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Auch am hellsten Tag

Als Buch hier erhältlich:

Ich bin bei dir, bis auch du den hellsten Tag sehen kannst
Gerade eben noch half Liora Kieran, sich seinen Dämonen zu stellen und seine Vergangenheit aufzuarbeiten. Aber dann ist er spurlos, ohne ein Wort zu sagen, verschwunden. Zutiefst verletzt und ratlos versucht sie, ihren Alltag so gut es geht normal weiterzuführen. Doch die Fassade beginnt zu bröckeln und nach und nach löst sich alles, was ihr wichtig ist, vor ihren Augen auf. Als Kieran schließlich zurückkehrt, keimt in Liora Hoffnung auf – vergebens, denn er geht ihr aus dem Weg und blockt jeden Annäherungsversuch ab, auch wenn seine Blicke etwas ganz anderes andeuten. Sie gibt nicht auf. Zu groß sind die Gefühle, die sie für den sanften, warmherzigen Mann mittlerweile hegt. Und sie spürt, dass auch Kieran noch immer etwas an ihr liegt …


  • Erscheinungstag: 21.05.2024
  • Aus der Serie: Liora & Kieran
  • Bandnummer: 2
  • Seitenanzahl: 304
  • ISBN/Artikelnummer: 9783745704174
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Liebe Leser:innen,

dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Deshalb findet ihr am Romanende eine Themenübersicht, die demzufolge Spoiler enthalten kann.

Wir wünschen euch das bestmögliche Erlebnis beim Lesen dieser Geschichte.

Euer Team von reverie

Die Hoffnung ist der Regenbogen über dem herabstürzenden Bach des Lebens.

Friedrich Nietzsche

Für alle, die die Hoffnung niemals aufgeben.

PLAYLIST

Mariah Carey, Whitney Houston – When You Believe

Lord Huron – The Night We Met

James Arthur – Train Wreck

Mariah Carey – Against All Odds (Take A Look At Me Now)

LEA – Ende der Welt (Piano Sessions)

Ariana Grande, Nathan Sykes – Almost Is Never Enough

Revelle – kein ja/kein nein

KLAN, LEA – Dass du mich liebst

LEA – Wenn Du mich lässt

Mariah Carey – Anytime You Need a Friend

Rebecca Ferguson – Light On

Christina Aguilera – Beautiful

d4vd – Here With Me

LEA – Würde uns jemand vermissen

KAPITEL 1

Kieran

»Noch einen.«

»Reicht es nicht langsam?«

»Noch einen«, beharrte ich und schob dem Barkeeper mein Glas ein paar Zentimeter entgegen.

Er sah mich aus blaugrauen Augen, die an Gewitterwolken erinnerten, an, und das Misstrauen in seinem Blick war nicht zu übersehen. Seine Stirn legte sich in Falten. Ein paar Atemzüge lang zögerte er, doch dann griff er nach der Whiskeyflasche, um mein Glas damit zu befüllen.

Ich führte es an meine Lippen und leerte den Inhalt in einem Zug. Ich hasste das Brennen des Alkohols in meiner Kehle, doch ich trank ihn trotzdem, weil er mich wenigstens für ein paar flüchtige Augenblicke von dem Brennen in meiner Seele ablenkte.

»Ich glaube, er hat genug, Cohen«, hörte ich Chris’ Stimme im nächsten Moment hinter mir.

Cohen nickte zustimmend, bevor er ans andere Ende der Bar eilte und sich von uns abwandte.

Chris setzte sich auf den freien Hocker neben meinem und sah mich einfach nur stumm von der Seite an, während ich meinen Blick auf die hölzerne Bar unter meinen Händen heftete. Er griff nach meinem Glas und ließ es ein paarmal mit seinen Händen über das Holz gleiten, bevor er es mit einer kleinen Bewegung zum Stillstand brachte.

»Wie geht es dir?«

Ich hasste es, dass er mich das fragte. Und noch mehr hasste ich, dass er nicht damit aufhörte. Es war die eine Frage, die er jeden Abend stellte, seit ich vor einer Woche Northlake City verlassen hatte und nach San Francisco gekommen war.

Ich war Chris unendlich dankbar dafür, dass er für mich da war und ich vorübergehend bei ihm wohnen durfte. Und das schon, seit ich ihn nach meinem letzten Besuch im Creekwood Hill Medical Center vollkommen aufgelöst angerufen hatte. Aber diese eine Frage – ich wollte sie nicht beantworten, weil wir beide wussten, dass uns die Antwort nicht gefallen würde. Und dass sie wehtun würde.

Denn wie sollte es einem Menschen gehen, der durchlebt hatte, was ich in den letzten Jahren hatte erfahren müssen? Jemandem, der seine eigenen Eltern verloren und einem Kind die seinen genommen hatte? Der dadurch das Leben eines kleinen Jungen viel zu früh zerstört hatte?

Und der jetzt davonlief, weil er es nicht ertrug, die Konsequenzen seines Handelns hinzunehmen, und den Jungen stattdessen im Stich ließ?

Ein paar Sekunden lang spürte ich Chris’ abwartenden Blick noch auf meiner Haut brennen. Doch dann war da ein enttäuschtes Seufzen, bevor er sich abwandte und seine Aufmerksamkeit auf Cohen richtete, der in diesem Moment wieder in unsere Richtung lief.

Ich warf ihm einen knappen Blick zu. Optisch war Cohen vermutlich einer der attraktivsten Männer, die ich bisher gesehen hatte. Breite Schultern, braunes Haar und muskulöse Arme, die von unzähligen Tätowierungen überzogen waren. Aber trotz allem war da ein Schmerz in seinen Gewitteraugen, der mich zu sehr an meinen eigenen erinnerte, und ich fragte mich, welche finsteren Kapitel wohl hinter seiner Geschichte steckten.

»Gib mir auch einen davon«, sagte Chris und deutete auf die Whiskeyflasche, aus der Cohen mir vor ein paar Minuten eingeschenkt hatte. Als das Glas vor ihm stand, nahm er einen großen Schluck daraus und drehte sich dann auf dem Barhocker in meine Richtung. »Wenn du reden willst, dann kannst du das immer tun. Ich hoffe, das weißt du.«

»Danke.« Mehr sagte ich nicht, weil es nichts zu sagen gab. Denn ich würde nicht reden. Ich hatte es nicht verdient, dass man mir zuhörte, und ich wollte nicht, dass andere Menschen mit mir mitfühlten und unter meinem Schmerz litten.

