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Aurora

Als Buch hier erhältlich:

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»Eine fantastische Story, ein echter Pageturner. Es ist unmöglich, das Buch zur Seite zu legen.« Stephen King

Nachdem ein Solarsturm die Energieversorgung der Welt komplett lahmlegt, kämpft Aubrey Wheeler um das Überleben in ihrer Vorstadtsiedlung Aurora - ihr Bruder hingegen hat mit seinem beachtlichen Vermögen schon vor Jahren einen Bunker gebaut, in den er sich zurückziehen und Aubrey ebenfalls in Sicherheit bringen möchte. Kann Aubrey ihm trauen? Und hat ihr Exfreund, der plötzlich wieder vor der Tür steht, wirklich nur ihr Wohlergehen im Sinn?


  • Erscheinungstag: 22.08.2023
  • Seitenanzahl: 352
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365002766

Leseprobe

Für Melissa, um die ich kreise.

Wir sind dazu da, uns gegenseitig bei dieser Sache zu helfen, die wir hier durchmachen – was immer sie sein mag.

– DR. MED. MARK VONNEGUT IN EINEM BRIEF AN KURT VONNEGUT, ZITIERT IN BLAUBART

DAS CARRINGTON-EREIGNIS

Am 1. September 1859 brach eine gigantische, von Magnetfeldlinien durchzogene Wolke aus Sonnenplasma, die sich tief in der konvektiven Zone der Sonne zusammengebraut hatte, aus der Korona hervor und löste sich aus der Anziehungskraft des Sterns. Ein koronaler Massenauswurf ist an sich nichts Außergewöhnliches – normalerweise stößt die Sonne auf dem Höhepunkt ihres Aktivitätszyklus drei oder vier davon pro Erdentag aus. Doch an jenem 1. September 1859 war die dichte Gaswolke des koronalen Massenauswurfs deutlich größer als sonst, etwa so groß wie die Gesamtmasse des Mount Everest, und ihr Neigungswinkel war perfekt auf die Erde ausgerichtet. Das daraus resultierende elektromagnetische Chaos wurde als Carrington-Ereignis bekannt, benannt nach dem britischen Sonnenforscher, der es beobachtete.

Mit einer Geschwindigkeit von über 2000 km/s durchbrach die Sonnenenergie siebzehn Stunden später die Magnetosphäre der Erde und hüllte den Planeten in elektrischen Strom. Telegrafenbetreiber auf der ganzen Welt berichteten von Funkenschlag in ihren Geräten und von geschmolzenen Platinrelais, und vielerorts leuchtete der Nachthimmel für eine Weile taghell. Die nördlichen Polarlichter waren bis in den Süden Kubas und Jamaikas zu sehen, die südlichen bis in den Norden Kolumbiens.

Glücklicherweise bestand das einzig nennenswerte elektrische Netz 1859 aus Telegrafen, die innerhalb weniger Tage repariert werden konnten. Für die überwiegende Mehrheit der Erdbewohner kehrte das Leben sofort zur Normalität zurück, und das Carrington-Ereignis stellte lediglich eine kurze Abwechslung während der letzten eintönigen Tage des Sommers dar.

23 Jahre später, am 4. September 1882, schaltete Thomas Edison die Generatoren der Pearl Street Station in Lower Manhattan ein und aktivierte damit das erste Stromnetz Amerikas. Die Menschheit war auf dem Weg in die totale Abhängigkeit von Strom.

Ein großer koronaler Massenauswurf trifft die Erde im Durchschnitt alle 150 Jahre mit voller Wucht.

Der nächste ist überfällig.

TEIL I

AUSBRUCH

1.

AURORA, ILLINOIS

6:32 Uhr, Dienstag, 14. April

Jeder kannte Norman Levy. Als Professor an der Universität Chicago hatte er talentierte, neugierige Menschen magnetisch angezogen und einen verwandten Geist immer erkannt, wenn er einen sah. Studenten, die nirgendwo so recht hineinpassten, fühlten sich im beengten Büro des Professors oder bei Abendessen, Kaffee und Getränken in seinem Holzhaus am Ende der Cayuga Lane im nahe gelegenen Aurora wie zu Hause. Norman hatte sein ganzes Berufsleben der Erforschung der Sonne gewidmet, doch sein eigentliches Interesse hatte immer Menschen gegolten. Der kinderlose Witwer sammelte Freunde wie andere Schmetterlinge, aber nicht, um sie zwischen Buchseiten zu pressen. Nein, er wollte sich mit ihnen befassen, sie befragen und provozieren, mit ihnen reden. Es gab, da war er sich sicher, nichts, was sich mehr lohnte, als mit Menschen zu reden.

Aber nicht um 6:32 Uhr Central Standard Time. Um diese Uhrzeit klingelte am Dienstag, dem 14. April, der Wandapparat in seiner Küche. Norman, der an der Spüle stand und aus dem Fenster starrte, während er Kaffee kochte, schreckte aus seinen präkoffeinierten Tagträumen hoch und sah das Telefon finster an. Zusammenhanglos schoss ihm eine Zeile aus einem Film durch den Kopf – »Keiner meiner Freunde würde um diese Zeit anrufen.« Das war eine Lüge, denn seine Freunde riefen zu jeder Tages- und Nachtzeit an, doch mit dieser Unannehmlichkeit musste man wohl leben, wenn man Leute in unzähligen Zeitzonen kannte. Norman schlurfte zum Telefon, neigte seine Brille oben ein wenig nach vorn, um zuerst einen Blick auf das Display zu werfen, und bekam die Information, dass der Anruf aus Silver Spring, Maryland, kam. Er nahm ab.

»Wir haben doch schon darüber gesprochen«, sagte Norman.

Die Stimme am anderen Ende klang angespannt und aufgebracht. »Hast du in den letzten vierundzwanzig Stunden irgendwelche Bilder des GOES-16 gesehen?«

»Hier ist es 6:30 Uhr, Kleiner, früher Morgen.«

»Ich rufe dich trotzdem an, Norman. Stell dir vor.«

Norman hörte die Dringlichkeit in Perry St. Johns Stimme und räusperte sich, um sich zu konzentrieren. Er mochte Perry, und zwar seit dem Moment, als der Junge unmittelbar nach der ersten Sitzung der Vorlesung »Einführung in die Astrophysik« direkt auf ihn, den ehrenwerten Professor, zugegangen war, um ihm mitzuteilen, dass er auf der Suche nach einem Mentor sei und sich gerade für Norman entschieden habe. Wer hätte dieser Arroganz widerstehen können? Zwanzig Jahre voller Abendessen, Anrufe und E-Mails später war Perry einer der führenden Forscher der Hauptbeobachtungsstation der NOAA, die die Sonne überwachte. Er ertrug es mit Fassung, dass die lilienweiße Astronomieindustrie ihn mit Argusaugen beobachtete und mit Argwohn betrachtete, auch wenn er es ordentlich satthatte, immer wieder zu beteuern: »Ja, Neil deGrasse Tyson ist eine große Inspiration für mich.« Er hatte sogar Interviews in den Medien über sich ergehen lassen, zu denen man ihn nur gedrängt hatte, um sich mit einem schwarzen Gesicht als Aushängeschild zu schmücken, weil er seinen Job liebte und er wie für ihn geschaffen war. Er bezeichnete sich gerne als Wetterfrosch, was im Grunde nicht falsch war, nur dass er Stürme beobachtete, die Hurrikane der Kategorie 5 wie Frühlingsschauer aussehen ließen.

Perry wiederholte seine Frage. »Hast du die Bilder des letzten Zyklus gesehen?«

»Gestern Abend«, sagte Norman, »danke noch mal für den Zugang. Ich hatte stundenlang Spaß. Stundenlang, Perry.«

»Hast du die Eruption gesehen?«

»Habe ich. Zwei sogar, große. SUVI hat sie erfasst. Sie haben die Insolationssensoren saturiert, deshalb habe ich mich nicht weiter damit befassen können. Warum?«

Am anderen Ende hielt Perry inne und dachte nach. »Ist es möglich, dass sie einen sekundären Ausbruch überlagert haben? Oder einen tertiären?«

Norman runzelte die Stirn. »Ich nehme es an. Hat die Strahlung DSCOVR schon erreicht?«

DSCOVR, der Deep Space Climate Observatory-Satellit, ein Klimaobservatorium im tiefen Weltraum, war ein wichtiges Instrument zur Überwachung des Wetters im Allgemeinen und der Sonnenaktivität im Besonderen. Ende 2015 hatte er nach einem erfolgreichen Start seine Umlaufbahn am Lagrange-Punkt 1, einem neutralen Schwerkraft-Sweet-Spot etwa eine Million Kilometer von der Erde entfernt, erreicht. Von dort aus kreiste DSCOVR im Wesentlichen zwischen der Erde und der Sonne, wobei seine Sensoren nahezu in Echtzeit Informationen an die NOAA sendeten.

