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Black As F***. Die wahre Geschichte der USA

Als Buch hier erhältlich:

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US-WAHL 2024 | New York Times-Bestseller
Ein längst überfälliges Korrektiv der weißgewaschenen Geschichtsschreibung à la Trump


»UND WAS IST AMERIKA?

Ist es ein Stück Land, das übersät ist von den achtlos dahingeworfenen Knochen derjenigen, die der Doktrin der territorialen Expansion im Wege standen, oder eine Verfassung? Ist es eine Ansammlung zusammengedrängter Menschen, die sich danach sehnen, wieder frei atmen zu können, oder bloß ein paar Grenzen auf einer Karte?

Dies sind keine rhetorischen Fragen. Um die Geschichte der Schwarzen in diesem Land zu verstehen, müssen wir uns erst darauf einigen, wie wir ›dieses Land‹ definieren. Denn wenn das, was wir als ›Schwarze Geschichte‹ bezeichnen, jenes Puzzle umfasst, das heute als ›die Vereinigten Staaten von Amerika‹ bekannt ist, kamen die rund zwanzig versklavten Afrikaner, die im Jahr 1619 in Virginia landeten, mehr als ein Jahrhundert zu spät zur Party.«

»Harriot hat’s getan. Sein Buch ruft die komplette Bandbreite an Emotionen hervor: Lachen. Wut. Traurigkeit. Liebe (zum Schwarzen Widerstand). Hass (auf Anti-Schwarzen Rassismus). Mehr Lachen. Erkennen von Zusammenhängen, Verstehen und Entdecken.«
Ibram X. Kendi, Amerikas bekanntester Rassismusforscher und Autor von »Gebrandmarkt«


»So hätten wir uns den Geschichtsunterricht in der Schule gewünscht. Auf halber Strecke merkt man, dass es gar kein Buch über die Geschichte der Schwarzen in Amerika ist, sondern darüber, wie verdammt Schwarz die amerikanische Geschichte ist.«
Pharrell Williams, US-Musiker und Kreativdirektor bei Louis Vuitton


  • Erscheinungstag: 24.09.2024
  • Seitenanzahl: 560
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365007990

Leseprobe

Anmerkungen des Verlags zur Übersetzung von Begriffen in historischen Texten und Reden:

Das Wort »colored« (»farbig«/»Farbige«) bezeichnete bereits in der Kolonialzeit nicht primär die Hautfarbe, sondern befreite »Sklaven«. Trotz der rassistischen Konnotation auch des deutschen »farbig«/»Farbige« folgt die Übersetzung dem Autor, der »colored« dort verwendet, wo es sich entweder um die Zitation oder Paraphrase eines historischen Textes bzw. einer historischen Rede handelt. Verwendet der Autor stattdessen den rassismuskritischen Begriff »person/people of color«, so bleibt dieser unübersetzt.

Das englische Wort »race« transportiert im angloamerikanischen Sprachgebrauch auch eine rassismuskritische Bedeutung. Da es im Deutschen kein adäquates Äquivalent gibt, wurde »race« trotz der rassistischen Bedeutungsebene generell mit »Rasse« übersetzt, um den zumeist in historischem Zusammenhang stehenden rassistischen Sprachgebrauch nicht zu tilgen, wie es der Autor auch in anderen Fällen (»colored«/»negro«) praktiziert.

Wo in historischen Quellen entsprechend dem zeitgenössischen Sprachgebrauch die Worte »negro/negroes« oder »nigger« verwendet werden (auch in Texten Schwarzer Autorinnen und Autoren), hat der Autor dies übernommen, ebenfalls in Paraphrasen historischer Texte bzw. Rede oder in meist ironisch distanzierender Rollenrede. Dies wurde in der Übersetzung beibehalten.

FÜR KAREN

EINLEITUNG

Ich weiß noch, wie ich Amerika entdeckte.

Es war gegen 20 Uhr am 4. November 1980 – der Abend, an dem Ronald Reagan zum Präsidenten gewählt wurde. Ich hockte gerade weinend auf den Knien und schickte verzweifelte Stoßgebete an meinen Herrn und Erlöser Jesus, als meine Großmutter nach mir rief. Vielleicht hatte sie den Süßigkeitenvorrat meiner Schwester entdeckt. Oder ich sollte den vertikalen Bildfang am Fernsehstandgerät reparieren. Oder vielleicht – wie einem jeder erzählen kann, der als Kind in einem Schwarzen Haushalt aufgewachsen ist – wollte sie auch einfach nur ein Glas kaltes Wasser. 1 Als sie sah, dass mir die Tränen übers Gesicht liefen, fragte sie, was los sei. Ich gestand die Kardinalsünde unseres Haushalts: Ich hatte eine Unterhaltung der Erwachsenen belauscht.

Ich erklärte ihr, dass ich nicht verstand, wie sie so ruhig bleiben konnte, wo sich doch unsere schlimmsten Befürchtungen bewahrheitet hatten. Mir war klar, dass wir uns auf der Stelle nach Kanada aufmachen mussten, und bat sie, mit mir gemeinsam den Herrn um Beistand und Führung auf dem Weg zu unserer neuen Heimat jenseits der Grenze zu bitten. Unterbrochen von Schluchzern fragte ich sie, ob wir mit der Abfahrt noch bis Tagesanbruch warten würden. Ein Aufbruch am Abend schien mir sicherer, auch wenn die Nachtsicht meiner Mutter ziemlich miserabel war. Großmutters Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hatte sie nicht die leiseste Ahnung, wovon ich redete.

Schließlich rückte ich damit raus, dass ich sie vor ein paar Wochen zu meiner Mutter hatte sagen hören: »Wenn Reagan gewählt wird, schickt er die Schwarzen zurück in die Baumwollfelder.«

Mein kindlicher Verstand war in Aufruhr. Ich wusste doch gar nicht, wie man Baumwolle erntet! Würde ich nun meinen Traum aufgeben müssen, als Point Guard für die Los Angeles Lakers zu spielen und nebenher als Tamburinspieler bei Earth, Wind & Fire zu jobben, um ein Diplom im Baumwollpflücken zu machen? Außerdem konnte ich lesen, und was mit Versklavten passiert, die lesen können, weiß man ja! Aber Großmutter sollte sich keine Sorgen um mich machen: Ich hatte schon eine Tasche mit meinen Lieblings-Underoos, Cordhosen und ein paar Sweatshirts gepackt. Der 1979er-Ausgabe der World Book Encyclopedia zufolge konnten kanadische Winter ziemlich hart sein.

Nachdem mir meine Mutter und Großmutter unter schallendem Gelächter erklärt hatten, was Sarkasmus ist, fühlte ich mich erleichtert, wenn auch etwas verlegen. Ich war immer noch nicht ganz sicher, ob sie vielleicht nur meine Sorgen angesichts unserer bevorstehenden Versklavung zerstreuen wollten, nahm ihnen aber ab, dass ich nicht den verschlüsselten Sprachcode der Negro-Spirituals würde lernen müssen. Sicherheitshalber übergab ich ihnen meine selbst gezeichnete Karte mit der meiner Meinung nach besten Fluchtroute. Im Fall der Fälle hieß es eben »Follow the Drinkin’ Gourd«, was natürlich ein Deckname für den Großen Wagen war. Ich bot an, ihnen zu zeigen, wie man den Großen Wagen am Nachthimmel findet, denn man konnte nie wissen, ob die Sklavenfänger nicht unseren kanariengelben Kombi zur Fahndung ausgeschrieben hatten. Auch wenn sie kein Interesse daran hatten, mehr über die Astronomiegrundlagen des Schleusernetzwerks Underground Railroad zu erfahren, hatte meine Großmutter doch eine Frage.

»Mikey, Junge, wo hast du das alles nur gelernt?«, fragte sie.

Jetzt war ich verwirrt. Ich wusste nicht, ob sie beeindruckt oder beunruhigt war. Sie hatte mir immer eingebläut, dass es keine dummen Fragen gibt, doch nun war sie gefährlich nahe daran, ihren Spruch zu widerlegen.

