig ist.

„Ist schon in Ordnung.“ Er gähnt und schlurft in den Küchenbereich, wo er sich ein Glas Wasser einschenkt.

„Wie ist es gestern gelaufen?“

„Es war anstrengend. Eine Horde schlampiger East-Side-Matronen und ihre notorisch untreuen Männer haben gefeiert. Es gab eine Martini-Bar und Rindercarpaccio, obwohl Carpaccio schon seit Jahren out ist.“

„Und Martinis nicht?“

„Für diese Leute ist das immer in.“

Ich sollte erwähnen, dass Will für „Eat, Drink Or Be Married“, einen Partyservice in Manhattan, arbeitet. Er verdient eine Menge Geld, indem er bei Privatfesten wie Hochzeiten und Wohltätigkeitsveranstaltungen serviert. Die meisten Gäste sind Prominente, und manchmal kennt er deren schmutzigsten Geheimnisse, was ich ungeheuer faszinierend finde.

„Hör mal, Trace, ich weiß, dass wir heute Abend eigentlich zu der Party deines Freundes gehen wollten, aber ich muss arbeiten.“

„Was?“ Schmerzende Enttäuschung. „Wir haben das doch seit Wochen geplant! Es ist Raphaels dreißigster Geburtstag.“

Ich muss warten, bis Will ein großes Glas Wasser leer trinkt, etwas, das er acht Mal am Tag tut, bevor er antwortet. „Ich weiß, und ich habe Milos auch gebeten, mir heute Abend frei zu geben, aber ich muss einspringen. Jason ist gestern beim Schlittschuhlaufen hingefallen und hat sich den Knöchel verstaucht.“

Jason, einer der Kellner, ist Jason Kenyon, ein Eiskunstläufer, der früher sogar an den olympischen Spielen teilgenommen hat. Ich interessiere mich zwar nicht sehr für Sport, doch sogar ich habe schon von ihm gehört – ich glaube, er hat vor ein paar Jahren eine Bronzemedaille in Japan gewonnen. Nun will er hier in New York Schauspieler werden, und vermutlich ist er genauso pleite wie alle anderen, oder warum sonst ist er bereit, in ein schwarzes Jackett gekleidet monströse Tabletts durch die Gegend zu schleppen und das Geschirr von reichen Leuten abzuräumen? Nicht dass es sich nicht lohnen würde, schließlich verdienen sie zwanzig Dollar die Stunde plus Trinkgeld.

„Kann Milos nicht einen anderen finden, der einspringt?“ frage ich.

„Er will nicht einfach irgendjemanden. Es handelt sich um eine große Promi-Hochzeit in den Hamptons, und er will nur besonders gute Kellner dabei haben.“

„Wie schmeichelhaft für dich, aber wo bleibe ich dabei?“

Will stellt sein Glas ins Waschbecken, beugt sich dann zu mir und küsst mich auf die Wange. „Tut mir Leid, Trace.“

Ich schmolle, dann frage ich: „Was für Promis?“

„Das darf ich nicht verraten.“

„Das darfst du nicht verraten?“ Ich starre ihn an, oder vielmehr seinen Rücken, denn er hat sich in die andere Ecke des Zimmers verdrückt. „Nicht einmal mir?“

„Ich habe absolute Diskretion versprochen“, sagt er sanft, zieht sein langärmliges Thermo-Shirt aus und wirft es in den Wäschekorb. „Morgen wirst du es allerdings wissen. Alle Zeitungen werden darüber berichten.“

„Sag es mir jetzt schon, bitte. Ich sterbe vor Neugier.“

„Ich kann nicht. Schau mal, ich weiß nicht einmal, wo genau die Hochzeit stattfinden wird. Sie wollen nicht, dass jemand die Presse benachrichtigt. Ich soll dem Fahrer, der mich am Bahnhof abholt, ein bestimmtes Codewort sagen, und dann bringt er mich dort hin. So geheim ist das Ganze!“

Völlig genervt von diesem lächerlichen Geheimagenten-Getue sage ich: „Du lieber Himmel, Will, was glaubst du, werde ich tun? Der New York Post einen Tipp geben?“

Er lacht und zieht seine Flanell-Unterhosen aus. „Du wirst morgen alles erfahren.“

„Zusammen mit dem Rest der Welt“, brumme ich und beobachte ihn, wie er die Unterhose in den Wäschekorb schmeißt.

