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Bille und Zottel Bd. 02 - Unzertrennliche Freunde

Bille liebt ihren vierbeinigen Freund Zottel über alles. Mit ihm kann sie "Pferde stehlen" gehen. Zottel ist nicht nur das gutmütigste, sondern auch das klügste Pferd für Bille. Ihr größter Traum ist es, Zottel zu besitzen. Wird sich ihr Geburtstagswunsch erfüllen?


  • Erscheinungstag: 14.11.2013
  • Seitenanzahl: 128
  • Altersempfehlung: 10
  • Format: E-Book (ePub)
  • ISBN/Artikelnummer: 9783505134432

Leseprobe

TINA CASPARI

Schriftzug.tif

Unzertrennliche Freunde

Bille bekommt einen Auftrag

„Stopp! Stooopp! Spinnst du!?“

Bille sprang im letzten Augenblick zurück und der Wagen raste klappernd und hüpfend an ihr vorbei. Karlchen stand breitbeinig wie ein Seemann bei Windstärke elf auf der Ladefläche des Karrens, die Zügel lässig in der einen Hand. Mit der anderen Hand schwang er die Peitsche übermütig über Zottels Rücken. Fröhlich schnaubend galoppierte Zottel den Parkweg hinunter. Bille rannte ihnen ein Stück weit nach und gab dann kopfschüttelnd auf.

Am Ende des Parks machte Karlchen eine rasante Wendung, versuchte es noch einmal mit einem Peitschenknall – eine Kunst, die er seit Kurzem mit Ausdauer und mäßigem Erfolg übte –, und Zottel kam in gestrecktem Trab auf Bille zu. Bille lehnte sich auf die Mistgabel und sah den beiden stirnrunzelnd entgegen.

„Gab’s gestern Ben Hur im Fernsehen oder glaubst du, du bist hier auf dem Nürburgring?“, fragte sie ärgerlich und strich sich eine ihrer widerspenstigen Locken aus der Stirn. „Wenn du noch mal so was mit Zottel machst, dann schmeiß ich dir den Stallbesen ins Kreuz!“

„Du tust gerade, als gehörte er dir. Ein ehemaliges Zirkuspferd ist doch ganz andere Sachen gewöhnt“, verteidigte sich Karlchen grinsend und schielte dabei über Billes Kopf hinweg zum Stall hinüber.

Bille strich Zottel beruhigend über das rot-weiß gefleckte Fell und folgte Karlchens Blick.

„Ach so – Helga! Das hätte ich mir gleich denken können – es muss ja einen besonderen Grund haben, wenn du hier so eine Schau abziehst!“

Karlchen hechtete ungewöhnlich dynamisch vom Wagen herunter und griff nach der Mistgabel. Mit männlich kraftvollem Schwung stach er in den Abfallhaufen und begann aufzuladen. „Willst du uns helfen?“, rief Bille Helga entgegen, die zögernd näher kam.

„Was macht ihr denn da?“ Helga sah naserümpfend auf die Berge von Abfall zu Billes und Karlchens Füßen.

„Trümmerbeseitigung. Die Reste vom Feste“, erklärte Bille und kippte einen vollen Korb auf die Ladefläche. Hähnchen- und Kotelettknochen kollerten zwischen Girlanden aus vertrockneten Blumen, Stroh und Krepppapierbändern. „Vergangenen Samstag war in Groß-Willmsdorf Erntefest. Karlchen und ich haben uns freiwillig zum Aufräumen gemeldet, aber wir nehmen gern noch Helfer in unsere Truppe auf.“

Karlchen stach wie wild auf den Abfallhaufen ein. Die Ärmel seines T-Shirts hatte er bis zu den Schultern aufgekrempelt, damit man seine Muskeln spielen sah. Er ließ Helga nicht aus den Augen. Als die Zinken der Mistgabel beim besten Willen nichts mehr aufnehmen wollten, schwang er die Last hoch über seinen Kopf zum Wagen hinauf. Eine riesige Mohnblume aus Krepppapier löste sich flatternd aus dem Haufen und legte sich ihm wie ein Babymützchen auf den brandroten Schopf.

