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Architektur des Grauens - zwei Thriller von Anne Stuart

MITTERNACHTSSCHATTEN

Ein geheimnisvoller Doppelselbstmord überschattet das Leben der jungen Architektin Jillian Meyer. Als jedoch die ganze Wahrheit ans Licht kommt, muss sie um ihr Leben fürchten. Mutig stellt sich die junge Architektin Jillian ihrem skrupellosen Vater Jackson Meyer entgegen. Er will so schnell wie möglich das Land verlassen, da ihm die Polizei auf den Fersen ist. Und sein Mitarbeiter Zacharias Coltrane soll ihm dabei helfen, Jillian und ihre Geschwister auszuschalten, damit sie ihm nicht in die Quere kommen können. Doch Coltrane verfolgt einen ganz anderen Plan. Er hat mit Jackson noch eine alte Rechnung zu begleichen. ...

DAS HAUS DER TOTEN MÄDCHEN

Ein packender Thriller und eine fesselnde Liebesgeschichte im grünen Vermont - doch die vermeintliche Idylle ist trügerisch: Einst wurden hier Mädchen grausam ermordet. Ein Mann wurde gefasst und für die Tat verurteilt. Jetzt ist er wieder frei. Doch ist Thomas Griffin überhaupt der Schuldige? Er kann sich nicht erinnern. Unter falschem Namen kehrt er zurück, um die Wahrheit aufzudecken und Licht in das Dunkel seiner Erinnerung zu bringen.


  • Erscheinungstag: 12.11.2015
  • Aus der Serie: E Bundle
  • Seitenanzahl: 384
  • ISBN/Artikelnummer: 9783955765118
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Anne Stuart

Architektur des Grauens - zwei Thriller von Anne Stuart

Anne Stuart

Mitternachtsschatten

Roman

Aus dem Amerikanischen von
Katja Henkel

Image

MIRA® TASCHENBUCH







MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Cora Verlag GmbH & Co. KG,

Axel-Springer-Platz 1, 20350 Hamburg

Deutsche Taschenbucherstausgabe

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

Shadows At Sunset

Copyright © 2000 by Anne Kristine Stuart Ohlrogge

erschienen bei: Mira Books, Toronto

Published by arrangement with

Harlequin Enterprises II B.V., Amsterdam

Konzeption/Reihengestaltung: fredeboldpartner.network, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Titelabbildung: by Corbis, Düsseldorf

Autorenfoto: © by Harlequin Enterprise S.A., Schweiz

Satz: Berger Grafikpartner, Köln

ISBN 978-3-95576-277-3

www.mira-taschenbuch.de

eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

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PROLOG

Aus: Die Spuk-Häuser in Hollywood, Hartsfield Books, 1974

Eines der interessantesten Häuser Hollywoods ist die berühmte Casa de las Sombras – das Haus der Schatten. 1928 von den Green-Brüdern erbaut, ist La Casa ein hervorragendes Beispiel des maurischen Kolonial-Stils, allerdings ist das Anwesen auf dem ausgedehnten Gelände baufällig und muss vermutlich bald abgerissen werden.

La Casa de las Sombras war in den frühen fünfziger Jahren Schauplatz eines berüchtigten Mordes und Selbstmordes. Die verblühende Filmdiva Brenda de Lorillard erschoss hier zuerst ihren verheirateten Liebhaber, den Filmproduzenten Ted Hughes, und danach sich selbst. Die beiden Leichen fand man im Schlafzimmer. In den darauf folgenden Jahren erschienen die beiden immer wieder als Geister. Manchmal stritten sie sich, manchmal tanzten sie im Mondschein auf der Terrasse, und hin und wieder, zum Entsetzen der Grundstücksmakler, wurden sie auch beim Liebesspiel auf der großen Festtafel erwischt. Das Rätsel um ihren Tod ist bis heute nicht gelöst.

Das Haus wurde schließlich von Meyer Enterprises übernommen und stand bis Mitte der sechziger Jahre leer, bis stadtbekannte junge Schauspieler und Musiker dort eine Art Kommune eröffneten und dem ehemaligen Glanz des Hauses schwer zusetzten. In den letzten Jahren versuchten die jetzigen Besitzer mehrfach, das große alte Haus zu restaurieren. Doch seine Tage sind gezählt, und vermutlich wird es ihm ergehen wie vielen historischen Gebäuden in Hollywood. Bleibt nur die Frage, wohin die beiden Geister ziehen, sollte das imposante Anwesen eines Tages abgerissen werden.

Brenda de Lorillard, Star auf Bühnen und Leinwänden, in Boulevardzeitungen und Albträumen, räkelte ihren schlanken Körper wie eine Katze und murmelte: „Es ist schon über fünfzehn Jahre her, dass dieses fürchterliche Buch veröffentlicht wurde, Liebling. Ich glaube, man hat uns völlig vergessen.“

Ted ließ seine Zeitung sinken und schaute sie durch seine Brille aus Drahtgestell an. Als sie ihn zum ersten Mal damit sah, hatte sie ihn gnadenlos aufgezogen. Wofür um Gottes willen brauchte ein Geist eine Brille? Sie waren tot, du liebe Zeit! Wie also sollte es möglich sein, dass seine Sehschärfe sich verschlechterte? Und wo hatte er diese Brille überhaupt gefunden?

Doch er hatte sie nur wie üblich nachsichtig angelächelt, und wie üblich war Brenda dahingeschmolzen. Genau so wie damals, als sie ihn zum ersten Mal bei Dreharbeiten gesehen hatte. Er war nur ein kleiner Regisseur gewesen und sie ein großer Star. Trotzdem liebte sie ihn vom ersten Augenblick an, ob das nun vernünftig war oder nicht. Sie hatte sich fast ihr ganzes Leben lang, also dreiunddreißig … ähm … achtundzwanzig Jahre lang, ausschließlich auf ihre Karriere konzentriert und setzte sie mit einem Mal wegen einer verrückten Liebe aufs Spiel. Doch diese Liebe überdauerte alles: ihren beruflichen Niedergang, die Zeit und sogar den Tod.

„Mach dir keine Sorgen, Liebes“, sagte er und nahm einen Schluck Kaffee. „Das Haus steht noch, wenn auch mehr schlecht als recht, und die Touristenbusse halten sogar gelegentlich noch bei uns an.“

„Ja, aber nur bei der Tour, Skandal-Häuser‘“, meinte Brenda. „Das sind die gleichen Leute, die Valentinos Grab und den Ort, wo die Schwarze Dahlie gefunden wurde, besuchen. Eine so herrliche Villa wie La Casa de las Sombras hat das einfach nicht verdient!“ Sie schniefte. „Und uns beiden schmeichelt das auch nicht sonderlich. Ich hasse es, dass man sich an uns nur wegen unseres Todes erinnert.“

Ted legte seine Brille neben die Zeitung, drehte sich zu Brenda um und schaute sie mit seinen wundervollen grauen Augen an. Es las die Los Angeles Time vom 27. Oktober 1951, erschienen also einen Tag, bevor sie gestorben waren. Ted las sie jeden Morgen aufs Neue und so aufmerksam, als habe er sie noch nie zuvor gesehen. Und Brenda glaubte langsam, dass dem tatsächlich so war.

„Schätzchen, jeder, der einen Film von dir gesehen hat, wird sich immer an dich und deine Schönheit erinnern. Vor allem, wenn es ein Film war, bei dem ich Regie geführt habe“, fügte er mit einem schelmischen Grinsen hinzu. „Ars longa, vita brevis, Skandale verblassen, Kunst hat Bestand, das weißt du doch.“

„Ich will keine Werbeslogans hören“, sagte sie schnippisch. „Schließlich habe ich nie für MGM gearbeitet, und darüber bin ich froh.“

„Oh, dieser Spruch ist ein klein wenig älter …“

„Und sei nicht so verdammt eingebildet, nur weil du Latein gelernt hast“, unterbrach sie ihn und starrte auf ihre Fingernägel, die sie jeden Tag ein wenig feilte, weil sie tatsächlich immer noch eine kleinste Unebenheit fand. Wie herrlich es war, niemals älter zu werden! Zwar konnte sie sich in den Spiegeln, die in jedem Zimmer des La Casa hingen, nicht sehen, aber sie erkannte an Teds Blicken, dass sie so schön war wie eh und je. Mehr brauchte sie nicht.

„Sie werden es nicht abreißen“, sagte er geduldig. „Dieses Haus hat die Sechziger und diese abstoßenden Langhaarigen, die hier kampiert haben, überlebt. Es hat Jahre der Vernachlässigung überstanden – und jetzt haben wir wenigstens jemanden, der das Haus genauso liebt wie wir. Sie wird schon darauf aufpassen. Und auf uns.“

„Aber wenn nicht?“ rief Brenda. „Was, wenn es abgerissen wird und ein neues Geschäftshaus gebaut wird? Dann müssen wir heimatlos herumwandern, verloren …“

„Schätzchen“, murmelte er mit seiner warmen und tröstenden Stimme, „wir schaffen das schon. Schaffen wir es nicht immer, wir beide zusammen?“ Sie schmiegte sich in seine Arme und fand den Frieden, der stets dort auf sie wartete, und sah ihn an, so liebevoll, so süß, so reizend, so endgültig.

„Für immer“, sagte sie mit zitternder Stimme. Sie presste ihre karminroten Lippen auf seinen Mund, und sie begannen, sich in Luft aufzulösen.

1. KAPITEL

Immer wenn Jilly Meyer sich dem Büro ihres Vaters näherte, entspann sie in Gedanken ganz absurde Fantasien. Als sie das letzte Mal hier gewesen war, hatte sie sich nicht gegen das Bild einer französischen Edeldame wehren können, die auf einem Karren zu ihrer Hinrichtung gefahren wird. Das tatsächliche Treffen mit ihrem Vater entwickelte sich dann fast ebenso schlimm, woraufhin sie in den folgenden eineinhalb Jahren kaum eine Hand voll Worte miteinander gewechselt hatten.

Nun war sie wieder hier, nur fühlte sie sich diesmal nicht wie eine Märtyrerin, die ihr Schicksal eben hinnimmt. Diesmal war sie eine Kriegerin und bereit, gegen das Böse zu kämpfen. Sie musste nur noch Charon, den Fährmann der Unterwelt, bitten, sie über den Fluss Styx zu bringen, damit sie Satan selbst treffen konnte.

Natürlich ist es nicht nett, den eigenen Vater mit dem Teufel zu vergleichen, dachte sie zerstreut. Und die streng blickende Mrs. Afton hatte es auch nicht verdient, Charon genannt zu werden, auch wenn sie ihren Arbeitgeber mit einem ähnlich besessenen Eifer abschirmte.

„Ihr Vater ist ein sehr beschäftigter Mann, Jilly“, sagte Mrs. Afton in dem eisigen Ton, der Jilly als Kind in Angst und Schrecken versetzt hatte. „Sie sollten es eigentlich besser wissen und nicht einfach unangemeldet hier auftauchen. Sie können nun wirklich nicht erwarten, dass er für Sie alles stehen und liegen lässt. Aber ich schaue mal in seinen Kalender, ob ich sie irgendwann dazwischenschieben kann …“

„Ich rühre mich nicht von der Stelle, bevor ich ihn nicht gesehen habe“, sagte Jilly, und ihre Stimme zitterte nicht, welch ein Segen! Mrs. Afton entmutigte sie zwar wie immer, doch ihr Vater hatte nun endgültig keine Macht mehr über sie. Grundsätzlich ging Jilly allerdings Auseinandersetzungen lieber aus dem Weg, und sie wusste, dass jetzt eine ziemlich große auf sie zukommen würde.

Mrs. Afton presste ihre dünne Lippen missbilligend zusammen, doch Jilly rührte sich nicht vom Fleck. Sie war noch drei Türen vom Heiligtum entfernt, aber diese Türen waren elektronisch gesichert. Wenn sie also versuchen würde, einfach durchzumarschieren, würde das peinlich enden.

„Sie können im Empfangszimmer warten“, sagte Mrs. Afton endlich, ohne das Gefühl zu vermitteln, dass sie kapituliert hatte. „Ich werde mal sehen, ob er einen Augenblick Zeit für Sie hat, aber ehrlich gesagt glaube ich das nicht.“

Die, die ihr eintretet, verbannt alle Hoffnung, dachte Jilly und sagte: „Es macht mir nichts aus zu warten.“

Immerhin war es schon nach drei Uhr, und seit ihr Vater mit Melba verheiratet war, arbeitete er nicht mehr ganz so besessen wie früher. Jilly wusste nicht, ob Jackson Meyer aus Eifersucht oder einfach Bequemlichkeit seine dritte Frau nicht genauso verließ wie seine ersten beiden, und sie wollte es auch gar nicht wissen. Offenbar war der alte Bastard einfach ein wenig ruhiger geworden, hoffentlich ruhig genug, um ihr, Jilly, das zu geben, was sie so verzweifelt wollte.

In dem in Grau gehaltenen Wartezimmer lag eine geschmackvolle Auswahl an Zeitschriften, die sich überwiegend mit dem Zigarrenrauchen beschäftigten, was Jilly nicht sonderlich faszinierte. Die Ledercouch war bequem, und durch das Fenster hatte man einen schönen Blick über Los Angeles. An einem klaren Tag hätte sie die Hollywood Hills sehen können, vielleicht sogar die Turmspitzen der Casa de las Sombras, dieser ehemals herrschaftlichen Villa, in der sie mit ihren Geschwistern lebte. Doch Smog und Herbstnebel verwehrten ihr die Sicht auf Los Angeles, und sie fühlte sich wie gefangen in dem leblosen, gut gekühlten Glaskasten.

Sie hatte sich passend für eine Auseinandersetzung mit ihrem Vater gekleidet, sie trug ein schwarzes Leinenkostüm mit ein paar hellbraunen Akzenten. Ihr Vater schätzte es, wenn Frauen sich gut kleideten, und wenigstens einmal wollte sie seine Regeln einhalten. Das, was sie dafür bekäme, war jeden Einsatz wert.

Da er sie so lange warten ließ, würde er sich jedoch mit ihren zerknitterten Klamotten abfinden und ihr zuhören müssen, trotz der Knitter, trotz allem.

Sie kickte die Schuhe von ihren Füßen, kuschelte sich in die Ecke des grauen Ledersofas und zog ihren kurzen Rock so weit herunter, wie es nur ging. Dann kramte sie in ihrer Tasche nach der Puderdose, bis ihr einfiel, dass das die Handtasche war, die Melba ihr letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt hatte, und nicht die, die sie üblicherweise benutzte. Sie hatte nur ihre Geldbörse und ihren Ausweis eingesteckt, keinen Puder, kein Make-up, nur einen kleinen Kamm, mit dem sie bei ihrem dichten Haar nichts würde ausrichten können. Sie schloss die Tasche wieder, lehnte sich zurück, seufzte und versuchte, sich zu entspannen.