Im Gegensatz zu mir fühlt er sich nackt absolut wohl. Ich könnte niemals vor anderen ohne Klamotten herummarschieren, nicht einmal vor Will. Vor allem nicht vor Will. Mir wäre viel zu bewusst, wie meine Schenkel ihren kleinen Wackeltanz vollführen und meine Brüste irgendwo auf Höhe meines Bauchnabels herumschaukeln. Wobei ich auch dann nicht nackt herumlaufen würde, wenn ich einen perfekten Körper hätte.

Allerdings heißt es ja, das würde sich ändern, sobald man ein Baby bekommt. Meiner Schwester Mary Beth, die zwei Kinder hat, behauptet, eine Geburt bringe das mit sich, schließlich liegt man mit weit gespreizten Beinen in einem Raum, wo absolut Fremde vorbeikommen und einem den Arm bis zum Ellbogen in die Scheide stecken. Sie sagt, danach sei es völlig egal, wer einen nackt sieht. Das muss wahr sein, schließlich ist Mary Beth gerade erst einem Fitness-Verein beigetreten, wo sie sich massieren lässt und Dampfbäder nimmt. Das muss man sich mal bei einem Mädchen vorstellen, dessen Mutter permanent Entschuldigungen für den Schwimmunterricht geschrieben hat, damit es sich beim Duschen nicht nackt zeigen musste.

Für mich war es selbstverständlich ähnlich traumatisch. Doch als ich in die fünfte Klasse kam, hatte meine Mutter bereits meine drei Brüder großgezogen, die so hemmungslos waren, dass sie ihre Hosen vor mir und meinen Freundinnen fallen ließen, sich nach vorne beugten und pupsten. Als ich also an der Reihe war, bescheiden um die Entschuldigungsschreiben zu bitten, war meine Mutter nicht mehr in der Stimmung, jemanden zu verhätscheln.

„Du kannst nicht vor allen anderen duschen? Dann musst du es eben lernen!“ war alles, was sie dazu sagte.

„Wie auch immer, ich kann das Geld wirklich brauchen“, informiert Will mich. „Ich reise in ein paar Wochen ab, und im Sommer werde ich nicht viel Geld verdienen.“

„Ich dachte, du wirst dafür bezahlt.“

„Werde ich auch, aber es ist nur ein Bruchteil von dem, was ich bei Milos verdiene. Ich gehe jetzt unter die Dusche.“ Will steuert auf das Badezimmer zu. „Lass uns danach frühstücken gehen.“

„Mittagessen“, verbessere ich ihn und ziehe meine Zigaretten und ein Feuerzeug aus der Tasche.

„Was auch immer. Hey, entschuldige. Könntest du hier bitte nicht rauchen?“

Ich erstarrte mitten in der Bewegung, die Zigarette schon fast im Mund. „Warum nicht?“

„Das stört Nerissa. Sie sagt, ihre Kleider riechen nach Rauch, sobald du hier gewesen bist.“

„Oh.“ Langsam stecke ich die Zigarette zurück in die Packung und überlege, was ich daraufhin sagen könnte.

Doch das brauche ich gar nicht. Die Badezimmertür fällt hinter ihm zu.

Nicht mehr in Wills Wohnung rauchen?

Bestürzt von der überraschenden Wendung, die die Ereignisse genommen haben, setze ich mich auf das Sofa und schnappe mir eine Zeitschrift von dem auf dem Boden liegenden Stapel. Entertainment Weekly. Die hat Will abonniert. Gedankenverloren und dampfend vor Wut blättere ich durch die Seiten. Natürlich hat Nerissa das Recht, nicht so zu riechen wie ein Raucher, das kann ich ja verstehen. Aber trotzdem fühle ich eine vage Verunsicherung und, vermute ich, Schuldgefühle. Weil ich diese schmutzige, ekelhafte Angewohnheit habe, die die Lebensqualität anderer Menschen beeinträchtigt.