„Steht dir gut“, sagte Bille trocken. Helga kicherte.

Karlchen wurde rot und zerrte sich den ungewollten Kopfschmuck verwirrt herunter.

„Na, was ist nun? Hilfst du uns?“, fragte er Helga herausfordernd, um seine Würde zurückzugewinnen. Schließlich war er fast fünfzehn, beinahe zwei Jahre älter als Helga und Bille.

Helga betrachtete unentschlossen den stinkenden Abfall. „Ich müsste erst schnell nach Hause fahren und mir meine alten Jeans anziehen. Wartet ihr so lange?“

„Das dauert ja mindestens ’ne Stunde, bis dahin sind wir längst fertig“, wehrte Bille ab. „Drüben im Stall hängt eine alte Kittelschürze von mir, die kannst du überziehen.“ Wenn Helga bei jeder Gelegenheit hier aufkreuzte, um in Karlchens Nähe zu sein, dann sollte sie ruhig mitarbeiten – mitgefangen, mitgehangen.

Während Helga zum Stall hinüberging, um sich die Schürze zu holen, kletterte Karlchen auf den bereits wieder übervollen Wagen und fuhr zum Müllplatz hinaus. Bille setzte sich aufatmend auf den umgestülpten Korb, reckte sich in der milden Herbstsonne wie eine zufriedene Katze und begann sich die lahm gewordenen Arme zu massieren.

Welch ein Tag! Der Himmel war blitzblau, kein Lüftchen regte sich. Von fern kam ein Duft von frisch gepflügtem Acker und Kartoffelfeuern und mischte sich mit dem Geruch überreifer Äpfel und einem Hauch Stalldunst. Herrlich war das!

Aus den riesigen Kastanien im Park, die um das weiße Gutshaus standen, als müssten sie es beschützen, segelten lautlos die Blätter zu Boden. Von der Reitbahn her war leises Schnauben zu hören, denn der alte Petersen hatte den Fuchshengst Patrick an der Longe, „das schönste Pferd, das wir auf Groß-Willmsdorf haben“, wie er manchmal sagte.

Hinter den Parkbäumen schimmerte es weiß. Frau Lohmeier, die Frau des Verwalters, hängte ihre frisch gewaschenen Gardinen im Garten auf.

Herr Tiedjen, der berühmte Turnierreiter und Billes Reitlehrer, dem das Gut Groß-Willmsdorf gehörte, war ausgeritten. Sinfonie hatte er heute satteln lassen, die kapriziöse Pferdedame, vor deren unberechenbarem Temperament Bille immer noch gehörigen Respekt hatte, auch wenn sie die schöne Fuchsstute genauso liebte wie all die anderen herrlichen Pferde, die im Stall von Groß-Willmsdorf standen.

So lange Bille zurückdenken konnte, hatte es sie magisch nach Groß-Willmsdorf gezogen. Zuerst war sie heimlich gekommen, hatte aus einem sicheren Versteck Herrn Tiedjen bei der Arbeit mit seinen Pferden beobachtet. Bald durfte sie im Stall helfen und es verging kein Tag, an dem sie nicht von Wedenbruck herübergeradelt kam, um in der Nähe ihrer geliebten Pferde zu sein. Und eines Tages war das Wunder geschehen: Zottel war auf den Hof gekommen, Überbleibsel aus einem verkommenen Wanderzirkus. Und Herr Tiedjen hatte sich bereit erklärt, ihr Reitunterricht zu geben. Seit diesem Tag war sie zu Hause zwischen den Scheunen und Ställen, dem geräumigen Hof mit der Reithalle und den beiden Reitbahnen.

Hubert, Karlchens älterer Bruder, der mit dem alten Petersen gemeinsam Herrn Tiedjens Pferde versorgte, rührte drüben im Fohlenstall seinen „Spezialbrei“ für die jüngsten Schützlinge an, Bille hörte ihn mit den Eimern klappern. Nichts störte sonst die friedliche Stille dieses Nachmittags.