»Was glaubst du denn, wo ich es gelernt habe?«, gab ich zurück. »Im Mittelzimmer.«

***

Im Jahr 1952 bauten James und Marvell Harriot in Hartsville, South Carolina, ein Haus für ihre acht Kinder, gerade mal 35 Kilometer von dem Zwangsarbeitslager entfernt, in dem James S. Bradley 253 Menschen versklavt hielt, darunter auch Marvells Ururgroßvater Ervin. Im Haus der Harriots gab es vier Schlafzimmer, ein Bad, ein Esszimmer und ein Wohnzimmer, das nur betreten werden durfte, wenn man Besuch bekam, eine schriftliche und mündliche Genehmigung eingeholt hatte oder wenn jemand gestorben war, der den Heiligen Geist empfangen hatte. Das beste Zimmer befand sich jedoch im mittleren Teil des Hauses, ein gemütliches Familienzimmer, das irgendwann einfach »Mittelzimmer« genannt wurde. Hier, von der Warte des Mittelzimmers aus, sollten fünf Generationen der Harriot-Familie spielen, beten, lachen, singen, tanzen und sich das Wissen der Welt aneignen. Lange vor meiner Geburt stattete mein Großvater das Zimmer mit massiven Eichenregalen aus, und im Laufe der Jahre, bis zum heutigen Tag, hat ein jedes Mitglied des Harriot-Clans dort seine Bücher deponiert. Eine Sammlung, die es mit nahezu jeder unabhängigen Buchhandlung und manchen Bibliotheken aufnehmen kann, in der sich Bücher zu allen Themen von Science Fiction bis Geschichte stapeln. Auch gab es hier einen Fernseher vom neuesten Stand der Technik, einen Plattenspieler und ein Hi-Fi-8-Spur-Kassettengerät, auf denen vor allem James-Cleveland-Alben, Episoden von Trapper John, M. D. und Wahlergebnisse liefen. Auf dem umbrabraunen Teppich lernte ich Uno, Spades und Acey-Deucey (eine alternative Version von Backgammon). Das Mittelzimmer fungierte außerdem als Bühne für Familientalentshows, als Gerichtsraum und – am allerwichtigsten – als Klassenraum, Arbeitszimmer und Ressourcenzentrum für sämtliche vier Schüler der Dorothy-Harriot-Grundschule für Dorothy Harriots Kinder.

Als ich noch klein war, beschloss meine Mutter, meine Schwestern und mich zu Hause zu unterrichten. Wie sie mir später verriet, war mein Heimunterricht ein Experiment gewesen, basierend auf ihrer Überzeugung, dass »ein Schwarzes Kind seine Menschlichkeit in weißer Präsenz nicht voll entfalten kann«. Obwohl sie uns Mathematik, Grammatik und die Bibel einpaukte, war unser Unterrichtsprogramm, dem Mittelzimmer sei Dank, vorwiegend selbst geleitet. Ich las so ziemlich alles und jedes, was einige unangenehme Zwischenfälle zur Folge hatte, etwa die schrägen Seitenblicke in der Kirche, nachdem ich mit neun Jahren Malcolm X. Die Autobiographie gelesen hatte und auf einmal jeden Satz mit »So Allah will« beendete. Mit zwölf Jahren stieß ich nach meiner Lektüre des Science-Fiction-Romans The Soul of The Robot (Die Seele des Roboters) von Barrington J. Bayley auf W. E. B. Du Bois’ The Souls of Black Folk (Die Seelen der Schwarzen). Das musste doch etwas ganz Ähnliches sein, oder?

Nach kaum einmal zwei Seiten las ich Folgendes:

Nach den Ägyptern und Indern, den Griechen und Römern, den Teutonen und Mongolen ist der Schwarze eine Art siebenter Sohn, geboren mit einem Schleier und einer besonderen Gabe – dem zweiten Gesicht – in diese amerikanische Welt, eine Welt, die ihm kein wahres Selbstbewusstsein zugesteht und in der er sich selbst nur durch die Offenbarung der anderen Welt erkennen kann. Es ist sonderbar, dieses doppelte Bewusstsein, dieses Gefühl, sich selbst immer nur durch die Augen anderer wahrzunehmen, der eigenen Seele den Maßstab einer Welt anzulegen, die nur Spott und Mitleid für einen übrig hat. Stets fühlt man seine Zweiheit, als Amerikaner, als Schwarzer. Zwei Seelen, zwei Gedanken, zwei unversöhnliche Streben, zwei sich bekämpfende Vorstellungen in einem dunklen Körper, den Ausdauer und Stärke allein vor dem Zerreißen bewahren. Die Geschichte des amerikanischen Schwarzen ist die Geschichte dieses Kampfes – die Sehnsucht, ein selbstbewusstes Menschsein zu erlangen und das doppelte Selbst in einem, ohne dabei eines seiner früheren zu verlieren. 2

Dutzende Fragen drängten sich mir auf, als ich dies las. Wo war dieses alternative Universum, in dem Schwarzsein auf einen Nachtrag reduziert wurde? Und mit wessen Augen sah Du Bois sich selbst? Später sollte ich noch The Mis-Education of the Negro entdecken, worin Carter G. Woodson erklärt, im amerikanischen Bildungssystem werde die Existenz Schwarzer Menschen »nur als Problem untersucht oder als von geringer Bedeutung abgetan« 3 . Diesen Gedanken führte Du Bois eloquent aus: »Zwischen mir und der anderen Welt steht eine ewige unausgesprochene Frage: Die einen sprechen sie aus Taktgefühl nicht aus, die anderen aus Mangel an der passenden Formulierung. Und doch schleicht jeder darum herum. […] Wie fühlt es sich an, ein Problem zu sein? […]«

Irgendwann wurde mir klar, dass meine Mittelzimmerbildung die Umkehrung von Woodsons verbildetem Negro war. Meine Mutter hatte einen entgegengesetzten Lehrplan auf die Beine gestellt, der auf den Worten und Werken großer Denkerinnen und Denker wie Dorothy B. Porter, Arturo Schomburg, Zora Neale Hurston und John Edward Bruce basierte, die allesamt, auf die ein oder andere Weise, Manifestierungen von Du Bois’ Vorhaben sind, einen neuen Maßstab anzulegen. Ich bin nur ein uneheliches Kind, geboren mit dem Privileg, in das fertige Haus hineinzuspazieren, das Du Bois gebaut hatte.

Die Geschichte, die ich im Mittelzimmer entdeckte, war nicht nur eine alternative Version der amerikanischen Geschichte, sondern die eines gänzlich anderen Orts, völlig unvereinbar mit jener weißgewaschenen Mythologie, die in unserem kollektiven Gedächtnis verankert ist. Diesen Ort habe ich nie gekannt, denn dies ist ein Amerika, das in Wirklichkeit nicht existiert.

Jene Geschichte von Amerika ist eine fantastische, übertriebene, fiktive Erzählung. Es ist ein Fantasiebild, in dem Christoph Kolumbus ein Land entdeckte, das er nie betreten hat. Es ist die Geschichte von den Pilgern der Mayflower, die eine neue Nation gründeten. Von George Washingtons Kirschbaum und Abraham Lincolns Blockhütte. Es ist die Geschichte Versklavter, die sich, allein mit starken Rücken und einem Kopf voll Spirituals, aus freien Stücken hierherteleportierten. Es sind Betsy Ross’ Nähzeug und Paul Reveres Pferd, Thomas Jeffersons Stift, Benjamin Franklins Brille, George Washingtons Zähne und Freiheit und Gerechtigkeit für jeden. Und es ist eine Geschichte, die auf Lügen basiert.

Geschichte kann nie objektiv oder unvoreingenommen sein, denn eine jede Geschichte ist, so sehr sich ihr Erzähler auch bemühen mag, durch seine Wahrnehmung der Realität beeinflusst. Das akademische Fach Geschichte ist dominiert von Weißen, die durch ihre Unfähigkeit, den Einfluss des Weißseins auf die Biografie Amerikas zu erkennen, behindert sind. Die besten Historiker versuchen sich der Wahrheit anzunähern, indem sie jene Zerrspiegel begradigen, in denen man die Vergangenheit bislang betrachtet hat, doch handelt es sich dabei nicht bloß um eine gefälschte Version von Geschichte, sondern um ein Märchen, in dem das Spiegelbild eines ganzen Volkes ausgelöscht wird, damit der Heldenmythos glücklich bis an sein Ende fortlebt.

Durch das Mittelzimmer blieb mir die Bürde erspart, den Zerrspiegel der Vergangenheit Amerikas geradezurücken. Für mich waren die Werke von Du Bois, Woodson und den anderen Schwarzen Chronisten vergangener Zeiten kein Gegennarrativ einer gebleichten, weißgewaschenen Version einer ungefähr wahren Geschichte. Das Amerika, das im Mittelzimmer existierte, ist für mich das wahre Amerika. Meiner Bildung nach sind wir die Sonne, und alles in der Geschichte der Existenz dieser Nation dreht sich um das Schwarzsein, das unser Universum erleuchtet.