Irgendwie stimmt das ja auch, aber Will hat bisher nie etwas dagegen gehabt, wenn ich in seiner Wohnung rauche. Manchmal, wenn wir ausgehen, schnorrt er sogar eine Zigarette von mir, und er hat immer behauptet, er würde anfangen zu rauchen, wenn er kein Sänger wäre.

Ein Teil von mir – zugegebenermaßen der irrationalere Teil – wundert sich, warum Will mich seiner Mitbewohnerin gegenüber nicht verteidigt. Er hätte Nerissa sagen können, dass ich in der Wohnung rauchen darf solange ich will, und dass sie einfach damit zurechtkommen muss. Schließlich hat er zuerst hier gewohnt. Sein Name steht auf dem Mietvertrag, nicht ihrer. Je mehr ich mich ärgere, umso stärker sehne ich mich nach einer Zigarette.

Ich gehöre nicht zu den Mädchen, die in der Junior High School heimlich hinter den Mülltonnen zu rauchen angefangen haben, ich bin auch nicht in einem Raucherhaushalt aufgewachsen. In meiner Familie rauchen nur Vinnie, der zukünftige Ex-Mann meiner Schwester, und mein Großvater, der seit fast einem Jahr Lungenkrebs hat.

Man sollte meinen, dass mich diese Tatsache so in Panik versetzt, dass ich umgehend das Rauchen einstelle, aber der Mann ist knapp neunzig. Ich habe vor, in ein paar Jahren aufzuhören, und zwar wenn ich verheiratet und bereit bin, schwanger zu werden, denn ich finde es nicht fair, einen Fötus all den Gefahren von Nikotin und Teer auszusetzen. Doch bis dahin stört meine Raucherei niemanden.

Außer selbstverständlich Nerissa.

Meine erste Zigarette habe ich in meinem zweiten Studienjahr geraucht. Meine Freundin Sofia hatte kurz zuvor damit angefangen, um abzunehmen, und sie behauptete, dass es funktioniere. Wobei sie natürlich kurz darauf in einer Klinik in Cleveland landete, um ihre schwer wiegenden Essstörungen behandeln zu lassen, und dort war das Rauchen dann auch ihr kleinstes Problem. Sie war nicht das beste Vorbild für mich, aber ich fand, dass sie cool aussah, wenn sie rauchte, und wie immer war ich willens, alles zu versuchen, um Gewicht zu verlieren – ausgenommen, weniger zu essen und Sport zu treiben.

Was ich nicht alles dafür geben würde, dünn zu sein denke ich, als ich die Bilder eines zweiseitigen Berichts über Hollywood Starlets beim Film Festival in Cannes betrachte. Große Brüste, schmale Taillen, keine Hüften, keine Schenkel. Ich verstehe das nicht. Ich meine, in meiner Welt sind große Brüste normal, ich stamme aus einer langen Linie von Frauen mit großer Oberweite. Wenn Sie glauben, dass ich gut ausgestattet bin, sollten Sie erst mal meine Oma mütterlicherseits sehen. Sie trägt noch immer BHs im Stil der vierziger Jahre, und man kann sie bereits kommen sehen, wenn sie noch viele Straßen entfernt ist. Sie ist stolz auf das, was sie verschämt „meine Figur“ nennt.

Ich nicht. Ich könnte auf meine Figur ganz gut verzichten. Ich würde liebend gerne alles, was zwischen meinem Schlüsselbein und meinen Rippen ist, gegen eine flache Brust eintauschen, wenn ich damit zugleich den Körper eines zehnjährigen Jungen bekommen würde, den ich so herbeisehne – also die Figur, die angeblich schon seit Jahren aus der Mode ist. Ja, klar. Als ob Rubenskörper jemals wieder in Mode kommen würden.