„Muss ja eine riesige Feier gewesen sein“, riss Helga Bille aus ihren Träumen.

„Hm – fast achtzig Leute.“

„Arbeiten die alle hier auf dem Hof?“

„Nein, natürlich nicht“, erklärte Bille. „Es waren eine Menge Gäste da – von den Nachbarhöfen und aus der Stadt. Beim Erntefest kommen alle zusammen, die das Jahr über mit dem Gut etwas zu tun haben. Meine Mutter und Onkel Paul waren auch eingeladen – obwohl sie ja eigentlich nur die Lebensmittel und sonstigen Waren für den Gutsbetrieb liefern. Es war ein tolles Fest“, schwärmte Bille. „Festreden, Wettspiele und Tanz, eine Kapelle hat gespielt. Und im Hof war ein großes Feuer. Mutsch und Onkel Paul hatten doch kurz vorher ihre Verlobung bekannt gegeben. Sie wurden von allen so gefeiert, dass man meinen konnte, es sei einzig und allein ihr Abend.“

„Deine Mutter ist bei allen sehr beliebt, nicht wahr? Sie ist ja auch schwer in Ordnung.“

„Vielleicht liegt es daran, dass Mutsch sich seit Vatis Tod so tapfer durchgeschlagen hat. Das hat allen imponiert, und jeder freut sich mit ihr, dass sie nun wieder heiratet – und dazu noch so einen netten Mann, den alle mögen.“

Karlchen kam mit Gepolter und Peitschenknallen vom Müllplatz zurück.

„Was is ’n hier los? Haltet ihr Kaffeeklatsch? Wir haben noch eine Menge zu tun!“ Er schaute besorgt auf Helgas zarte Hände. „Ich schlage vor, du nimmst in der Scheune die restlichen Girlanden ab und verpackst die Lampions. Wir beide machen hier weiter.“

„Zu Befehl, Herr Brodersen!“ Bille salutierte und griff zu Schaufel und Besen, während Karlchen mit Helga Richtung Scheune abschob, um ihr genaue Anweisungen zu geben.

Zottel, der nichts von seiner Gefräßigkeit eingebüßt hatte, auch wenn er noch so gutes Futter bekam, reckte den Hals nach einer Brotkruste, die nach Tomatenketchup und Bratwurstfett duftete.

„Nein, nein, mein Junge, kommt nicht infrage!“ Bille zog ihren Liebling von den unbekömmlichen Verlockungen weg.

„Ob wir diesmal den ganzen Rest draufkriegen?“ Karlchen kam aus der Scheune zurück und versuchte von seinen roten Ohren abzulenken. Bille konnte sich das Grinsen kaum verkneifen.

„Versuchen wir’s mal. Wir werden die Ladung eben ordentlich feststampfen.“

Schaufel auf Schaufel voller Dreck flog auf die Ladefläche. Zwischendurch erschien Helga mit einem Arm voller Girlanden. Der Berg auf der klapprigen Karre wuchs. Karlchen sprang auf dem Wagen herum wie ein Verrückter und stampfte das Ganze fest, um Raum für mehr zu schaffen.

„Wenn das man gut geht“, meinte Bille zweifelnd, als der Wagen schließlich doppelt so hoch beladen war wie vorher.

„Ach, hab dich nicht so“, sagte Karlchen verächtlich. „Komm, gib das auch noch her“, rief er Helga zu, die mit einem Arm voller Papierblumen aus der Scheune kam. „Auf die setz ich mich drauf.“

Helga sah ihm bewundernd zu, wie er sich mit wenigen Griffen ein Sitzpolster zurechtschob. „Und los!“

Karlchen griff nach Zügeln und Peitsche.