Wir blieben noch eine Weile sitzen und lauschten der Musik, die jeden Winkel dieses Raumes für sich einnahm. Das House of Soul war eine Bar inmitten des Mission District, in der Chris meist seine Abende ausklingen ließ. Obwohl ich wusste, dass es den Laden noch nicht allzu lange gab, wirkte alles an ihm alt – auf eine gute Art und Weise. Runde Tische, die von hölzernen Stühlen gesäumt wurden, waren über den weitläufigen Raum hinweg verteilt. Hinter der Bar zog sich ein langes, deckenhohes Regal, das mit unzähligen Spirituosen vollgestellt war, die Wand hoch, und am Ende des Raums befand sich eine Bühne, auf der zwei Sängerinnen gerade das Publikum für sich einnahmen. Alle Blicke waren auf sie gerichtet, als würden die Menschen nichts anderes wahrnehmen.

Da war nur die Musik.

In jedem Winkel dieser Bar.

Und vielleicht wäre es eine gute Idee gewesen, sich auf sie zu konzentrieren, doch irgendwann konnte ich nicht länger ignorieren, dass Chris neben mir immer unruhiger wurde. Ich erkannte es daran, wie er seine Finger im Schoß knetete, am Zappeln seines Beines und an seinem Blick, der immer wieder in meine Richtung zuckte.

»Was ist los?«, fragte ich, weil er nichts sagte, obwohl ich deutlich spürte, dass er es wollte.

»Ich mache mir Sorgen um dich. Du redest kaum, du isst kaum. Und wenn du etwas trinkst, dann ist es alkoholisch. Langsam macht mir dein Verhalten Angst. Ich weiß, wir kennen uns noch nicht lange, aber du wirkst nicht wie der Kieran, mit dem ich damals auf dem Sky Tower in Northlake City geredet habe.«

Chris’ Worte trafen mich, denn sie waren die schmerzhafte Wahrheit. Ich war ein Schatten meiner selbst, seit ich Northlake City verlassen hatte. Aber manchmal tat es einfach zu sehr weh, wenn man man selbst war. Manchmal war der einzige Ausweg, der einem blieb, sich selbst zu verlieren, um dem Leid zu entkommen, das einem anhaftete.

»Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.«

»Aber dir geht’s nicht gut.«

»Das ist nicht dein Problem«, erwiderte ich lauter, als ich es beabsichtigt hatte.

Bei dem harten Tonfall meiner Stimme zuckte Chris zusammen. »In Ordnung.«

Ein paar Sekunden lang schwiegen wir, doch dann überrollte mich mein schlechtes Gewissen. »Tut mir leid. Ich wollte dich nicht so anfahren, aber ich kann gerade einfach nicht reden.« Denn wenn ich redete, dann würde der ganze Schmerz mich erneut mit voller Wucht treffen. Er würde mich unter sich begraben, und ich wusste, dass ich gerade einfach nicht die Kraft dazu hatte, mich mit ihm auseinanderzusetzen.

Jedes Mal, wenn ich die Augen schloss, sah ich Luke.

Jeder Gedanke an ihn tat weh.

Jeder Atemzug ohne ihn ließ meine Seele in Flammen aufgehen.

Mein verdammtes Leben fühlte sich wie ein Inferno an, aber hin und wieder waren da die Gedanken an diesen einen Menschen, die mich durchhalten ließen. Die mich auch in meinen dunkelsten Momenten vom Zerfallen abhielten.

Wie von selbst glitten meine Finger in meine Hosentasche, um mein Handy hervorzuziehen. Ich entsperrte es und rief das Bild auf, das ich von Liora auf dem Sky Tower gemacht hatte. Es zeigte sie, umgeben von unzähligen Himmelslaternen. Sie sah einfach nur wunderschön aus, und mit einem Mal fühlte ich, wie sich die Sehnsucht in meinem Herzen ausbreitete.

In Northlake City war so vieles passiert. Ich hatte einen Job gefunden, der mich glücklich gemacht hatte. Ich hatte diese Stadt kennengelernt, die so anders als Creekwood Hill war. Aber vor allem hatte ich mich verliebt. Ich hatte mich in Liora White, das Mädchen mit dem schönsten Herzen der Welt, verliebt.

Und ich hatte sie wieder zurücklassen müssen.

Dieser tonnenschwere Gedanke fühlte sich wie ein Stich in meine Brust an, aber ich versuchte, ihn beiseitezuschieben. Denn für ein paar Augenblicke wollte ich einfach nur in Erinnerungen schwelgen. Erinnerungen an sie, an unsere Küsse, an die Gefühle, die sie in mir ausgelöst hatte. Ich wollte an all das Gute denken, das sie in sich trug, und ich wollte hoffen, dass sie nicht litt. Dass sie im Moment nicht die gleiche bittere Sehnsucht spürte wie ich.

Es war schon seltsam, wie sehr Vermissen wehtun konnte.

Ein paarmal ließ ich meinen Blick noch über das Foto gleiten. Dann schob ich mein Handy mit einem tiefen Seufzen zurück in die Hosentasche. Als ich wieder aufblickte, sah ich, dass Chris mich beobachtet hatte.

»Du musst das nicht tun.«

»Was denn?«

»Dich isolieren. Leiden. Sie vermissen. Du musst dich vor niemandem verstecken, Kieran.«

»Du hast keine Ahnung, wovon du sprichst«, entgegnete ich gereizter, als ich eigentlich wollte. Aber ich konnte mich nicht zurückhalten. Da waren so viel Frust und Kummer und Schmerz, und es war, als würde ein Teil von mir auf jede Gelegenheit warten, um diesen Emotionen Luft zu machen.

Und streng genommen hatte ich recht – Chris hatte keine Ahnung, worum es ging. Er glaubte, es ginge nur um Liora. Aber da war noch so viel mehr.

Da gab es diesen kleinen Jungen, den ich fallen gelassen hatte, weil ich zu feige gewesen war, um bei ihm zu bleiben.