»Ja«, antwortete Perry, »sie wird die Erde in etwa fünfundvierzig Minuten um sieben Grad verfehlen. Ich spreche von dem, was dahinter ist.«

»Was ist denn dahinter?«

»Es gab eine dritte Eruption, null Grad Beugung, und sie bewegt sich durch den freien Raum. Neue Bilder sind in der Kurzvorhersage zu sehen. Schau sie dir an. Ich warte.«

Norman ignorierte den Kaffee, nahm das schnurlose Telefon mit in sein Arbeitszimmer und setzte sich an den großen Eichen-Esstisch, den er als Schreibtisch nutzte. Er klappte seinen Laptop auf, klemmte sich das Telefon zwischen Ohr und Schulter und ging direkt auf die NOAA-Website, auf der die Bilder von GOES-16 und des Solar Dynamics Observatory der NASA integriert waren. Für das ungeschulte Auge wären die Sonnenbilder und Datenreihen auf Normans Bildschirm bedeutungslos gewesen, aber für einen Verstand, der seit fünfundsechzig Jahren solche Daten sowohl in visueller als auch in quantitativer Form verarbeitete, waren die koronalen Aufnahmen und die Zahlenreihen, die er sah, das astronomische Äquivalent eines Mannes, der am Rande einer Klippe steht, mit einer Laterne wedelt und schreit: »Die Brücke ist kaputt!«

»Wie groß war der Beugungswinkel noch mal?«, fragte Norman.

»Null«, wiederholte Perry, obwohl er sehr sicher war, dass Norman ihn gehört hatte.

Norman blinzelte. Er nahm die Daten in sich auf. Zweimal.

»Das kann nicht richtig sein«, sagte er.

»Nehmen wir an, es wäre richtig«, antwortete Perry. »Hast du Zeit, ein paar Modelle durchzugehen?«

»Ich bin achtundachtzig verdammte Jahre alt, Perry. Natürlich habe ich Zeit.«

»Berechne die Teilchenstrahlung in der geostationären Umlaufbahn«, bat Perry.

»Da wäre ich von allein nie draufgekommen.« Norman war jetzt hellwach und voll konzentriert. Er klappte einen zweiten Laptop auf, loggte sich ins öffentliche KMA-Überwachungs-Dashboard des Goddard Space Flight Centers ein und rief Daten von den Hunderten von Amateuren auf der ganzen Welt ab, die inoffiziell ein Auge auf die Sonnenfleckenaktivität hatten. Perry war nicht der Einzige, dem die ungewöhnlichen Mengen an Protonen- und Röntgenstrahlen in den letzten achtzehn Stunden aufgefallen waren. Die Sonnenbeobachtungs-Community registrierte, veröffentlichte und interpretierte wie verrückt. Was Norman sah, bestätigte, was Perry vermutet hatte: Es hatte nicht nur eine, sondern drei Eruptionen gegeben, eine größer als die andere, und die schiere Leuchtkraft der ersten beiden hatte die Überwachungsgeräte für die gewaltige dritte Eruption blind gemacht, die einen KMA freigesetzt hatte, der nun im relativ offenen solaren Kielwasser der vorangegangenen Störungen durch den Weltraum surfte.

Die Informationen, die Norman in seine selbst entwickelte Modellierungssoftware lud, waren komplex, weitreichend und umfassten physikalische und technologische Risikofaktoren für die Energieversorgung der Erde auf Grundlage der potenziellen Auswirkungen eines Plasmafeldes von der Größe und Intensität, die sie gerade aufgezeichnet hatten. Als er die Eingabetaste drückte und das Endergebnis in einem kleinen blinkenden Kasten auf dem Bildschirm erschien, spürte Norman, wie ihm der Boden unter den Füßen wegsackte. »Scheiße«, fluchte er.

»Was hast du rausbekommen?«

»Mein Modell taugt offenbar nichts. Ich lasse mal ein anderes laufen. Bleib dran.« Er löschte seine Eingaben und begann von vorn, indem er Daten von verschiedenen Messstellen auf der ganzen Welt abrief und ein alternatives Szenario durchspielte, bei dem er die Amplituden und die Richtung des elektrischen Feldes so weit wie möglich variierte. Er wollte unbedingt ein anderes Ergebnis. Er wollte falschliegen.

Bei der NOAA saß Perry an seiner Überwachungsstation und hörte seinen Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung verzweifelt tippen. Norman war nicht zufällig einer der führenden Sonnenforscher seiner Zeit gewesen: Seine Modelle waren nie falsch. Perry wusste, dass sich Normans erstes Ergebnis, egal, wie es ausfiel, als richtig herausstellen würde. Aber er wusste auch, dass er den alten Mann nicht bei der Arbeit unterbrechen durfte. Ungeduldig saugte Perry Daten auf und rechnete seine eigenen Modelle durch, während er wartete.

Hinter ihm regten sich seine Kollegen in ihrem frühmorgendlichen Dämmer und fragten sich, was er wohl vorhatte. Ken Murtagh schaute Perry mit einem Kaffeebecher mit vermeintlich lustigem Schriftzug in der Hand über die Schulter, während der junge Maestro virtuos mehrere Computer gleichzeitig bediente. Terry Fitzpatrick, der die ganze Nacht auf sein Enkelkind aufgepasst hatte und zu müde war, um sich aus seinem Stuhl zu erheben, rollte diesen mit winzigen Fußbewegungen auf Perrys andere Seite und schielte auf die Bildschirme.

Murtagh sah die Bilder und Datenströme vorbeiziehen und musterte Perry misstrauisch. »Was ist das? Spielst du herum?« Denn die Zahlen konnten nicht stimmen.

Fitzpatrick sah zuerst die Daten und dann Perry an. Er schob sich die Brille auf die Stirn und stellte eine Frage.

»Streifschuss?«

»Sieht nicht so aus.«

Fitz starrte auf den Bildschirm und nahm die Informationen auf, während Perry sie in die Simulationen lud. »Wie lange?«

Perry, der sein Handy zwischen Ohr und Schulter geklemmt hatte, merkte, dass sein Nacken ihn umbrachte, hob den Kopf und ließ das Mobiltelefon mit einem Klappern auf den Schreibtisch fallen, während er die Daten eingab. Am anderen Ende der Leitung hörten die anderen Normans aufgeregte Stimme, die rief: »He! He, bist du noch da?« Aber Perry tippte weiter, ließ ein Modell nach dem anderen laufen, und jedes Mal, wenn eines von ihnen mit einem Signalton bekanntgab, dass es zu Ende gerechnet hatte, war das Ergebnis dasselbe oder ähnlich wie die vorhergehenden.

»Perry«, fragte Fitz immer drängender, »wie viel Zeit bleibt uns noch?«

Aus dem Telefon ertönte Normans verzerrte Stimme. Murtagh drehte das Telefon um und drückte die Lautsprechertaste. Normans Stimme erklang zu laut: »… nicht falsch! Diese Scheiße ist nicht falsch!«

Im ganzen Raum drehten sich Köpfe. Andere kamen hinzu. Der Lautsprecher verzerrte Normans Stimme. Perry hob eine Hand und brachte die Diskussion hinter ihm für einen Augenblick zum Schweigen, während er die Eingabetaste drückte und dem Rechner befahl, seine letzte Simulation durchzuführen. Alle warteten still darauf. Der Computer piepste. Er war fertig.