Die ersten paar Meter fuhr er im Schritt. Dann drehte er sich zu den Mädchen um. Zu seinem Unglück fing er einen jener schmelzenden Blicke von Helga auf, die sie ihm nur dann nachsandte, wenn sie sich unbeobachtet glaubte. Karlchen erwischte den Blick und um ihn herum versank die Welt. Vergessen war die rutschige Ladung, vergessen der holprige Weg. Karlchen schwang die Peitsche und ließ sie schnalzen. Einmal – zweimal – beim dritten Mal tat ihm die Lederschnur den Gefallen, wie ein Pistolenschuss durch die Nachmittagsstille zu knallen. Zottel riss alle vier Beine zugleich in die Höhe, machte einen Satz, bei dem jeder Lipizzaner vor Neid erblasst wäre, und jagte in gestrecktem Galopp davon.

Bille erstarrte. Sie sah die Kurve, sah Frau Lohmeiers frisch gewaschene Gardinen auf der Leine und sah den rutschenden Müllberg auf dem Wagen. Dann schloss sie die Augen.

Als sie wieder hinsah – von Helgas glucksendem Kichern neugierig gemacht –, waren Karlchen und Zottel nicht mehr zu sehen, ihre Spuren dafür umso deutlicher. Die Ladung Abfall hatte sich gleichmäßig über Frau Lohmeiers Gardinen verteilt. Auf den eben noch weißen Stoffbahnen leuchtete es rot, gelb, grün und braun auf, die Girlanden flatterten mit dem Tüll um die Wette. Und irgendwo dahinter kreischte eine schrille Stimme, drohten Fäuste hinter Karlchen her.

„Na, dann viel Spaß!“, murmelte Bille. „Die kleinen Vergehen straft der liebe Gott sofort. Armes Karlchen – jetzt weiß ich doch endlich, warum es Gardinenpredigt heißt!“

„Was ist denn da drüben los?“

Bille hatte Herrn Tiedjen gar nicht kommen hören.

„Oh …“, sagte sie nur verwirrt und Helga bekam vor Verlegenheit einen knallroten Kopf.

„Ich habe gar nicht gemerkt, dass Sie schon zurückgekommen sind, Herr Tiedjen“, stotterte Bille und ärgerte sich im gleichen Moment über den dämlichen Satz.

Herr Tiedjen versuchte immer noch zu erkennen, was sich in Frau Lohmeiers Garten abgespielt hatte.

„Ich … wir … eh, Karlchen hat in der Kurve einen Teil seiner Ladung verloren. Er hat nicht daran gedacht, dass das Zeug so rutschig ist und ist wohl ein bisschen zu schnell gefahren“, versuchte Bille zu erklären.

„Ein bisschen – aha.“ Herr Tiedjen hatte Mühe, ernst zu bleiben. Frau Lohmeier kreischte immer noch in den höchsten Tönen.

„Ich wollte dich bitten, einen Augenblick zu mir zu kommen, Bille. Ich möchte etwas mit dir besprechen“, sagte Herr Tiedjen.

„Ja, gern.“ Bille legte Schaufel und Besen beiseite und putzte sich die Hände am Hosenboden ab. Auf dem Weg überlegte sie fieberhaft, was sie angestellt haben könnte.

Herr Tiedjen ging ihr voraus zur Veranda und deutete auf einen der tiefen, gemütlichen Korbsessel, aus denen man nur mit Mühe und meistens sehr wenig elegant wieder hochkam. „Setz dich. Ich hole uns nur schnell was zu trinken.“

Dann konnte es eigentlich nichts Schlimmes sein. Oder gerade? War das Besänftigungstaktik? Hatte er etwa einen Käufer für Zottel gefunden?

„Das überleb ich nicht!“, sagte Bille leise vor sich hin.

„Was sagst du?“ Herr Tiedjen kam auf die Veranda zurück, in der einen Hand ein Glas Bier, in der anderen eine Flasche Cola mit zwei bunten Strohhalmen.

„Och, nichts …“ Bille schaute angestrengt zum anderen Ende des Parks hinüber, wo sich Karlchen inzwischen mit der wütenden Frau Lohmeier auseinander setzte.