Ich lausche Wills Stimme unter der Dusche. Er singt irgendein Rogers-and-Hammerstein-artiges Lied. Er hat meiner Meinung nach eine großartige Stimme. Manchmal wünsche ich, dass er die ganze Broadway-Szene einfach sausen lässt und eine Pop-Platte aufnimmt. Aber das will er nicht. Sein Traum ist es, auf der Musical-Bühne Erfolg zu haben.

Bisher hat er nur in zwei erfolglosen Musicals mitgemacht, das eine war das Remake einer obskuren Show, das andere ein Original, geschrieben von einem Typ, den er im Schauspielunterricht kennen gelernt hat. Beide wurden nach ein paar Wochen eingestellt.

Das ist auch der Grund, warum diese Sommeraufführungen gut für ihn sein könnten.

Ich wünschte nur, er würde mich nicht so leichten Herzens verlassen. Oder dass er mich bittet, mit ihm zu kommen, anstatt es mir zu überlassen, den besten Zeitpunkt zu finden, um ihm genau das vorzuschlagen.

Ich habe bisher noch nicht wirklich darüber nachgedacht, was ich tun würde, wenn ich wirklich mitginge. Ich meine, ich weiß ja, dass ich nicht bei Will bleiben könnte, der mit den anderen Schauspielern in einem Haus wohnt. Aber es kann ja wohl kaum so schwer sein, für die Sommermonate ein kleines Zimmer in einem winzigen Ort fast eine Stunde nördlich von Albany zu mieten. Außerdem gibt es dort bestimmt Jobs, denn im Sommer tauchen dort eine Menge Touristen auf. Ich bin definitiv nicht anspruchsvoll, ich könnte bedienen oder auf Kinder aufpassen.

Ich weiß, was Sie jetzt glauben, aber sehen Sie mal, ich finde die Vorstellung einfach toll, nicht die U-Bahn nehmen zu müssen, um zu einem Achtstundenjob in der heißen, übelriechenden Stadt zu fahren, wo ich für andere ans Telefon gehe und den ganzen Tag am Kopierer stehe. Es wäre ja so befreiend, eine Zeit lang mal was anderes zu machen.

Was die Karriere in der Werbebranche angeht … nun, ich kann jederzeit im Herbst eine andere Agentur finden. Oder überhaupt etwas anderes. Schließlich ist es nicht so, dass ich mein Herzblut daran gebe, eine Eins-A-Texterin zu werden. Das ist nur einfach etwas, wozu ich mit meinem Englisch-Abschluss in der Lage bin.

Außer zu unterrichten.

Meine Eltern sind der Meinung, ich sollte unterrichten. Sie finden, dass das der perfekte Job für Frauen ist. Meine Mutter war Lehrerin, bevor sie meinen Vater geheiratet hat. Meine Tante Tanya ist noch immer Lehrerin an der Grundschule meiner Heimatstadt. Meine Schwester war Lehrerin vor und während ihrer Ehe mit meinem Ex-Schwager Vinnie, der eines Tages im vergangenen Jahr nach Hause kam und Mary Beth erklärte, dass er sie nicht mehr liebte.

Sie war wirklich am Boden zerstört, was ich verstehe – sie haben schließlich gemeinsame Kinder –, aber wenn Sie mich fragen, geht es ihr ohne ihn besser. Er hat immerzu mit anderen Frauen geflirtet – vor allem nachdem Mary Beth mit jeder Schwangerschaft jeweils zehn bleibende Kilo zugenommen hatte.

Vielleicht doch nicht so bleibend, denn im Augenblick versucht sie abzunehmen. Deswegen der Fitnessclub. Jetzt unterrichtet sie nicht mehr. Sie hat ihren Job verloren, ungefähr eine Woche bevor Vinnie sie verlassen hat. Egal wie verzweifelt sie wegen der Kündigung war, den alten Vinnie hat das nicht davon abgehalten, sie zu treten, als sie schon am Boden lag. Das zeigt doch, was für ein mieser Typ er ist.

Das Geräusch von laufendem Wasser und die Singerei brechen abrupt ab, und wenige Augenblicke später öffnet Will die Badezimmertür. Dampf umwirbelt ihn, als er mit um die Hüften geschlungenem Handtuch herauskommt.