Perry sah auf sein Handy, das auf dem Schreibtisch lag. »Norman? Bist du noch da?«

»Ja.«

»Hast du es durchgerechnet?«

»Dreimal, mit Convacs neuen Transformatorenspezifikationen – und du?«

»Auch.« Perry räusperte sich. »Es ist Carrington-Level, richtig?« Die sieben Männer und Frauen, die hinter ihm versammelt waren, starrten auf das Handy und warteten auf eine Antwort von jemandem am anderen Ende, den keiner von ihnen kannte. Aus einem für sie unerfindlichen Grund schien alles von der Aussage dieses Unbekannten abzuhängen.

Aus dem Lautsprecher erklang Normans raue Stimme. »Im dreißigsten Jahr, am fünften Tage des vierten Monats, da ich war unter den Gefangenen am Wasser Chebar …«

Murtagh unterbrach ihn wie ein Mann, der plötzlich merkt, dass er die Zielscheibe eines Witzes ist: »Entschuldigen Sie, wer zum Teufel sind Sie und was genau machen wir hier?«

Unbeeindruckt beendete Norman das Zitat. »… tat sich der Himmel auf, und Gott zeigte mir Gesichte.«

Perry sah Murtagh an. »Das ist aus der Bibel.«

»Ach was? Warum zitiert der alte Mann aus der Bibel?«

»Die Vision Hesekiels, 593 vor Christus«, sagte Perry. »Manche Leute glauben, sie sei die erste aufgezeichnete Polarlicht-Beobachtung der Welt.«

Fitz legte Perry eine Hand auf die Schulter. »Wie lange noch, Perry?«

»Zwischen sieben und zwölf Stunden. Plus/minus. Die Sonnenwinde sind sehr variabel.«

Fitz stand auf und sah Murtagh an, dessen ohnehin schon blasses Gesicht noch um einige Nuancen bleicher war als noch vor ein paar Minuten.

»Wir isolieren also?«, fragte Fitz.

»Das ordne ich nicht an. Du?«

»Ken, wir reden von einem weltweiten, vollständigen Blackout.«

»Ich ordne eine landesweite Absenkung der Stromproduktion an«, sagte Murtagh.

»Eine Absenkung der Stromproduktion? Warum setzt du nicht einfach eine Sonnenbrille auf? Wie viele Umspanner im Netz stammen von vor 1972

»Soviel ich weiß mindestens zweitausend.«

Fitz nickte und dachte nach. »Fang mit denen an. Ich werde herumtelefonieren und herauszufinden versuchen, wie viele der anderen zehntausend Heißpunkte in den Wicklungen haben, die bei dreißig Ampere Gleichstrom pro Phase durchbrennen könnten.«

Perry schüttelte den Kopf. »Rechne lieber mit fünfzig.«

»Okay, fünfzig.« Fitz war jetzt hellwach, seine Müdigkeit war vergessen.

Murtagh hingegen war wie gelähmt. »Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.«

Fitz sah ihn an. »Anfangen?«, fragte er. »Wir müssen das ganze verdammte Land runterfahren.«

In Aurora legte Norman das schnurlose Telefon auf seinen Schreibtisch und hörte sich ihre aufgeregte Debatte über den blechernen Lautsprecher an. Er erhob sich von seinem Stuhl und betrachtete einen Moment lang die komplizierte Funkanlage am anderen Ende seines Schreibtisches. Bald, dachte er, wird das die einzige Möglichkeit sein, zu kommunizieren.

Er ging zum großen Fenster mit Blick auf die Sackgasse, in der er wohnte. Die Sonne riss gerade den Morgenhimmel auf, war aber noch nicht über den Horizont gestiegen. Fast alle Häuser waren dunkel, abgesehen von vereinzelten Verandalampen, die noch vom Vorabend brannten. Während Norman zusah, erloschen wie jeden Morgen die Quecksilberdampf-Straßenlaternen, da ihre Sensoren erkannten, dass man sie nicht mehr benötigte. Er schaute zum Himmel hinauf, wo die Oberfläche der Venus noch immer das Licht der Sonne reflektierte. Während er hinaufsah, erhob sich der erste unscharfe Rand der Sonnenkorona über die Bäume auf der anderen Straßenseite, und Norman starrte in den schwankenden heißen Rand, bis seine Augen tränten und er den Blick abwenden musste.

Er schloss die Augen und versuchte sich vorzustellen, was das für die Welt bedeutete, aber es war unmöglich. Der Planet war zu groß, seine Systeme zu komplex, und sein Verstand konnte das alles nicht erfassen. Binnen kürzester Zeit würde überall nur noch das unmittelbare Umfeld zählen. Alles, was in seinem Leben noch von Bedeutung sein würde, war das, was in diesem Block passierte, was aus diesen Menschen und denen, die sie liebten, werden würde, welche Entscheidungen sie treffen und welche unvorhersehbaren Konsequenzen sich daraus ergeben würden.

Norman Levy schloss die Augen und versuchte, sich auf den kommenden Sturm vorzubereiten.

2.

AURORA

11:43 Uhr

Aubrey Wheeler schaute auf den abgeplatzten Lack ihrer Fingernägel und fragte sich, wann sie das letzte Mal einen Mann attraktiv gefunden hatte. Sicher nicht jetzt gerade, und schon gar nicht einen dieser beiden Typen.

Die Konferenz hatte in Kansas City stattgefunden, aber nicht in dem guten Kansas City, welches auch immer das sein mochte. Das verdammte Kansas City, in das sie gemusst hatte, war achthundert unbequeme Kilometer von Aurora entfernt, eine Distanz, die entweder eine achtstündige Fahrt für eine sechsstündige Konferenz oder einen überfüllten Flug mit einer beschissenen Fluggesellschaft bedeutete. Sie hatte sich für Letzteres entschieden, für eine spartanische Fluggesellschaft, bei der man keinen Sitzplatz zugewiesen bekam, weshalb sie nach dem Boarding zwischen zwei Ex-Highschool-Footballern gelandet war, deren Vorstellung von persönlichem Freiraum darin bestand, Aubrey keinen zu lassen. Um nicht den ganzen neunzigminütigen Flug über gestresst und wütend zu sein, hatte Aubrey viel zu früh am Tag eine Xanax geschluckt und fuhr nun leicht benebelt, mürrisch und vage deprimiert vom O’Hare nach Hause.

Tatsächlich war ihre Depression alles andere als vage. Sie war sogar sehr konkret und trat nicht zufällig ausgerechnet jetzt auf den Plan, denn Aubrey war auf dem Weg zurück in die Höhle des Löwen. Sie erinnerte sich kaum noch an die Tage, an denen sie halbwegs gestärkt und erfrischt von Geschäftsreisen zurückgekommen war – Zeiten, in denen sie die Chance genutzt hatte, Scott und Rusty für eine Weile zu entkommen, besser und länger zu schlafen und zu lesen und zu essen, was immer sie wollte, ohne sich Gedanken darüber zu machen, ob jemand anderes auch Hunger hatte. Aber diese Tage waren vorbei. Sie waren COVID zum Opfer gefallen, zusammen mit ihrem Seelenfrieden, den besten Jahren ihrer Dreißiger und ihrer Ehe.

Vor der Pandemie war die Konferenzorganisationsfirma, die sie gegründet und geleitet hatte, recht gut gelaufen. Doch über Nacht war die Zahl der Menschen, die bereit waren, mit fünfhundert Fremden in einem fensterlosen, klimatisierten Raum zu sitzen, auf null gesunken, und Aubrey war bereits nach wenigen Monaten kurz vor dem Bankrott gestanden. Sie hatte die gesamte Belegschaft entlassen. Drei Nächte später war sie jedoch nachts mit einer genialen Idee aufgewacht, einer Offenbarung, die dem Rest ihrer Branche auch allmählich dämmerte. Wozu eigentlich das Haus verlassen? Innerhalb von zweiundsiebzig Stunden hatte sie das Unternehmen komplett auf Zoom umgestellt und innerhalb einer Woche die Hälfte des Personals wieder eingestellt. Am Ende des ersten Jahres mit der neuen Ausrichtung hatten sie wieder beinahe so viele Mitarbeiter wie in den berauschenden Tagen vor der Seuche und mehr Kunden als je zuvor, die bereit waren, für die Bequemlichkeit, von zu Hause aus an einer Konferenz teilzunehmen, genauso viel oder mehr zu bezahlen. Sicher, ein paar Idioten hatten irgendwann darauf bestanden, Konferenzen wieder in Person abzuhalten, daher ihre zutiefst verabscheute Reise nach Missouri oder Kansas, aber neunzig Prozent ihrer Arbeit fand jetzt online statt und war profitabel. Sie hatte es sogar geschafft, sich wieder ein anständiges Gehalt auszubezahlen, was für Rusty eine enorme Erleichterung war, den Scheißkerl und Vampir.