„Tja – was ich mit dir besprechen wollte …“ Herr Tiedjen machte es sich Bille gegenüber bequem. „Ich war gerade in Peershof drüben. Dort hat sich einiges verändert, vielleicht hast du schon davon gehört …“

„Keine Ahnung …“

„Die drei Peershofer Jungen haben eine Schwester bekommen – eine Adoptivschwester, genauso alt wie du, Bille.“

Jetzt erinnerte sie sich. Mutsch und Onkel Paul hatten vor ein paar Wochen davon gesprochen. Die Eltern des Mädchens waren bei einem Autounfall ums Leben gekommen, das Mädchen selbst war schwer verletzt worden. Und da es sonst keinen nahen Verwandten gab, hatten Herr und Frau Henrich, denen das Gut Peershof gehörte, sich bereit erklärt, sie bei sich aufzunehmen.

Bille hatte das bald wieder vergessen. Die Peershofer interessierten sie nicht, sie mochte die Jungen nicht besonders, wenn sie auch zugeben musste, dass sie alle drei großartige Reiter waren.

„Das Mädchen ist jetzt wieder gesund“, fuhr Herr Tiedjen fort. „Gestern Abend ist sie angekommen. Zwei, drei Wochen wollen Herr und Frau Henrich ihr noch Zeit lassen, sich einzugewöhnen, dann soll sie wieder zur Schule gehen. Vermutlich wird sie in deine Klasse kommen.“

„Sie meinen, ich soll mich in der Schule ein bisschen um sie kümmern?“

„Unter anderem, ja. Wenn ich gerade gesagt habe, das Mädchen sei wieder gesund, so stimmt das nicht ganz. Körperlich ja, aber – sie leidet offensichtlich immer noch unter dem Schock, ihre Eltern verloren zu haben. Henrichs machen sich große Sorgen darüber, dass sie keinerlei Interesse mehr am Leben hat. Die Ärzte meinen, zur endgültigen Gesundung fehle ihr nichts als viel Bewegung an frischer Luft – reiten, schwimmen. Dann würden auch Appetit und Lebensfreude wiederkommen.“

Herr Tiedjen nahm einen langen Schluck aus seinem Glas, dann sah er Bille ernst an. „Ich will dir natürlich nichts aufdrängen, Bille, die Entscheidung liegt bei dir. Aber ich habe mir gedacht, wenn jemand diesem unglücklichen Mädchen helfen kann, dann bist du es. Und ich wollte dich bitten, dich ein wenig um sie zu kümmern. Du könntest sie auf Zottel reiten lassen, später vielleicht gemeinsam mit ihr ausreiten, aber ihr auch sonst Gesellschaft leisten, um sie auf andere Gedanken zu bringen. Darüber hinaus wird es für sie sicher eine Hilfe sein, wenn du ihr in den ersten Monaten in der Schule beistehst.“

Bille wurde rot vor Stolz. Das traute er ihr also zu? Dass sie einem Menschen neuen Lebensmut geben konnte! Dass sie imstande war, jemandem zu helfen, der sich in der Welt nicht mehr zurechtfand.

„Das mache ich sehr gern“, sagte sie fast ein bisschen feierlich. „Ich kann sehr gut verstehen, wie ihr zumute sein muss. Wissen Sie, wie sie heißt?“

„Bettina. Bettina Henrich – sie ist die Tochter des Bruders von Herrn Henrich. Wenn du Lust hast, reiten wir übermorgen Nachmittag mal nach Peershof hinüber, damit ihr euch kennenlernen könnt. Einverstanden?“

„Au ja!“, sagte Bille begeistert.

Neben Herrn Tiedjen über die Felder zu galoppieren war absolut das Höchste an Glück, was es für sie gab.

Jetzt würde Mutsch keinen Grund mehr haben, sich darüber zu beklagen, dass Bille keine Zeit für eine Freundin hatte, weil ihr die Pferde wichtiger waren. Diese Bettina sollte viel reiten, und Bille zweifelte keinen Augenblick daran, dass sie es mit der gleichen Begeisterung tun würde wie sie selbst. Denn auf einem Pferderücken dahintraben und unglücklich sein – das gab’s doch gar nicht!