Es war lächerlich. Sie war fast dreißig, eine starke, unabhängige und gebildete Frau, und sie hatte noch immer Angst vor ihrem Vater. Während der letzten beiden Jahrzehnte hatte sie alles Mögliche ausprobiert, von Meditation bis hin zu Beruhigungsmitteln, Psychotherapie und Selbstverteidigungs-Training. Und jedes Mal, wenn sie geglaubt hatte, ihre Angst besiegt zu haben, präsentierte Jackson Meyer sie ihr auf einem Silbertablett. Und nun war sie hier, um wieder eine Portion zu nehmen.

Co-Abhängigkeit war ein Fluch. Für sie wäre es einigermaßen leicht gewesen, sich dem Einfluss ihres Vaters zu entziehen. Er interessierte sich nicht für sie, wahrscheinlich bemerkte er es nicht einmal, wenn sie sich jahrelang nicht sahen. Ihr Vater hatte sich entschieden und lebte sein Leben, wie es ihm gefiel. Sie konnte ihm nicht helfen, selbst wenn er das gewollt hätte.

Ganz anders sah es bei ihren Geschwistern aus. Rachel-Ann war nicht Jacksons richtige Tochter, er hatte sie adoptiert. Und sie war vermutlich sowieso nicht mehr zu retten, alles, was Jilly ihr noch geben konnte, war Liebe. Und Dean? Seinetwegen war sie hergekommen, hatte sie den Löwenkäfig betreten, um zu kämpfen. Für ihre Geschwister war sie bereit, alles zu tun.

Dean saß schmollend zu Hause an seinem geliebten Computer. Wieder einmal hatte Jackson es geschafft, seinen Sohn herabzusetzen und zu beleidigen, wie er es seit ewigen Zeiten schon tat, wieder einmal hatte Dean es hingenommen und sich nicht gewehrt.

Jackson hatte Dean als Leiter der Rechtsabteilung durch einen Mann namens Coltrane ersetzt. Offenbar vertraute er einem Fremden mehr als seinem eigenen Sohn. Dean hatte eine Gehaltserhöhung bekommen und keine Arbeit, womit sein unbarmherziger Vater ihn völlig gedemütigt hatte.

Jilly wollte anstelle ihres Bruders kämpfen. Sie konnte nicht einfach zusehen, wie er sich hinter seinem Computer verschanzte, sich völlig aufgab und seinen Platz einem Eindringling überließ.

Wenn sie objektiv war, musste sie zugeben, dass Dean nur zu gerne das Opfer spielte. Er hatte niemals versucht, einen anderen Job zu bekommen. Gleich nachdem er sein Juraexamen bestanden hatte, nahm er den hoch bezahlten Job in der Firma seines Vaters an. Er hatte sich arrangiert, ertrug Jacksons Beschimpfungen, war ein absoluter Jasager und hoffte noch immer verzweifelt auf die Anerkennung seines Vaters.

Auch diesmal hatte er seinen Vater nicht zur Rede gestellt, sondern war nach Hause geeilt, hatte sich betrunken und an der Schulter seiner Schwester ausgeheult. Deswegen war sie hier. Sie wollte ihrem Bruder helfen. Auch wenn sie wusste, dass ihre Chancen nicht besser standen als die eines Schneeballs in L.A., musste sie es wenigstens versuchen.

Jilly legte den Kopf zurück und schloss die Augen. Sie wünschte, sie hätte sich die Fingernägel maniküren lassen. Ihre Großmutter hatte immer gesagt, dass keine Frau der Welt sich mit gepflegten Fingernägeln jemals unsicher fühlen würde. Zwar zweifelte sie daran, dass künstliche Nägel ihr im Augenblick helfen könnten, aber einen Versuch wäre es wert gewesen.

Vielleicht sollte sie den Rat des Drachens Mrs. Afton annehmen und ganz offiziell ein Treffen mit ihrem Vater vereinbaren. Dann könnte sie ein anderes Mal mit manikürten Händen und vielleicht sogar mit einem anständigen Haarschnitt zurückkommen. Jackson Meyer mochte ihr langes Haar nicht. Sie könnte es ja mit einem kürzeren und fransigen Schnitt versuchen, mit einer Frisur, wie Meg Ryan sie trug. Das Problem war nur, dass sie überhaupt nicht der süße und freche Typ war. Sie war groß und kräftig, hatte unmodern langes dunkelbraunes Haar, und egal, was sie anstellte, sie würde sich niemals in eine anbetungswürdige, feminine Frau verwandeln. Auch nicht mit einer Maniküre.

Tief atmen, befahl sie sich selbst. Beruhige dich, lass nicht zu, dass du seinetwegen so nervös bist. Stell dir vor, wie du ganz langsam eine Treppe hinuntersteigst und wie sich dein Körper entspannt. Zehn, neun, acht …

Irgendjemand beobachtete sie. Während ihrer Meditation war sie wohl eingenickt, doch jetzt spürte Jilly, wie sie angestarrt wurde. Wenn sie die Augen nicht aufmachte, würde er vielleicht einfach wieder verschwinden. Ihr Vater konnte es ja nicht sein, er würde seinen Tagesablauf von ihr nicht durcheinander bringen lassen. Mrs. Afton war es auch nicht, denn die wäre bestimmt durchs Zimmer gelaufen und hätte sie wachgerüttelt.

Andererseits, dachte Jilly, kann man sein Leben nicht in den Griff bekommen, wenn man sich hinter geschlossenen Augen versteckt. Sie blinzelte und wunderte sich, wie dämmrig es in dem Raum inzwischen geworden war. Es musste schon spät sein. Der Himmel, den sie durch das große Fenster sehen konnte, färbte sich bereits dunkel, und der Mann, der sie betrachtete, stand in Schatten gehüllt in der Tür.

In dem Geschäftsgebäude war es still geworden, sie war alleine mit einem Fremden. Grund genug, sich jetzt eigentlich zu Tode zu fürchten. Doch sie war ja eine vernünftige Frau.

„Sind Sie dort festgewachsen?“ fragte sie scharf, zwang sich, nicht zu schnell vom Sofa aufzustehen, und widerstand dem Impuls, den kurzen Rock über ihre Schenkel zu ziehen, denn dadurch würde sie nur seine Aufmerksamkeit darauf lenken.

Er schaltete das Licht an, und sie konnte sich einen Moment lang nicht orientieren.

„Es tut mir Leid, dass Sie so lange warten mussten. Mrs. Afton hat mir einen Zettel auf den Tisch gelegt, auf dem steht, dass Sie mit mir sprechen wollen. Aber ich habe ihn eben erst gesehen.“

„Auf Sie habe ich nicht gewartet. Ich weiß ja nicht einmal, wer Sie sind. Ich bin hier, um mit Jackson zu sprechen.“

Jetzt trat er in den Raum, sein Lächeln war herablassend und charmant – und völlig unecht.

„Ihr Vater hat mich gebeten, mich um Sie zu kümmern, Jillian. Mein Name ist …“

„Coltrane“, fügte sie hinzu. „Das hätte ich sofort wissen müssen.“

„Wieso?“

„Mein Bruder hat mir von Ihnen erzählt.“

„Nicht viel Schmeichelhaftes, schätze ich“, sagte er leichthin. Seine Stimme klang nicht so sanft wie die der Kalifornier, doch sie konnte seinen Akzent nicht deuten, deshalb vermutete sie, dass er aus dem Mittleren Westen kam. Für sie war das der einzige Hinweis darauf, dass er nicht dem direkten Umfeld ihres Vaters entstammte.

„Kommt ganz darauf an, was sie unter schmeichelhaft verstehen“, sagte Jilly und überlegte, wie sie ganz unauffällig in ihre Schuhe schlüpfen konnte. Er war sowieso schon ziemlich groß, da konnte sie ihm doch nicht auch noch ohne Absätze gegenübertreten.

Wie hatte Dean ihn beschrieben? Als einen hübschen Jungen mit der Seele einer Schlange? Das erschien ihr passend. Er war wirklich attraktiv, ohne den femininen Zug, der meist mit so außergewöhnlich gutem Aussehen einherging. Sie hatte keine Ahnung, ob er homosexuell war oder nicht, davon abgesehen, dass sie das auch gar nicht interessierte. Denn unabhängig von seinen Neigungen war er auf jeden Fall tabu für sie. Wie jeder, der mit ihrem Vater zu tun hatte.

Aber es war eine Freude, ihn anzusehen. Alles an ihm war perfekt: die sonnengebleichten Haare, der Anzug von Armani und das am Kragen geöffnete Hemd aus teurer ägyptischer Baumwolle, das seinen gebräunten Hals zeigte. Er hatte den lang gestreckten, muskulösen Körper eines Läufers. Seine Augen lagen unter schweren Lidern, und sie konnte weder ihre Farbe noch ihren Ausdruck erkennen. Doch sie war überzeugt davon, dass sie hellblau waren und neugierig schauten.

Sie bückte sich und zog ihre Schuhe an, ohne sich länger darum zu kümmern, dass er sie beobachtete. Es war ihr auch egal, dass sie ihm dabei einen tiefen Einblick in ihr Dekolletee gewährte. Er machte nicht gerade den Eindruck, als könne ihn ein tiefer Ausschnitt aus der Fassung bringen.

„Ich weiß es zu schätzen, dass Sie sich doch noch Zeit für mich genommen haben“, sagte sie, „aber ich wollte mit meinem Vater sprechen und nicht mit einem seiner Günstlinge.“

„Einen Günstling hat man mich schon lange nicht mehr genannt“, sagte er gedehnt.

Sie richtete sich zu ihrer vollen Größe auf. Noch immer war sie ein ganzes Stück kleiner als er, doch mit den hochhackigen Schuhen fühlte sie sich weniger verletzlich. „Wo ist mein Vater?“

„Ich fürchte, er ist schon weg.“

„Na gut, dann fahre ich eben zu ihm nach Hause …“

„Er ist nicht in der Stadt. Er und Melba machen einen Kurzurlaub in Mexiko. Es tut mir sehr Leid, aber ich kann ihn dort nicht erreichen.“

„Oh ja, ich sehe, wie Leid es Ihnen tut“, murrte Jilly, und es war ihr egal, wie unhöflich sie war.

Coltrane schien nicht sonderlich beeindruckt zu sein, sein Lächeln war kühl und unverbindlich.

„Ich will Ihnen nur helfen, verstehen Sie? Wenn Sie irgendein juristisches Problem haben, dann werde ich mich sehr gerne darum kümmern. Oder gibt es Schwierigkeiten mit Ihrem Exmann? Dann kann unsere Rechtsabteilung …“

„Kann sich Ihre Rechtsabteilung auch um einen Eindringling kümmern, der meinem Bruder den Job weggenommen hat?“

Jetzt öffnete er seine Augen weit, und Jilly war überrascht, dass sie nicht blau, sondern smaragdgrün waren. So verwirrend grün, dass es sich dabei nur um farbige Kontaktlinsen handeln konnte, und sie blickten nicht neugierig, sondern abschätzend.

„Hat Ihnen Ihr Bruder das erzählt? Dass ich ihm den Job weggenommen habe?“ Die Vorstellung schien ihn zu belustigen, und Jilly wurde noch wütender.

„Nicht nur seinen Job. Auch seinen Vater“, sagte sie, und ihre Stimme war genauso kalt wie seine.

„Seinen Vater? Nicht Ihren? Jackson Meyer ist kein rührseliger Mensch. Ich glaube, dass er sich weder für mich noch für Ihren Bruder besonders interessiert. Er will nur, dass die Arbeit gut gemacht wird. Und das tue ich.“

„Tatsächlich“, sagte sie jetzt ganz sanft. „Und was tun Sie sonst noch für ihn?“

„Ich morde für ihn, ich verstecke die Leichen, ich tue alles, worum er mich bittet“, antwortete Coltrane unbeeindruckt. „Haben Sie heute Abend schon etwas vor?“

„Das glaube ich Ihnen sofort“, murmelte Jilly, und dann erst registrierte sie seine Frage. „Was haben Sie gesagt?“

„Ich fragte, ob Sie heute Abend schon etwas vorhaben. Es ist nach sieben, und ich habe Hunger. Und Sie sehen so aus, als könnten Sie mich noch mindestens eine Stunde lang beschimpfen, weil ich angeblich das Leben ihres kleinen Bruders ruiniert habe. Wenn Sie mit mir Essen gehen, dann können Sie mich ganz genüsslich auseinandernehmen.“

„Ich habe keine Lust, mit Ihnen Essen zu gehen“, sagte sie verwirrt.

„Na gut, dann bestellen wir uns etwas. Ihr Vater hat einen Lieferservice, der Tag und Nacht bereitsteht.“

„Und außerdem ist er nicht mein kleiner Bruder. Er ist nur zwei Jahre jünger als ich“, fügte sie hinzu.

„Vertrauen Sie mir“, sagte Coltrane, „er ist ganz bestimmt Ihr kleiner Bruder.“ Sie konnte den spöttischen Unterton in seiner Stimme nicht überhören, und das machte sie nur noch wütender. Sie hatte versagt, ihr Vater war mal wieder nicht zu erreichen, wie üblich.

„Ich werde mit meinem Vater sprechen, wenn er zurück ist“, verkündete sie kühl und nahm ihre Handtasche. „Vielen Dank für Ihre Hilfe, Mr. Coltrane.“

„Coltrane reicht völlig“, sagte er, „und meine Hilfe war noch nicht ausreichend. Sie kommen hier nämlich ohne mich nicht raus.“

„Wie meinen Sie das?“

„Dieses Gebäude hat ein Hochsicherheits-System. Hier kommt nach 19 Uhr niemand rein oder raus ohne eine Codenummer. Jetzt ist es Viertel nach sieben, und ich vermute mal, dass Sie den Code nicht kennen, oder?“

„Nein.“

„Wo haben Sie geparkt? In der Tiefgarage, stimmts? Woanders hätten Sie keinen Parkplatz gefunden. Und dort werden Sie ohne einen Code ebenfalls nicht reinkommen. Wenn Sie also heute noch nach Hause wollen, dann brauchen Sie meine Hilfe.“

Jilly hätte das alles beinahe für einen bösartigen Plan der Vorsehung gehalten, doch dann fiel ihr ein, dass das Schicksal sich bestimmt nicht ausgerechnet für sie interessierte. Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen, während sie Coltrane anschaute und ihre Möglichkeiten abwog. Sie konnte Dean anrufen, aber er ging häufig einfach nicht ans Telefon. Vielleicht war er auch wieder betrunken, dann konnte er sowieso nicht mehr Auto fahren und sie abholen. Wo Rachel-Ann war, wusste sie nicht. Und außer der herrischen Mrs. Afton kannte sie keine Mitarbeiter von Meyer Enterprises, die ihr hätten helfen können.