Waren das billige Beleidigungen? Klaro! Aber es waren auch treffende Beschreibungen für die beiden Hauptaspekte der Persönlichkeit ihres Ex-Mannes. Rusty war ein »Scheißkerl« im klassischen Sinne von »Exkrement, das es aus dem Körper auszuscheiden gilt«, weil er ihre Zeit, ihre Ressourcen und ihre Liebe in hohem Maße missbraucht hatte. Vor zwei Jahren hatte sie ihn definitiv aus ihrem Körper ausgeschieden. Man konnte ihn auch treffend als »Vampir« bezeichnen, wenn man das Wort im Sinne von »eine Person, die andere rücksichtslos ausnutzt« verstand. Man hätte sogar so weit gehen können, die primäre Definition – »ein monströser Blutsauger« – als zutreffend zu bezeichnen, denn Rusty hatte Aubrey Lebensgeist und Energie ausgesaugt, bis sie sich leer gefühlt hatte wie ein Blazer, der offen auf dem Boden lag.

Sie wusste, es war nicht allein seine Schuld. Aubrey erinnerte sich noch lebhaft an ihre erste Begegnung, bei der er ausgesprochen selbstbewusst aufgetreten war, auf die anziehende, nicht die übertrieben selbstgefällige, hässliche Weise. Rusty hatte Stärke und Autorität ausgestrahlt, aber nicht durch plumpe Angeberei, sondern auf eine ruhige Ich-verfüge-über-eine-Macht-die-ich-nicht-einsetzen-muss-Art. Er war ein guter, ehrlicher und erfolgreicher Generalunternehmer. Aubrey hatte immer mit ihrem Verstand gearbeitet, und es hatte ihr gefallen, dass Rusty handwerklich tätig war. Vor allem aber war ihr Mann das genaue Gegenteil ihres älteren Bruders gewesen – jemand, der sich nicht so ernst nahm, für den sein Körper im Vordergrund stand und er bodenständig war. Sie hatte ihn geliebt, bis er nicht mehr liebenswert gewesen war.

In den vergangenen Jahren hatte sich Rusty immer häufiger ins Koma gesoffen, woran offenbar schon seine erste Ehe gescheitert war – vielen Dank für die Warnung, Cheryl Anne –, was es Aubrey letztlich leicht gemacht hatte. Oder zumindest leichter. Der Mann, den sie geliebt hatte, existierte nicht mehr, und dieser neue Typ war nicht auszuhalten. Erst schleichend, dann plötzlich in rasendem Tempo war der Kerl, den sie zu kennen glaubte, dem Alkohol verfallen, den Drogen, den Wutausbrüchen, den verlorenen Stunden beim Pokern, und sie war ziemlich sicher, dass er in kleinkriminelle Machenschaften verwickelt war. Seltsame Unternehmungen zu allen möglichen Zeiten, um Gott weiß was mit irgendeinem fragwürdigen Kumpel zu machen. Nein, Rusty musste weg, also ging er, raus aus dem Haus, das sie gemeinsam gekauft hatten, und raus aus dem Leben, das sie so sorgfältig geplant hatten.

Aber die Wendung in der Geschichte, der Knackpunkt, der Stachel im Fleisch, wie man sagte, war, dass Rusty nicht alles mitgenommen hatte, als er gegangen war. Er hatte Scott zurückgelassen.

Na ja, das konnte man so auch nicht sagen, schließlich war Scott einfach geblieben. Rustys Sohn aus erster Ehe war damals vierzehn gewesen, alt genug, um in Schwierigkeiten zu geraten, was er auch tat, alt genug, um zu wissen, dass seine Mutter zu weit weg wohnte und sich nicht genug um ihn kümmerte, was sie auch nicht tat, und jung genug, um zu glauben, er könne sich aus dem beschissenen Kreislauf von Vernachlässigung und Drogenmissbrauch befreien, der seine beiden Eltern verschlungen hatte, wenn er nur ein paar kluge Entscheidungen für sein Leben traf. Das Ergebnis stand noch aus.

Da sie beide Männer waren, und zwar aus dem Mittleren Westen, setzten sich Scott und Rusty nicht zusammen und erörterten mögliche Formen des Zusammenlebens. Es war eher so, dass ihnen eines Morgens ungefähr zur gleichen Zeit in Gegenwart des jeweils anderen klar wurde, wie es weitergehen würde. Genauer gesagt war dieser Moment fünfzehn Minuten, nachdem Rusty zu Scott gesagt hatte: »Hol dein Zeug. Wir gehen jetzt« eingetreten. Scott hatte sein Zeug nicht geholt und war auch nicht gegangen.

Rusty hatte die uralte, klapprige Treppe hinaufgeschaut, die seit vier Jahren ganz oben auf seiner Liste der zu erledigenden Aufgaben stand – und die er auf jeden Fall in Angriff nehmen wollte –, und gerufen: »Kommst du oder was?«

Scott hatte durch seine geschlossene Zimmertür zurückgebrüllt: »Verpiss dich.«

Rusty hatte sich umgedreht und Aubrey angesehen, die seitlich in der Küchentür kauerte, halb drinnen und halb draußen, als gäbe es keinen Raum, in dem sie jetzt sein wollte.

»Hast du ihn dazu angestiftet?«

Aubrey hatte ihn nur angestarrt. Nicht dein Ernst.

Rusty hatte sich wieder der Treppe zugewandt und erneut zu Scott hochgebrüllt. »Wenn du jetzt bleibst, dann bleibst du für immer.«

An diesem Punkt hätten manche Teenager irgendetwas Unzusammenhängendes geschrien und die Tür zugeknallt. Andere hätten vielleicht die Lautstärke von Death Grips aufgedreht, einer Rap-Gruppe, die in ihrer Schärfe nur von dem Geräusch übertroffen wird, wenn jemand Alufolie kaut, und zwar direkt am Ohr. Aber Scott Wheeler hatte einfach die Tür geöffnet, war zur Treppe gekommen, hatte zu seinem Vater hinuntergeschaut und zwei Finger seiner rechten Hand in einem unbekümmerten Abschiedsgruß an die Stirn gelegt.

»Adios, Arschloch.«

Rusty hatte seine Tasche genommen und war gegangen.

Um 10:47 Uhr an diesem Morgen war Aubrey sechsunddreißig Jahre alt, kinderlos, seit Kurzem Single und bereit, sich auf jedes Abenteuer einzulassen, das das Leben für sie bereithielt.

Um 10:48 Uhr musste sie einen Vierzehnjährigen großziehen. Den vierzehnjährigen Sohn anderer Menschen.

He, Leben, so habe ich mir das nicht vorgestellt, verdammt noch mal.

Aubrey raste nach Hause zu Scott. Es war kurz nach 13:00 Uhr, was bedeutete, dass sie, wenn sie sich beeilte und der Verkehr sich nicht gegen sie verschwor, in einer Stunde zu Hause sein würde, genug Zeit, um Scotts Zimmer aufzuräumen, ehe er von der Schule kam. Sie hatten verabredet, dass er die beiden Nächte, in denen sie weg war, bei einem Freund übernachten sollte, Aubrey machte sich aber keine Illusionen über seine wahren Absichten, die mit ziemlicher Sicherheit darin bestanden hatten, die Nacht mit Caprice in dem aubreylosen Haus in der Cayuga Lane zu verbringen. Scott war vor sechs Monaten fünfzehn geworden, nach Aubreys Meinung zu jung, um seine Jungfräulichkeit zu verlieren, aber das war eine Sache zwischen ihm und seinen einvernehmlichen Partnerinnen. Sorgen machte sie sich wegen der Drogen.