Zu Besuch auf dem Peershof

Es war ein wunderschöner Oktobertag, als Bille neben Herrn Tiedjen – der heute den kräftigen Fuchswallach Lohengrin ritt – die von hohen alten Buchen gesäumte Allee zum Peershofer Gutshaus entlangtrabte.

Mutsch hatte sie eigens mit frisch gewaschenen weißen Jeans ausstaffiert, ein neues weißes T-Shirt dazu spendiert und einen leuchtend roten Pulli. Sie hatte den schwarzen Samt der Reitkappe bearbeitet, bis auch nicht der kleinste Fussel mehr zu sehen war, und sich überzeugt, dass die schwarzen Gummistiefel vor Sauberkeit blitzten, als wären sie aus feinstem Leder. Die Henrichs waren das, was Mutsch „bessere Leute“ nannte, und Bille sollte um Himmels willen einen guten Eindruck machen! Bille konnte zwar absolut nicht einsehen, was an diesen Leuten nun besser als an anderen sein sollte, aber eines musste sie zugeben: Mutsch hatte sie super hergerichtet.

Das Peershofer Gutshaus war ein mächtiger Bau aus rotem Backstein mit weiß gestrichenen Fensterläden und zum Teil bis unters Dach dicht mit Efeu bewachsen, in dem Dutzende von Spatzenfamilien hausten. Der Rasen vor der kreisrunden Auffahrt wirkte gepflegt, und in den Blumenrabatten vor dem Haus blühten die letzten Sonnenblumen, leuchteten Rosen in allen Schattierungen mit dem Lila der Herbstastern um die Wette. An der Haustür blitzte ein sorgfältig geputzter Messingklopfer.

Herr Tiedjen und Bille nahmen den Pferden die Zaumzeuge und Sättel ab und banden sie am Halfter an einen Baum seitlich der Einfahrt. Dann stiegen sie die Stufen zum Haus hinauf. Wie von Geisterhand öffnete sich die schwere Tür, noch bevor sie sich bemerkbar gemacht hatten. Dahinter erschien das freundliche runde Gesicht von Fräulein Fuchs, der Haushälterin. Sie stand schon seit vierzig Jahren in den Diensten der Familie Henrich und hätte es als unter ihrer Würde empfunden, anders als im schwarzen Kleid mit weißer Schürze Gäste zu empfangen. Bille spürte angesichts solcher Vornehmheit ihr Herz schneller klopfen und ärgerte sich im gleichen Augenblick über sich selbst. Sie hatte sich doch fest vorgenommen, sich durch nichts beeindrucken zu lassen!

Die Halle hatte die Größe eines Kleinstadtbahnhofs. Der Boden war mit spiegelglatten Fliesen im Schachbrettmuster ausgelegt, an den Wänden standen kostbare alte Truhen, darüber hingen Gemälde von strengen Herren und Damen aus vergangenen Jahrhunderten, die sich vor allem durch kunstvoll hochgetürmte Frisuren auszeichneten. Bille unterdrückte gerade noch rechtzeitig den Impuls, durch die Zähne zu pfeifen.

Die Mitte des Raumes nahm ein riesiger runder Tisch ein. Mindestens vier bis fünf Zentner, schätzte Bille, wenn sie umziehen wollen, brauchen sie einen Baukran für den Transport. Aber Leute wie die Henrichs zogen wohl nicht um, die lebten schon seit Generationen auf dem Hof.

Auf dem Tisch lagen achtlos durcheinander geworfene Reitgerten, Zeitschriften, ein Luftgewehr und Munition, alte Lederhandschuhe und eine Reitkappe. Das machte die Umgebung wieder sympathisch. Auch dass hinter der Haustür eine Galerie abgenutzter Reitstiefel in allen Größen stand, söhnte Bille mit der Feierlichkeit des Hauses aus.

Von der oberen Etage her näherte sich lautes Gekläff und Füßetrappeln. Florian, der jüngste der drei Henrich-Söhne, sprang – immer drei Stufen auf einmal nehmend – die Treppe hinunter. Ihm folgten zwei Hunde undefinierbarer Rasse und Farbe. Als Florian Herrn Tiedjen sah, machte er eine Vollbremsung, bei der er drei Meter über den gefliesten Boden schlitterte, und endete in einer gekonnten Verbeugung vor dem Gast. Dann begrüßte er Bille mit männlich-hartem Handschlag und musterte sie neugierig.