Wenn wir einmal tot sind und alles, was jemals war, zu Staub zerfallen ist, werden wir nicht Geschichte sein, sondern das, was einmal war. Einige wenige von uns werden ein so denkwürdiges Leben geführt haben, dass es ein weißer Mann für wert erachtet, seinen opponierbaren Daumen zu beugen, um unsere Existenz für die Nachwelt festzuhalten. Das Beste, worauf wir hoffen können, ist, Teil der weißen Geschichte zu werden, denn die Geschichte Amerikas ist eine weiße Geschichte.

Mit Ausnahme von dieser hier.

Diese Geschichte ist Black As F***.

GESCHICHTE, UNGEWEISST

Irgendwas stimmte nicht mit mir.

Ich war ständig wie in Trance, konnte nie still sitzen. Bevor ich endlich irgendwann mit der schwersten Form von Aufmerksamkeitsdefizits-/Hyperaktivitätsstörung diagnostiziert wurde, war ich einfach nur »hyper«.

Auch wenn man heute weiß, dass ADHS eine gängige neuronale Entwicklungsstörung ist, die Millionen Kinder betrifft, wurde bei mir eine »schwere« Störung diagnostiziert. Meine Mutter versuchte meiner Hyperaktivität durch die Ernährung entgegenzuwirken, so durften meine Schwestern und ich nichts essen, worin der rote Farbstoff Nr. 40 oder Zucker enthalten war (außer freitags, dann durfte ich entweder eine Rolle Life Savers oder eine Packung Chiclets haben). In der fünften Klasse verbrachte ich mehrere Monate in der Harriot-Version von Hausarrest, nachdem ich bei dem Versuch erwischt wurde, die Unterschrift meiner Mutter auf ein Zwischenzeugnis durchzupausen, in dem ich als »schlau, aber hat Schwierigkeiten, Anweisungen zu befolgen« beschrieben wurde. Der zweite stellvertretende Diakon unserer Kirche nannte mich den »zerstreuten Professor«.

Und dann waren da noch die Jacken.

Jacken waren der Fluch meiner Kindheit. Ständig kamen sie mir abhanden. Ich vergaß sie auf Kirchenbänken, in Autos und vor allem in der Schule. Und da sie der teuerste Teil einer Kindergarderobe sind, habe ich von meiner Mutter sogar noch mehr Ärger wegen der Jacken bekommen als wegen der Mülltonnen, die ich wieder mal vergessen hatte rauszustellen. Wenn es einen Jackenhimmel gibt, dann ist er sehr wahrscheinlich voll von Dorothy Harriots erstandener und verlegter Winterkleidung. Ich verlor immer, aber auch wirklich immer meine Jacke.

Als ich also in der fünften Klasse meine Mutter anflehte, mir eine »goosedown« zu kaufen – eine daunengefüllte Skijacke mit abnehmbaren Ärmeln, die gerade der neueste Trend war –, hielt sie mir natürlich einen Vortrag darüber, dass ich die nächsten zwei Winter an Frostbeulen und Unterkühlung leiden würde, falls ich die Daunenjacke verlöre. Der Tag, an dem mir meine Mutter diese Jacke im Army Navy Store kaufte, war kleidungsmäßig der zweitglücklichste Tag meines Lebens, nur übertroffen von der Fallschirmhose und dem Ghostbusters-T-Shirt, das ich ein paar Jahre später zum Geburtstag bekam.

Eines Tages war ich auf dem Nachhauseweg von der Grundschule, der an einer Ecke vorbeiführte, wo die Schlägertypen immer Schule schwänzten, um Zigaretten zu rauchen und sich »nekkid magazines« anzuschauen. Ich war in meine übliche Trance versunken, als mir der Geruch von Mentholzigarettenrauch verriet, dass man mir folgte. Als ich anfing zu rennen, war es schon zu spät. Die Bande umzingelte mich und forderte die Daunenjacke. Ich dachte an den Zorn meiner Mutter. Dachte zurück an all die lang verlorenen Jacken der Vergangenheit, von der Fake-Members-Only bis zur Sears Toughskin mit den Cordärmeln. Ich dachte an die Frostbeulenwarnung meiner Mutter und meine Zukunft in Isolationshaft im Mittelzimmer.

Ich weigerte mich, die Jacke abzugeben.

Sie prügelten sie mir vom Leib.

Ich kämpfte so verbissen, dass sie zwar den Mittelteil der Jacke, nicht aber die Ärmel bekamen. Aber was hat man schon von warmen Armen, wenn sich der ganze restliche Körper auf dem Nachhauseweg einen abfriert? Natürlich hielt ich die Sache geheim. Weniger weil mir der Überfall peinlich war, sondern vielmehr aus Angst vor dem Zorn meiner Mutter, wenn sie dahinterkam, dass ich das Teil, wofür sie ganze 56 Dollar hingelegt hatte, nicht mehr besaß. Ich wusste, sie würde mir die Geschichte von dem Überfall nicht abnehmen. Ich musste die Jacke zurückbekommen, bevor sie etwas merkte. Statt also ihr von dem Überfall zu erzählen, weihte ich meine älteren Cousins, Fred und Squeak, und meinen besten Freund James Bond ein. 1 Sie waren schon auf der Junior High und kannten die Übeltäter wahrscheinlich. Als ich ein paar Tage später bibbernd nach Hause ging, ohne dabei die Abkürzung durch Newport zu nehmen, riefen sie mich zu sich.

Sie hatten sie gefunden!

Dort, in meine ärmellose Daunenjacke gehüllt, stand mein Nachbar Freaky-D. Freaky-D war nicht besonders groß, aber furchtlos. Mit seinen 13 Jahren rauchte er schon Marihuana und trank Colt 45. Anscheinend hatte er meine Daunenjacke schon seit Monaten im Visier gehabt. Umzingelt von meinem Ermittlertrupp schwor Freaky-D, er habe die Jacke schon seit über einem Jahr. Seine Freunde, in denen ich die Diebe erkannte, gaben ihm Rückendeckung. Sie bestätigten seine Geschichte und beharrten darauf, dass er die Jacke schon seit über einem Jahr hätte. Nachdem sie ihn ein paar Minuten lang verhört hatten, nahmen Doppelnull, Fred und Squeak ihm die Geschichte ab und ließen ihn gehen. Während sie sich davonmachten, ließ mich Freaky-D wissen, dass die Sache noch nicht vorbei war.

»Das vergess ich dir nicht, Mikey«, rief er. »Freaky-D ist kein Dieb!«

Am nächsten Morgen wurde ich ins Büro des Schulleiters beordert. Da saß meine Mutter, zusammen mit Freaky-D und dem Konrektor der Hartsville Junior High School. Mit Tränen in den Augen erzählte Freaky-D, ich hätte meine Freunde dazu gebracht, seine Jacke zu stehlen. So unlogisch und absurd es für mich auch klang, der Jury im Schulleiterbüro erschien Freaky-Ds Aussage völlig plausibel.

Ich wies Freaky-Ds Lüge entschieden zurück und erklärte, dass es keinerlei Beweise für diese völlig unwahre Geschichte gebe. Er war der wahre Jackendieb. Was ich nicht wusste, war, dass Freaky-D tatsächlich einen Beweis hatte, und das war auch der Grund, warum meine Mutter in die Schule gebeten worden war. Während sie mir ein Loch in die Seele starrte, griff sie in meine Büchertasche und zog das Beweisstück hervor, das die Wahrheit der Daunenjackengeschichte belegte … dessen Ärmel exakt dazu passten.

***

Was Sie hier lesen werden, ist eine wahre Geschichte. Die Namen wurden nicht zum Schutz der Schuldigen geändert.

In den meisten Geschichtsbüchern wird Amerika von europäischen »Siedlern« kolonisiert. In ihrer Aufzeichnung der nationalen Vergangenheit erkennen Historiker an, dass es sich bei den englischen, niederländischen, spanischen und französischen Kolonisten um menschliche Wesen mit verschiedenen Vorgeschichten, Kulturen und Beweggründen handelt. Man weiß um die politischen Anreize, wirtschaftlichen Anliegen und gesellschaftlichen Konventionen, mit denen die Raubtaten, Gewalttaten und Genozide wegerklärt werden, welche sie an den primitiven Schattengestalten verübt haben, die zu nennen man sich nicht die Mühe macht. Die Menschen und Kulturen, deren Blut die geraubten Landschaften tränkt, werden entmenschlicht, indem sie schlicht anonym bleiben. Die geraubten Afrikaner sind nicht Akan oder Nyamwezi, sondern einfach nur »Sklaven«. Die ausgelöschten indigenen Nationen sind nie Oceti Sakowin [bekannt auch als Sioux] oder Irokesen, sondern nur »Indianer« oder allenfalls »amerikanische Ureinwohner«. Und doch haben die Staaten und Kolonien, die sie ersetzen, Grenzen, Legislaturen und unterscheidbare Merkmale.