»Mag sein. Aber ich glaube, dass du sie liebst. Und ich glaube, dass sie dich liebt. Es gibt schon so viele verliebte Menschen auf dieser Welt, denen es unmöglich ist, zusammen zu sein. Ihr habt diese Chance. Werft sie bitte nicht weg.«

Glaubte er wirklich, ich warf diese Chance einfach so weg? Glaubte er, ich wäre dazu imstande gewesen, diese Frau zu verlassen, wenn ich eine andere Wahl gehabt hätte? Gerade weil ich sie liebte, hatte ich gehen müssen. Damit ich sie nicht auch noch mit mir in die Tiefe zog. »Ich bin dir wirklich dankbar für alles, aber du hast nicht den Hauch einer Ahnung, wovon du sprichst. Also bitte, lass mich verdammt noch mal einfach in Ruhe.«

Ein paar Sekunden lang sagte Chris nichts. Da war nur sein Blick, der mich voller Mitgefühl und Wehmut musterte. Dann seufzte er und nickte mir knapp zu. »Ist okay.«

Wir blieben noch kurz nebeneinander sitzen. Irgendwann kam Jacob, sein bester Freund und Mitbewohner, zu uns und legte Chris einen Arm um die Schulter. Er flüsterte ihm etwas ins Ohr, woraufhin Chris sich entschuldigte und mit Jacob verschwand.

Ich war dankbar, dass sie mich allein ließen.

Und ich hasste es, dass sie mich allein ließen.

Denn wenn ich allein war, war es, als hätten meine Gefühle viel mehr Platz, um sich auszubreiten. Chris’ ständige Nachfragen und seine Anwesenheit waren manchmal vielleicht unangenehm, aber zumindest durchbrachen sie hin und wieder die dunkle Gedankenspirale, die mich gefangen hielt. Ohne ihn war da niemand, der mich ablenkte. Niemand, der verhinderte, dass die Dunkelheit sich über meine Seele legte. Ich spürte die Schuld. Den Schmerz. Die Verzweiflung. Sehnsucht. Es war so viel.

Und ich hatte nicht den Hauch einer Ahnung, wie ich das überstehen sollte. Wie ich dieses Chaos, das ich Leben nannte, wieder unter Kontrolle bringen sollte, wenn mit jedem Tag deutlicher wurde, dass ich dem nicht gewachsen war.

KAPITEL 2

Liora

Nichts brach auf dieselbe Art und Weise, auf die Herzen brachen.

Ich wusste es, denn ich hatte diese Erfahrung in der Vergangenheit schon so oft gemacht … Während meiner gesamten Highschoolzeit hatte ich mich dem Mobbing meiner Mitschüler gestellt. Hatte gegen die Selbstzweifel gekämpft, die sie in mir gesät hatten. Ich hatte meine beste Freundin … meine Schwester gehen lassen müssen und mich in meiner Trauer um sie verloren.

Aber anscheinend war das noch nicht genug gewesen. Scheinbar ließ der nächste Schmerz nie lange auf sich warten, denn es war besonders schmerzvoll, sich in Kieran Montgomery zu verlieben und sich von ihm das Herz brechen zu lassen. Es war seltsam, wie schnell sich ein Herz an einen Menschen gewöhnen konnte. Ich hatte Kieran nur für wenige Wochen gekannt, doch schon bald hatte er jeden meiner Gedanken kontrolliert. Jeder Atemzug fiel mir leichter, wenn er bei mir war, und jedes Mal, wenn er mich küsste, schlug mein Herz doppelt so schnell. Kieran war der erste Mann gewesen, der mir gezeigt hatte, wie Liebe sich wirklich anfühlen konnte.

Und dann war er gegangen.

Ich hatte schon seit einer Woche nichts mehr von ihm gehört, und das brach die Scherben meines Herzens in noch kleinere Splitter. Die Menschen sagten, dass es mit der Zeit leichter werden würde, aber es fühlte sich nicht so an. Mit jedem Tag, der verging, vermisste ich ihn ein wenig mehr. Jeden Morgen wachte ich auf und checkte als Erstes mein Handy, um zu sehen, ob er sich gemeldet hatte, und jeden Morgen sank ich mit einem schmerzhaften Ziehen in der Brust wieder zurück in die Matratze. Denn er schrieb mir nie, und das tat verdammt weh.

Ich hoffte.

Und ich wurde meiner Hoffnung Tag für Tag mehr beraubt.

»Ich brauche deine Hilfe«, riss mich im nächsten Moment Jos Stimme aus meinen Gedanken. Sie stand ein paar Schritte entfernt hinter der Theke und band einen Strauß aus Lilien und Schleierkraut für einen älteren Herrn, der sie mit einem warmen Lächeln bedachte. Als ich sie ansah, deutete sie auf einen Zettel, der neben ihr auf der Theke lag. »Könntest du bitte die Liste nehmen und in der Kühlung eine kurze Bestandskontrolle machen? Dann kümmere ich mich um die Kundschaft.«

Ich nickte, bevor ich nach der Liste griff und damit im Aufenthaltsraum verschwand. Dort öffnete ich die Tür zur Kühlung, trat hinein und glich die Blumen auf der Liste mit unseren Vorräten ab. Die fehlenden Pflanzen, die noch nicht auf dem Zettel standen, ergänzte ich, bevor ich wieder nach vorne ging und Jo die Liste überreichte.

»Das meiste stand schon drauf, aber ein paar Blumen müssen doch noch nachbestellt werden«, erklärte ich.

»Super, danke!« Sie nahm mir den Zettel mit einem müden Lächeln ab, bevor sie dem letzten Kunden einen Strauß überreichte und sich dann an mir vorbei auf die Verkaufsfläche schob. Sie sah sich einmal um und warf dann seufzend die Arme in die Luft. »Hier muss noch so viel aufgeräumt werden.«

Seit Kieran weg war, arbeitete Jo fast schon pausenlos, weil seine Unterstützung fehlte und es so viel zu tun gab, dass wir kaum hinterherkamen. Meistens war sie morgens die Erste im Laden und abends die Letzte, die ging. Und langsam machte ich mir Sorgen um sie, denn es konnte nicht gesund sein, so viel zu arbeiten. Man merkte ihr an, wie sehr ihr die derzeitige Situation zusetzte. Sie war viel gereizter als zuvor, nahm sich keine Pausen, und da war eine Erschöpfung in ihrem Blick, die mich jedes Mal schwer schlucken ließ.