„Ich würde gerne gehen“, sagte sie mit fester Stimme. „Jetzt.“

„Und Sie wollen, dass ich Ihnen helfe? Und sagen schön: ‚bitte‘?“

„Ja“, sagte sie und hoffte, dass es in der Hölle einen speziellen Ort für Männer wie ihn gab.

„Sehr gerne.“ Er knipste das Licht aus, und in der plötzlichen Dunkelheit wäre sie beinahe gegen ihn gestoßen, als sie aus der Tür eilen wollte. Instinktiv hatte sie gerade noch rechtzeitig gebremst, aber sie war ihm nahe genug gekommen, um den Stoff seines Jacketts und die Hitze seines Körpers zu spüren. Es machte sie nervös. Doch Jilly hatte schon vor langer Zeit gelernt, ihre Unsicherheit zu verstecken. Sie folgte ihm in vernünftigem Abstand, entschlossen, ihn akkurat einzuhalten.

Das hat Jackson ja mal wieder gut hingekriegt, dachte sie böse. Nicht nur, dass er seine Tochter einfach ignorierte, er schickte ihr auch noch den Feind, um sich um sie zu kümmern. Wäre sie nicht sowieso schon die ganze Zeit verärgert gewesen, dann wäre sie es spätestens jetzt.

Das Gebäude war völlig verlassen, was Jilly erstaunte. Jackson Meyer ermutigte nämlich seine Mitarbeiter, genauso lang und hart zu arbeiten wie er selbst. Sie folgte Coltrane vorbei an den aufgeräumten Schreibtischen und leeren Büros; keine Seele schien mehr in dem Haus zu sein.

Sie hatte nicht die geringste Ahnung, was die Angestellten hier tatsächlich zu tun hatten, und genauso wenig wusste sie, womit ihr Vater sein Geld verdiente. Ihr Großvater hatte Meyer Enterprises 1940 gegründet und war ins Immobiliengeschäft eingestiegen, indem er riesige Grundstücke, heruntergekommene Fabriken und verfallene Villen aufkaufte. Auch das Haus, in dem sie mit ihren beiden Geschwistern lebte, hatte er kurz vor seinem Tod in den frühen 60er Jahren erworben. Es war das einzige Gebäude, das nicht niedergerissen wurde, um Platz für ein äußerst gewinnbringendes Bürohochhaus zu schaffen, und solange sie dazu irgendetwas zu sagen hatte, würde das auch nicht geschehen.

Gott sei Dank konnte ihr Vater im Moment nicht über das Haus verfügen. Grund dafür war ein erbitterter Streit zwischen ihm und seiner Mutter. Julia Meyer hatte dafür gesorgt, dass die Casa de las Sombras ihren Enkeln Jilly, Dean und Rachel-Ann so lange gehörte, wie mindestens einer von ihnen dort lebte. Sobald jedoch der Letzte von ihnen ausgezogen war, würde es Jackson überschrieben und abgerissen werden.

Seit Jahren schon setzte er alles daran, sie aus dem Haus zu vertreiben. Er versuchte es mit Drohungen, Bestechungen und Wutausbrüchen, und Dean und Rachel-Ann hatten mehr als einmal geschwankt. Doch Jilly, die viel unnachgiebiger war als ihre Geschwister, hatte dafür gesorgt, dass sie nicht aufgaben.

Coltrane tippte ein paar Zahlen in eine Tastatur an der Wand ein, zu schnell, als dass Jilly sie sich hätte merken können, und hielt ihr dann die Tür auf. Sie ging, abermals zu dicht, an ihm vorbei und lächelte ihn kalt und herablassend an.

„Vielen Dank für Ihre Hilfe, doch ab jetzt komme ich alleine zurecht.“

„Ohne den Sicherheitscode können Sie den Aufzug nicht rufen“, sagte er. „Wir befinden uns im 31. Stockwerk, das ist ein verdammt langer Weg nach unten. Und wenn Sie schließlich unten ankommen, werden Sie feststellen, dass die Tür verschlossen ist, und Sie müssen die ganzen Treppen wieder hochsteigen. Ganz abgesehen von dem kleinen Garagen-Problem.“

„Ich habe mein Handy dabei, ich kann mir ein Taxi rufen.“

„Früher oder später werden Sie aber Ihr Auto hier rausholen müssen. Es sei denn, Sie wollen sich von Daddys Geld einfach ein neues kaufen.“

Seine offensichtliche Verachtung ließ sie zusammenzucken, und sie starrte ihn an.

„Offenbar wissen Sie nicht, dass ich nicht vom Geld meines Vaters lebe. Das wundert mich doch sehr. Vielleicht sind Sie in seine Angelegenheiten doch nicht so eingeweiht, wie Dean vermutet.“

Coltrane lächelte. „Sie haben die Wahl, Jilly. Sie können die Nacht damit verbringen, einunddreißig Stockwerke hoch und runter zu laufen, oder Sie können meine Hilfe annehmen.“

Im Moment schien es ihr tatsächlich angenehmer, im Treppenhaus eingesperrt zu sein als mit Coltrane in dem bronzefarbenen Aufzug im Art-déco-Stil, den Jackson in das Meyer-Gebäude hatte einbauen lassen. Doch das wollte sie ihm nicht verraten.

„Dann rufen Sie doch schon diesen Fahrstuhl“, sagte sie resigniert. Sie fühlte sich wieder wie auf dem Karren, der unerbittlich der Guillotine entgegenfuhr.

Coltrane gab schnell eine andere Zahlenkombination ein, und die Tür öffnete sich sofort. Sie hatte keine Ahnung, warum der Aufzug bereits auf der richtigen Etage war, aber sie wollte nicht nachfragen. Es war schon schwer genug, mit dem Widersacher ihres Bruders in ein und denselben Fahrstuhl zu steigen.

Jilly litt ein wenig unter Höhen- und Platzangst, aber auch unter Angst vor Männern wie Coltrane. Große, unglaublich attraktive, selbstsichere Männer, die genau wussten, wie beunruhigend sie wirkten. Es war eine raffiniert erotische Beunruhigung, also die schlimmste ihrer Art, und normalerweise war sie für so etwas unempfänglich. Trotzdem wäre sie lieber nicht mit ihm zusammen in den engen Fahrstuhl gestiegen.

Leider hatte sie keine Wahl. Er beobachtete sie, während er wartete, doch sie konnte den Ausdruck in seinen Augen nicht deuten. Schließlich trat sie, von Coltrane gefolgt, in den Aufzug, die Türen schlossen sich mit einem leisen Zischen, und Jilly wappnete sich, um ihrem Verhängnis sehenden Auges entgegenzutreten.

2. KAPITEL

Jackson Meyers Tochter hatte Angst vor ihm! Coltrane war fasziniert von dieser Entdeckung. Er wünschte, es gäbe einen Weg, den Aufzug anzuhalten, damit sie noch länger mit ihm in einem engen Raum eingesperrt war.

Er hatte sie beim Schlafen beobachtet, erstaunt darüber, dass sie ganz anders war, als er sie sich vorgestellt hatte. Er hielt nicht viel von Dean und hatte sich deshalb ein ganz bestimmtes Bild von dessen Geschwistern gemacht. Hinzu kam, was er über Rachel-Anns unersättlichen Appetit auf Drogen und Sex gehört hatte. Er war davon ausgegangen, dass Jillian ebenso genusssüchtig und selbstzerstörerisch veranlagt sein und ihrem Vater mehr ähneln würde.

Jilly Meyer war keine der typischen Blondinen, wie man sie überall in Kalifornien sah. Sie hatte eine braune Mähne, einen kräftigen Körper und endlos lange Beine. Sie war wahrlich keine zierliche Blume. Ihre körperliche Präsenz war aggressiv und erregend zugleich, selbst jetzt, als sie sich in die hinterste Ecke des Aufzugs presste.

Es überraschte ihn, dass sie klug genug war, Angst vor ihm zu haben, schließlich war er sehr gut darin, sich als lässiger, harmloser Südkalifornier auszugeben. Niemand hatte auch nur die geringste Ahnung, wie gefährlich er in Wirklichkeit sein konnte.

Ausgenommen Jilly Meyer, die aussah, als wünschte sie, dass der Boden sich vor ihr auftäte und sie verschlänge. Ihre Kleidung war zerknittert, ihr Haar zerzaust, und sie wirkte schläfrig, vorsichtig und feindselig zugleich. Das war wirklich eine unwiderstehliche Kombination.

Coltrane gab sich kurz der anschaulichen Fantasie hin, wie er den Notfallknopf drücken, sie gegen die Fahrstuhlwand pressen und ihren viel zu kurzen Rock hochschieben würde. Er stellte sich vor, wie sie ihre langen, starken Beine um seine Hüften schlingen und endlich aufhören würde, ihn so fragend anzuschauen.

Im Erdgeschoss öffnete sich die Fahrstuhltür mit einem leisen Zischen, und seine Fantasie löste sich auf – unerfüllt. Sie gingen zu der Tür, die zu den Garagen führte. Er tippte den Code für die Garage ein, worauf ein Brummen ertönte. Als er die Tür aufstieß, schob sich Jilly an ihm vorbei, und er wünschte sich fast, dass sie versuchen würde wegzurennen. Es würde Spaß machen, sie aufzuhalten.

Aber sie war viel zu gut erzogen. Sie streckte ihm ihre schmale Hand entgegen, und er bemerkte, dass sie elegante, schlichte Ringe aus Silber trug. Seine Hand verschluckte ihre geradezu, und er drückte sie so fest, dass sie ihn nicht länger übergehen konnte. Sie schaute ihn durch ihre langen Wimpern hindurch an.

„Ich bin naturgemäß nicht in der Lage, mit Ihnen einen Pinkel-Wettbewerb auszutragen, Mr. Coltrane“, murmelte sie.

Er gab ihre Hand frei. „Wo wollen wir zu Abend essen?“

„Keine Ahnung, wo Sie zu Abend essen. Ich jedenfalls gehe nach Hause.“

„Können Sie gut kochen?“

„Nicht für Sie.“

Es machte ihm Spaß, sie zu ärgern. Er hatte noch nicht beschlossen, wie es weitergehen sollte; es war so einfach, ihr auf die Nerven zu gehen, viel einfacher, als sie zu verführen.

Oder auch nicht. Das würde er schnell herausfinden.

Nur noch wenige Autos standen in der verlassenen Garage. Er fragte sich, ob ihr das rote BMW-Cabriolet oder der Mercedes gehörte. Doch dann sah er die Corvette, Baujahr 1966 vermutete er, liebevoll restauriert, ein Kunstwerk!

Er machte nicht noch einmal den Fehler, sie zu berühren, sondern steuerte einfach auf das Auto zu.

„Hübsche Corvette“, sagte er.

Sie warf ihm einen vorsichtigen Blick zu. „Wie kommen Sie darauf, dass das mein Auto ist?“

„Es passt zu Ihnen. Lassen Sie mich fahren?“

Genauso gut hätte er ihr vorschlagen können, gemeinsam seine Fahrstuhlfantasie auszuleben. „Auf gar keinen Fall!“

„Sie brauchen sich keine Sorgen um Ihr Auto zu machen. Ich bin ein guter Fahrer, und ich kann mit einer Gangschaltung umgehen. Ich werde dem Getriebe bestimmt keinen Schaden zufügen.“

Ihr Gesichtsausdruck war unbezahlbar. „Mr. Coltrane, wenn Sie meine Corvette mit demselben Geschick behandeln wie mich, dann wird sie kaputt sein, bevor sie auch nur den ersten Gang eingelegt haben“, sagte sie. „Sie werden weder mein Auto noch mich bekommen. Ist das klar genug?“

„Kristallklar“, antwortete er gedehnt. Ich gebe ihr eine Woche, dachte er. Eine Woche, bevor sie sich mir hingibt, zwei Wochen, bis ich ihr Auto fahren darf.

„Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie mich auch nicht nach Hause bringen wollen?“

„Wo ist denn Ihr Auto?“

„Noch beim Händler. Zurzeit fahre ich einen Geschäftswagen, aber Sie haben mich abgelenkt, und ich habe oben den Schlüssel vergessen.“

„Dann fahren Sie doch wieder hoch und holen ihn.“

Er schüttelte den Kopf. „Die Tür hat ein Zeitschloss. Sobald der letzte Mitarbeiter gegangen ist, kann keiner mehr vor dem nächsten Morgen rein.“

„Was zum Teufel versteckt mein Vater denn da oben? Das Gold von Fort Knox?“ fragte sie irritiert.

„Nur private Unterlagen. Ihr Vater ist in einige sehr komplizierte und heikle Geschäfte verwickelt. Es wäre nicht sinnvoll, wenn jeder einfach reinlaufen und die Akten einsehen könnte.“

„Jemand wie seine Tochter vielleicht? Die offenbar viel zu einfältig ist, um diese komplizierten und heiklen Geschäfte zu verstehen?“ spottete sie.

Er ignorierte das. „Ich wohne in der Nähe von Brentwood. Das wäre für Sie kein großer Umweg.“

„Woher wissen Sie, in welche Richtung ich fahre?“

„Sie sagten, Sie wollten nach Hause. Sie leben in diesem alten Mausoleum mit Ihrem Bruder und Ihrer Schwester. Und meine Wohnung liegt fast auf dem Weg.“

„Rufen Sie sich doch ein Taxi.“

„Mein Handy funktioniert nicht.“

„Dann nehmen Sie meines.“ Sie wühlte in ihrer Handtasche, fest entschlossen, ihn endlich loszuwerden. Einen Moment später hielt sie ihm ein Telefon entgegen.

„Warum nur fühlen Sie sich in meiner Gegenwart so unwohl?“ fragte er und machte keine Anstalten, das Telefon zu nehmen.

„Darum geht es doch gar nicht“, sagte sie. „Ich habe eine Verabredung.“

Gleich zwei Lügen, dachte er, und sie log nicht einmal besonders gut. Ganz anders als ihr Bruder Dean, der nicht viel von der Wahrheit hielt. Und ihr Vater interessierte sich für die Wahrheit nur dann, wenn sie ihm hilfreich war, meistens also, wenn er andere manipulieren wollte. Jilly Meyer hingegen konnte nicht lügen, was er auf eigenartige Weise reizvoll fand. Doch auch davon würde er sich auf keinen Fall von seinen Plänen abbringen lassen.

„Na gut, dann müssen Sie aber doch bestimmt zuerst nach Hause und sich umziehen. Und, wie gesagt, meine Wohnung liegt auf dem Weg“, wiederholte er.