Ich ertappe mich dabei, dass ich mich frage, ob er das auch tut, wenn Nerissa zu Hause ist. Es würde mich nicht überraschen, wo er doch so ungezwungen mit seiner Nacktheit umgeht. Macht nichts, sie hat wie gesagt einen Freund und er hat mich, also kann zwischen den beiden ja gar nichts passieren. Sie sind nur Zimmergenossen. Nicht wahr?

Nicht wahr?

„Was machst du da?“ fragt er.

„Ich lese Entertainment Weekly.“

„Nein, ich meine, du hast mich so komisch angeschaut. Als ob dich irgendetwas nervt.“

„Was habe ich?“ Verdammt. Ich zucke nur mit den Schultern.

Er tut es ebenfalls, und dann beginnt er, sich abzutrocknen.

Ich tue so, als ob mich der Artikel über die ehemaligen Al-Bundy-Schauspieler ungeheuer faszinieren würde. Jetzt ist auf jeden Fall nicht der richtige Zeitpunkt, um das Thema Sommer anzusprechen. Vielleicht beim Mittagessen.

Oder vielleicht sollte ich die ganze Idee auch einfach vergessen.

Ich meine, ihm in den Sommeraufenthalt zu folgen wirkt schon ein wenig verzweifelt, oder nicht? So, als ob ich Angst hätte, ihn zu verlieren, wenn er New York verlässt. So, als ob ich ihm folgen und auf ihn aufpassen müsste, damit er mich nicht betrügt.

Leider kommt das der Wahrheit ziemlich nahe.

Das mag daran liegen, dass ich ganz tief im Unterbewusstsein vermute, er hat mich bereits betrogen. Das hat nichts damit zu tun, wie er sich verhält oder was er sagt, es ist nur ein Gefühl, das mich manchmal überkommt. Mal mehr, mal weniger, also bilde ich es mir vielleicht auch einfach nur ein. Wie Raphael es immer ausdrückt, bin ich nicht gerade die Königin des Selbstbewusstseins.

Ich beobachte, wie Will Jeans, ein dickes Navy-Sweatshirt und Turnschuhe anzieht. Dann kämmt er ordentlich sein Haar und wendet sich mir zu.

„Fertig?“

Ich nicke, werfe die Zeitschrift auf den Boden und schnappe meinen Fleece-Pullover und die schwarze Tasche.

Während wir das Apartment verlassen greife ich nach Wills Hand. Er kann seine Zuneigung nicht sehr offen zeigen – er behauptet, in seiner Familie gehe es eher kühl zu. Da meine Eltern so ziemlich jeden in den Arm nehmen, der ihren Weg kreuzt, tendiere ich dazu, viel verschmuster zu sein, als ich vermutlich sollte. Doch Will ist inzwischen daran gewöhnt und drückt meine Hand ganz kurz, bevor er sie loslässt, um auf den Knopf des Fahrstuhls zu drücken – was er problemlos mit seiner freien Hand hätte tun können, aber vielleicht suche ich ja nur etwas, worüber ich mich ärgern kann.

In Wahrheit wünsche ich mir, dass Will genauso verrückt nach mir ist wie ich nach ihm. Und manchmal glaube ich sogar, dass es so ist – er weiß nur nicht, wie er es zeigen soll.

Zum Beispiel gab es mal eine Zeit, vor ein paar Jahren, wo er mich meine Liebe genannt hat.

Ui.

Wissen Sie, was ich meine? Er nannte mich meine Liebe, anstatt Schatz, Liebling oder Baby oder etwas in der Art zu sagen. Vielleicht meinte er es ja gut, aber es störte mich, weil für mein Empfinden ältliche Lehrerinnen ihre Lieblingsschülerinnen so nennen. Ja, meine Liebe, du darfst auf die Toilette gehen, aber sei rechtzeitig für den Test zurück.