Es erinnerte mich an ihren Zustand, nachdem sie Hannah entlassen hatte. Schon damals hatte sie sich mit der Arbeit übernommen, bis wir Kieran eingestellt hatten. Und wenn ich ehrlich war, dann war es in der Vergangenheit immer so gewesen. Wenn Not am Mann war, war Jo diejenige, die es zu regeln versuchte. In ihrem blinden Ehrgeiz bürdete sie sich stets zu viel auf, und manchmal hatte ich das Gefühl, dass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis ihr alles um die Ohren flog.

»Das können wir doch auch morgen noch machen«, versuchte ich es, obwohl ich wusste, dass das nichts brachte.

Jo schüttelte den Kopf. »Ich muss gleich noch die Blumen bestellen, und die werden ja schon morgen geliefert und müssen dann in die Kühlung eingeräumt werden. Außerdem muss ich direkt danach noch für eine Beerdigung ausliefern und ein paar Pflanzen umtopfen. Das hatte Rose eigentlich erledigen wollen, aber sie liegt ja schon seit drei Tagen flach.«

Ich seufzte und holte den Besen aus dem Aufenthaltsraum, um die herumfliegenden Blätter auf dem Boden zusammenzufegen. »Okay. Das kriegen wir sicherlich hin.«

»Du musst das nicht machen«, erwiderte sie, weil sie wusste, dass ich erst gehen würde, wenn hier alles in Ordnung war. »Du hast in zehn Minuten Feierabend.«

»Ich lasse dich damit nicht allein.« Denn dann würde sie noch mindestens drei Stunden hier festsitzen, und das konnte ich ihr nicht antun. Sie hatte seit Tagen kaum Zeit für sich und brauchte jede freie Minute, die sie kriegen konnte. Und wenn ich ihr mit meiner Hilfe einige Momente der Ruhe schenken konnte, würde ich es tun. Außerdem konnte ich durch die Arbeit zumindest für ein paar Minuten meine eigenen Gedanken davon abhalten, zu Kieran zurückzuwandern.

Jo versuchte sich an einem Lächeln, doch es wirkte unendlich müde. »Danke. Ich wüsste nicht, was ich ohne dich machen würde.«

Ich lächelte zurück, auch wenn ich mich nicht danach fühlte. »Was muss denn heute noch alles erledigt werden?«

»Ich rücke hier alles ein wenig gerade, räume auf und kümmere mich dann um die Bestellungen. Könntest du, wenn du mit Fegen fertig bist, die Schnittblumen am Schaufenster kontrollieren und die verwelkten aussortieren? Dann müssten wir eigentlich durch sein.«

Ich nickte, bevor ich die zusammengefegten Blätter entsorgte. Dann ging ich zum Schaufenster und arbeitete mich durch die Blumen. Immer wieder zog ich kaputte oder schlaff herabhängende aus den Vasen und warf sie in einen kleinen leeren Tontopf.

Als ich im Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm, sah ich auf.

Avery.

Sie stand am Fenster des Friseursalons auf der anderen Straßenseite und sah zum Golden Flower herüber. Selbst aus dieser Distanz konnte ich den mir so bekannten Ausdruck in ihren Augen sehen: Schmerz.

Seit Kieran weg war, stand sie oft an diesem Fenster. Als wartete sie nur auf den Moment, in dem er zurückkommen würde. Und jedes Mal, wenn sie enttäuscht feststellte, dass er nicht auftauchte, wandte sie sich mit einem traurigen Ausdruck in den Augen wieder ab.

Unsere Blicke kreuzten sich, und ich konnte die Frage an ihrem Gesicht ablesen.

Ist er zurück?

Ich schüttelte nur den Kopf.

Nein, ist er nicht.

Sie schloss die Lider, atmete tief durch, und als sie mich wieder ansah, nahm ich das Zerbrechen von Hoffnung in ihrem unendlich traurigen Lächeln wahr. Dann nickte sie mir knapp zu, wandte sich ab und verschwand aus meinem Sichtfeld.

Ich wusste genau, wie sie sich fühlte. Jeder weitere Tag ohne ihn fühlte sich wie ein Sieg für die Stimme in meinem Kopf an, die mir einredete, dass er weg war – endgültig.

Ich versuchte, diese Gedanken zu verdrängen, indem ich mich in die Arbeit stürzte. Als ich mit dem Aussortieren der Blumen fertig war, half ich Jo dabei, die Verkaufsfläche aufzuräumen, damit sie sich den Bestellungen widmen konnte.

»Fertig!«, verkündete sie rund eine Stunde später. Mit einem erschöpften Seufzen lehnte Jo sich gegen die Theke. »Noch mal danke, dass du länger geblieben bist und mir geholfen hast.«

»Für dich doch immer.«

Sie hielt kurz inne, als würde sie überlegen, ob sie ihre Gedanken laut aussprechen sollte. Doch dann gab sie sich einen Ruck. »Du musst das nicht tun, Snowflake. Ich verstehe es total, wenn du momentan mehr Zeit für dich selbst brauchst. Ich finde schon irgendwie eine Lösung, falls du dir eine Auszeit nehmen musst. Weniger Aufträge anzunehmen, wäre schon mal ein Anfang.«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, schon gut. Ich möchte ja arbeiten.«

»Bist du sicher?«, fragte sie und musterte mich genau, als würde sie nach dem kleinsten Anzeichen für das Gegenteil in meinem Gesicht Ausschau halten.

»Ja. Ich möchte nicht allein in meiner Wohnung sitzen, nachdenken und mich von meinen Gefühlen überrollen lassen. Ich glaube, es tut mir gut, wenn ich viel zu tun habe.« Zumal Kieran mein Nachbar gewesen war. Wenn ich in meiner Wohnung saß, fiel mir sein Fehlen immer besonders auf. Denn ich realisierte jedes Mal aufs Neue, dass uns nun mehr als nur ein Stockwerk voneinander trennte. Mehr als nur ein paar Treppenstufen, die ich gehen musste, um bei ihm zu sein.