Sie warf ihr Handy zurück in die Handtasche und ging auf die Fahrertür zu. „Steigen Sie schon in das verdammte Auto ein.“

Er rechnete fast damit, dass sie einfach wegfahren würde, ohne ihn vorher einsteigen zu lassen, wobei sie nicht weit kommen würde – die Garagentür ließ sich ebenfalls nur mit dem Code öffnen. Doch sie setzte sich hinter das Lenkrad, lehnte sich über den Sitz, entriegelte die Beifahrertür und zog sich sofort wieder zurück, als er einstieg. Die Corvette war bestens erhalten, und einen Augenblick lang war er von purem Neid erfüllt. Er wollte dieses Auto haben!

Nicht dass er einfach eine Corvette besitzen wollte. Mit dem völlig überzogenen Gehalt, das Jackson Meyer ihm zahlte, konnte er sich jedes Auto leisten, das ihm in den Sinn kam. Aber es ging ihm nicht einfach um irgendeine Corvette aus dem Jahr 1966. Er wollte genau diese Corvette.

Jilly befestigte die Metallschnalle des Gurtes und warf Coltrane einen bedeutsamen Blick zu. Doch er machte keine Anstalten, sich anzuschnallen. „Ich lebe gerne gefährlich“, sagte er.

Ihr kurzer Rock rutschte noch ein Stück weiter hoch, aber er hatte beschlossen, ihr zunächst keine schönen Augen mehr zu machen. Sie hatte ihn bereits verstanden, er konnte sich ein wenig zurückhalten. Auf seinen Range Rover verschwendete er keinen einzigen Blick. Sie würde bestimmt nicht auf die Idee kommen, dass das Auto ihm gehörte, dazu war sie viel zu durcheinander.

Wie ein geölter Blitz schoss sie aus der Garage, die quietschenden Reifen schienen gegen seine unerwünschte Gegenwart zu protestieren. Als sie durch die Straßen von Los Angeles raste, klammerte er sich verstohlen an seinem Ledersitz fest und bemühte sich, völlig ausdruckslos zu blicken.

Sie fuhr wirklich gut, das musste man ihr lassen. Sie fädelte sich in den Verkehr ein, scherte aus, beschleunigte, wenn er es am wenigsten erwartete, und wich Fußgängern und Polizisten mit derselben Geschicklichkeit aus. Am liebsten hätte er ihr ins Lenkrad gegriffen. Es war klar, dass sie ihm mit ihrer Raserei Angst machen wollte, und sie hatte Erfolg damit. Sie war in L.A. aufgewachsen und hatte gelernt, wie man auf den Freeways und Boulevards fahren musste. Jetzt rächte sie sich dafür, dass er sie so eingeschüchtert hatte.

Während ihrer wilden Fahrt durch die belebten Straßen verschwendete sie keinen einzigen Blick an ihn. Sie konzentrierte sich ausschließlich auf die Fahrt, während er sich noch ein wenig fester hielt und kein Wort sagte. Er wünschte nur, er hätte sich angeschnallt.

Als sie mit quietschenden Reifen vor seinem Wohnblock anhielt, musste er sich am Armaturenbrett abstützen, um nicht durch die Windschutzscheibe zu fliegen. Sie wandte sich ihm zu und lächelte unschuldig, doch ihre Augen glänzten in stillem Triumph. „Wir sind da.“

Er ließ sich nichts anmerken. „Für den Fall, dass sie mir Angst einjagen wollten: Es ist Ihnen nicht gelungen. Wie gesagt, ich lebe gerne gefährlich.“

„Wir sind da“, sagte sie noch einmal, nachdrücklicher diesmal. „Adieu.“

„Und was ist mit Ihrem Bruder?“

„Was ist mit ihm?“

„Wollen Sie nicht wissen, was Ihr Vater mit ihm vorhat? Sind Sie nicht deshalb überhaupt in sein Büro gekommen?“

„Was hat mein Vater denn vor?“

„Morgen Abend. Ich hole Sie um sieben Uhr ab. Zum Dinner.“

„Ich habe zu tun.“

„Verschieben Sie es. Ihr Bruder steht bei Ihnen schließlich an erster Stelle, man kann es Ihnen ansehen! Oder ist er Ihnen doch nicht so wichtig?“

Jetzt trieb er es eindeutig zu weit, aber er wollte, dass sie verärgert blieb und somit interessiert und kämpferisch.

„Okay, ich werde Sie abholen.“

„Und mir damit die einmalige Chance nehmen, die legendäre Casa de las Sombras zu sehen? Nein, ich hole Sie ab.“

„Wenn Sie sich für berühmte Hollywood-Häuser begeistern, dann können Sie eine dieser Bus-Rundfahrten machen. La Casa de las Sombras wird von den meisten angefahren.“

„Auch von der Tour, die ausschließlich an skandalösen Orten anhält? Wie auch immer, ich würde auf jeden Fall lieber von einem Bewohner durch das Haus geführt werden.“

„Dean ist einer der Bewohner. Wenn Sie ihn gut behandeln, wird er Sie ja vielleicht einmal einladen.“

„Ich bin nicht gerade Deans Typ“, sagte er.

„Meiner sind Sie auch nicht.“

„Wie ist denn Ihr Typ? Ich hätte zum Beispiel nicht vermutet, dass sie einen Mann wie Alan Dunbar heiraten würden.“

Sie hatte offenbar vergessen, dass er Zugriff auf sämtliche Akten der Meyers hatte, ihre Scheidungsunterlagen inbegriffen.

„Ich glaube, ich habe erst einmal genug von Ihnen“, sagte sie mit ruhiger Stimme.

„Erst einmal“, stimmte er zu, öffnete dann die Tür und schwang seine langen Beine aus dem Auto. „Ich hole Sie morgen um sieben ab.“

Sie ließ den Motor aufheulen und raste davon, während er unter einer Palme stand und ihr nachsah. Er konnte sich nicht entscheiden, ob es ihn mehr nach der Frau oder nach dem Auto verlangte. Und vor allem, was davon er hinterher behalten wollte.

Er zuckte mit den Schultern. Wahrscheinlich weder noch. Nach fast einem Jahr kam endlich etwas Bewegung in sein Vorhaben, und es wurde auch höchste Zeit. Jilly Meyers dickköpfige Haltung zu brechen war dabei nur das Sahnehäubchen, es ging ja in Wirklichkeit um viel mehr.

Eigentlich hatte er vorgehabt, Rachel-Ann zu verführen und zeitgleich den Rest der Familie Meyer zu vernichten. Rachel-Ann war offenkundig die Verletzlichste der Geschwister, das wusste er, obwohl er sie bisher nie zu Gesicht bekommen hatte, noch nicht einmal aus der Ferne. Seit er in L.A. wohnte, war sie zunächst mit ihrem dritten Mann in den Flitterwochen gewesen, hatte dann eine schnelle Scheidung hinter sich gebracht und lange Zeit in Kliniken und Entgiftungs-Zentren verbracht. Mit 33 war sie, wie er gehört hatte, noch immer sehr schön und sehr einfach zu haben. Doch ihn reizte die Herausforderung, das undefinierbare Vergnügen, das Jilly Meyer ihm bereitete. Sie wäre ein köstliches Dessert in seinem Menüplan aus Wahrheit und Rache.

Zunächst aber musste er sich bei den drei ungleichen Geschwistern einschleichen. Er blickte an dem teuren, exklusiven Apartment-Haus hoch, in dem er seit einem Jahr lebte, umgeben von Geschäftemachern und Händlern, die genauso skrupellos waren wie er selbst.

Es war höchste Zeit, einen kleinen Brand zu legen.

Jilly jagte die lang gezogene Einfahrt zu La Casa hinauf, kleine Kieselsteine spritzten unter den Rädern hoch. In der riesigen Garage, in der sieben Autos Platz hatten, kam sie abrupt zum Stehen. Ihre Hände zitterten, als sie den Motor abstellte. Sie blieb mit geschlossenen Augen sitzen, noch immer angeschnallt, und versuchte, sich zu beruhigen.

Sie hatte sich komplett lächerlich gemacht. Allein die Tatsache, dass sie im Wartezimmer ihres Vaters eingeschlafen war! Und dann ließ sie es auch noch zu, dass dieser idiotische Coltrane sie zur Weißglut brachte. Er war genau so, wie Dean ihn beschrieben hatte: ruhig, attraktiv und so verdammt selbstsicher, dass sie ihn am liebsten geohrfeigt hätte. Außerdem irrte sich Coltrane in einem Punkt gewaltig: Teil des Problems war nämlich, dass er genau Deans Typ entsprach! Leider schien Coltrane Deans sexuelle Vorlieben nicht zu teilen, was alles viel einfacher gemacht hätte. Dann würde er sie nicht ansehen, als sei sie Julia Roberts, und sie in Ruhe lassen.

Sie lehnte sich vor und legte ihre Stirn auf das lederbezogene Lenkrad. Sie hatte überhaupt keine Lust auf so etwas. Sie war es leid, ständig auf ihre Geschwister und das Haus aufzupassen, das immer mehr verfiel. Dieses Haus, das sie mit absoluter Hingabe liebte.

Es war schon spät. In der legendären Casa de las Sombras war es still, selbst die Geister schwiegen. Dean war entweder nicht zu Hause oder saß vor seinem Computer, und nur Gott konnte wissen, was Rachel-Ann gerade tat. Vor drei Monaten war sie aus der Entziehungskur zurückgekommen, und es war anzunehmen, dass sie demnächst wieder rückfällig werden würde. Bisher war sie fast jeden Abend ausgegangen, aber früh, nüchtern und schweigsam zurückgekommen. Sollte sie jetzt schon zu Hause sein, dann würde sie jemanden suchen, den sie nerven konnte, und das war dann mit Sicherheit sie, Jilly.

Sie kletterte aus dem Auto und unterdrückte ein Seufzen. Sie würde das schon hinkriegen. Schließlich war sie in der glücklichen Lage, von gar nichts abhängig zu sein, auch nicht von Gefühlen. Sie würde auch weiterhin für ihre Geschwistern da sein, wenn sie sie brauchten.

Jilly zog die schwere Holztüre der Garage zu. Sollte sie jemals etwas Geld übrig haben, dann wollte sie einen automatischen Garagenöffner einbauen lassen. Dean besaß zwei Autos, wobei keines davon wirklich zuverlässig war, und Rachel-Ann fuhr einen BMW. Außerdem stand da noch der rostige Düsenberg, der einmal Brenda de Lorillards Geliebtem gehört hatte. Einen automatischen Türöffner für diese riesige Garage einbauen zu lassen, wäre geradezu unerschwinglich.

Sie lief auf dem Schotterweg auf das Haus zu und genoss die herrliche Stille. Zu dem von Palmen überwucherten Grundstück drang der Lärm der Stadt nicht durch, es war wie eine perfekte Oase der Ruhe und Sicherheit. Nur wenige Lichter brannten im Haus, als Jilly die großzügige, geflieste Terrasse betrat, und sie atmete erleichtert auf. Sie würde alleine sein, zumindest ein paar Stunden lang. In dieser Zeit konnte sie noch einmal darüber nachdenken, was geschehen war und wie sie ihrem Bruder am besten helfen konnte.

Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie furchtbaren Hunger hatte. Sie ging direkt in die riesige alte Küche. Sie setzte sich an den langen Holztisch und leerte mit einem gezackten Grapefruit-Löffel von Tiffany’s zwei Becher Joghurt. Danach aß sie von einem schon rissigen, wertvollen Porzellanteller ein Sandwich mit Erdnussbutter. Sie beschloss, am nächsten Tag einkaufen zu gehen, der Kühlschrank war fast leer. Rachel-Ann ernährte sich, wenn sie clean war, fast ausschließlich von Süßigkeiten, und Dean war immerzu auf irgendeine Diät gesetzt. Was die beiden allerdings nicht davon abhielt, über den Inhalt des Kühlschranks herzufallen, wenn sie dazu in Stimmung waren.

Jilly stellte den Teller in das alte Waschbecken und lief über den Gang in den Flügel des Hauses, den ihr Bruder bewohnte. Sie klopfte, bekam aber keine Antwort. Als sie die Tür öffnete, fühlte sie sich wie immer von dem Raum überwältigt. Dean hatte unbedingt die ehemaligen Dienstbotenzimmer beziehen wollen, weil sie eher schmucklos und nicht so kitschig wie der Rest des Hauses waren. Er hatte die Räume nur spärlich und mit modernen Möbeln eingerichtet.

Ihr Bruder lag auf dem Bett. Das einzige Licht, das den Raum erhellte, kam von seinen Computern, er hatte immer mindestens zwei gleichzeitig angeschaltet.

Sie ging leise zu ihm und betrachtete ihn zärtlich. Dean hatte die Klimaanlage wie immer auf sehr kalt eingestellt, aber sie wagte es nicht, die Temperatur zu verändern oder gar seine Computer auszuschalten. Sie breitete nur eine Decke über ihn und wünschte, alles wäre anders, auch wenn sie nicht genau wusste, wie. Dann ließ sie ihn in dem sterilen, eiskalten Raum zurück und tauchte wieder in die warme Dunkelheit der Casa de las Sombras ein. Das Haus der Schatten. Manchmal kam es ihr so vor, als gäbe es in Deans hellem Zimmer die meisten Schatten.

3. KAPITEL

Zacharias Redemption Coltrane war ein Kind der sechziger Jahre, geboren in der Mitte dieses turbulenten Jahrzehnts. Sein Name hatte ihm als Kind zwar jede Menge Spott eingebracht, doch der Name war das geringste Problem in seinem Leben. Mit dreizehneinhalb war er bereits fast einen Meter achtzig groß, hatte alle wichtigen Menschen in seinem Leben verloren und betrat eine Welt, von der er bereits wusste, dass sie grausam und feindlich war. Damals nannte er sich Zack – zumindest dann, wenn er sich überhaupt die Mühe gab, seinen richtigen Namen zu benutzen.

Merkwürdig, wie einige Familiengeschichten ganz geradlinig verliefen und andere wiederum verschlungen und dramatisch. Er kannte die bitteren Erzählungen seiner Großtante Esther und die alkoholumnebelten Erinnerungen seines Vaters, doch sagten die beiden die Wahrheit? Nie sprachen sie davon, wie seine Mutter gestorben war, er wusste nicht einmal ihren richtigen Namen. Er kannte sie als Ananda, und seine eigenen Erinnerungen waren leicht und voll Lachen und dem bittersüßen Duft von Marihuana. Sie hatten in einem Schloss gelebt, in dem es gefährliche Drachen gab.

Aber das war, bevor sie ermordet wurde.

Es fiel ihm schwer, die Bilder von diesem magischen Ort oder der Prinzessin, die seine lachende Mutter war, in sein Gedächtnis zurückrufen. Er konnte sich kaum daran erinnern, wie es gewesen war, bevor er mit seinem betrunkenen Vater und seiner scharfzüngigen Großtante in dem trostlosen kleinen Haus in Indiana gelebt hatte. Und niemand würde ihm jemals die Wahrheit über seine Mutter erzählen.