Fräulein Fuchs führte die Besucher in die Bibliothek, und Florian benutzte die Gelegenheit, Bille ins Ohr zu flüstern: „Super, dass du gekommen bist. Jetzt brauchen wir uns wenigstens nicht mehr um den Trauerkloß zu kümmern!“

Bille sah sich unsicher in dem eleganten Raum um, dessen Wände bis unter die Decke mit Büchern vollgestopft waren. In einer Fensternische war der Teetisch gedeckt, auf weißem Batist schimmerte kostbares altes Porzellan, blitzten silberne Kannen und Schalen. Bille wurde augenblicklich von der Vorstellung befallen, die schwere silberne Zuckerdose würde ihr in die Teetasse fallen, die Tasse zerbrechen und der Tee auf die kostbare Tischdecke und den noch viel kostbareren Teppich fließen. Sie beschloss, ihren Tee ohne Zucker zu trinken.

Frau Henrich erwartete sie bereits. Sie war eine resolute blonde Frau mit wachen hellblauen Augen und einem etwas vorstehenden Gebiss, und sie schien gar nicht in diese vornehme Umgebung zu passen. Sie schüttelte ihnen herzlich die Hände, wobei sie Bille unauffällig musterte. Bille segnete Mutsch in Gedanken dafür, dass sie darauf bestanden hatte, ihre Jüngste so fein herauszuputzen. Wenn Bille geahnt hätte, welche Hemmungen sie bei diesen „besseren Leuten“ befallen würden, hätte sie auf den Besuch ganz sicher verzichtet.

Frau Henrich bat die Gäste, Platz zu nehmen. Kaum hatte sich Bille auf dem seidenbezogenen Stühlchen niedergelassen und verzweifelt überlegt, wo sie mit ihren Händen bleiben sollte, erschien der Hausherr. Bille sprang auf, um ihn zu begrüßen, und stieß mit den Knien hart an die Tischkante. Es klirrte furchterregend.

„Das passiert mir bei dem Tisch auch immer“, erklärte Florian kameradschaftlich, und Bille, die knallrot geworden war, warf ihm einen dankbaren Blick zu.

Herr Henrich gefiel ihr sofort. Mit seinen großen braunen Augen hinter den dicken Brillengläsern, dem schmalen Kopf und den schlanken Händen sah er eigentlich mehr wie ein Gelehrter oder ein Künstler aus, und nicht wie ein hart zupackender Landwirt. Dass er leise und etwas schleppend sprach, unterstrich diesen Eindruck noch.

„Florian, bitte hol Bettina herunter. Und sag deinen Brüdern Bescheid, dass wir Tee trinken wollen!“ Frau Henrich hatte eine Stimme wie eine Sirene.

Herr Tiedjen und Herr Henrich unterhielten sich über die Ernte und den Verkauf eines wertvollen Hengstes, und Bille stand unschlüssig daneben, bis Frau Henrich sie aufforderte, sich wieder zu setzen. Fräulein Fuchs brachte den Tee in einer bauchigen Silberkanne und hinter ihr erschienen Daniel und Simon, die älteren Brüder von Florian. Daniel, siebzehnjährig, blond, blauäugig und sehr groß, glich der Mutter, während der fünfzehnjährige Simon das Ebenbild des dunkelhaarigen Vaters war. Die Jungen begrüßten die Gäste mit höflichem Händedruck. Hätte nur noch gefehlt, dass sie mir die Hand küssen, dachte Bille.

Sie sah sich vorsichtig um. Wann erschien denn nun endlich diese Bettina, allmählich wurde sie neugierig. Aber Florian kehrte allein zurück.

„Bettina möchte keinen Tee“, erklärte er achselzuckend. „Sie fühlt sich nicht gut, sie möchte liegen bleiben.“

Frau Henrich schüttelte missbilligend den Kopf.

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