Mit einem Mal wurden Jos Züge weicher. »Das verstehe ich. Manchmal ist es einfach zu viel, um sich sofort damit zu beschäftigen. Aber wenn du sie zu lange verdrängst, werden sie dich früher oder später mit voller Wucht erwischen. Ich bin das beste Beispiel dafür. Also lass dich auf sie ein.«

»Ich weiß nicht, ob ich das kann«, gab ich mit zitternder Stimme zu, denn dieser Gedanke machte mir furchtbare Angst. Schon die winzigen Momente, in denen die Sehnsucht nach ihm sich mit einem Mal ihren Weg an die Oberfläche bahnte, fühlten sich an, als würde mir jemand die Luft abschnüren. Wie sollte es erst werden, wenn ich jede einzelne Nuance meiner Gefühle zuließ? Wenn ich all den Schmerz spürte, den sein Verlassen in mir zurückgelassen hatte?

»Ich fürchte, du musst.«

Mochte sein, dass sie recht hatte, aber jede Faser in meinem Körper wehrte sich dagegen. Ich war dazu gerade nicht in der Lage. Und mir von ihr den richtigen Weg zeigen zu lassen, machte es nur noch schwerer, wenn ich nicht dazu bereit war, ihn zu gehen. Also mobilisierte ich all die Energie, die ich noch aufbringen konnte, straffte die Schultern und presste ein leises »Mir geht’s gut« hervor. Eins, das nicht so überzeugend klang, wie ich es mir vorgestellt hatte.

»Sicher?«

Ich öffnete den Mund, wollte irgendetwas sagen, um sie davon zu überzeugen, doch mir kam kein einziges Wort über die Lippen.

Jo wartete ab und gab mir den Raum, den ich brauchte, um mich zu sammeln. Doch als ich nicht sprach, stellte sie die Frage, vor der ich mich am meisten fürchtete: »Wie geht es dir wirklich, Liora?«

»Ich … Mir …« Ich dachte an Kieran. Dachte an das Gefühl, von ihm gehalten zu werden. An seine Küsse und an die Wärme seines Körpers. Ich dachte an all die Male, in denen er die Wunden meiner Seele mit seinem Lächeln geheilt hatte. Und an seine Dunkelheit. Daran, dass er es mir erlaubt hatte, Licht in seine Finsternis zu bringen.

Doch all diese Gedanken fielen in sich zusammen, als mein schmerzendes Herz mich daran erinnerte, dass er nicht mehr da war. Dass all diese Erinnerungen nur ein Teil meiner Vergangenheit waren und es nicht danach aussah, dass die Gefühle, die er in mir ausgelöst hatte, auch Teil meiner Zukunft sein könnten.

»Liora?«

Ich sah auf, und als ich die Sorge und das Mitgefühl in Jos Blick sah, brach mein letzter Widerstand endgültig weg. Ich spürte ein Brennen hinter meinen Augen, und im nächsten Moment lief auch schon die erste Träne über meine Wange. »Ich vermisse ihn …«

»Oh, Snowflake.« Ohne zu zögern, nahm Jo mich in die Arme. Sie hielt mich fest, während immer mehr Tränen sich ihren Weg an die Oberfläche bahnten.

Ich weinte und weinte, und ich wusste nicht, ob ich jemals damit aufhören würde, denn er fehlte mir so sehr. Jemanden zu vermissen, den man liebte, ihn nicht bei sich haben zu können, obwohl man es so sehr wollte, dass es wehtat – das war eines der schlimmsten Gefühle.

Ich hatte es schon einmal mit Eliza durchlebt, und ich hatte so sehr gehofft, diese Erfahrung nicht noch einmal machen zu müssen. Doch dann hatte Kieran etwas in mir ausgelöst, womit ich niemals gerechnet hatte. Etwas, dessen Fehlen nun eine Leere in mir hinterließ – auf eine andere Weise als Eliza, und doch so ähnlich.

»Es ist okay«, flüsterte Jo in mein Haar, aber wir wussten beide, dass es eine Lüge war. Nichts war okay.

»Wieso ist er gegangen?«, fragte ich, und meine Stimme brach unter dem Gewicht dieser Frage. Als Jo nicht antwortete, löste ich mich von ihr, und die Wehmut in ihren Augen traf mich unvorbereitet.

»Ich weiß es nicht.«

Aus irgendeinem Grund jagte mir diese Antwort noch mehr Tränen in die Augen. »Wieso hat er zugelassen, dass das zwischen uns so intensiv wird, wenn er sowieso gehen wollte? Wieso hat er mir so viel von sich gegeben und so viel von mir genommen, wenn das sein Plan war?«

»Vielleicht war es das gar nicht. Vielleicht wollte er nicht gehen. Vielleicht ist irgendetwas vorgefallen«, erklärte sie, als wollte sie wirklich daran glauben.

»Vielleicht …« Aber ich wusste nicht, ob mir dieses Vielleicht reichte. Denn wenn man anfing, jemanden auf die Weise zu lieben, auf die ich Kieran liebte, dann gab man diesem Menschen ein Stück von sich mit. Und wenn diese Person dann ging, nahm sie dieses Fragment mit sich. Kieran war mit einem Teil von mir gegangen, und ich fragte mich, wie ich mich jemals wieder vollständig fühlen sollte.

»Es tut mir so unendlich leid.«

Ich versuchte mich an einem Lächeln. »Danke.«

Jo nahm mich noch einmal kurz in den Arm. Dann wischte sie mir die Tränen von den Wangen und sah mich vorsichtig an. »Wie soll es jetzt weitergehen?«

»Ich habe keine Ahnung. Um ehrlich zu sein, fühlt es sich derzeit irgendwie noch unwirklich an«, gab ich zu, denn Kieran war so schnell zu einem festen Bestandteil meines Lebens geworden, dass es seltsam war, jetzt wieder ohne ihn zu sein. Seine Nähe war mit der Zeit zu einer Selbstverständlichkeit geworden, von der ich gedacht hatte, sie nie wieder zu verlieren.

»Das verstehe ich.«

Ich schnaubte frustriert. »Welche Optionen hab ich überhaupt?«, fragte ich, weil es sich so anfühlte, als wären mir die Hände gebunden.

»Du kannst warten und hoffen. Darauf, dass er zu dir zurückkommt. Dass er sich wieder meldet und ein Teil deines Lebens wird. Oder aber du ziehst einen Schlussstrich. Wie auch immer deine Entscheidung ausfallen wird, ich stehe hinter dir.« Wie zum Beweis griff sie nach meiner Hand und drückte sie einmal fest.