Großtante Esther starb zuerst, vom Krebs geradezu aufgefressen. Sein Vater folgte kurz darauf, als er sich betrunken bei einem Sturz das Genick brach. Coltrane haute ab, bevor das Jugendamt sich um ihn kümmern konnte. Er wurde zu einem 13-jährigen rebellischen Außenseiter, der durchs Land zog und langsam zum Mann wurde.

Eines Tages beschloss er, Anwalt zu werden. Anwälte machten Geld, Anwälte manipulierten das System, Anwälte waren Abschaum. Das hielt er für die passende Karriere, zumal er es leid war, immerzu nahe am Abgrund zu leben. In New Orleans wurde er schließlich Stellvertretender Bezirksstaatsanwalt. Er verurteilte die Ärmsten der Armen, ohne sich dabei besondere Mühe zu geben, und ließ seine Vergangenheit genauso hinter sich wie die vagen Erinnerungen an seine tote Mutter.

Eher zufällig blätterte er eines Tages in der Zeitschrift „L.A. Life“, zufällig, weil er sich für Südkalifornien oder Geisterhäuser oder Stars und Sternchen eigentlich nicht besonders interessierte. Er überflog die Seiten mit den Skandalen des Jahrhunderts, als plötzlich sein Blick an einem alten Zeitungsfoto hängenblieb. Er starrte in die Augen seiner Mutter.

Damals, in den 60ern, war ein bunter Haufen Hippies wegen unerlaubten Betretens des verlassenen Anwesens Casa de las Sombras verhaftet worden, und seine Mutter war unter ihnen gewesen. Er konnte seinen Vater auf dem Foto nicht erkennen und wusste auch nicht, ob er damals in L.A. war, seine Mutter beherrschte das ganze Bild, jung und leuchtend selbst in Schwarzweiß. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, die Eindringlinge zu bestrafen, und so kamen sie einfach zurück und nisteten sich wieder in dem baufälligen Haus ein. Sie gründeten eine Kommune, womit sie den Verfall des historischen Gebäudes noch beschleunigten und die reichen Nachbarn fast zum Wahnsinn trieben.

So erfuhr er von Jackson Meyer. Es war der erste Name, den er mit der bewegten Vergangenheit seiner Mutter in Verbindung bringen konnte. Schließlich hatte er schon früh gelernt, keine Fragen über seine Familie zu stellen, weil dann sein Vater jedes Mal anfing zu weinen und noch mehr zu trinken, während seine Großtante Esther ihm eine Ohrfeige androhte, falls er nicht den Mund hielte. Sie hatte ganz schön böse und harte Hände für eine alte Frau, und sie starb, bevor er größer wurde und sich wehren oder Antworten auf seine Fragen bekommen konnte.

Nachdem er aber erstmal einen Namen kannte, war es ganz einfach gewesen, den Schuldigen ausfindig zu machen. Jackson Meyer hatte seinen Weg gemacht, war zurück nach Harvard gegangen, hatte seinen Abschluss gemacht und drei Frauen geheiratet. Aus seiner ersten Ehe entstammten drei erwachsene Kinder, von denen eines adoptiert war, aus seiner dritten zwei kleine Kinder. Außerdem kontrollierte er ein milliardenschweres Unternehmen. Er hatte also einiges erreicht. Das Haus, in dem er das Kommunen-Leben ausprobiert hatte, gehörte nun seinen Kindern aus erster Ehe, während er selbst in einem modernen, äußerst luxuriösen Anwesen in Bel Air residierte.

Coltrane wusste, dass das der Mann war, der die Antworten auf seine Fragen kannte, der ihm sagen konnte, was mit seiner Mutter geschehen war. Sein Vater hatte ihm erzählt, dass seine halb irische Mutter das „zweite Gesicht“ hatte, einen Fluch, von dem er sich fragte, ob er ihn geerbt hatte. Denn eines Tages sah er seinen Vater an und wusste, dass er sterben würde. Eine solche Ahnung war an dem Tag wiedergekommen, an dem er sich seinen Weg in Jackson Meyers Büro erschlichen hatte, was in Anbetracht all der Sicherheitsvorkehrungen eine große Leistung war. Coltrane hatte nur ein einziges Mal in die klaren, ruhigen Augen blicken müssen, um zu wissen, dass dieser Mann seine Mutter ermordet hatte.

Natürlich hatte Meyer nicht die geringste Idee, wer er war, davon abgesehen, dass es ihn überhaupt nicht interessierte. Coltrane hatte ein Talent darin, den Menschen das zu geben, was sie gerade brauchten, und ihr Vertrauen zu gewinnen. Es war ein Leichtes für ihn, sich bis in das innerste Heiligtum von Meyer Enterprises und in eine wichtige Position hochzuarbeiten. Der alte Mann war eine unbarmherzige Schlange und davon überzeugt, in Coltrane einen Seelenverwandten gefunden zu haben.

Weniger leicht war es gewesen, sich in Geduld zu üben, sich Zeit zu lassen. Nun war er schon fast ein Jahr hier und hatte das vollständige Vertrauen von Jackson Meyer gewonnen. Zack Coltrane mit dem gefälschten Abschluss und dem charmanten Lächeln und der kalifornischen Lässigkeit war bereit, Jackson Meyer zu vernichten.

Doch zuerst brauchte er alle Antworten. Er würde sich nicht damit begnügen, Meyer finanziell zu ruinieren. Und ihn zu töten würde nicht leicht sein. Coltrane hatte noch nie zuvor getötet, auch wenn er ein paar Mal ganz nahe dran gewesen war, aber in Jackson Meyers Fall würde er es tun, er hasste ihn genug. Allerdings wäre dann alles vorbei. Er wollte jedoch, dass der Mann, der seine Mutter getötet hatte, endlose Qualen litt. Sobald er den Beweis hatte, sollte Meyer erfahren, wer ihn zerstörte, und warum. Seine Firma und seinen Ruf zu ruinieren wären ein Anfang, und daran arbeitete er, seit er in L.A. war.

Seine Familie auseinander zu bringen, würde noch besser sein, Auge um Auge. Coltrane war in der unbarmherzigen Armut des kalten Mittleren Westens aufgewachsen, mit einem Vater, der zu betrunken war, um ihn wahrzunehmen. Das Mindeste, das Coltrane tun konnte, war, es Jackson Meyer heimzuzahlen.

Das Problem war, jemanden zu finden, für den sich der sonnenstudiogebräunte Jackson Meyer auch nur halb so sehr interessierte wie für sich selbst. Seine Vorzeigefrau behandelte er wie ein ungeduldiger Vater, seine beiden jüngsten Kinder wie noch nicht stubenreine Hündchen. Coltrane war überzeugt, dass er sich nicht einmal an ihre Namen erinnerte. Und so selten, wie er über seine Tochter Jilly sprach, spielte sie für ihn kaum eine Rolle. Doch bei Rachelnn war das etwas anderes. Rachel-Ann war sein wunder Punkt, und genau dort wollte Coltrane ihn treffen. Es war ihm bereits gelungen, Dean aus der Firma zu drängen. Meyers einziger Sohn hatte die Schlacht verloren, ohne auch nur einen einzigen Schuss abzugeben, und vergrub sich jetzt schmollend hinter seinen Computern. Nach allem, was er gehört hatte, hatte Rachel-Ann den überwiegenden Teil ihres Lebens ganz nahe am Abgrund verbracht. Also tat er ihr doch nur einen Gefallen, wenn er sie über den Rand stieß, anschließend einen Schritt zurücktrat und Meyer dabei zusah, wie er sich hinterherstürzte. Coltrane weigerte sich, darüber nachzudenken, was für ein Mensch er hinterher sein würde.

Er schenkte sich einen Scotch ein und trug ihn auf die Terrasse, wo er ihn langsam trank. Es war der beste Scotch, den er hatte finden können, und in Gedanken prostete er seinem Vater zu, der sich zu Tode gesoffen hatte. Seit zehn Jahren forderte er auf diese Art das Schicksal heraus, ihm das Gleiche anzutun wie seinem Vater, und dabei schmeckte es ihm noch nicht einmal.

Sein Plan war einfach. Er würde Jilly benutzen, um ihre zerbrechliche ältere Schwester kennen zu lernen. Er war ein geduldiger Mann, doch nun hatte er lange genug gewartet. Zwar wollte er keine unschuldigen Menschen verletzen, aber das waren Meyers drei erwachsene Kinder sicherlich nicht.

Die Nacht brach herein, Coltrane stand mit dem Rücken zu seinem perfekt eingerichteten Apartment und starrte über Los Angeles hinweg. Das erwartungsvolle Kribbeln in seinen Adern war eine weitaus gefährlichere Droge als Alkohol. Morgen Abend würde er die legendäre Casa de las Sombras sehen und endlich die Antworten bekommen, auf die er so viele Jahre gewartet hatte.

Das Telefon klingelte drei Mal, bevor er abnahm, und er wusste schon vorher, wer es sein würde.

„Sind Sie sie losgeworden?“ bellte Jackson Meyer ins Telefon.

„Zunächst mal, ja. Sie hatten mir nicht gesagt, dass Sie sich etwas Endgültigeres vorstellen“, sagte er gelangweilt.

Einen Moment lang blieb es am anderen Ende der Leitung still. „Gibt es denn etwas Endgültiges, das Sie tun könnten?“

„Natürlich, ich könnte einen Auftragskiller anheuern, falls Sie das wünschen …“

„Das ist nicht witzig, Coltrane“, antwortete Meyer kühl. „Es ist nicht mein Stil, meine eigenen Kinder umbringen zu lassen.“

Nicht die Kinder, aber die Geliebte, dachte Coltrane und starrte in sein Glas. „Dann wird sie keine Ruhe geben, bis sie von Ihnen bekommt, was sie will. Sie wissen doch, wie hartnäckig Frauen sein können.“

„Sie war schon immer eine dickköpfige Hexe. Genau wie ihre Mutter“, schimpfte Meyer. „Was will sie eigentlich von mir?“

„Das hat sie mir nicht gesagt, aber ich schätze, es geht in die Richtung, dass sie Ihren eigenen Sohn mehr lieben und mich auf den Grund des Meeres versenken sollten.“

Meyers trockenes Kichern klang ein wenig asthmatisch. „Sie haben keinen besonders guten Eindruck auf sie gemacht, was? Ich habe Sie ja gewarnt. Sie kann sehr schwierig sein. Was haben Sie jetzt vor?“

„Ich werde morgen Abend mit ihr Essen gehen.“

„Sie wird nicht mit Ihnen schlafen, falls sie darauf spekulieren. Dazu ist sie viel zu prüde.“

„Wieso sollte ich mit ihr schlafen wollen?“ Coltrane nahm noch einen Schluck Scotch. Das Eis war inzwischen geschmolzen, der Drink schmeckte wässrig.

„Egal. Kümmern Sie sich nur weiterhin um sie. Bestimmt ist Ihnen aufgefallen, dass sie recht gut aussieht. Kein Vergleich mit Rachel-Ann natürlich, aber sie ist doch hübsch genug, selbst mit diesen schrecklichen Haaren. Außerdem ist mir zufällig bekannt, dass Sie gerade nicht gebunden sind.“

Coltrane zweifelte keine Sekunde daran, dass Meyer ganz genau wusste, mit welcher Frau er im letzten Jahr geschlafen und wie lange die jeweilige Beziehung gedauert hatte. Die Überwachungen von Seiten seines Arbeitgebers waren lachhaft offensichtlich gewesen, und Coltrane hatte ihn immer gerade genug wissen lassen, damit er nicht misstrauisch wurde.

„Wollen Sie, dass ich sie heirate, Boss?“ fragte er gedehnt. „Oder soll ich mich nur mit ihr vergnügen?“

„Hören Sie schon auf, Coltrane“, antwortete Meyer. „Ich will einfach, dass Sie sie ablenken. Ich muss mich im Moment um ganz andere Dinge kümmern. Es ist geradezu unglaublich, wie viele Probleme es bereitet, das Cienaga-Anwesen zu erwerben. Zumal ich es gerade überhaupt nicht gebrauchen kann, dass die Steuerfahndung mir auf die Schliche kommt. Auch darum müssen Sie sich kümmern. Geben Sie denen was anderes zu tun.“

„Das habe ich bereits erledigt.“

„Diese gottverdammten Bürokraten haben doch nicht die geringste Ahnung, wie das Geschäftsleben in Wahrheit funktioniert. Geschweige denn, woraus die Wahlkampfmittel bezahlt werden. Halten Sie mir diese Typen vom Leib, Coltrane.“

„Ich habe mich darum gekümmert“, sagte Coltrane beschwichtigend. Tatsächlich wurden Meyers Geschäftspraktiken bereits von einem ganzen Ermittlungs-Team durchleuchtet. Und sein Chef hatte nicht die geringste Ahnung.

„Ich will meine Zeit nicht mit Belanglosigkeiten verschwenden.“

Belanglosigkeiten wie etwa seine Kinder, dachte Coltrane, sagte aber nichts. Er wollte Meyers Geduld nicht unnötig strapazieren. Der alte Mann würde noch früh genug herausfinden, dass er Zack Coltrane niemals hätte vertrauen dürfen.

„Alles klar, Boss“, antwortete er. Er war der einzige Mensch, der Meyer „Boss“ nannte und dabei einen leicht neckenden Ton anschlug. „Ich werde mit Ihrer Tochter schlafen. Was solls, ich schlafe auch mit Ihren beiden Töchtern. Bei Ihrem Sohn hört der Spaß allerdings auf.“

Meyer lachte humorlos. „Nein, mein Sohn wäre eine zu leichte Beute. Und lassen Sie die Finger von Rachel-Ann! Sie ist gerade sehr verletzlich, ich will nicht, dass Sie sich mit ihr einlassen. Sie ist nicht das Problem – sie war nie das Problem, im Gegensatz zu den anderen beiden. War mein Fehler, dass ich deren Mutter geheiratet habe. Halten Sie nur Jilly beschäftigt, bis das Geschäft erledigt ist. Danach können Sie mit ihr tun, was Sie wollen. Sie wissen ja: Es wird sich für Sie lohnen.“

Gott sei Dank konnte Meyer Coltranes Lächeln nicht sehen. „Ich liebe Ihren Hang zur Sentimentalität.“

„Sie können mich mal.“

„Ja, Sir.“ Doch Meyer hatte bereits aufgelegt, davon überzeugt, dass er wieder mal seinen Willen durchgesetzt hatte. Coltrane sollte mit seiner Tochter schlafen, um sie abzulenken. Dabei sorgte Meyer bereits völlig ahnungslos selbst dafür, dass sein Imperium zerstört wurde.