Black As F*** will nicht mit dieser zeitlosen Tradition der amerikanischen Wissenschaft brechen, sondern befolgt ebenjene akademischen Konventionen, die wir mittlerweile gewohnt sind. Um die Leserschaft nicht durch neue historische Standards zu verwirren, werden in diesem Buch die englischen, niederländischen, spanischen und französischen Landräuber einfach nur als »Weiße« verstanden. Auch wenn es zuweilen aggressiv, konfrontativ und sogar herablassend wirken mag, wird hier zugrunde gelegt, dass der einzige Unterschied zwischen einem Dieb und einem »Siedler« darin besteht, wer den Polizeibericht schreibt. So ist der einzige Unterschied zwischen der Black As F***-Version und der üblichen Darstellungsweise der Geschichte Amerikas, dass hier Weißsein nicht der Mittelpunkt des Universums ist, um den sich alles andere dreht.

Dieses Buch will ebenso wenig Weißsein vergöttlichen wie die Fehler Schwarzer Helden verschleiern. In dieser Geschichte ist Martin Luther King jr. ein Mensch, der sich manchmal fürchtet. Booker T. Washington und W. E. B. Du Bois sind zwar Gegner, doch ihr Ziel ist letztlich dasselbe – sich zu befreien. In diesem Buch sind versklavte Afrikanerinnen und Afrikaner keine Opfer, sondern Kriegerinnen und Krieger des Aschantireichs, die Gründungsväter der Gullah-Kultur und die Erschaffer Amerikas erster Demokratie.

Und auch wenn dieses Buch die Geschichte der Schwarzen in Amerika nicht vollständig abbildet, so zeigt es doch auf, dass einfach zu viel gestohlen wurde, als dass es eine solche Geschichte jemals geben könnte. In diesem Buch gibt es kein Amerika. In diesem Buch ist das Land, das wir als die Vereinigten Staaten kennen, nichts als ein gestohlenes Grundstück, das nach europäischer Logik und dem Gesetz der weißen Vorherrschaft zu einem Siedlerstaat umfunktioniert wurde. Dieses Buch ist die Geschichte eines brutalen Raubs. Von Familien und Freunden, die das Gestohlene zu retten versuchen. Es ist die Zeugenaussage und das Urteil, das eine Jury aus unseresgleichen niemals gehört hat. In meiner Geschichte kann ich das machen. Das hat Freaky-D mir gezeigt.

Jahre später fragte ich Freaky-D noch einmal nach der Jacke. Wie er zugab, wusste er, dass sie gestohlen war, als er sie den Dieben abkaufte. Ihm zufolge hielten sie ihn tagelang mit dem Versprechen hin, dass sie ihm die Ärmel noch nachliefern würden. Er behauptet, nicht gewusst zu haben, dass es meine Jacke war, bis ihn Fred, Doppelnull und Squeak zur Rede stellten, woraufhin ihm der Plan einfiel, um an die Ärmel zu kommen. Und da Geschichte stets von den Werten ihres Chronisten durchdrungen ist, machte sich Freaky-D in seiner Version der Geschichte durch den Kauf gestohlener Ware auch nicht zum Dieb.

Genau wie Freaky-D ist Amerika kein Dieb.

Dies ist die Black As F**-Geschichte Amerikas.

Dieses Buch sind die Ärmel.

1

EARTH, WIND AND AMERICA

Ich habe einen Onkel namens James.

Lange wusste ich überhaupt nicht, dass er James heißt. Für mich war er einfach »Uncle Junior«. James Harriot jr. war mal Marihuanahändler, mal Black Panther, mal Vietnamveteran und mal getreuer Diakon seiner Kirche. Er wusste Bescheid. Über so einiges. Zum Beispiel, wie man eine Bandsäge bediente oder einen Angelhaken mit lebenden Würmern versah. Er war noch unendlich vielseitiger, aber für mein zehnjähriges Ich war das im Wesentlichen mein Uncle Junior.

Eines drückend heißen Sommertags war ich bei ihm zu Besuch und spielte mit meinem Cousin draußen, wo es einen Teich und echte Pfauen gab. Wir hatten Uncle Junior um etwas Wasser gebeten, und er ließ es uns auf der Terrasse trinken, damit wir nicht die ultimative Sünde eines Schwarzen Haushalts begingen – ständig »rein- und rauszulaufen«. Als er die Gläser wieder mit ins Haus nahm, sah ich durch die Fliegengittertür, wie er eine Platte auflegte. Die Musik, die dann erklang, werde ich nie vergessen.

Wie er erklärte, war es Earth, Wind & Fire.

Ich würde ja sagen, dass Earth, Wind & Fire die beste Band aller Zeiten ist, aber vielleicht lesen auch Weiße dieses Buch, und ich will nicht, dass irgendwelche Beatles-Fans wegen mir einen Rappel bekommen. Ehrlich gesagt weiß ich gar nicht, was ein Rappel eigentlich ist, aber Uncle Junior sprach ziemlich oft davon. Ich weiß nur, dass es sich dabei um einen medizinischen Notfall handelt, der beinahe so gefährlich ist wie ein Nervenkoller, die tödlichste Art von Koller. Aber dafür ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt. Es ist vielmehr an der Zeit zu erklären, dass Earth, Wind & Fire im Grunde Jesus-freie Gospelmusik ist. Ich würde wetten, dass Ihnen überhaupt nicht bewusst ist, wie viele Songs von Earth, Wind & Fire Sie kennen, denn sie sind so allgegenwärtig wie Kirchenlieder. Noch dazu vereinte diese Band alle drei Elemente erstklassiger Black Music:

  1. SIE TRUGEN JUMPSUITS. Der Jumpsuit ist für alle großen Musikperformer ein Muss. Es ist eine Vorgabe, die von The J. B.s, der Begleitband des Godfather of Soul, überliefert wurde. Wer es seitdem zu etwas bringen wollte, musste wenigstens einmal im Lauf seiner Karriere auftreten wie eine NASCAR-Crew, die in ein Fass voller Pailletten und Strasssteine gefallen ist. Viele wundern sich über André 3000s schräge Outfits, aber als ich ihn letzten Sommer mit OutKast live sah, trug Dre ohne Ausnahme Jumpsuits. Da wurde mir klar: Ihr lasst ihn einfach nicht groß rauskommen.

  2. SIE SANGEN FALSETT. Prince. Eddie Kendricks. Michael Jackson. Philip Bailey. Alle großartigen Schwarzen Sänger müssen über eine zusätzliche Oktave verfügen, die allein dem Heiligen Geist und Herzschmerz vorbehalten ist.

  3. SIE SPIELTEN BLÄSER. Mir ist ganz gleich, welche Musik Sie spielen – Tatsache ist, alles klingt besser mit Bläsern. Einfach alles. Das weiß jeder, und zwar seit Anbeginn der Zeit. Fragen Sie Joshua, wie er die Stadtmauern von Jericho zum Einsturz gebracht hat. Oder einen Soldaten, welches Instrument bei seiner Beerdigung gespielt werden soll. Oder Jesus, welcher Klang seine Wiederkunft verkünden wird.

Uncle Junior liebte Earth, Wind & Fire, und so wurde natürlich auch ich zu einem Riesenfan der Band. Und die einzig richtige Art, sich »The Elements« anzuhören, war ihm zufolge auf Schallplatte. Natürlich hatte er auch CDs und Kassetten und sogar einen 8-Spur-Kassettenspieler. Doch für meinen ältesten Onkel sollten Alben von Earth, Wind & Fire nur in ihrer reinsten Form gespielt werden, von Anfang bis Ende. Mein Lieblings-EWF-Song war glücklicherweise »That’s the Way of the World« der zweite Titel von der ersten Seite ihres gleichnamigen Albums.