Ich dachte über ihre Worte nach. Vermutlich war es das Einfachste, Kieran zu vergessen. Er hatte nur wenige Wochen gebraucht, um sich in mein Herz zu schleichen, und vielleicht würde ich dann auch in wenigen Wochen über ihn hinwegkommen. Das ergab doch Sinn, oder?

Aber wenn ich ehrlich zu mir selbst war, dann wusste ich, dass es nicht das war, was ich wollte. Das zwischen Kieran und mir … Es hatte sich zu besonders angefühlt, um es jetzt einfach aufzugeben und zu akzeptieren, dass Kieran es weggeworfen hatte. Denn er hatte es verdient, dass man ihn nicht aufgab, egal, was passiert war.

Wir hatten es verdient.

»Ich kann ihn nicht gehen lassen, Jo.«

Sie lächelte. »Ich hatte gehofft, dass du das sagen würdest.«

KAPITEL 3

Kieran

Mit jedem Tag, den ich in San Francisco verbrachte, hatte ich das Gefühl, mich ein wenig mehr von mir selbst zu entfernen. Ich verbrachte die Abende jedes Mal auf dieselbe, selbstzerstörerische Art und Weise: Ich ging ins House of Soul, setzte mich an die Bar und trank, um zu vergessen – sowohl Luke, den ich im Stich gelassen hatte, als auch Liora, die ich vermisste. Es war, als wäre der Alkohol meine letzte Zuflucht, und wenn ich am nächsten Tag aufwachte, verkatert und mit dröhnendem Schädel, der mich den ganzen Tag auf die Couch zum Ausnüchtern fesselte, hasste ich mich selbst jedes Mal ein wenig mehr.

Doch auch mein Selbsthass hielt mich nicht davon ab, am nächsten Abend wieder an der Bar zu sitzen und den Whiskey in einem Zug runterzuschütten. Glas um Glas. Ich wusste, dass das keine dauerhafte Lösung sein konnte, aber im Moment war es die einzige, die das Atmen erträglich machte. Also trank ich weiter, bis ich spürte, dass meine Gedanken nicht mehr allzu schwer auf mir lasteten.

»Darf ich mich zu dir setzen?«

Ich drehte den Kopf zur Seite, und mein Blick fiel auf Chris, der, ohne meine Antwort abzuwarten, einfach auf dem Hocker neben mir Platz nahm.

»Wie geht’s dir heute Abend?«

Ich seufzte. »Frag nicht.«

»Ich werde immer fragen, Kieran.«

»Ich will aber nicht gefragt werden«, beharrte ich stur.

Chris ballte seine Hand zu einer Faust, und es war, als würde sich jeder Muskel in seinem Körper anspannen. »Was soll ich denn sonst machen? Ich kann nicht einfach nur stumm danebensitzen und zusehen, wie du dich selbst kaputtmachst.«

Ich verstand ihn. Seine Wut und sein Gefühl von Hilflosigkeit. In der kurzen Zeit, die wir uns kannten, war Chris mit seiner Art schnell zu einem Menschen geworden, dem ich vertraute. Ich konnte es mir selbst nicht ganz erklären. Da war eine seltsame Verbindung zwischen uns, und wäre ich an seiner Stelle gewesen, hätte ich auch nicht einfach stumm danebensitzen können, während er sich in seinem Leid verlor.

»Zeit«, flüsterte ich. »Gib mir einfach ein wenig Zeit.«

Chris’ Faust löste sich, und er atmete einmal tief durch. Scheinbar war selbst eine knappe Erklärung noch immer besser als gar keine. »In Ordnung.«

Mich beschlich das Gefühl, ihn belogen zu haben. Nicht, weil ich nicht wirklich Zeit brauchte, sondern weil ich die Befürchtung hatte, dass selbst noch mehr Zeit mir nicht helfen würde. Man sagte, dass die Zeit alle Wunden heilte, doch was, wenn das nur eine Lüge war, die die Menschen sich selbst erzählten, weil sie viel zu große Angst vor der Wahrheit hatten?

Denn die Wahrheit war, dass manche Wunden niemals heilten. Egal, wie sehr wir es uns wünschten.

»Ich bitte um eure Aufmerksamkeit«, ertönte mit einem Mal eine weibliche Stimme.

Chris und ich drehten uns um und warfen einen Blick auf die Bühne, wo die Sängerinnen, Sky, Brooklyn und Amy, in engen roten Kleidern standen und darauf warteten, dass das Publikum verstummte. Ihre Haare fielen ihnen in eleganten Locken über die Schultern.

»Als Nächstes würden wir gerne einen Song singen, den ihr bisher noch nie von uns gehört habt. Doch ich bin von einem von euch vor Kurzem auf ihn aufmerksam gemacht worden und habe mich direkt verliebt. Er ist zwar ein wenig traurig, aber ich weiß, wie viel dieser Song in einem auslösen kann.« Amy hielt kurz inne und ließ ihren Blick einmal quer durchs Publikum gleiten. »Wir hoffen, es gefällt euch. Hier kommt The Night We Met

Die Musik setzte ein, und augenblicklich breitete sich eine Gänsehaut auf meinen Armen aus. Jeder in diesem Raum verstummte, und alle Blicke richteten sich auf die Bühne. Und als sie zu singen anfingen – eine dreistimmige Harmonie, bei der ihre Stimmen einander perfekt umspielten und sich doch zu einer Mauer aus Emotionen verbanden –, spürte ich den Schmerz in jeder einzelnen Note.

Nach dem Intro übernahm Amy die erste Strophe. Mit einer leicht rauen Stimme sang sie von der Vergangenheit, in der sie nach einem Weg gesucht hatte, dem sie folgen konnte. Und von dem Wunsch, zu der Nacht zurückzukehren, in der sie jemand Besonderen kennengelernt hatte.

Ich wollte es nicht, doch wie von selbst wanderten meine Gedanken zu Liora. Ich dachte an die Nacht, in der wir uns das erste Mal getroffen hatten. Wie ich auf der Stufe vor diesem Gebäude gesessen hatte, während mich ihr Blick aus eisblauen Augen voller Neugier gemustert hatte. Und obwohl ich mich nicht gerade freundlich verhalten hatte, hatte sie sich einfach neben mich gesetzt und angefangen zu reden. Damals hatte ich noch keine Ahnung gehabt, was sie mir irgendwann einmal bedeuten würde.