Jilly machte immer einen Heidenlärm, wenn sie ihr Schlafzimmer betrat. Es war das größte und eleganteste Zimmer in dem alten Haus, doch keines ihrer Geschwister hatte dort einziehen wollen. Dean bevorzugte seine sterilen Räume, und Rachel-Ann war viel zu abergläubisch, um ausgerechnet in diesem Raum zu schlafen. Jilly glaubte eigentlich nicht an Geister. Sie lebte schon so viele Jahre hier und war in all der Zeit nicht einem einzigen begegnet. Als sie Kinder waren, hatte Dean oft versucht, ihr mit wilden Geistergeschichten Angst einzujagen, aber es war ihm nie gelungen. Sollte es in der Casa de las Sombras tatsächlich Geister geben, dann waren sie harmlos, und das, obwohl sie unter so grausamen Umständen ums Leben gekommen waren.

Aber auch wenn Jilly nicht an sie glaubte, betrat sie ihr Zimmer trotzdem niemals, ohne sich vorher anzukündigen. Auch jetzt räusperte sie sich, rüttelte ein paar Mal an der Klinke, bevor sie die Tür öffnete, und schaltete erst dann das Licht ein. Nichts zu sehen, keine verschwindenden Schatten, keine Gestalten, die sich auflösten, nur dasselbe merkwürdige Zimmer wie immer. Mit dem Elefantenfuß-Stuhl und dem kunstvoll verzierten goldenen Bett sah es hier aus wie in einem Bordell oder einem türkischen Harem, und Jilly liebte jeden kitschigen Zentimeter.

Sie ließ Wasser in die riesige Marmorwanne im angrenzenden Bad laufen, zog sich hastig aus, glitt in die duftende Wärme und schloss die Augen. Ein langer, unangenehmer Tag lag hinter ihr. Nicht nur hatte sie überhaupt nichts erreicht, im Gegenteil: Alles war noch schlimmer geworden. Und zu allem Überfluss musste sie auch noch mit Coltrane zu Abend essen. Erstens war sie bisher allen skrupellosen jungen Männern, die ihr Vater beschäftigte, erfolgreich aus dem Weg gegangen. Zweitens missfiel ihr an Coltrane einfach alles, sein Ehrgeiz, seine Aggressivität und sein gutes Aussehen. Er wusste sehr gut, wie attraktiv er war, deswegen fand Dean ihn vermutlich auch so unwiderstehlich. Dean hatte eine Schwäche für blasierte, kluge und hübsche Jungs, vor allem für die, bei denen er keine Chance hatte. Rachel-Ann würde Coltrane nicht weniger verlockend finden. Auf den ersten Blick wirkte er ja auch nicht annähernd so gefährlich wie die Typen, mit denen ihre Schwester sich sonst einließ. Die beiden würden ein hinreißendes Paar abgeben.

Inzwischen war das Wasser kalt geworden. Jilly sprang aus der Wanne und grinste ihr Spiegelbild an. In diesem verdammten Haus gab es einfach viel zu viele Spiegel. Wo sie auch hinschaute, immerzu erhaschte sie einen Blick auf sich selbst. Sie hatte keine Ahnung, wer all diese Spiegel hatte aufhängen lassen: die zurückgezogen lebende Schauspielerin, die dieses Haus hatte bauen lassen, oder Brenda de Lorillard, die hier gestorben war. Als eine Frau, die nicht sonderlich eitel war, fand sie sie jedenfalls ziemlich störend. Hinzu kam Rachel-Anns Überzeugung, dass es in dem Haus spukte. Manchmal, wenn Jilly in den Spiegel sah, war es so, als sähe sie ganz kurz jemanden, der schon lange tot war.

Ihr war kalt, doch sie zog lieber einen Pulli über, als das Fenster zu schließen. Sie liebte frische Luft, die Spinnweben und Motten aus dem Gebäude fegte. Seltsamerweise aber verlor sich der Geruch nach frischem Tabak nie, genauso wenig wie der zarte Hauch von Parfüm, das sie vage an ihre Kindheit erinnerte. Vielleicht hatte ihre Großmutter es benutzt, vielleicht war eines Tages eine ganze Flasche heruntergefallen, und der Duft hatte sich in das Holz gefressen. Jilly mochte den Geruch ganz gerne. Er gab ihr das Gefühl, dass ihre Großmutter auf sie aufpasste, obwohl sie sich zu Lebzeiten nicht sonderlich nahe gestanden hatten.

Die Haustür wurde zugeschlagen. Sie wusste immer sofort, wenn es Rachel-Ann war. Sie brachte eine nervöse Energie mit sich, die die Luft im ganzen Haus auflud wie vor einem Sturm. Jilly lauschte – Gott sei Dank, Rachel-Ann war alleine. Wie die ganzen letzten drei Monate auch schon. Das machte sie zwar unausstehlich, war aber ein Schritt Richtung Genesung.

Kurz darauf hörte sie, wie etwas zersplitterte und jemand wegrannte. Jilly stürzte in die Halle. Rachel-Ann war schon in der Mitte der Treppe, dünn und zerbrechlich, ihr langes flammend rotes Haar wehte hinter ihr her, als sie die letzten Stufen nach oben rannte; auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck von Panik. Sie lief direkt in Jillys Arme und stieß ein dankbares Schluchzen aus. Sie war so leicht und klein. Jilly schlang ihre kräftigen Arme um sie und fragte: „Was ist denn los, Süße? Bist du gestolpert? Ich habe Lärm gehört.“

„Ich weiß nicht, was das war. Irgendetwas ist zerbrochen, doch ich konnte nicht sehen, was.“ Rachel-Anns Stimme war leise, aber klar.

„Das macht doch nichts“, murmelte Jilly beschwichtigend. In diesem Haus gab es sowieso nicht mehr viel Wertvolles, das kaputtgehen konnte. „Was hat dich denn so erschreckt?“

Rachel-Ann wand sich aus der Umarmung und starrte ihre Schwester einen Augenblick lang verwirrt an. Ihre grünen Augen wirkten riesig, aber nicht so, als hätte sie Drogen genommen. Jilly atmete erleichtert auf.

„Ich weiß es nicht“, sagte Rachel-Ann schließlich. „Sie haben mich beobachtet, ich habe es gespürt. Sie beobachten mich immerzu. Ich weiß, dass du mir nicht glaubst, aber es gibt sie! Ich fühle es!“

„Glaubst du wirklich?“ Jilly hatte gelernt, dass es besser war, Rachel-Ann nicht zurechtzuweisen. „Willst du in mein Zimmer kommen und es mir erzählen?“

„Nein, bloß nicht dort“, sagte sie und lugte ängstlich in das große Schlafzimmer. „Ich weiß nicht, wie du da schlafen kannst, wo du doch weißt, was passiert ist!“

„Ich glaube nicht an Geister“, antwortete Jilly.

„Aber ich. Schließlich haben sie mich gerade erst wieder beobachtet.“ Rachel-Anns sonst so ruhige Stimme überschlug sich. Sie hatte in letzter Zeit viel Gewicht verloren, viel zu viel, und sie sah aus wie ein schwacher rothaariger Spatz, verloren und verängstigt.

„Dann lass uns in dein Zimmer gehen. Ich bleibe bei dir, bis du eingeschlafen bist.“

Rachel-Anns Lächeln war zugleich bitter und sehnsüchtig. „Wie immer ganz die liebe Schwester, Jilly. Wird dir das denn nie langweilig?“

„Nie.“

„Du brauchst dir keine Sorgen um mich zu machen. In meinem Zimmer gehts mir gut, das betreten sie nie. Dafür habe ich gesorgt.“

„Rachel-Ann, da sind keine Geister, die …“

„Glaub mir doch wenigstens dieses eine Mal. Es gibt sie. Ich kann sie nur loswerden, wenn ich trinke, aber genau das will ich nicht mehr tun. Ich werde jetzt einfach ins Bett gehen, und morgen früh ist alles wieder in Ordnung. Tagsüber lassen sie mich in Ruhe“. Rachel-Ann grinste. „Schau mich nicht so an. Ich bin nicht verrückt. Es spukt hier tatsächlich.“

„Hast du deinem Therapeuten von den Geistern erzählt?“ fragte Jilly.

„Damit er denkt, ich sei verrückt?“ Rachel-Anns Lachen klang nur ein klein wenig hysterisch. „Die Geister spuken in diesem Haus und nicht etwa nur in meinem Kopf. Aber du brauchst keine Angst zu haben. Dich lassen sie ja aus irgendeinem Grund in Ruhe. Du solltest dankbar sein.“

„Vielleicht habe ich nur nicht genug Fantasie.“

„Vielleicht bist du einfach zu vernünftig“, sagte Rachel-Ann müde. Sie umarmte Jilly schnell, und das Zittern in ihren dünnen Armen war Mitleid erregend. „Bis morgen früh, Schatz. Aber nicht zu früh!“

„Ich kann gerne bei dir bleiben, bis …“

„Das brauchst du nicht“, sagte Rachel-Ann und klang plötzlich fast fröhlich. „Mir gehts gut.“

Jilly beobachtete, wie ihre Schwester durch die Halle ging und die Tür ihres Zimmers hinter sich abschloss. Unschlüssig blieb sie stehen. Sollte sie ihr folgen? Sie hatte Rachel-Anns Zimmer nicht mehr betreten, seit diese aus der Klinik zurückgekommen war, sie wäre sich schäbig vorgekommen, hätte sie dort nach leeren Flaschen oder Pillendosen gesucht. Rachel-Ann behauptete, einen Weg zu kennen, wie sie die Geister aus ihrem Zimmer fern halten konnte. Jilly hatte nicht die geringste Ahnung, was sie meinte. Und ob das auch helfen würde, ganz andere Dämonen zu vertreiben?

Sie wusste nicht, wie spät es war, wahrscheinlich schon nach elf. Wieder dachte sie darüber nach, was für ein schrecklicher Tag hinter ihr lag. Sie hatte überhaupt nichts erreicht, einen gescheiterten Besuch bei ihrem Vater hinter sich und Coltrane kennen gelernt. Darauf hätte sie gut und gerne verzichten können. Sie musste einen Weg finden, ihn entweder loszuwerden oder auf ihre Seite zu ziehen. Allerdings sah er nicht aus wie ein Mann, der auch nur im Geringsten daran interessiert war, anderen zu helfen, es sei denn, es war zu seinem eigenen Vorteil.

Jilly zog die Nadeln aus ihrem Haar und ließ es in einer schweren Welle auf ihren Rücken fallen. Sie würde sich morgen etwas einfallen lassen. Wenigstens heute Nacht konnte sie sich entspannen, ihre Schwester und ihr Bruder lagen sicher in ihren eigenen Betten, und Rachel-Anns Geister hatten keine Möglichkeit, in ihr Zimmer zu gelangen.

„Du hast ihr Angst gemacht.“ Brenda war verärgert. „Habe ich dir nicht immer wieder gesagt, dass dieses Mädchen sensibel ist? Das war sie schon immer, von Kindesbeinen an. Sie erinnert mich an mich selbst, als ich in ihrem Alter war.“

„Schätzchen, du bist gestorben, bevor du so alt wie sie werden konntest“, konterte Ted ein wenig taktlos. „Und du warst in etwa so zerbrechlich wie ein Elefant im Porzellanladen. Wenn du mich fragst, ist dieses Mädchen einfach zu schreckhaft.“

„Sie kann uns sehen.“

„Das können eine Menge Leute. Deswegen werden sie aber noch lange nicht zu verrückten Trunkenbolden“, sagte Ted. „Die meisten glauben, dass das Licht ihnen einen Streich spielt oder so. Sie ist die Einzige, die sich deshalb verrückt macht, und wenn sie endlich einmal aufhören würde, alles Mögliche nach uns zu schmeißen, würde sie auch bemerken, dass wir uns Sorgen um sie machen. Dass wir vollkommen harmlos sind!“

„Vollkommen“, murrte Brenda und küsste ihn. „Außerdem sollte sie nicht trinken. Wenn wir uns nicht gezeigt hätten, dann hätte sie das Glas ausgetrunken, statt es nach uns zu werfen.“

„Vielleicht. Vielleicht nicht.“ Ted zuckte mit den Schultern. „Sie hat sich schon öfter einen Drink eingeschenkt und ihn nicht ausgetrunken. Das spielt auch gar keine Rolle. Die Ärmste hat Angst vor uns, und leider können wir uns nicht mit ihr zusammensetzen und ihr alles erklären. Wir müssen ab jetzt etwas umsichtiger sein. Und wir haben keinen Grund, uns schuldig zu fühlen!“

„Schuldig“, sagte Brenda mit hohler Stimme. „Nein, das sind wir nicht. Lass uns spazieren gehen, Liebling. Oder wir könnten uns auf die Terrasse setzen und die Sterne betrachten.“

Er nahm ihren Arm und lächelte sie zärtlich an. „Das klingt himmlisch, mein Schatz.“

„Himmlisch“, wiederholte Brenda. Der Himmel war ein Ort, den sie niemals kennen lernen würden. „Egal, wo ich mit dir bin, es ist wie im Himmel“, sagte sie.

Ted gab ihr einen Kuss.

4. KAPITEL

Jilly war außerordentlich schlechter Laune. Der gestrige Tag war schon schlimm gewesen, doch der heutige hatte ihn noch übertroffen, und der Abend schien sogar noch schlimmer zu werden. Sie war wie immer früh aufgestanden. Sie brauchte nicht viel Schlaf, außerdem war ihr verschnörkeltes und geschwungenes Bett nicht sonderlich bequem. Seit Jahren schon nahm sie sich vor, eine neue Matratze und einen anständigen Lattenrost zu kaufen, doch da das Bett maßgearbeitet war, würde das ein Vermögen kosten. Sie konnte es einfach vor sich selbst nicht rechtfertigen, so viel Geld für eine Matratze auszugeben, wenn sie so wenig Zeit darauf verbrachte. Dean hatte einmal gemeint, taktlos wie üblich, dass die Matratze wenigstens nicht älter als 50 Jahre sein konnte, denn sonst hätte sie von Blut durchtränkt sein müssen.

Jilly erschauerte trotz der warmen Abendluft. Sie saß auf der verlassenen Terrasse des Hauses. War es denn zu viel verlangt, einfach mal wieder einen schönen Tag erleben zu wollen, speziell, wenn sie so einen qualvollen Abend vor sich hatte? Aber nein, stattdessen häuften sich jetzt auch die Probleme bei der Arbeit. Historische Gebäude in Los Angeles erhalten zu wollen, war so ziemlich der aussichtsloseste Job, den man sich vorstellen konnte, was sie zu allem Überfluss auch von Anfang an gewusst hatte. Los Angeles war auf Macht und Geld aufgebaut, Geschichte und Ästhetik wurden hier nicht hoch gehandelt. In den drei Jahren, in denen Jilly für die Los Angeles Preservation Society arbeitete, hatte sie zusehen müssen, wie eine Sehenswürdigkeit nach der anderen abgerissen wurde, um modernen Häusern Platz zu machen.