Scotts Eltern waren beide Alkoholiker. Die Gene arbeiteten eindeutig gegen den Jungen, und Aubrey hatte nicht die Absicht, ihn unter ihrer Aufsicht in dieses dunkle Loch fallen zu lassen. Eine Woche vor der Reise hatte sie drei Zmodo-Überwachungskameras im ganzen Haus installiert, die über WLAN mit einer App auf ihrem Handy verbunden waren, auf die sie bei gutem Netz zugreifen konnte. Eine Kamera befand sich in der Küche, versteckt in einem Stapel Kochbücher, eine im Wohnzimmer, versteckt in einem Turm vernachlässigter Brettspiele, und die dritte war zwischen den Dutzenden ungelesenen Büchern in den Regalen in Scotts Zimmer verborgen.

Letztere hatte Aubrey hektisch abgeschaltet, nachdem sie bei einem Testlauf ein paar Tage vor ihrer Abreise Bilder einer ganz normalen pubertären Tätigkeit geliefert hatte, die ihr fast die Augäpfel versengt hätten. Sie hatte einfach nicht so weit gedacht, okay? Sie war nie ein männlicher Teenager gewesen. Letztendlich hatte sich das Überwachungssystem ohnehin als wertlos erwiesen, denn man musste per WLAN damit verbunden sein, und nachdem sie sich im Auto auf den Weg zum Flughafen gemacht hatte, waren die Bilder nacheinander verschwunden. Das Haus war also die ganze Zeit, in der sie weg war, digital unbeaufsichtigt gewesen. Aubrey hatte mit Scott telefoniert, der ihr bestätigte, dass er wie vereinbart bei seinem Freund Julian war, und sich vorgenommen, bei nächster Gelegenheit eine Tracking-App auf seinem Handy zu installieren. Es ging ihm also gut. Aber sie wollte einen kurzen Blick in sein Zimmer werfen, um sich zu vergewissern.

Ihr Uber fuhr durch Stolp Island, das megaheiße Zentrum von Aurora, Illinois, sofern man denn ein paar Häuserblocks mit stillgelegten Geschäften, einem heruntergekommenen Kino und einem zweitklassigen Casino megaheiß nennen konnte. Aubrey war zwei oder drei Kilometer entfernt in West Aurora in einem komfortablen zweistöckigen Haus aufgewachsen, mit ihren Eltern und ihrem älteren Bruder. Als sie klein war, hatten sie und ihr Bruder Ausflüge nach Stolp immer geliebt. Es war der Stadtkern, nicht zu vergleichen mit unheimlichen Innenstädten voller verlorener Menschen wie in Chicago, sondern ein altes Stadtzentrum wie in den 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts, ein Ort, an dem man im Ben Franklin einen Archie-Comic aus einem Drahtständer kaufen konnte. Aubrey war weder als Kind noch als Erwachsene je persönlich mit einem Archie-Comic, einem Drahtständer oder einem Ben Franklin in Berührung gekommen, aber sie kannte all das aus Büchern und Filmen und hatte ein perfektes, romantisches Bild davon im Kopf. Das, so hoffte sie, würde sie ihren Kindern mitgeben, einen solchen Ort, an dem sie aufwachsen und in Sicherheit sein konnten. Ihr Bruder war inzwischen weggezogen, um sein Glück zu suchen, aber Aubrey war geblieben, entschlossen, etwas zu finden, das es seit fünfzig Jahren nicht mehr gab.

Die Cayuga Lane entsprach dem Modell, das Aubrey seit ihrer Kindheit im Kopf hatte. Die kurze Sackgasse lag zehn Minuten vom Stadtzentrum entfernt und bestand aus sechs Häusern, die meisten von ihnen Altbauten aus den Zwanziger- oder Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts. Das Haus am Ende der Straße war ein viktorianischer Bau aus den Fünfzigerjahren des 19. Jahrhunderts, einer dieser zweistöckigen Flachbauten, die einst so beliebt gewesen waren, aber die Schnellbauzeit nach dem Zweiten Weltkrieg nicht überlebt hatten. Irgendwie hatte dieses Haus es bis in die Neuzeit geschafft, wenn auch komplett entkernt, isoliert und umgebaut. 1958.

Seitdem war es in einen Zustand gutartiger Vernachlässigung verfallen, gefolgt von einer Periode der bösartigen und von einer Beschreibung als »perfektes Grundstück mit Abrisshaus«, als sie und Rusty es zum ersten Mal gesehen hatten. Dank des baufälligen Zustands war es zu einem Preis auf dem Markt gewesen, den sie sich fünf Jahre zuvor hatten leisten können. Sie hatten gewusst, dass sie sich eine Menge Arbeit damit einhandelten, aber Rusty war schließlich Bauunternehmer, außerdem waren sie jung und verliebt gewesen und hatten sich darauf gefreut, dies und alles andere gemeinsam in Angriff zu nehmen.

Bis die Vorfreude ein jähes Ende gefunden hatte.

Jetzt waren das Haus und Aubrey fünf Jahre älter, obwohl es sich an manchen Tagen wie fünfzehn anfühlte, und sie wusste mittlerweile nur allzu gut, wie viel Kraft es kostete, etwas zu reparieren, das wahrscheinlich irreparabel war. Bei den seltenen Gelegenheiten, bei denen sie und ihr Bruder einander noch sahen, machte er sich gnadenlos über sie lustig, weil sie auf Reparaturen und Recycling bestand, wie er es schon seit ihrer Jugend tat. Er, der einen Schluck Saft aus einer Plastikflasche nahm und sie wegwarf … er, der den Einsatz billiger ausländischer Arbeitskräfte anprangerte, während er gleichzeitig davon profitierte … er, der alle achtzehn Monate einen Computer und ein mit seltenen Erden vollgestopftes Handy auf die Mülldeponie schickte, egal, ob sie noch funktionierten oder nicht, machte sich über sie lustig, weil sie versuchte, ein Loch in ihrer Lieblingsbluse zu flicken.

Aubreys Uber setzte sie vor dem Haus ab, und sie eilte den unebenen Gehweg hinauf, wobei die billigen Plastikräder ihres Rollkoffers auf dem rissigen Stein quietschten. Noch ehe sie die Treppe erreichte, wusste sie, dass Scott im Haus war – ein direkter Verstoß gegen ihre Vereinbarung, dass er bei Julian bleiben sollte, bis sie ihn anrief. Vielleicht hätte das kriminelle Superhirn daran denken sollen, die Haustür zu schließen, wenn er wirklich unentdeckt bleiben wollte. Sie hörte den Fernsehapparat im Wohnzimmer dröhnen.

Als sie es betrat, sah sie Scotts Hinterkopf, der sich gegen den Sony mit fast zwei Metern Bildschirmdiagonale abzeichnete, zu dem er sie überredet hatte, kurz nachdem sein Vater ausgezogen war. Das war in den frühen Tagen gewesen. Sie hatte sich eingeredet, dass der Fernseher nur ein Lockmittel war, dass es besser war, wenn er sich an einem zentralen Ort im Haus aufhielt, wo sie miteinander kommunizieren konnten und sie ihm weise und freundliche Ratschläge geben konnte, als wenn er sich ständig in seinem Zimmer einsperrte. Aber sie kannte den wahren Grund, warum sie ihn gekauft hatte. Sie brauchte ein wenig Freiraum, um sich zu verstecken und sich zu sammeln, und vielleicht würde der Fernseher ihn ablenken. Scott hörte die Tür und drehte sich zu ihr um. Er blinzelte sie an. »Du bist zu Hause.«

»Genau wie du.«

Scott runzelte die Stirn und dachte nach. »Damit habe ich nicht gerechnet.«

»Offensichtlich.« Sie schloss die Tür hinter sich und schob ihren Rollkoffer in eine Ecke.

Er wandte sich wieder dem Fernseher zu. Aus irgendeinem Grund sah er Nachrichten auf einem Kabelkanal. Ihr Gehirn registrierte abwesend, dass das ungewöhnlich war. Ohne sich zu ihr umzudrehen, deutete Scott auf den Fernseher. »Das solltest du dir ansehen.«

»Ich gehe hoch, ziehe mich um, und dann unterhalten wir beide uns. So war das nicht ausgemacht, und ich bin sehr enttäuscht.«

Scott machte sich nicht die Mühe, sich umzudrehen. Drei Personen in einem Studio diskutierten heftig über etwas, das wahrscheinlich bedeutungslos war. Mit ausgestrecktem Finger zeigte Scott auf den Bildschirm, um seine Worte zu unterstreichen. »Ich finde wirklich, du solltest dir das ansehen.«

Aubrey ignorierte ihn und eilte so energiegeladen die knarrende Treppe hinauf, wie sie nur konnte. Sie machte eine Menge Lärm dabei, dann wurden ihre Schritte leiser, als sie oben abbog und auf sein Zimmer statt auf ihres zusteuerte. Behutsam öffnete sie die Tür und schaute sich um. Auf dem Bett herrschte das übliche Chaos, und es hätte nicht ungemachter aussehen können, wenn man sich absichtlich Mühe gegeben hätte. Überall lagen Klamotten und Essensreste herum, und auf jeder waagerechten Oberfläche standen Gläser, in denen verschiedene zuckerhaltige, farbige Flüssigkeiten gärten.