Kennen Sie »That’s the Way of the World«? Wenn Sie Schwarz sind, lautet die Antwort Ja. Wenn Sie je bei einer Grillparty waren, lautet die Antwort Ja. Wenn Sie eine Tante haben, die einen Lederminirock oder eine Bluse im Leopardenprint besitzt, lautet die Antwort Ja. Wenn Sie je den Duft von Räucherstäbchen in einem Zimmer mit Deckenventilator gerochen haben, lautet die Antwort Ja. Bis zum heutigen Tag erinnere ich mich jedes Mal, wenn ich den Song höre, wie sich Freude anhört. Wie Liebe schmeckt. Wie sich zu Hause anfühlt. Auf einmal bin ich wieder ein Kind, stehe auf der Veranda meines Onkels und lausche den Geschichten meiner Tanten hinter der Fliegengittertür, während mein Uncle Junior die Welt erklärt.

Das Einzige, was Uncle Junior noch mehr liebte als die Gruppe, die er »The Elements« nannte, war, anderer Leute Erzählungen zu korrigieren. Wenn sich meine Familie zusammenfand, saßen die Kinder meist auf dem Boden, während die Erwachsenen einander mit Geschichten unterhielten, die schon Generationen zurückreichten. Und wann immer jemand mit seiner Version »kreativ« wurde, um Dampf abzulassen, war Junior zur Stelle und sorgte dafür, dass die Wahrheit ans Licht kam. Als meine Mutter erzählte, wie Uncle Junior einmal eine unbändige schwarze Katze mit nach Hause brachte und im Badezimmerschrank versteckte, damit meine Großeltern nichts bemerkten, und die Katze daraufhin mitten in der Nacht herauskam und meine Mutter beinahe zu Tode kratzte, wurde sie von Uncle Junior daran erinnert, dass die Katze genau genommen eher mitternachtsgrau war und ihr in Wirklichkeit kaum mehr als eine Schramme verpasste. Als meine Tante Marvell für uns zum Besten gab, wie mein Großvater eine ganze Familie aus einem lichterloh brennenden Haus rettete, unterbrach er sie mit dem Hinweis, dass es fast nur Rauch und sehr wenige Flammen gewesen seien. Früher oder später nahm er sich der Geschichten an und erzählte sie weniger übertrieben nach, wobei es ihm aber irgendwie immer gelang, seine Version interessanter zu machen. Er war ein wahrhaftiger Faktenprüfer, eine wandelnde Fußnote mit tadellosen Erzählerqualitäten. Es war seine Leidenschaft.

Uncle Junior war aber auch kein Spielverderber, er war einfach jemand, dem die getreue Wiedergabe der Familiengeschichten ebenso wichtig war wie die Vermittlung der Geschichte des Sounds der Hausband Gottes. Das Wissen um diese besondere Eigenart machte ich mir manchmal zunutze, um seine Zuneigung zu gewinnen. Wenn Uncle Junior bei einem Familientreffen nicht dabei war, rief ich ihn hinterher an und rekapitulierte die Geschichten, während er seine Korrekturen einwarf. Ich konnte mich darauf verlassen, dass seine Version die maßgebliche war und die interessantere. Ehrlich gesagt ging es mir aber weniger um die Familiensagen als um den Spaß dabei, mir anzuhören, wie er die falsch dargestellten Fakten in Angriff nahm. Ich fand es nicht nur unglaublich komisch, es war auch eine Gelegenheit, Zeit allein mit meinem Onkel zu verbringen. Diese fortlaufende Gewohnheit stärkte meine Erzählkünste und verriet mir mehr über meine Familie, sie lehrte mich aber auch, mich nie auf die geschichtlichen Darstellungen anderer zu verlassen, solange ich sie nicht anhand einer unabhängigen Quelle bestätigen konnte, was ironischerweise dieselbe Methode ist, mit der ich die Geschichte Amerikas gelernt habe.

***

Die wahre Ursprungsgeschichte Amerikas ist auch ganz ohne Ausschmückungen ziemlich spannend; es gibt darin Kannibalismus, abenteuerliche Reisen und eine Art schamloser Inkompetenz, die diesem Diebstahlexperiment um ein Haar ein Ende bereitet hätte. Doch natürlich wurde, um das Gesicht zu wahren und den Profit zu maximieren, die Geschichte so lange überarbeitet, bis sie zu dem draufgängerischen Blockbuster wurde, den wir heute kennen, voll idealistischer, breitbrüstiger Erretter, die völlig unbefleckt, mit nichts als ein paar Musketen und einem Übermaß an Weißhäutigkeit ausgerüstet, die Idee zu einer brandneuen Form von Demokratie empfangen haben. Dazu noch ein paar Pilger, eine Handvoll wilder »Indianer« und, der Diversität halber, ein paar Schwarze Figuren, die den Wert harter Arbeit durch 400 Jahre unentgeltlicher Plackerei erfahren, und schon hat man einen Hit!

In der Version der Schöpfung Amerikas, die man Ihnen vermutlich beigebracht hat, spielt eine Gruppe Engländer die Hauptrolle, die wir heute die »Siedler von Jamestown« 1 nennen. In der arbeitsplatzsicheren Märchenausgabe der Geschichte Amerikas waren die Engländer ein mächtiges Reich, das mit Lehm und Einfallsreichtum eine neue Nation formte. 2 »Die und mächtig? Nee!«, hätte Uncle Junior wohl dazu gesagt, wäre er damals auf der Welt gewesen. Zu ihrer Zeit hatten sich diese sogenannten Abenteurer weltweit den Ruf eingehandelt, für körperliche Arbeit nicht geeignet zu sein, geschweige denn für den Entwurf einer neuen Gesellschaft. »Besorge dir deine Sklaven nicht in Britannien«, schrieb der römische Konsul Cicero. »Denn sie sind so dumm und vollkommen unfähig zu lernen, dass sie für den Haushalt Athens untauglich sind«. 3 Diese Inkompetenz sollte schließlich eine transnationale Infrastruktur des Menschenhandels sowie eine einigermaßen glaubwürdige Story schaffen, anhand derer die generationenübergreifende Entmenschlichung und Enteignung durch diese sogenannten Aufgeklärten gerechtfertigt werden konnten.

Im späten 16. Jahrhundert stritten England und Spanien darum, welche Version des Christentums die beste sei, als James I. im Jahr 1603 den englischen Thron bestieg. Der protestantische James wollte die globale Vorherrschaft des katholisch geprägten Spaniens vereiteln, indem er im schnell wachsenden Kolonisierungsprojekt mitmischte. Im Jahr 1534 hatte das englische Parlament erklärt, dass es im Land kein »Oberhaupt der Kirche Gottes auf Erden« außer dem britischen König Heinrich VIII. gebe, der mit der katholischen Kirche gebrochen hatte, um seine Neue heiraten zu können. 4 Während also die katholische Kirche Spanien, Portugal und den anderen weißen Weltreichen als früher Investor diente, blieb Britannien der Zugang zum kirchlichen Startkapital verwehrt. Doch auch ohne eine Kolonisatorenversion von Die Höhle der Löwen gerieten die hochmütigen Mitglieder der britischen Elite nicht aus der Ruhe. Die anderen Länder mochten einen Vorsprung haben, doch die Engländer waren frei von der Bürde von Glauben oder Religion. Sie konnten unbeschwert im Namen einer höheren Macht kolonisieren: Cash Money. 5 Nachdem Königin Elizabeth I. die Genehmigung zur Kolonisierung der »von Christen unbeanspruchten« nordamerikanischen Territorien erteilt hatte, scheiterten die ersten vier Unternehmungen. Das lag aber zugegebenermaßen lediglich an Krankheiten, Mangel an Nahrungsmitteln, fehlenden Navigationskenntnissen und der Unfähigkeit, die Einheimischen von der englischen Vorherrschaft zu überzeugen. Niemand weiß, was bei der vierten Unternehmung geschah, die passenderweise als »verlorene Kolonie von Roanoke« bezeichnet wird. Doch die Engländer gaben nicht auf. Sie waren überzeugt, den Garten Eden zu finden, mit diamantenbehängten Bäumen und Flüssen voller Gold. Solch unermessliche Reichtümer konnten sie unmöglich den Menschen überlassen, die dort lebten. Sie mussten sie einfach selbst besitzen.