Heute war es besonders schlimm gewesen. Sie hatte den Tag damit verbracht, in den Ruinen des Marokkanischen Theaters zu wühlen, Fotos mit einer Digitalkamera zu schießen und Messungen durchzuführen. In nur wenigen Tagen würde alles verschwunden sein, die letzte Frist war abgelaufen. Irgendwann hatte Jilly sich einfach in einen staubigen Plüschsessel gesetzt und geweint. Vielleicht wegen des Gebäudes, vielleicht aber auch wegen ihres eigenen Lebens.

Als sie nachmittags nach Hause kam, waren Dean und Rachel-Ann nicht da, und wenn sie Glück hatte, würden sie auch erst spät zurückkommen. Coltrane hier zu empfangen war schon schlimm genug, sie wollte sich nicht auch noch gleichzeitig Gedanken um ihre Geschwister machen müssen.

Sie ging unter die Dusche und wusch den Staub von ihrem Körper, danach schenkte sie sich ein großes Glas Eistee ein und trat wieder auf die Terrasse, um den Sonnenuntergang über dem riesigen, dicht bewachsenen Grundstück zu betrachten. Sie liebte diese Terrasse, die alten Eisenmöbel, die großen Fliesen, die von den Jahren verwitterten Steinsäulen, die gewaltigen Palmen. Aber in der Mitte des Rasens, über hundert Meter entfernt, lag der dunkle, algenüberwachsene Pool, und Jilly konnte ihn nie ansehen, ohne zu schaudern.

Jetzt ist es viel zu spät, jemanden zu bitten, das Wasser abzulassen, dachte sie müde. Der Pool war seit Jahren nicht mehr benutzt worden. Als Kind hatte sie sich vor ihm gefürchtet, obwohl sie jede freie Sekunde in den Schwimmbädern ihrer Freunde verbracht hatte. Vielleicht war es wegen der Bäume, die sich im Wasser spiegelten, oder vielleicht lag es auch nur an der übersteigerten Einbildungskraft eines Teenagers. Was immer es war, Jilly zog es vor, dem Pool nicht zu nahe zu kommen.

Sie hatte schon öfter das Wasser ablaufen lassen, aber das Becken füllte sich jedes Jahr von alleine wieder, das Wasser sickerte wahrscheinlich durch einen Sprung in die Wand. Sie konnte sich eine Reparatur nicht leisten, und so lag der Pool einfach da, feucht und böse, und nur die wilden Rosenbüsche verdeckten die Sicht. Jilly ließ sich auf der breiten Gartenmauer nieder und atmete die Mischung aus Rosenduft und Abgasen der Stadt ein. Nichts würde sie jetzt lieber tun, als in ihre riesige Marmorwanne zu klettern und darin liegen zu bleiben, bis ihre Haut ganz verschrumpelt war. Sie wollte niemanden sehen, mit niemandem sprechen, niemanden retten. Nicht heute.

Und vor allem wollte sie sich nicht mit Z. R. Coltrane auseinander setzen. Sie hatte zumindest einen Teil seines Namens herausgefunden, auch wenn sie keine Ahnung hatte, was Z. R. bedeutete. Sie fand, das war ein angemessener Name für einen Halsabschneider aus Los Angeles.

Nicht dass sie wirklich einen Beweis hatte, dass er ein Halsabschneider war, abgesehen davon, dass er ein Anwalt war. Und davon abgesehen, dass sie gut aussehenden Männern nicht traute. Die vielen Jahre in Los Angeles und natürlich auch Alan hatten sie gelehrt, vorsichtig zu sein. Alan war unerhört hübsch gewesen, mit langem dunklem Haar, dem Gesicht eines Dichters, den Händen eines Künstlers und der Seele eines Metzgers. Coltrane dagegen hatte sonnengebleichtes blondes Haar, er war Anwalt, kein Künstler, Geschäftsmann, kein Dichter. Im Gegensatz zu Alan gab er nicht einmal vor, nett zu sein. Deswegen war er trotzdem genauso ein Lügner wie ihr Exmann. All ihre Instinkte schrien auf: Was du siehst, ist definitiv nicht das, was du bekommst.

Coltrane war ein Mann, der ganz schnell die Wünsche der anderen herausfand und sich entsprechend benahm. In ihrem Fall schien er fest entschlossen zu sein, sie zu ärgern und nicht so zu tun, als ob er harmlos sei. Sie rief sich zur Ordnung. Es ging nur um ein Geschäftsessen, sie würden ein ruhiges, vernünftige Gespräch darüber führen, wie die Situation bei Meyer Enterprises für Dean verbessert werden könnte, danach würde sie sich anmutig verabschieden und Coltrane nie wieder sehen. Die verschwenderischen Hollywood-Partys ihres Vaters besuchte sie sowieso niemals; wenn sie sich nicht irrte, war sie die letzten Jahre auch gar nicht mehr eingeladen worden. Es gab also keinen Grund, warum sie jemals wieder einen Angestellten ihres Vaters, speziell Coltrane, treffen sollte.

Wenn man es also ganz vernünftig betrachtete, war alles gar nicht so schlimm. Sie nippte an dem Eistee und wandte den Blick vom Schwimmbad ab. Sie hatte sich da in etwas hineingesteigert. Und das, obwohl sie doch gelernt hatte zu ändern, was zu ändern ist, und zu akzeptieren, was unvermeidbar ist.

Sie hörte einen Wagen auf der Auffahrt, und ein unangenehmer Ruck ging durch ihren Magen. Es war genau sieben Uhr, offenbar war ihr unerwünschtes Date angekommen.

Coltrane wusste ganz genau, wo hinter all den hoch gewachsenen Bäumen sich die Casa de las Sombras versteckte. Durch die Fotografie in der Zeitung hatte er erfahren, dass seine Mutter in den sechziger Jahren hier einige Zeit verbracht hatte, auch wenn er nicht wusste, wie lange und ob sein Vater bei ihr gewesen war. Auf dem Bild in der Zeitung fand sich kein Datum, und fragen konnte er ja niemanden. Vor allem sein Vater hatte es stets rundweg abgelehnt, auch nur ein Wort über die Mutter zu verlieren. Die Casa de las Sombras war ein Teil seiner Familiengeschichte, ein Ort, an dem Teile seiner Vergangenheit begraben lagen. Es hatte lange genug gedauert, bis er das Haus endlich betreten durfte – langsam begann sich das Rätsel zu lösen.

Er hatte schon öfter überlegt, einfach in das Haus einzubrechen, was für ihn überhaupt kein Problem gewesen wäre. In seiner Jugend hatte er mit einer Gruppe Taugenichtse rumgehangen und alle möglichen Fertigkeiten erworben – unter anderem, wie man in ein Haus einstieg, ohne die geringste Spur zu hinterlassen. Doch dann beschloss er, lieber nichts zu riskieren und sich weiterhin in Geduld zu üben. Früher oder später würde er dieses Haus durch die Eingangstür betreten.

Doch nun, da es soweit war, fühlte er sich merkwürdig angespannt. Sein ganzes Leben konnte sich mit einem Schlag ändern, deshalb musste er aufhören, die ganze Zeit nur an Jilly Meyer zu denken! Er durfte nicht vergessen, dass nicht sie, sondern ihre zerbrechliche ältere Schwester es war, um die er sich kümmern musste, denn nur Rachel-Ann Meyer konnte Jacksons Herz brechen.

Die geöffneten, verzierten Tore am Eingang der Auffahrt waren rostig, obwohl es hier so gut wie nie regnete. Er fuhr langsam die gewundene Straße hinauf, hier einem tief hängenden Ast, dort einem Grashügel ausweichend. Er wunderte sich, wie Jilly es schaffte, die Schlaglöcher mit ihrer herrlichen, tief gelegten Corvette zu umfahren.

Zuerst sah er die riesige Garage mit dem zerbrochenen Schieferdach. Ein Glück, dass es hier so selten regnete. Es gab sieben Garagen, drei davon waren geschlossen, drei standen leer, und die Corvette stand in ihrer reinen Pracht in der letzten. Er parkte direkt dahinter. Niemand schien hier zu sein. Er steuerte sofort auf das rote Auto zu und berührte den schimmernden Lack wie ein zärtlicher Liebhaber. Er hatte ja immer geglaubt, sein Traumauto sei ein Gull Wing Mercedes oder vielleicht ein klassischer Jaguar XKE. Aber offenbar war er doch ein richtiger Amerikaner. Coltrane konnte nicht widerstehen. Er streckte seine Hand nach dem Türgriff aus, als er bemerkte, dass er nicht alleine war.

Mit schneidender Stimme sagte sie: „Ich habe Ihnen verboten, mein Auto zu fahren.“

Er ließ seine Hand auf dem Wagen liegen und fuhr mit seinen Fingerspitzen zärtlich hin und her, während Jilly ihn beobachtete. Dann drehte er sich um und schielte zu ihr hinüber. „Es freut mich, dass sie sich nicht extra meinetwegen hübsch gemacht haben“, sagte er. Sie trug Shorts und ein T-Shirt, und sein Blick wanderte an ihren langen Beinen entlang. Sie hatte offenbar keine Ahnung, wie aufregend er diese Beine fand, sonst würde sie sie ihm nicht immerzu zeigen. Es störte ihn nicht im Geringsten, dass die Shorts alt und ausgeleiert waren. Rachel-Ann, rief er sich selbst zur Ordnung, sie ist mein Ziel. Meyer interessiert es kein bisschen, was mit dieser Tochter hier geschieht.

„Tut mir Leid, aber ich habe es mir anders überlegt. Es gibt keinen Grund auszugehen, wir können die Situation genauso gut hier besprechen“, sagte sie kühl.

„Oder was halten Sie von McDonald’s? Fast Food zu Verhandlungen essen klingt spannend, ich bin ja kein Spielverderber. Vor allem, wenn wir im Auto essen. Und da könnte auch niemand sehen, wenn ich Sie ganz aus Versehen anfasse.“ Er wusste selbst nicht, warum er so etwas sagte, wahrscheinlich wieder nur, weil er sie auf die Palme bringen wollte.

„Ja, natürlich“, murmelte sie. Und dann: „Verhandlungen?“

„Darum gehts doch, oder etwa nicht? Sie wollen, dass ich Ihrem kleinen Bruder helfe, Daddys Liebe und Anerkennung zu gewinnen. Allerdings habe ich keine Ahnung, warum ich das tun sollte.“

Sie gab sich nicht einmal die Mühe, alles abzustreiten. „Vielleicht einfach, weil Sie ein gutes Herz haben?“

„Ich habe wenig Güte in mir, und schon gar kein Herz“, sagte er und zeigte ihr sein schönstes Lächeln.

Sie blinzelte; sehr gut. Er warnte Menschen gerne vor. Sie glaubten ihm zwar meistens nicht, aber später, wenn sie zurückschauten, geschlagen und verletzt, fiel ihnen auf, dass er ihnen schon vorher die Wahrheit gesagt hatte.

„Hören Sie auf mit diesem Unsinn“, sagte sie.

„Das ist kein Unsinn, sondern die Wahrheit.“

„Ich glaube kaum, dass sie die Wahrheit erkennen würden, selbst wenn sie Ihnen in den Hintern beißt.“

„Warten wir’s ab.“ Er trat widerwillig einen Schritt von der Corvette zurück. „Also, werden Sie mich jetzt durch das Anwesen führen? Und bitte erzählen Sie mir nicht wieder, dass ich eine Bustour buchen soll. Ich möchte das Haus aus der Perspektive der Bewohner kennen lernen. Oder besser, der derzeitigen Bewohner. Früher oder später wird sich schließlich Ihr Vater hier einnisten und sie alle rausschmeißen.“

„Ganz bestimmt nicht. Aber ich muss zugeben, dass Sie erstaunlich gut über die Besitzverhältnisse informiert sind“, sagte sie misstrauisch.

„Ich leite schließlich die Rechtsabteilung, nicht wahr? Ich werde dafür bezahlt, so etwas zu wissen.“ Verdammt, normalerweise machte er keine so dummen Fehler, er würde in Zukunft besser aufpassen müssen. Bei Jilly musste er vorsichtig sein, sie war viel aufmerksamer als ihr Bruder. „Wie auch immer, ich liebe die Hollywoodgeschichten“, lenkte er ab. „Ich mag auch alte Häuser. Ich habe Architektur studiert, bevor ich mich für Jura entschied.“

Sie schaute so ungläubig, dass es schon fast beleidigend war, allerdings brauchte es mehr, um ihn zu beleidigen. „Ich habe meinen Abschluss in Architektur in Princeton gemacht“, zischte sie warnend.

„Ich weiß.“ Er lächelte sie an. „Wollen Sie mein Wissen über Architektur testen? Sie scheinen ja davon überzeugt zu sein, dass ich Sie anlüge.“ Er breitete seine Arme aus. „Was Sie sehen, ist, was Sie kriegen.“

„Nicht, wenn ich es verhindern kann“, murrte sie. „Ich fürchte, Sie werden nicht eher gehen, bis ich Ihnen das Haus gezeigt habe?“

„Sehr scharfsinnig, wie immer. Übrigens freue ich mich schon darauf, Ihre Schwester kennen zu lernen.“ Es gefiel ihm, wie beiläufig das klang.

„Warum?“

„Ich bin einfach neugierig. Als der Anwalt Ihres Vaters habe ich alle Angelegenheiten geregelt, einschließlich Ihrer Scheidung, Deans Autounfällen und Rachel-Anns verschiedenen … Belangen.“

„Ihre Neugier wird nicht befriedigt werden. Sie ist nicht zu Hause. Dean übrigens auch nicht.“

„Dann sind wir ganz alleine? In dem Fall ist es gar keine schlechte Idee, hier zu bleiben.“

Sie sah ihn ruhig an. „Kommt darauf an, wie Sie alleine definieren und ob sie an Geister glauben. Ich kann sie zwar nicht sehen, aber eine Menge anderer Leute schon. Auf jeden Fall sollten Sie vorsichtig sein, Geister sind bekanntermaßen sehr unberechenbar.“

„Ich werde aufpassen“, sagte er. „Und jetzt erzählen sie mir etwas über diesen Ort. Geben Sie mir die bestmögliche Führung, und danach können wir uns unterhalten.“

Sie wollte ihn loswerden, das machte sie überdeutlich, und er verstand immer noch nicht ganz, warum. Er war charmant gewesen, und sie verhielt sich eher wie ein Kaninchen vor der Schlange. Vielleicht war ihre Intuition doch ausgeprägter, als sie sich selbst zugestehen wollte, auch wenn sie keine Geister sehen konnte.