Es ist nicht im Geringsten liebevoll oder romantisch, zudem klang es so gekünstelt. Ich zuckte jedes Mal zusammen, wenn er es sagte, vor allem in der Öffentlichkeit, und ich hätte ihn am liebsten aufgefordert, es zu unterlassen. Schließlich hörte er von selbst damit auf. Vielleicht war ihm aufgefallen, dass ich ihn niemals mein Lieber nannte, oder vielleicht kam es ihm genauso unnatürlich vor wie mir.

Doch sobald er damit aufhörte, begann ich es natürlich zu vermissen. Es war wenigstens etwas gewesen.

Ich wünsche mir, dass er sich einen anderen Kosenamen für mich ausdenkt, doch ich weiß nicht, wie ich das Thema ansprechen soll. Ich kann doch nicht einfach damit herausplatzen: „Weißt du, was mich wirklich glücklich machen würde? Wenn du mich Schnuckel oder Schätzchen nennen würdest.“

Was mich in Wirklichkeit auch gar nicht glücklich machen würde. Aber Sie wissen, was ich meine. Ich glaube, ich sehne mich einfach nach mehr, als wir haben. Und jetzt, wo Will fortgehen will, spüre ich das dringende Bedürfnis, unsere Beziehung zu festigen.

Ich vermute, drei Jahre zusammen zu sein, ist schon ziemlich gefestigt. Doch ich bin bereit für mehr. Ich kann nichts dagegen tun.

Als Will einen Mitbewohner suchte und eine Anzeige in der Village Voice aufgab, war ich tief verletzt. Ich hatte gehofft, dass er darüber nachdenken würde, mit mir zusammenzuziehen. Nach viel gutem Zureden von Kate und Raphael hatte ich sogar eines Abends all meinen Mut zusammen genommen und beschlossen, das Thema anzuschneiden – aber bevor ich noch den Mund öffnen konnte, erzählte er mir von Nerissa.

Also, lassen Sie uns mal kurz einen Schritt zurücktreten und die Situation, wie sie sich momentan darstellt, neutral bewerten.

Ein gut aussehender, muskulöser, beziehungsunfähiger Schauspieler, der dabei ist, die Stadt zu verlassen.

Eine übergewichtige, unsichere, beziehungsbesessene Sekretärin, die zurückgelassen wird.

Ich habe dabei einfach kein gutes Gefühl.

Aber das hält mich nicht davon ab, im Coffee-Shop an der Ecke von Wills Gebäude den Cheeseburger mit Speck und Zwiebelringen zu bestellen.

Und es gibt mir nicht den Mut, ihn zu fragen, ob ich ihn begleiten darf.

3. KAPITEL

Raphael lädt jedes Jahr zu einer rauschenden Geburtstagsfeier ein.

Er organisiert immer alles selbst und feiert in seinem Apartment ganz im Westen Manhattans. Ein Immobilienmakler oder ein Optimist oder ein blinder Schwachkopf würde es möglicherweise ein Loft in einer ausgebauten Fabrikhalle nennen, aber tatsächlich ist an diesem Ort überhaupt nichts ausgebaut. Es sieht noch immer wie eine Fabrikhalle aus, ein höhlenartiger, feuchter, praktisch fensterloser, praktisch unmöblierter Raum, den nicht einmal die Superhausfrau Martha Stewart, bewaffnet mit Klebepistole und meterweise Chintz und persischen Tapeten, in etwas auch nur entfernt Wohnliches hätte verwandeln können.

Aber er hat eine geräumige Behausung, und in Manhattan ist es ungeheuer schwierig, an eine geräumige Behausung heranzukommen. Raphael jedenfalls nutzt seine sehr sinnvoll; er lädt ständig jeden, den er kennt, zu seinen Geburtstagspartys ein, und fordert sie auf, jeden, den sie kennen, mitzubringen.

Laut Kate, die Raphael ein Jahr länger kennt als ich und deshalb auch schon eine Party mehr erlebt hat als ich, bestehen die Gäste üblicherweise aus unglaublich gut aussehenden, trendigen, schwulen Männern und ihren unglaublich gut aussehenden, trendigen, heterosexuellen Freundinnen.

Weil dieses Jahr ein runder Geburtstag für Raphael ansteht, werden sogar noch viel mehr Gäste als üblich erwartet, also noch besser aussehende, noch trendigere Leute als sonst.