Es wäre ein Leichtes, die Geschichte Amerikas auf den Kopf zu stellen und die Kolonisatoren als die Bösen darzustellen. Doch die Männer, die sich an Bord der Susan Constant, Discovery und Godspeed begaben – jene drei Schiffe, die von der von König James gegründeten Aktiengesellschaft Virginia Company of London gechartert wurden –, waren viel zu unfähig, um sie als böse zu bezeichnen. Obwohl sie in ihrer Heimat noch niemals etwas abgebaut, bewirtschaftet oder errichtet hatten, waren diese Clowns fest davon überzeugt, sie könnten übers Meer segeln und einen ganzen Kontinent erobern, den sie noch nie gesehen hatten. Von allen erobernden Kulturen weltweit sind die Engländer die vielleicht unqualifiziertesten Kolonisatoren. Aber von Einbildung verstanden sie was, das muss man ihnen lassen. 6

Neben der Sicherung der Rechte an den Gold-, Silber- und Kupferminen Virginias trug die erste Charta von Virginia den Siedlern auf, »unter denen, die noch in Dunkelheit und schrecklicher Unwissenheit um die wahre Erkenntnis und Verehrung Gottes leben, die christliche Religion zu verbreiten« und »die Ungläubigen und Wilden jener Regionen in menschliche Zivilisation […] zu führen«. 7 Mit anderen Worten, sie würden diese Menschen ihres Landes, ihrer Kultur und Geschichte berauben. Doch im Tausch gegen eine ganze Zivilisation würden die Briten den Einheimischen weiße Kirchenmusik und Hüte mit Schnallen bringen! Ein fairer Deal, oder?

Am 26. April 1607 erreichten die 104 englischen Barbaren Tsenacommacah, ein Territorium im heutigen östlichen Virginia, das von 31 autonomen Stämmen bewohnt war. Da ihnen die grundlegenden geografischen Kenntnisse fehlten und sie ein so enormes Maß an Überheblichkeit mitbrachten, hielten die Weißen die gesamte Ostküste Nordamerikas, von Kanada bis Florida, für Virginia und beanspruchten das Gebiet für sich, ungeachtet der Tatsache, dass es dort bereits eine funktionierende Zivilisation gab, deren Führung sich nicht kampflos ergeben würde. Diese Region wurde von König Wahunsenacah regiert, den die Weißen »Powhatan« nannten, was aber tatsächlich die Stammesgemeinschaft Wahunsenacahs bezeichnet. 8 Sobald er von den bleichen Männern erfuhr, die sich in Küstennähe aufhielten, sandte Wahunsenacah ein Willkommenskomitee aus, um sie mit 20 oder 30 Pfeilen zu begrüßen, so wie er es auch mit allen vorherigen Bootsladungen »verdächtig« aussehender Besucher aus der Nachbarschaft getan hatte. Nach einem kurzen Handgemenge zogen sich Wahunsenacahs Jungs zurück und beschlossen, ihren nächsten Schritt abzuwarten.

Von dem Moment an, da Wahunsenacah und seine Männer diesen bleichgesichtigen Spießbürgern zum ersten Mal begegneten, war den Einheimischen klar, dass es Ärger geben würde. Da war zum einen das Problem mit der Nahrungsversorgung der Gruppe: In der Mittelatlantikregion herrschte gerade die schlimmste Dürre, die man seit 700 Jahren erlebt hatte, ganz zu schweigen davon, dass ihre Ankunft im April ohnehin bedeutete, dass es schon zu spät war, um noch irgendetwas anzubauen. Noch dazu handelte es sich bei dem Fleckchen Erde, das sich die Kolonisatoren von Jamestown ausgesucht hatten, um das schlechteste Stück Land in der Region. Das Brackwasser, das die Siedlung von drei Seiten her umgab, bot zwar einen gewissen Schutz, doch im Juni wurde ihnen klar, dass amerikanische Moskitos eine ganz andere Nummer waren. Auch schienen sie das Konzept von Hygiene nicht ganz verstanden zu haben, denn sie sahen offenbar kein Problem darin, sich am selben Ort zu erleichtern, an dem sie auch ihr Trinkwasser schöpften.

Der vielleicht größte Fehler der Virginia Company lag in der Wahl ihrer Eroberer. Im Gegensatz zu Portugal und Spanien, die im Weiße-entdecken-die-Welt-Trend die Nase vorn hatten, war England bei dem ganzen Kolonisierungsspiel noch relativ neu dabei. Portugal und Spanien verfügten dagegen über eine Klasse von Entdeckungsreisenden und Soldaten, die sich hauptberuflich dem Erobern widmeten. Statt ungehobelter Konquistadoren 9 sandten die Briten also reiche protestantische Aristokraten unter Führung von Captain Christopher Newport zur Landnahme aus. In deren Reihen fand sich außerdem Captain John Smith, ein berühmter englischer Söldner, der im Kampf verwundet, gefangen genommen und als Sklave verkauft worden war. Im Zuge der britischen Expedition wurde Smith wegen Verrats festgenommen und inhaftiert, bis die Schiffe in Virginia an Land gingen und die Mannschaft die Anordnung entsiegelte, die ihn zum Oberhaupt der Kolonie ernannte, obwohl er keinerlei Erfahrung als Landwirt, Verwalter einer Kolonie oder Führer eines Volks hatte. Es war ein fantastischer Start.

Selbst die wenigen Arbeiter, die sich in der Gruppe fanden, waren als Selbstversorger unerfahren, was die zu Pionieren gewordenen Risikoanleger ins Verderben stürzte. In seinen Aufzeichnungen bedauerte Smith, dass es in dem soeben gestohlenen Land nur wenige Bars, Bierstuben und Restaurants gab, sodass die Abenteurer von abgekochtem Wasser und einem Pint Weizen und Gerste pro Tag leben mussten. Der Großteil der Getreidevorräte war 26 Wochen lang an Bord gelagert gewesen und stellte nun eine hervorragende, wenn auch unkonventionelle Proteinquelle bereit – die Maden, die die Vorräte befallen hatten. Als Captain Newport die Gruppe zurückließ und versprach, gleich mit neuem Proviant zurückzukommen, hatte diese in einem weiteren Anfall von Hochmut offenbar vergessen, wie lange die Reise tatsächlich dauerte, und unternahm noch nicht einmal den Versuch, etwas anzubauen. So saßen die unglückseligen britischen Aristokraten ratlos in dem neuen Land und gingen im Winter Virginias ein, wohingegen es die benachbarten Powhatan in ihren beheizten Unterkünften sehr bequem hatten. 10

Während sich Newport auf die Rückreise machte, war Smith unterwegs und »entdeckte«, was schon entdeckt worden war, als er sich eines Tages von 200 Powhatan umzingelt fand. Nach kurzer Überlegung versuchte Smith, seinen einheimischen Führer als menschlichen Schutzschild einzusetzen, was bei den Männern mit den Pfeilen nicht gut ankam. Smith wurde »leicht in den Oberschenkel geschossen« 11 , gefangen genommen, und zu Wahunsenacah gebracht. 12 Oberhäuptling Wahunsenacah erschien in voller Montur zum Verhör, mit Perlenketten, Waschbärpelz und einem Gefolge von Beratern und »jungen Frauen, die je eine große Kette aus weißen Perlen um die Schulter trugen und deren rot bemalte Gesichter von so ernstem und hoheitsvollem Ausdruck waren, dass ich zu Bewunderung gerührt war, einen nackten Wilden derart zu sehen«. 13 Wahunsenacah servierte Smith einen üppigen Brunch und beschloss dann, ihn freizulassen. Solange sich die weißen Männer fernhielten, so glaubte der Häuptling aller Häuptlinge, konnten die beiden Gruppen in Frieden zusammenleben, ein für die Europäer völlig fremdartiges Konzept. Sie waren der Ansicht, die Einheimischen müssten etwas im Schilde führen, eine Theorie, die Smith mit seiner Behauptung bekräftigte, sie hätten ihn wohl verspeist, wenn er nicht den König der Wilden überlistet und Wahunsenacah überzeugt hätte, ihn freizulassen.

Doch Wahunsenacah sah, dass die unbeholfenen Einwanderer in Schwierigkeiten waren, und bemitleidete sie. Auch wenn er nicht wusste, ob ihre Gesichter wegen Malaria, Ruhr oder dem Trinken des Scheißwassers so blass waren (die Antwort lautet: Alle Aussagen treffen zu), beschloss er, den Siedlern zu helfen und ihnen Nahrung zu schicken, bis Newport von seinem Großeinkauf in England zurückkäme.