Coltrane glaubte nicht an Geister. Als er jünger war, hatte er ein paar Mal versucht, mit seiner Mutter Kontakt aufzunehmen, aber sie war offenbar keine rastlose Seele. Sie schien ihren Frieden gefunden zu haben, unabhängig davon, wie grausam sie gestorben war. Er hingegen war die rastlose Seele, er suchte nach Antworten, nach Lösungen.

„Na gut“, sagte sie endlich. „Kommen Sie mit. Ich werde wohl nicht um eine Führung herumkommen.“

Er musste sich sehr zurückhalten, um nicht dauernd auf ihren aufregenden Hintern zu starren, und zwang sich stattdessen, auf den Weg zu schauen. Sie spulte ganz monoton einige Fakten herunter, und er verstaute alle Informationen ganz weit hinten in seinem Kopf, um sie eines Tages, wenn er sie wieder brauchte, hervorkramen zu können.

Das Haus war erbaut durch die Gebrüder Greene, Stätte vieler aufregender Hollywood-Partys, Zeuge des berüchtigten Hughes-de-Lorillard-Selbstmord-Paktes, Heim einer herumstreifenden Gruppe Drogensüchtiger in den Sechzigern und Siebzigern … Sie erzählte nichts, was er nicht schon wusste. Dass ihr Vater gemeinsam mit den Hippies hier gelebt hatte, schien ihr allerdings nicht klar zu sein. Er achtete auf Widersprüche in ihren Äußerungen, konnte aber keine erkennen. Und dann bogen sie um die Ecke und standen am Fuße der ausladenden Terrasse.

Er erstarrte. Ihre Worte waren nur noch ein bedeutungsloses Summen in seinem Kopf wie von einem ärgerlichen Insekt. Unkraut wucherte zwischen den Fliesen hervor, der Stuck hatte Risse und zeigte Spuren von Wasser. Es fehlten einige Dachziegel, und die Möbel auf der Terrasse waren rostig und heruntergekommen. Das Haus erinnerte ihn an eine Königin, die gezwungen war, als Prostituierte ihr Geld zu verdienen und auf der Straße zu leben, wo ihr Glanz immer mehr verblasste. Und auf einmal wusste er, dass seine Mutter nicht die einzige Coltrane gewesen war, die hier gelebt hatte.

Ihm wurde bewusst, dass Jilly aufgehört hatte zu sprechen, und als er seinen Blick vom Haus wegriss, sah er, dass sie ihn neugierig anstarrte.

„Was haben Sie denn erwartet?“ fragte sie. „Wir haben gerade genug Geld, um zu verhindern, dass das Haus völlig zusammenfällt. Ich weiß nicht, wie lange ich es noch erhalten kann.“

„Bisher haben Sie nicht den Eindruck gemacht, dass Sie eine Niederlage eingestehen können.“ Er wunderte sich selbst darüber, wie ruhig seine Stimme klang.

„Ich bin eine Realistin, Mr. Coltrane. Keine Närrin.“

„Einfach nur Coltrane.“ Und sie war so wenig Realistin wie er ein Ministrant! Selten hatte er einen idealistischeren und blauäugigeren Menschen als sie kennen gelernt. Zumindest, wenn es um etwas ging, das sie liebte. Also alte Häuser im Allgemeinen und dieses alte Haus im Speziellen.

„Lassen Sie uns reingehen.“ Er erwartete fast, dass sie sich weigern würde, aber nach kurzem Zögern nickte sie und führte ihn ins Haus. Er hätte sich auch nicht abweisen lassen, nicht, nachdem diese eiskalte Welle der Erkenntnis ihn erfasst hatte. Er selbst hatte hier gelebt! Man hatte ihn in dem Glauben gelassen, dass er ausschließlich in Indiana aufgewachsen war. Und was besagtes Foto in der Zeitung anging: Er war davon ausgegangen, dass es aus der Zeit vor seiner Geburt stammte.

Falsch. Er hatte hier gewohnt, auch wenn er sich nicht bewusst daran erinnern konnte. Doch er spürte eine merkwürdige Gewissheit, dass dieses Haus vor vielen, vielen Jahren sein Heim gewesen war. Der Geruch kam ihm so verdammt bekannt vor. Er war froh, dass Jilly mit dem Rücken zu ihm stand, er war sich nicht sicher, ob er weiterhin eine unerschütterliche Miene aufsetzen konnte. Er kannte diese Halle, die lange, gewundene Treppe. Er folgte Jilly wortlos, während sie Einzelheiten über das Haus herunterbetete, doch ihre Stimme wurde langsam, fast zögerlich, immer wärmer. Sie liebt dieses Haus, dachte er, sie liebt dieses Haus mit all ihrer Kraft. Sie war ein einfaches Opfer – sie trug ihr Herz auf der Zunge. Sie liebte das Haus, ihren Bruder und ihre Schwester. Er musste nur ein wenig Druck auf eines der drei ausüben, und sie würde alles tun, was er verlangte.

Sie wanderten durch Wohnzimmer, Esszimmer, Salons und Frühstückszimmer. Die Erbauer hatten an nichts gespart, das Haus erstreckte sich über mehrere hundert Quadratmeter. Es war nur sparsam eingerichtet, mit schäbigen Möbelstücken, die wie verlorene Überbleibsel einer großartigen Zeit wirkten.

„Brenda de Lorillard hatte einen Bühnenausstatter engagiert, um die Räume zu dekorieren“, sagte Jilly. „Leider wählte sie einen, der viel für Cecil B. DeMille gearbeitet hatte. Deshalb wirkt das hier mehr wie eine Theaterbühne als ein Wohnhaus.“

Sie hatte Recht, alles war unerhört kitschig, von der italienischen Tapete bis hin zu den vergoldeten Möbeln. Die riesige Küche war völlig unpraktisch eingerichtet, es gab nicht einmal eine Spülmaschine. Und auch keine Klimaanlage; trotzdem war es angenehm kühl. Vielleicht, überlegte er, liegt das ja an den Geistern.

„Und oben?“ fragte er, als sie endlich aufhörte zu erzählen.

„Die Schlafzimmer“, antwortete sie.

„Das habe ich mir fast gedacht. Ist es dort passiert?“

Sie schaute ihn überrascht an. „Ist dort was passiert?“

„Der Mord? Und der Selbstmord? Oder gabs hier noch andere Verbrechen?“ Er kannte die Antwort ja bereits, wusste jedoch nicht, ob sie sie auch kannte.

„Im großen Schlafzimmer. Aber glauben Sie mir, es gibt dort nichts zu sehen. Das Blut wurde zwischenzeitlich aufgewischt.“

„Ich möchte es trotzdem sehen.“

„Nein. Es ist jetzt mein Schlafzimmer, und ich will nicht, dass fremde Menschen darin herumlaufen.“

„Wieso nicht?“

„Ich will meine Privatsphäre.“

„Und es macht Ihnen nichts aus, in einem Zimmer zu schlafen, in dem ein Mensch ermordet wurde? Und in dem es spukt?“

„Ich habe es Ihnen bereits gesagt. Ich glaube nicht an Geister“, antwortete sie.

„Glauben Sie nicht an Geister, oder können Sie sie nur nicht sehen?“

Sie blickte ihn finster an. „Ich habe so langsam keine Lust mehr.“

„Und ich bekomme so langsam Hunger. Zeigen Sie mir einfach das Mordzimmer, und danach schlagen wir uns den Magen mit Fast Food voll. Es sei denn, Sie haben Ihre Meinung geändert und wollen nun doch in ein etwas besseres Restaurant.“

„Auch auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole: Ich will mit Ihnen nirgends hingehen“, sagte sie schnippisch.

„Aber dann wird Ihr Bruder gezwungen sein, ganz alleine schwimmen zu lernen oder unterzugehen.“

Sie fiel sichtbar in sich zusammen. Coltrane war zufrieden, sie zeigte ihm mehr Gefühle als den meisten Menschen, dessen war er sich sicher.

„Also gut“, sagte sie. „Sie können mein Zimmer begaffen, und dann werden wir uns unterhalten.“ Sie drehte sich um und lief in die Halle. Er bemühte sich, sie einzuholen. Jetzt, nachdem er seine Fassung wiedergewonnen hatte, war er sehr neugierig. Schlief sie tatsächlich in einem Raum, in dem ein Mord stattgefunden hatte, ohne dass es sie kümmerte? Und würde er sich an dieses Zimmer erinnern?

Er musste beinahe lachen, als er es sah, so absurd schien es ihm. Der ultimative Kitsch, angefangen bei dem geschwungenen Bett mit den Draperien bis hin zu den üppigen, überdimensionalen Möbeln. Er trat hinter sie, ging dann in das Zimmer und schaute aus den großen Fenstern über den weiten Balkon, der sich über die komplette Länge des Hauses erstreckte. Undeutlich konnte er das dunkle Rechteck des flechtenüberwachsenen Pools erkennen, und ein merkwürdiger Schauder durchfuhr seinen Körper.

Verstohlen warf er einen Blick auf Jilly, die noch immer mit über der Brust gekreuzten Armen und einem halsstarrigen Gesichtsausdruck in der Tür stand. Ihr Blick folgte dennoch jeder seiner Bewegungen genau.

„Sind Sie sicher, dass die beiden hier gestorben sind? In diesem Bett?“

„Das ist doch allgemein bekannt. Hollywood liebt schließlich seine Skandale, und dieser war einer der aufregendsten.“

„Brenda de Lorillard hat ihren verheirateten Liebhaber umgebracht und dann sich selbst, nicht wahr? Was für ein Motiv hatte sie?“

Jilly zuckte mit den Schultern. „Vielleicht war er ihrer müde geworden. Männer haben gelegentlich diese Angewohnheit.“

„Ist das so?“ Er konnte ein Grinsen kaum unterdrücken. Irgendjemand sollte Jilly ein paar effektivere Verteidigungsstrategien beibringen. Sie war so verletzlich wie ein junges Kätzchen, sie spuckte und kratzte und war doch so leicht zu manipulieren.

Er beschloss, das Thema zu wechseln. „Wie viele Schlafzimmer gibt es noch?“

„Sieben. Rachel-Anns ist eins davon. Dean hat sein eigenes Apartment hinter der Küche, und die restlichen Räume sind verschlossen.“

Da war also noch genügend Platz für ihn für den Fall, dass er nicht umgehend bei Rachel-Ann einziehen würde. Er strahlte sie an. „Ich habe genug gesehen. Jetzt sollten wir uns was zu essen besorgen.“

Einen Augenblick lang rührte sie sich nicht, sondern starrte ihn nur durch den ganzen Raum hindurch an. „Ich mag Sie nicht“, sagte sie brüsk. „Und ich vertraue Ihnen nicht.“

„Ich weiß“, sagte er unerwartet sanft.

„Nennen Sie mir nur einen Grund, warum ich Ihnen vertrauen sollte.“

„Mir fällt keiner ein.“

„Werden Sie mir helfen?“

Lügen war zu seiner zweiten Natur geworden. Er zögerte keine Sekunde. „Ja“, sagte er.

Und für einen Moment lang sah es so aus, als ob sie den verzweifelten Fehler beginge, ihm zu glauben.

5. KAPITEL

Der Himmel über Los Angeles war lila und orange gefärbt, der Smog zerteilte den Sonnenuntergang in schillernde Streifen. Jilly saß auf der Treppe, die in den dicht bewachsenen Garten führte, ein eiskaltes Bier in der Hand, und wartete auf Coltrane.

Sie fragte sich, was er im Haus eigentlich anstellte. Er hatte gesagt, er müsse auf die Toilette, und das konnte sie ihm ja wohl kaum verbieten. Noch wollte sie vor dem Badezimmer mit den rosa Schwänen und goldenen Wasserhähnen auf ihn warten. Also hatte sie in der Küche zwei Flaschen Bier geholt und war zurück auf die Terrasse gegangen.

Nicht dass sie diesen Mann auch noch ermutigen wollte. Aber sie hatte einen langen Tag hinter sich, und sie wollte etwas von ihm. Sie weigerte sich, mit ihm auszugehen, also konnte sie ihm wenigstens ein Bier anbieten. Was aber tat er da drinnen, abgesehen vom Offensichtlichen? Wahrscheinlich war sie schon völlig paranoid. Was für ein Interesse konnte er an einem alten, heruntergekommenen Haus wie diesem haben?

Als er zurückkehrte, war ihr Bier schon halb leer. Er hatte seine Jacke ausgezogen, seine Ärmel hochgerollt und die Krawatte abgenommen. Sein blond gesträhltes Haar war zerzaust. Jilly ignorierte ihn.

„Sie haben nicht zufällig ein Bier für mich?“ Er lehnte sich gegen die Balustrade.

Wortlos reichte sie ihm eine Flasche, und er nahm einen tiefen Schluck. Sie betrachtete die Linie seines Halses und wie ein wenig Wasser von der Flasche auf seine Haut tropfte, dann riss sie sich los und konzentrierte sich wieder auf ihr eigenes Bier.

„Was sollen wir nun mit Ihrem Bruder anfangen?“ fragte er freundlich.

Sie sah zu ihm hoch. „Sie haben nicht zufällig Lust, Ihren Job zu kündigen und zurück nach New Orleans zu gehen, oder?“

„Sie haben sich nach mir erkundigt“, stellte er befriedigt fest, und sie hätte sich selbst ohrfeigen können.

„Es ist sinnvoll, seine Feinde so gut wie möglich zu kennen.“

„Ich bin nicht Ihr Feind, Jilly“, sagte er weich.

„Jeder, der meinen Bruder bedroht, ist auch mein Feind.“

„Oh, dann sind Sie aber ganz schön beschäftigt! Ihr Bruder lässt sich nämlich ziemlich leicht bedrohen. Finden Sie nicht, dass er sich selbst um seine Angelegenheiten kümmern sollte? Wenn er den Eindruck hat, dass sein Vater sich nicht genug um ihn kümmert, warum sagt er es ihm dann nicht einfach?“

„Klar, Jackson wäre begeistert“, brummte sie. „Und würde ihn bitten, nicht so herumzujammern.“

„Das wäre sein gutes Recht. Dean jammert ja auch ständig.“

Sie blitzte ihn wütend an.

„Ich glaube nicht, dass Sie ihm helfen können“, fuhr Coltrane fort. „Er wird lernen müssen, sich dem Leben zu stellen

und sich nicht hinter seinen Computern zu verstecken.“

Jilly drehte ruckartig ihren Kopf. „Hören Sie doch auf, so verdammt …, so … „

„So was?“ Er schien wahrhaft interessiert.

„So gottverdammt überheblich zu sein! Es ist schwer für Dean, mit so einem Goldjungen wie Ihnen zu konkurrieren.“

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