Aubrey ging zur Kommode und öffnete eine Schublade nach der anderen, wobei sie mit den Händen durch den Inhalt fuhr. Nirgends waren Flaschen versteckt. Es gab auch keine Tüten mit Gras unter der Matratze oder auf dem Nachttisch, es hing kein Rauchgeruch in der Luft, und die Gläser, an denen sie schnupperte, schienen keinen Alkohol zu enthalten. Zufrieden wandte sie sich zum Gehen und freute sich, dass sie ein Thema weniger hatte, über das sie mit ihm streiten musste. Doch als sie sich umdrehte, sah sie es. Es stand ganz offen auf seiner Kommode.

Ein orangefarbenes Tablettenfläschchen. Er hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, es zu verstecken.

Unten stellte sie sich so vor ihn, dass sie ihm die Sicht auf den riesigen Fernseher weitgehend verwehrte, und knallte die Flasche auf den Couchtisch zwischen ihnen.

Scott warf desinteressiert einen Blick drauf.

»Ich habe nicht damit gerechnet, dass du heimkommst.« Er versuchte, an ihr vorbei weiter fernzusehen.

»Was zum Teufel glaubst du, was du da tust?«

»Können wir diese Diskussion auf später vertagen?«

Sie wäre am liebsten explodiert. »Das ist Hydrocodon.«

»Ja«, bestätigte er.

»Von meiner Wurzelbehandlung.«

»Oh, da hast du es her? Klar. Das ergibt Sinn. Ist das Thema eigentlich durch?«

»Was ist denn bloß los mit dir?«

»Ich habe nicht mit dir gerechnet …«

»Würdest du bitte aufhören, darüber zu reden, ob du dachtest, dass ich nach Hause kommen würde oder nicht? Du bist an meinen Medizinschrank gegangen – oder nein, eigentlich hast du meine Badezimmerschubladen durchsucht, bis du das verdammte Oxy gefunden hast, und dann hast du es genommen, und du bist fünfzehn Jahre alt, und das sind Opiate, verdammt noch mal!«

Scott drehte sich zu ihr um, jetzt hatte sie seine volle Aufmerksamkeit. »Hör zu, ich habe deinen Scheiß nicht durchsucht, bis ich Oxy gefunden habe, ich habe deinen Scheiß durchsucht, und dann habe ich Oxy gefunden, was etwas ganz anderes ist, okay?«

In gewisser Weise musste man wenn schon nicht den Kern seines Arguments, so doch zumindest seine Bereitschaft bewundern, das Gespräch in eine für seine Sache nutzbringendere Richtung zu lenken. Aubrey empfand aber keine.

»Fick dich, Scott.«

»Pädagogisch wertvoll.«

»Du bist hier im Unrecht.«

»Ich bin aber nicht der Einzige. Du hast überall Überwachungskameras versteckt.«

Sie hielt inne und versuchte, genauso ruhig zu bleiben wie er. »Wovon sprichst du?«

Er machte sich nicht die Mühe, darauf zu antworten, deutete nur ein Lachen an und nickte über seine Schulter in Richtung Flurtischchen, wo sie nun die drei aufgestapelten Zmodos sah. Sie hatte sie nicht bemerkt, als sie hereingekommen war, aber augenscheinlich waren sie für sie da.

»Ich bin kein Idiot«, knurrte er.

Jetzt ergab alles Sinn. »Du hast sie ausgeschaltet.«

»Sobald du weg warst.«

»Ich nehme an, du hast auch nicht Klavier geübt«, sagte sie und versuchte, die Oberhand zu gewinnen.

Er ignorierte die Frage einfach und schaute wieder auf den Fernseher.

Doch Aubrey blieb hartnäckig. »Hat Caprice hier übernachtet?«

»Celeste.«

»Was?«

»Sie heißt Celeste. Nicht Caprice. Immer nennst du sie Caprice.«

»Ist doch egal. Hat sie hier übernachtet?«

»Du nennst sie Caprice, weil du glaubst, sie hätte einen ›schwarzen‹ Namen, und da fällt dir Caprice ein, weil du findest, das klingt schwärzer, was wirklich übel rassistisch ist. Ehrlich, Aubrey, daran musst du arbeiten. Denk mal über deine Privilegien nach und so.«

»Einen Namen zu wählen, der ›schwärzer‹ klingt, hätte nichts mit meinen Privilegien zu tun. Sondern mit meinem Rassismus. Argumentiere wenigstens sauber.«

»Dann gibst du es also zu.«

»Du bist echt anstrengend, und ich mag dich nicht.«

»Tja, das tut mir weh, denn ich mag dich.«

Sie holte tief Luft und fand ihr Gleichgewicht wieder. »Wie viele Tabletten hast du genommen?«

Er dachte kurz nach. »Vier. Immer zwei auf einmal, mit vier Stunden Abstand, genau wie es auf dem Etikett steht.«

»Unglaublich verantwortungsvoll.«

»Danke sehr. Bist du sauer, weil Oxy schlecht für mich ist oder weil ich dein Geheimversteck gefunden habe?«

»Beides. Sie tun dir nicht gut, und ich hatte sie mir aufgespart.«

»Wofür?«

»Für extreme Schmerzen.«

Er nickte. »Genau die habe ich gerade. Sie haben mir geholfen.«

»Wobei, wenn ich fragen darf?«

Wieder deutete er mit seinem langen Zeigefinger auf den Fernsehbildschirm. »Wir werden alle sterben.«

Diesmal drehte sich Aubrey um. Scott schaute Nachrichten, aber nicht im Kabelfernsehen, sondern auf einem landesweiten Nachrichtenkanal. Der Sender hätte keinen Unterschied gemacht. Die Nachricht war überall, und die Schlagzeilen, Bauchbinden und Laufschriften hatten eine Schriftgröße, die normalerweise für die Wiederkunft Christi reserviert war.

Aubrey war fassungslos. Sie begriff nicht sofort, was die Leute im Fernsehen sagten. Das durfte nicht wahr sein. Haben wir nicht schon alles durchgemacht, was man sich nur vorstellen kann?

Scott beugte sich vor, nahm das Fläschchen mit den verschreibungspflichtigen Schmerztabletten und hielt es ihr hin.

»Es sind nur noch acht. Halbe-halbe?«

3.

MOUNTAIN VIEW, KALIFORNIEN

Thom Banning war unterwegs. Man hatte ihn kurz nach seiner Ankunft im Vida-Hauptquartier am Rande des Silicon Valley über die solare Situation informiert, und jetzt freute er sich darüber, wie schnell er sich mental darauf eingelassen hatte, wie anstandslos er diese offensichtliche Schwelle, dieses einschneidende Ereignis in der technologischen Geschichte der Menschheit kraft seines Willens akzeptiert hatte. Die bevorstehende Katastrophe stellte keine Überraschung für Thom dar, er war ausgesprochen gut darauf vorbereitet. Die hässliche Wahrheit, die Thom hartnäckig verdrängte, die aber für jeden, der ihn kannte, offensichtlich sein musste, war, dass er sich darauf freute.

Wie viele Unternehmer beschäftigte sich Thom zwanzig Stunden pro Tag mit dem Versuch, die Zukunft vorauszusehen. Er behauptete gerne, es gäbe kaum einen kognitiven Unterschied zwischen seinem Wachzustand und seinem Traumzustand, da beide dem produktiven Denken über die anstehenden Aufgaben gewidmet waren. Als kleiner Junge hatte er mit seiner Familie während eines Frühlingsurlaubs im schwülen Fort Myers, Florida, haltgemacht und Haus und Labor Thomas Edisons besichtigt. Die Pilgerfahrt war vor allem als Loblied auf das aufkeimende technische Genie des Jungen geplant gewesen, von dem seine Eltern besessen waren, seit er alt genug war, um Snap Circuits zusammenzusetzen. Edisons Haus war für die Kinder langweilig gewesen, und das Labor war ihnen staubig und uninteressant erschienen, aber was Thom in Erinnerung geblieben war, war die Pritsche.