In England herrschte derweil große Aufregung, weil Newport 14 mit Säcken voller Gold zurückgekehrt war, das die Jamestonier entdeckt hatten. Die Investoren hielten deshalb die Kolonisierungsgeschichte für einen tollen Plan. Sie stellten nicht nur neue Vorräte bereit, Newport trat auch mit 120 zusätzlichen Arbeitskräften und Siedlern den Rückweg nach Virginia an. Bei ihrer Ankunft wurden sie nicht gerade mit einer großen Party begrüßt. Als Newport am 2. Januar 1608 mit Vorräten, Handwerkern und der Mannschaft an Land ging, waren 66 der ursprünglichen Siedler dem Hungertod, Krankheiten und den Pfeilspitzen der Powhatan zum Opfer gefallen. Glücklicherweise war Newport nicht vor Ort, als die Briten daheim erkannten, dass es sich bei dem vermeintlichen »Gold« der Siedler tatsächlich um Eisenpyrit handelte – Narrengold.

Nach Erhalt der ersten Versorgungslieferung machten sich die Siedler an die Arbeit. Offenbar hatten sie nicht das Geringste über Rationierung gelernt und aßen wie jede intelligente, zivilisierte Gesellschaft schon wieder all ihre Vorräte auf, um ein zweites Mal die mageren Zeiten durchzumachen, die sie soeben durchgestanden hatten. (Man weiß ja, wie es läuft, wenn Leute in schlechten Wohngegenden einmal staatliche Zuwendungen erhalten!) Um nicht zu verhungern, überlegten sich Newport und die Siedler den weißesten Plan aller Zeiten: Sie würden Wahunsenacah, dem Kaiser des nicht hungernden Volkes Powhatan, noch einen Besuch abstatten und ihm die Ehre erweisen, ihn zum englischen Vasallen zu machen. Denn welcher vernünftige Mensch würde schon das Privileg ausschlagen, ein ehrenhafter Weißer zu werden? 15 Die geniale Idee hatte nur einen Haken: Wahunsenacah kniete vor niemandem.

Man wird schließlich nicht Präsident von Tsenacommacah, indem man auf die Knie geht. Vielmehr lebte Wahunsenacah nach zwei Leitsätzen: 16

  1. »Wer den Kopf höher als andere hält, ist von höherem Rang« und

  2. »Wer andere verletzlich macht, ohne seinen eigenen Standpunkt zu verändern, ist von höherem Rang«.

Die Weißen hatten ja keine Ahnung, was da auf sie zukam.

Nach Wahunsenacahs Krönung forderten die Siedler weitere Nahrungsmittel von ihrem neuen Landsmann ein. Als die Kolonisten den Häuptling darüber informierten, dass er nun ein Untertan von König James I. war, setzten die Powhatan nicht nur ihrem Wohlfahrtsprogramm ein Ende, Wahunsenacahs Krieger umzingelten auch die Siedlung von Jamestown und warnten die Bettler, ihre blütenweiße Gated Community nicht mehr ohne pfeilsichere Westen zu verlassen. Da sie nun nicht mehr zum Jagen, Fischen oder zur Nahrungssuche ausziehen konnten, ohne angegriffen zu werden, standen die Siedler also wieder ganz am Anfang.

Bald hatte es sich bis nach England herumgesprochen, dass die Siedler durchdrehten wie Kenny G bei einer HBCU Halftime Show. Nicht genug damit, dass sie kein Gold fanden; als sie bei einer Erkundungstour den höchsten Berg der Region erklommen, konnten sie den Pazifik noch immer nicht sehen. (Ja, sie dachten tatsächlich, sie könnten ein paar Meilen von ihrer Siedlung entfernt einen Weg nach Asien finden.) König James war so entschlossen, seine Investition zu retten, dass er der Virginia Company eine neue Charta ausstellte, inklusive einer Flotte von neun Schiffen, beladen mit Versorgungsmaterial und 500 Kolonisten. Es war die größte Flotte in der Geschichte des Landes … bis sie durch einen Orkan getrennt wurde und auf zwei Schiffen Gelbfieber und die »Londoner Pest« ausbrach. Zwei weitere Schiffe gingen auf See verloren und blieben verschollen. Als die Verstärkung endlich in Virginia eintraf, war der Proviant so gut wie aufgebraucht, dafür gab es noch mehr Leute, die verpflegt werden mussten.

Smith und die Gouverneure von Jamestown mussten zu Recht und Ordnung aufrufen, um zu verhindern, dass die verzweifelten Kolonisten die englischen Stadtrandsiedlungen in ein Ghetto verwandelten. Im Oktober 1609 schlief Smith auf einem Sack Schießpulver ein, das versehentlich Feuer fing und ihm 20 Zentimeter Haut in der Leistengegend versengte. 17 Glücklicherweise befand er sich auf einem Boot und konnte ins Wasser springen, wo er jedoch beinahe ertrank. Nachdem sich sein Rücktransport nach England wochenlang verzögert hatte, verließ John Smith Virginia schließlich als völliger Versager, der trotz aller Mühen außer einem Tagebuch, ein paar Geschichten und verkohlten Genitalien nichts vorzuweisen hatte. Nach Smiths unglücklicher Würstchengrillepisode lud Wahunsenacah Smiths Nachfolger John Ratcliffe und die 25 wichtigsten Weißen von Virginia zu einem großen Festmahl ein, mit der Aussicht auf weitere Zuwendungen vonseiten der Powhatan-Regierung. Beim Bankett eingetroffen, stellte Ratcliffe fest, dass die Essenskörbe leer waren und er direkt in die Falle getappt war. An jenem Abend wurde Ratcliffe entführt, bei lebendigem Leib gehäutet und am Marterpfahl verbrannt. Es gehörte zu Wahunsenacahs Plan, sein Land ein für alle Mal von den lästigen Weißen zu befreien, indem er endlich tat, was er von Anfang an hätte tun sollen – sie verhungern lassen.

Nach dem Untergang seiner schlampigen Führung war Jamestown verloren. Bei Einbruch des dritten Winters in der Siedlung erlebten die Neuankömmlinge einen neuen Tiefpunkt und waren gezwungen, ihre Ledergürtel, Haustiere und schließlich einander zu essen. Ja, es stimmt: Forscher konnten tatsächlich nachweisen, dass die wenigen verbliebenen Jamestonier diese als »starving time« bekannte Zeit überlebten, indem sie schwangere Frauen töteten und ihre eigenen Kinder verspeisten. 18 Die gepriesenen »ersten Amerikaner« waren Kannibalen.

Im Mai 1610 erreichten 142 Überlebende von König James’ unglückseliger Flotte die Siedlung auf einem Schiff, das sie geschafft hatten, sich auf den Bermudas selbst zu bauen. Einer der Passagiere, John Rolfe, hatte bei dem Schiffbruch vor den Inseln seine Frau, seine Tochter und sämtliches Hab und Gut verloren. Als er schließlich in Virginia ankam, hatte er nur ein paar auf den Bermudas gesammelte Tabaksamen bei sich. Er hatte von dem neuen Trend des Rauch-»Trinkens« gehört, der gerade in Europa umging, und beschloss, diese westindischen Tabaksamen anzupflanzen. Wie sich herausstellte, bot Virginia den idealen Boden für den Tabakanbau.

Als Rolfe und Co eintrafen, war Wahunsenacah noch immer auf seinem Trip. Chief Rocka Nummer eins hatte die weißen Eindringlinge erfolgreich ausgehungert und verfügte nach wie vor über eine große einheimische Streitmacht. Als das Schiff aus den Bermudas anlegte, waren von mehreren Hundert englischen Siedlern tatsächlich nur noch 60 übrig. Doch ein besonders barbarischer Kolonist, der stellvertretende Gouverneur Samuel Argall, hatte einen Plan. Argall war der Inbegriff des Bösen, bekannt dafür, französische und niederländische Siedlungen zu überfallen und für den König zu beanspruchen. Wenn Argall die Eroberung einer Siedlung nicht gelang, ging er einfach zu Plan B über und setzte sie in Brand, wie er es mit einer Jesuitenkolonie und einer französischen Siedlung im heutigen Maine getan hatte. Zuerst versuchte Argall Wahunsenacah zu unterwerfen, indem er Dörfer der Einheimischen niederbrannte. Nachdem das nichts half, fand er heraus, dass Wahunsenacahs Schwachstelle seine Tochter Matoaka war. (Die Weißen nannten sie »Pocahontas«, weil … Wie schon gesagt, sie hatten es leider überhaupt nicht mit Namen.)