Im Refrain stieg Sky mit ein. Gemeinsam erzählten sie davon, wie es war, wenn man alles von einem Menschen hatte und ihn dann Stück für Stück verlor, bis einem nichts mehr blieb. Die Worte fühlten sich wie kleine Splitter an, die sich in meine Seele bohrten, weil sie mir die unschönen Wahrheiten bewusst machten, die ich die meiste Zeit verdrängte. Normalerweise funktionierte das auch, doch hier und jetzt, während dieser Song Klarheit in meine Dunkelheit brachte, war es mir unmöglich, die Augen zu verschließen.

Ich hatte mich in Liora White verliebt. In die Frau, die mir alles von sich gegeben hatte. Vielleicht war es nur für einige kurze Momente gewesen, doch ich hatte das Gefühl gehabt, dass jede ihrer Fasern zu mir gehörte. Aber je mehr Zeit verging, desto mehr spürte ich, dass ich sie gehen lassen musste. Auch wenn sich alles in mir vor diesem Gedanken versperrte, wusste ein Teil von mir insgeheim, dass es das einzig Richtige war.

In der zweiten Hälfte des Refrains sangen sie von dem Gefühl, nicht zu wissen, was zu tun war. Davon, dass der Geist der Person, die sie verloren hatten, sie noch immer heimsuchte. Ich schluckte schwer und umklammerte das Glas in meiner Hand ein wenig fester.

Wie konnte es sein, dass dieser Song mein Leben so perfekt einfing? Es war, als wäre er für mich geschrieben worden, und obwohl jede Zeile und jedes Wort schmerzte, berührte er mich auch auf eine ungeahnte Art und Weise.

Immer wieder musste ich an Liora denken, und ich hatte keine Ahnung, wie ich sie jemals vergessen sollte. Wie sollte ich über einen Menschen hinwegkommen, der mir so sehr das Gefühl gegeben hatte, geliebt zu werden, obwohl die Stimme in meinem Kopf mir immer wieder eingeredet hatte, dass jemand, der von seinen eigenen Dämonen zerfressen wurde, nicht geliebt werden konnte?

Als der Refrain endete und die Musik wieder ruhiger wurde, hob Brooklyn ihr Mikrofon zum Mund und sang von einer dunklen, tränenreichen Nacht voller Schrecken.

Die Strophe weckte die Erinnerung an die Nacht, in der Liora und ich zusammen auf dem Sky Tower gewesen waren. Sie hatte mir von dem Schmerz erzählt, den Elizas Verlust in ihr hinterlassen hatte, und ich hatte die tragische Geschichte meiner Eltern mit ihr geteilt. Sie hatte geweint, und ich hatte ihre Tränen fortgewischt. Es war der erste Moment gewesen, in dem wir wirklich offen miteinander gesprochen hatten. In dem wir einander unsere schmerzhaftesten Wahrheiten gezeigt und unsere Narben akzeptiert hatten, statt sie zu verstecken.

Ein letztes Mal erklang der Refrain.

Ein letztes Mal der Wunsch, in diese eine besondere Nacht zurückzukehren. Und als die letzte Note verklungen war, breitete sich eine unendlich schwere Stille im Raum aus. Niemand applaudierte, denn alle schienen ihren eigenen Gedanken nachzuhängen. Dieser Song … Er hatte etwas tief in mir berührt.

Wir Menschen waren wahre Meister im Verdrängen. Wenn etwas schmerzte, dann schoben wir es in die hinterste Ecke unseres Bewusstseins, um uns damit nicht auseinandersetzen zu müssen. Aber mit jeder Zeile dieses Songs hatten Sky, Brooklyn und Amy die unterdrückten Gefühle der Menschen in diesem Raum berührt.

»Es war wunderschön«, flüsterte Chris neben mir und drückte sich seine Faust auf das Herz.

Ich nickte, und mit einem Mal war da ein Brennen in meinen Augen, das mir die Sicht nahm.

Ich hatte sie gehabt.

Doch jetzt lagen Hunderte Kilometer zwischen uns.

Ich vermisste sie.

Und ich konnte nichts dagegen tun.

Eine Träne löste sich aus meinem Augenwinkel, doch ich wischte sie weg, bevor Chris etwas merken konnte. Dann drehte ich mich zu ihm, doch er beachtete mich gar nicht.

Sein Blick lag auf Cohen, der in diesem Moment eine Wodkaflasche so fest umklammert hielt, dass ich Angst bekam, sie würde zwischen seinen Fingern zerbrechen. Sein ganzer Körper war angespannt, und sein dunkler Blick fixierte die Bühne. Im nächsten Moment stellte er die Flasche mit einem lauten Knall zurück auf den Tisch, wandte sich ab und lief dann Richtung Ausgang.

»Entschuldige mich kurz.«

Bevor ich nachfragen konnte, stand Chris auf und lief Cohen hinterher.

Ich drehte mich wieder von der Bühne weg und lehnte mich gegen die Bar, als mein Handy vibrierte. Ich zog es aus meiner Hosentasche.

Liora; 23:49 Uhr

Hey, ich hab lange nichts von dir gehört. Ich wollte fragen, ob alles in Ordnung ist? Du fehlst mir …

Ihre Nachricht traf mich unvorbereitet. Es war, als würden Scherben in eine Wunde schneiden, die noch gar nicht aufgehört hatte zu bluten. Jeder Atemzug tat weh, und es wurde noch schlimmer, als die Stimme in meinem Kopf mich daran erinnerte, wie ungerecht das alles war.

Sie vermisste einen Mann, den sie nicht vermissen sollte. Jemanden, der es nicht verdient hatte, dass man ihn vermisste.

Der Drang, ihr zu antworten, war gewaltig. Am liebsten hätte ich ihr geschrieben, dass es mir genauso ging. Dass ich sie ebenfalls vermisste und nichts lieber tun würde, als zu ihr zurück nach Northlake City zu kommen. Aber es wäre falsch, denn ich wusste, dass ich nicht zurückkehren würde. Ich würde nur falsche Hoffnung in ihr wecken, und das konnte ich ihr nicht antun, egal, wie sehr alles in mir in diesem Augenblick danach verlangte, uns beiden vorzuspielen, dass es noch nicht vorbei war.