Dort – auf einem winzigen Holzbrett mit einer dünnen Strohmatratze, das in einer Ecke des Labors stand – hatte Edison seine berühmten erholsamen Nickerchen gehalten. Der junge Thom Banning hatte sich gefragt, was Edison dort wohl geträumt haben musste. Nicht zum ersten Mal war ihm sein Vorname schicksalsweisend vorgekommen. Damals hatte er sich zwei Dinge geschworen: seinen Spitznamen niemals ohne H zu schreiben, damit niemand die offensichtliche, passende Verbindung zu Edison übersah, und als Erwachsener die lebenswichtigen kreativen Kräfte seines Traumlebens niemals zu ignorieren.

Er hatte beide Schwüre gehalten. Die Idee für seine Robotik-Firma Vida kam ihm in einem halb wachen Zustand. Mit Mitte zwanzig ist es schwierig, ein Nickerchen zu machen, es sei denn, man hat nachts nicht geschlafen, also zwang sich Thom nach dem Studium, bis in die Morgenstunden aufzubleiben, um genau das zu erreichen. Er wollte halb wach in den Arbeitstag starten, um jederzeit in einen REM-Zustand fallen zu können, den er als den fruchtbarsten aller menschlichen Bewusstseinszustände ansah. Vida begann an einem schläfrigen Augustnachmittag als eher alltägliches Stück Code, das Thom buchstäblich geträumt hatte und das eine einfache KI-Verbesserung für die automatische Montage von Robotern bieten sollte. Es war nicht gerade der Stoff, aus dem die großen Vermögen sind, aber die Idee hatte den entscheidenden Vorteil, dass man damit sofort Geld verdienen konnte. Der Gewinn war ins Konzept integriert. In den folgenden Jahren fügten sich Thoms Ideen und in zunehmendem Maße auch die Ideen der von ihm angeheuerten Technologieexperten, deren Patente er besaß, unerwartet in die aufkommende Nanotechnologie-Industrie ein. Schon bald drang Vida in alle Bereiche der Medizin und speziell der Chirurgie vor, und am Ende des ersten Lebensjahrzehnts des Unternehmens war es fast unmöglich, sich in einem größeren Krankenhaus in der ersten Welt einer Operation zu unterziehen, ohne dass mindestens ein von Vida entwickeltes Roboterwerkzeug einem im Fleisch herumstocherte.

Thom machte seine erste Milliarde kurz vor seinem dreiunddreißigsten Geburtstag und schmiss am ersten Weihnachtsfeiertag desselben Jahres eine üppige Party in Belize. Das war nicht sein Geburtstag – er war am 4. November geboren, und der 25. Dezember gehörte bereits einer anderen berühmten historischen Figur –, aber Thom wählte diesen Tag, weil er mit dreiunddreißig das Alter erreichte, in dem Christus starb. Thoms Absicht war es, länger zu leben und einen größeren Einfluss zu haben als dieser Mann, doch das gestand er nur sich selbst.

Damit niemand, auch Thom nicht, auch nur einen Augenblick lang glaubte, sein Größenwahn sei ernst gemeint, wies er sich und andere oft in leicht selbstironischen Witzen darauf hin. Thom sah sich nicht ernsthaft auf einer Stufe mit Edison oder Jesus Christus. Er scherzte nur.

Irgendwie.

Eines der Markenzeichen der öffentlichen Person Thoms war seine berühmte, etwas übertriebene Legasthenie. Das sorgte für gute Presse, obwohl es nicht ganz der Wahrheit entsprach. Eigentlich las er einfach nur ungern und ließ sich leicht ablenken, sodass er sich oft dabei ertappte, Absätze drei- oder viermal hintereinander zu lesen oder, schlimmer noch, sie ganz zu überspringen, wenn sie ihn langweilten.

Mit Gesprächen hatte er jedoch keine Probleme, und er hatte schon früh gelernt, dass er eine viel größere Chance hatte, sich etwas einzuprägen, wenn sich jemand hinsetzte, ihm in die Augen sah und es ihm erzählte. Sobald er es sich leisten konnte, wandte er sich bezahlten Beratern zu, Experten, die ihm eine Stunde ihrer Zeit widmeten und ihm geduldig ein Konzept, ein Hobby oder eine Branche erklärten. Die Kunst der Renaissance, der Kricket-Sport und die Gehirn-Computer-Schnittstelle brachten Experten auf dem jeweiligen Gebiet ihm auf diese Weise näher, indem sie ihm geduldig die Grundlagen erklärten. Zunächst bezahlte er dafür bereitwillig, aber es kam, wie es kommen musste: Als er reich war, merkte er plötzlich, dass er für nichts mehr bezahlen musste. Die Leute taten es einfach umsonst und profitierten von dem zweifelhaften Vorteil, zum inneren Kreis dieses großen Mannes zu gehören.

So kam es, dass Dr. Divya Singh vom Defense Science Board am Morgen des Ereignisses um 11:00 Uhr auf dem Monitor auf dem Rücksitz von Thoms sonderangefertigtem Chevy Suburban erschien.

»Danke, dass Sie sich einen Moment Zeit nehmen, Divya. Ich weiß, Sie sind vielbeschäftigt«, begann Thom.

Dr. Singh nickte energisch, um dann gleich zur Sache zu kommen. Thom erkannte am Hintergrund, dass sie sich in ihrem Büro in Arlington befand, dem Sitz des National Science Advisory Committee, dessen Mitvorsitzende sie war. Um sie herum standen eine Reihe von Computermonitoren und Fernsehern. Ihr Schreibtisch war mit Stapeln von gebundenem Papier bedeckt. Singh, Ende sechzig, war von der alten Schule und fand es immer noch am einfachsten, mit Manuskript und Textmarker in der Hand zu denken.

»Wie lange ist es her, dass Sie es gehört haben?«, fragte sie.

Thom warf einen Blick auf die Uhr. »Siebenundvierzig Minuten.«

»Fahren Sie nach Hayward?«, erkundigte sich Singh und meinte damit den größten privaten Flugplatz im Raum San Francisco.

Thom schüttelte den Kopf. »Alle werden nach Hayward oder Buchanan gehen. Es wird eine Warteschlange geben, und sie werden stundenlang nicht starten können. Deshalb habe ich meinen Hangar drüben in Half Moon Bay. Das ist zwar weiter weg, aber da sind nur wir und die Flugshow-Typen.«

»Smart. Okay, was müssen Sie wissen?«

»Was ein KMA ist, weiß ich. Aber ich muss alles über die Auswirkungen und Folgen für die Infrastruktur wissen.«

Dr. Singh sah auf, schaltete ihr Mikrofon stumm und rief jemandem hinter der Kamera etwas zu. Um sie herum herrschte reges Treiben. Thom sah, wie Hände ins Bild griffen, ihr Dinge reichten, ihr Notizen abnahmen, und hinter ihr spiegelten sich im Fenster die Bilder der Menschen, die in ihrem Büro ein- und ausgingen. Sie hob die Stummschaltung auf. »Tut mir leid. Also.« Sie dachte kurz nach und fasste dann zusammen: »Beim Auftreffen wird die elektromagnetische Welle in den Polarregionen beginnen und sich entlang der Magnetosphäre nach Norden und Süden ausbreiten. Die Magnetfelder werden ihre Intensität schnell ändern und massive geomagnetische Ströme in und durch alle miteinander verbundenen Stromnetze fließen lassen.«

»Das heißt Kraft- und Umspannwerke?«

»Oh Gott, weit mehr als das. Jede stromerzeugende oder stromübertragende Struktur oder Leitung, die nicht mit einem ausreichenden Kondensator ausgestattet ist, wird durchbrennen.«

»Jede stromerzeugende oder stromübertragende Struktur oder Leitung?«, fragte er.