Raphael hat mir erklärt, dass es immer ein Motto gibt.

Letztes Jahr war „Dschungel“ das Thema. Muskulöse Männer in Lendenschurz und Stoffen mit Tierdrucken.

Das Jahr davor war es eine „Strandparty“. Muskulöse Männer in Badehosen.

Dieses Jahr heißt das Motto „Inselleben“.

Haben Sie die Tendenz erkannt? Raphaels Motiv ist offensichtlich, für ein Minimum an Bekleidung, aber dafür ein Maximum an Alkoholkonsum durch hübsche, fruchtige Drinks zu sorgen.

Dieses Jahr hat er Plastik-Palmen gemietet. Er wollte auch brennende Fackeln haben, aber das konnte ich ihm ausreden. Sein Freund Thomas, der Bühnenbildner für Broadway-Shows ist, hat aus glitschigem Stoff einen schimmernden blauen Wasserfall und eine Lagune kreiert. Eisgekühlte Getränke werden in unechten Kokosnussschalen gereicht.

Ich komme mit Kate im Schlepptau fast zwei Stunden zu spät. Sie ist schuld an unserer Verspätung. Sie ist kurz vor Beginn der Party in einen Kosmetiksalon gegangen, um sich die Oberlippenhärchen mit Wachs entfernen zu lassen, und wir warteten zwei Stunden darauf, dass die fleckige Schwellung verschwindet.

Als wir jetzt bei Raphaels Party einlaufen, die bereits in vollem Gange ist, zerrt sie an meinem Arm. „Bist du sicher, dass ich okay aussehe?“

Um ehrlich zu sein, sieht sie nicht okay aus. Wegen des Insel-Mottos könnte man fast meinen, sie habe sich eine Art hawaiianischen Schnurrbart angeklebt; ihre Bemühungen, die Schwellung mit pfannkuchendicken Schichten Make-up zu verdecken, sind völlig sinnlos gewesen. Das Licht in ihrem Apartment war aber so dämmrig, dass ich erst in der U-Bahn bemerkt habe, wie sehr man es sieht.

„Du siehst okay aus“, lüge ich.

Sie hält eine Hand ans Ohr. „Was hast du gesagt?“

„Du siehst okay aus“, schreie ich, um mich über die brüllende Musik und das Stimmengewirr hinweg verständlich zu machen. „Ich kann nur nicht glauben, dass du bis kurz vor der Party gewartet hast, um dir mit Wachs die Haare entfernen zu lassen. Warum hast du das nicht früher am Tag gemacht oder gestern? Du weißt doch, wie heftig du auf das Wachs reagierst.“

„Ich habe vorher nicht bemerkt, dass mein Oberlippenbart wieder zu sehen war“, schreit Kate zurück. „Ich meine, was hätte ich denn deiner Meinung nach tun sollen, hätte ich mit Schnurrbart hier auftauchen sollen? Ich kann nicht glauben, dass du mich auf die Stoppel nicht vorher aufmerksam gemacht hast!“

„Mir ist das nicht aufgefallen, Kate. Ich schätze, ich war zu sehr mit meinem eigenen Trauma beschäftigt.“

„Wie schlimm sehe ich aus?“ Sie geht ein paar Schritte auf den Fernseher zu und streckt sich, in der Hoffnung, einen Blick auf ihr Spiegelbild auf dem dunklen Schirm werfen zu können.

„Tracey!“ Raphael materialisiert sich mit einem knallbunten, schirmchenbedeckten Erdbeer-Daiquiri in der Hand und gibt mir einen dicken Kuss.

Er ist ein schöner Mann, mit seinem tiefschwarzen Haar, der mokkafarbenen Haut und den längsten Wimpern, die ich je gesehen habe. Manchmal wird er mit Ricky Martin verwechselt, und er lässt sich das gerne gefallen, schreibt Autogramme und erzählt von den guten alten Tagen mit der puertoricanischen Boyband Menudo.

„Alles Gute zum Geburtstag, Süßer“, sage ich und drücke ihn.

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