Bevor ich etwas tun konnte, was ich später bereuen würde, kam Chris zurück und setzte sich wieder auf den Platz neben mir. »Tut mir leid, ich musste kurz mit Cohen reden.«

»Geht es ihm gut?«

Chris zögerte, und eigentlich war das schon Antwort genug. »Ich glaube nicht, aber das würde er mir gegenüber niemals zugeben. Cohen redet nicht gerne über die Dinge, die ihn belasten.«

»Auch nicht mit dir?«

Chris schüttelte den Kopf. »Eigentlich kennen wir uns gar nicht so gut. Wir haben halt ein paar gemeinsame Freunde, das war’s. Ich hatte nur gerade das Gefühl, dass er jemanden zum Reden braucht. Aber wenn er das nicht will, möchte ich mich ihm nicht aufdrängen.«

Ich warf einen knappen Seitenblick zu Cohen und fragte mich, welche Erinnerungen es wohl waren, die dieser Song in ihm ausgelöst hatte.

»Ich glaube, er ist insgeheim ziemlich einsam«, sprach Chris weiter, als hätte er meine Gedanken gehört.

Ich atmete tief durch und zwang mich zu einem mitfühlenden Nicken. Ich wusste genau, wie Cohen sich fühlen musste. Einsamkeit war eines der schlimmsten Gefühle, die es gab.

Verdammt, wie geht es Luke? Ist er in dieser großen Welt ohne seine Eltern auch einsam?

Ich schüttelte den letzten Gedanken ab und antwortete stattdessen: »Ich hoffe, dass ihn irgendwann wieder bessere Zeiten erwarten.«

»Da bin ich sicher. Hinter seiner verschlossenen Fassade steckt ein ziemlich netter Kerl, habe ich mir von Amy sagen lassen. Vielleicht macht er gerade eine schwere Zeit durch, aber zumindest kann er sich sicher sein, dass Amy, Brook und Sky immer für ihn da sind, wenn er sie braucht. Und ich würde ihn auch niemals vor den Kopf stoßen, sollte er eines Tages doch reden wollen.«

»Das ist gut.«

»Das ist mein Job, sozusagen.« Er lächelte, doch da war ein Unterton in seiner Stimme, den ich nicht deuten konnte.

Ich erinnerte mich an unsere erste Begegnung, als er mir offenbart hatte, dass er sich einfach von seiner Verantwortung loseisen wollte, weil er zu Hause so viel davon auf sich nahm. Und in diesem Augenblick verstand ich, was er meinte. Er war als Einziger Cohen hinterhergelaufen, um sicherzustellen, dass es ihm gut ging. So, wie er es schon seit Tagen bei mir tat. Er nahm die Verantwortung für das Wohlergehen aller Menschen, die ihm etwas bedeuteten, auf sich, und ich fragte mich, wer sich wohl um ihn sorgte.

»Das ist es nicht«, widersprach ich.

»Ich mache das gerne. Es ist zwar nicht immer einfach, aber es gibt einem ein gutes Gefühl.« Irgendetwas an seinem Ausdruck verriet mir, dass das nur die halbe Wahrheit war. Dass hinter seiner Hilfsbereitschaft mehr steckte, als er zugab.

»Es ist aber absolut okay, wenn du dich auch mal nur um dich selbst kümmerst.«

»Schon in Ordnung. Ich glaube, meine Freunde brauchen diesen Teil von mir noch etwas.«

Ich wusste, worauf er anspielte.

KAPITEL 4

Liora

Ich hatte lange Zeit mit dem Gedanken gespielt, ob das hier eine gute Idee war. Ob ich damit nicht eine Grenze überschritt, weil Luke ein ganz persönlicher Teil von Kierans Leben war, in den ich nicht unaufgefordert eingreifen wollte. Aber ich konnte es nicht mit meinem Gewissen vereinbaren, Luke allein zu lassen, wenn ich wusste, dass er gerade niemanden mehr hatte – es sei denn, Kieran besuchte ihn heimlich, aber aus irgendeinem Grund bezweifelte ich das.

Das war nicht fair, und auch wenn ich nicht für immer bei Luke bleiben konnte, wollte ich ihn wenigstens für ein paar Stunden auf andere Gedanken bringen. Ich wollte nach ihm sehen und ihm das Gefühl geben, dass da jemand war, der an ihn dachte.

Also lief ich durch die Eingangshalle des Krankenhauses, links an der Anmeldung vorbei, und fuhr mit dem Aufzug nach oben. Die Türen glitten auseinander, und ich folgte dem langen Gang, bis ich vor Lukes Zimmertür stand. Ich atmete tief durch, dann trat ich ein – wo mich ein kleines Mädchen fragend ansah.

Sie legte den Kopf leicht schief und musterte mich aus braunen Augen, während sie sich mit der Hand durch die braunen Locken fuhr. »Wer bist du?«

»Oh, entschuldige, ich habe mich wohl im Zimmer geirrt.« Ohne ein weiteres Wort zu sagen, verließ ich den Raum wieder. Ich war mir sicher, dass Luke hier gelegen hatte. Aber wo war er jetzt? Ein mulmiges Gefühl breitete sich in meinem Bauch aus.

Ich lief weiter den Flur entlang und überlegte, wie ich herausfinden konnte, was mit ihm geschehen war, als ich mit einer Krankenschwester zusammenstieß, die gerade um die Ecke kam.

Ich murmelte eine leise Entschuldigung, doch sie antwortete nicht. Stattdessen musterte sie mich, als würde ich ihr bekannt vorkommen. Dabei waren wir uns nie begegnet. Zumindest konnte ich mich nicht erinnern. Doch als die steile Falte zwischen ihren Augenbrauen sich glättete und die Erkenntnis sich auf ihrem Gesicht ausbreitete, wusste ich, dass das wohl nicht auf Gegenseitigkeit beruhte. »Sie waren einmal mit Kieran zusammen hier«, stellte sie fest.

Ich sah sie überrascht an, während mein Herzschlag bei der Erwähnung seines Namens kurz ins Stolpern geriet. »Ja, genau. Sie … Sie kennen ihn?«

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