»Ja. Alles von AKWs bis zu Ihrer Kaffeemaschine. Wenn es am Netz hängt und an ist, wird es hochgehen.«

»Aber es gibt doch Kondensatoren, oder nicht? Um das System im Falle eines plötzlichen Stromstoßes auszuschalten?«

»Natürlich«, sagte sie und versuchte, sich ihre Gereiztheit nicht anmerken zu lassen. Thom tat, als bemerke er sie nicht. Er wusste, dass sie keine Zeit für ein derartiges Gespräch hatte, nicht im Geringsten, aber er wusste auch, dass sie, wie viele in ihrem Arbeitsgebiet, eine gewisse Verpflichtung gegenüber den Superreichen empfand, die theoretisch den gesamten Verlauf ihrer Forschung und ihrer Karriere aufgrund einer momentanen Laune oder eines guten Gefühls ändern konnten.

Sie fuhr fort und bemühte sich, ihren gemessenen Tonfall beizubehalten. »Aber die Kondensatoren müssten einen plötzlichen und anhaltenden Stromstoß von fünfzig Ampere pro Stromkreis aushalten können.«

»Wie viel Prozent der Kondensatoren können das?«

»Bei anhaltenden Stromstößen? Null. Die sind noch nicht erfunden.«

»Was hat die Regierung getan, um sich darauf vorzubereiten?«

»Das Repräsentantenhaus hat 2010 einen ausgezeichneten Gesetzentwurf verabschiedet, den Grid Reliability and Infrastructure Defense Act. Er kam nie in den Senat.«

»Lassen Sie uns über die Auswirkungen sprechen. Wo wird es am schlimmsten sein?«

»Hierzulande werden am stärksten der Nordostkorridor von Boston bis D. C. und der obere Mittlere Westen – Illinois, Wisconsin, Indiana, Ohio – betroffen sein, während die Wirkung sich allmählich durch das westliche Pennsylvania abschwächt, wobei die Ausfälle in Richtung Ostküste wieder zunehmen.«

»Die Westküste ist also außer Gefahr?«

»Mitnichten. Die Lage dort ist etwas besser, was die Länge der Leitungen zwischen den Transformatoren angeht, was gut ist, aber Meerwasser ist sehr leitfähig, und wo der Ozean das Land berührt, wird die Leitfähigkeit des Bodens Kobolz schlagen. Der magnetisch induzierte Strom wird sich innerhalb von Minuten ins Landesinnere vorarbeiten. Sie sollten sich auf den vollständigen Zusammenbruch der Westküste vorbereiten.«

Thom unterdrückte ein grimmes Lächeln. Oh, darauf bin ich so was von vorbereitet.

Singh fuhr fort: »Ihre Reparaturzeit könnte dort allerdings kürzer sein.«

»Wie viel kürzer?«

»Das hängt von der Verfügbarkeit von Material und dem Schaden an der Produktionskapazität ab.«

»Eine Spanne, bitte?«

»Vier bis sechs Monate für die Westküste, im Gegensatz zu zwölf bis achtzehn Monaten für den Rest des Landes.«

»Sie sagen, Teile des Landes werden anderthalb Jahre lang ohne Strom sein?«

»Wenn man dem Lloyd’s-Bericht von 2013 Glauben schenkt, ja. Erhebliche Teile.«

Thom seufzte tief. Er hob den Blick und sah Brady, seinen Fahrer, an, der ihm zugehört hatte. Brady schaute wieder auf die Straße. Thom sah wieder Dr. Singh an. »Die schlimmsten Schäden werden jedoch an der Ost- und Westküste sowie in bestimmten Gebieten des Mittleren Westens zu verzeichnen sein. Richtig?«

»Zunächst ja. Ich sprach von der Anfangsphase – Auftreffen plus drei oder vier Minuten. Aber der Stromausfall ist ansteckend. Die KMA, die ’89 Quebec traf, verursachte eine Kettenreaktion bis nach Minnesota, und das war kein direkter Treffer. Dies ist einer, und zwar durch den größten energiereichen Plasmastrom, den der Planet seit Jahrhunderten gesehen hat. Ich rechne damit, dass die latenten Auswirkungen des Systemzusammenbruchs noch bis zu dreißig Tage lang im ganzen Land – und auf der ganzen Welt, mit Ausnahme vielleicht des Äquatorgürtels – zu spüren sein werden. Letztlich wird alles zusammenbrechen. Fast vollständige Zerstörung der Kommunikation und anderer kritischer Infrastruktur.«

Thom hielt kurz inne. Seit seinem achtzehnten Lebensjahr befasste er sich semiprofessionell mit Katastrophenszenarien. Die Fähigkeit, einen plötzlichen, katastrophalen Zusammenbruch der eigenen Welt zu akzeptieren und sich darauf vorzubereiten, hatte er sich mental antrainiert. Er hatte schon einmal nicht die Chance dazu gehabt und weigerte sich, diese Erfahrung zu wiederholen. Das Preppen war eine Obsession, eine Krankheit und ein Zwang, die auf persönlichen Erfahrungen und dem tiefen Bedürfnis beruhten, nie wieder unvorbereitet zu sein. Zwanzig Jahre lang hatte er sich die schlimmsten und unerwartetsten Dinge ausgemalt, die ihm und seiner Welt zustoßen könnten, aber nie, nicht in seinen dunkelsten Augenblicken oder wildesten Prognosen, hatte er mit einem solchen Szenario gerechnet. »All das ist die Folge eines einzigen KMAs?«

»Nein. Die Daten, die ich gesehen habe und die die NOAA gerade untersucht, deuten auf eine Serie von KMAs in rascher Folge hin, die über einen Zeitraum von zwölf bis achtzehn Stunden Energie zuführen wird. Lang anhaltende geomagnetisch induzierte Ströme, gegen die wir nichts tun können. Hören Sie, ich glaube, ich muss ...«

Thom wusste, wie sich ein Gesprächsausstieg anhörte, aber er war noch nicht fertig.

»Wie hat die Regierung bisher reagiert?«

»Genau so, wie man es im Fernsehen sieht. Es gibt eine groß angelegte Kampagne, um jeden Transformator in den Vereinigten Staaten innerhalb der nächsten sechs Stunden vom Netz zu bekommen, was die Schäden deutlich eingrenzen würde. Wenn die Transformatoren abgeschaltet werden, bevor die geomagnetischen Ströme durch unsere Stromleitungen fließen, können diese sie nicht beschädigen. Man könnte sie innerhalb von zwei Wochen sicher wieder in Betrieb nehmen, wenn sich die Umgebungsenergie abbaut. Das System könnte beinahe vollständig intakt aus der Sache hervorgehen.«

»Das ist ja großartig. Wann werden sie abgeschaltet?«

Dr. Singh sah ihn an wie ein dümmliches Kind. »Gar nicht, Thom. Kraftwerke sind Sache der Bundesstaaten. Die Regierung kann keine Richtlinie erlassen oder Maßnahmen durchsetzen. Selbst in den Staaten, in denen die Gouverneure die wissenschaftlichen Erkenntnisse anerkennen, sprechen sie immer noch von der ›Möglichkeit‹ eines Zusammenbruchs und nicht von Gewissheit.«

»Aber gibt es denn Gewissheit?«

»Es wird passieren. Wir kriegen einen Blackout.«

»Wir wissen das, und niemand wird sein Energieversorgungssystem vom Netz nehmen?«

»Versuchen Sie mal, der Bevölkerung Ihres Staates mit nur wenigen Stunden Vorlauf einen freiwilligen vierzehntägigen Stromausfall zu verkaufen. Hören Sie, ich habe hier Leute, die …«

Thom fiel Dr. Singh ins Wort. »Schön, das passiert also. Wie reagiert die Regierung?«

Sie biss die Zähne zusammen und gab sich keine Mühe mehr, ihre Gereiztheit zu verbergen. Dennoch blieb sie am Telefon und spielte weiter nach Regeln, die bald keine Rolle mehr spielen würden.

»Die FEMA wird den Katastrophenfall ausrufen. Theoretisch entsteht dadurch eine effektive Hierarchie für die Katastrophenhilfe. An deren Spitze steht der von der FEMA bestimmte Einsatzleiter, der dem Verteidigungsministerium untersteht, das wiederum der Exekutive untersteht. Aber das wird dieses Mal nicht funktionieren.«

»Warum nicht?«

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