Im April 1613 entführte Argall Matoaka, indem er sie auf sein Schiff lockte. Er bot an, sie gegen die englischen Gefangenen auszutauschen, die sich aus dem Camp gewagt hatten. Als Wahunsenacah einwilligte, brach Argall die Abmachung und verlangte mehr Vorräte. Wieder willigte Wahunsenacah ein, doch Argall würde seine Tochter nie mehr freilassen; sie trat zum Christentum über und wurde mit Rolfe verheiratet. So war der Bekehrungsplan der Weißen beim zweiten Anlauf doch noch erfolgreich. Wahunsenacah wies seine Krieger an, sich zu entspannen, und schenkte Rolfe mehrere Hundert Morgen Land als Mitgift. Im Jahr 1614 exportierte Rolfe ein paar Fässer seiner ersten Tabakernte, und die Engländer waren verrückt danach. Seit dem Vorfall mit dem Falschgold im Jahr 1608 waren das die ersten guten Nachrichten von der Virginia Company.

Da der Erfolg offensichtlich war, blieb nun die Frage, wer dieses neue Exportprodukt anbauen sollte. Die wenigen verbliebenen Siedler hatten keine landwirtschaftliche Ader und konnten sich nur mit Mühe selbst versorgen. Um dieses Problem zu lösen, brach Argall 1616 mit John und Matoaka zu einem Investor-Relations-Trip nach England auf. Die Reise kam jedoch zu einem jähen Ende, als Matoaka an einer ungeklärten Krankheit plötzlich starb. Ihre Stammesangehörigen glaubten an eine Vergiftung, während einige Historiker von einer Atemwegserkrankung oder Ruhr ausgehen. 19 Was auch immer die Ursache war, Argall kehrte mit dem soeben verwitweten Rolfe ohne einen Plan nach Virginia zurück.

In Virginia hatten derweil die Chickahominy, die nicht zu Wahunsenacahs Bündnis gehörten, die faulen britischen Siedler mit Nahrung versorgt, die noch immer nicht genug angebaut hatten, um sich selbst zu ernähren. Als Wahunsenacah im April 1618 starb, beschlossen die Einheimischen, die staatlichen Beihilfen an die Siedler einzustellen. Das Ende dieses Wohltätigkeitsprogramms würde die unerfahrenen englischen Eindringlinge dem Untergang weihen. Sie brauchten dringend Hilfe. Das Einzige, was die englische Kolonie vielleicht noch retten konnte, war ein Zustrom an Einwanderern, die wussten, was sie tun.

Wieder einmal stand Jamestown am Rande des Ruins. Die englischen Investoren verlangten ihr Geld, das König James jedoch nicht hatte. Rolfe besaß zwar Land, doch da er es nicht bewirtschaften konnte, war es im Grunde wertlos. Nach einer sommerlichen Hitzewelle machten sich die Kolonisten auf eine zweite »starving time« gefasst, da die Investoren erst dann mehr Vorräte schicken wollten, wenn sie ihr Geld bekämen. Im Juli 1619 hielt die Virginia Company ihre erste gesetzgebende Versammlung ab. Bei den Zusammenkünften kam man überein, dass es für das Überleben der Gesellschaft eine gute Idee sei, wenn die Siedler genug Nahrung anbauen würden, um sich selbst zu versorgen. Statt 75 Prozent der Landfläche für den Tabakanbau zu nutzen und sich auf das Wohlfahrtsprogramm der Einheimischen zu verlassen, beschloss das erste weiße Gesetzgebungsorgan Amerikas, die Tabakproduktion auf 25 Prozent des Plantagenertrags zu reduzieren und Grundstücke an Investoren zu übertragen. Ein Plan, der auf den ersten Blick vernünftig erscheint, aber in Wirklichkeit verstanden diese Leuchten noch immer nichts vom Landbau und hatten sich noch nicht einmal daran versucht. So zu tun, als hätten sie auf einmal den Durchblick und könnten sich selbst versorgen, war also schon ein starkes Stück. Es gibt ein Wort dafür, etwas einfach immer wieder zu wiederholen, und dabei andere Ergebnisse zu erwarten:

Amerikanisch.

Das Amerikaexperiment hatte sich so gut wie erledigt. Sie hatten keine Nahrung, kein Gold, und in ihrem Heimatland kreisten Gerüchte wegen der Menschenfresserei – wie sollte man da ein geschultes, arbeitsames Volk finden, das wusste, wie man ein Land aus dem Nichts aufbaut? England war es sicher nicht. Sie haben Cicero ja gehört!

Dann kreuzte ein Kumpel von John Rolfe mit einer Fracht auf, welche die unbeholfenen britischen Kolonisatoren vor dem Aussterben bewahren sollte.

Am 12. oder 13. Oktober 1616 brach der spanische Kapitän Manuel Méndez de Acuña mit seinem eigenen Schiff aus Spanien auf, versehen mit einem Schreiben, das ihn ermächtigte, entführte Afrikanerinnen und Afrikaner von Afrika nach Veracruz, Mexiko, zu transportieren. Obwohl die San Juan Bautista lediglich für 200 versklavte Menschen zugelassen war, brach Acuña mit mindestens 350 geraubten Personen von Luanda, Angola, auf. Als das 115 Tonnen schwere Gefährt Jamaika erreichte, waren etwa 143 von ihnen gestorben. Wie die meisten Sklavenhändler hatte Acuña es so geplant; die Menschenhändler überluden ihre Schiffe regelmäßig, um den größtmöglichen Profit zu machen. In Jamaika verkaufte er 24 Kinder und nahm Kurs auf Veracruz, wo er eine Schiffsladung von 123 Menschen angab. 60 Menschen fehlten.

Im Juli 1619, kurz bevor die San Juan Bautista in Mexiko eintraf, war sie von 25 Engländern auf einem kleinen Schiff überfallen worden. Nachdem sie Acuña etwa 60 Exemplare seiner geraubten Fracht geraubt hatten, teilten sie diese zwischen dem 160-Tonner White Lion und dem 100-Tonner Treasurer auf. Die diebischen Briten beschlossen, die Virginia Colony anzusteuern, wo sie nicht Gefahr laufen würden, verhaftet oder angegriffen zu werden. Als die White Lion »etwa Ende August« in Point Comfort anlegte, verhandelten der Gouverneur von Virginia, Sir George Yeardley, und der Handelsbeauftragte der Kolonie, Abraham Peirsey, einen Spottpreis für die Schiffsfracht – »ungefähr 20 Negroes« im Tausch gegen Proviant und »die besten und günstigsten Bedingungen, die ihnen möglich waren«. 20

Und damit war das Projekt Jamestown gerettet. Erst dadurch gewann das Land an Wert. Die Arbeit der Versklavten war mehr wert als das Märchen von Gold und Diamanten, die auf Bäumen wuchsen. Nun, da sie ein Exporterzeugnis, Land im Überfluss und Leute hatten, die damit etwas anzufangen wussten, wurde aus dem kläglich gescheiterten Experiment ein beispielloser Erfolg. Doch warum ausgerechnet Virginia? Warum sollte ein Schmuggler erfolgreichere Siedlungen umfahren, um eine gescheiterte Kolonie anzusteuern? Woher wussten sie, dass man sie dort freundlich empfangen würde? Wenn diese Geschichte überhaupt je erzählt wird, dann als eine von Zufall und glücklicher Fügung, aber in Wirklichkeit geht es darin natürlich um Täuschung, List und Habgier.

Als John Rolfe mit seiner soeben geraubten Frau den Investor-Relations-Trip nach England unternahm, reiste er dorthin und auch zurück zur Kolonie auf einem Schiff, das unter der Führung des brutalen Samuel Argall stand. Gleich nach ihrer Rückkehr wurde Argall wieder nach England beordert, um sich wegen des Vorwurfs der Misshandlung von Kolonisten und der Leitung eines internationalen Verbrecherrings zu verantworten. Für die Rückfahrt nach England musste sich Argall jedoch eine andere Mitfahrgelegenheit suchen, da sein eigenes Schiff von seinem Kumpel, einem berühmt-berüchtigten Freibeuter namens Daniel Elfrith, geführt wurde, der sich das Stehlen auf hoher See zum Beruf gemacht hatte. Elfrith hatte sich die Treasurer von Argall geliehen und mit dem Stehlen der gestohlenen Afrikaner von der San Juan Bautista das große Los gezogen.

Vier Tage nach Ankunft der White Lion verkaufte Elfrith »zwei oder drei Negroes« in Virginia. 21 Er hätte wohl noch mehr verkaufen können, musste jedoch überstürzt abreisen, da der neue Gouverneur von Virginia, Sir George Yeardley, das Schiff als bekanntes Piratenschiff erkannte und ihn des Landes verwies. Yeardley konnte allerdings nicht widerstehen, ihm vor dem Rauswurf noch ein paar preisgünstige Menschenwesen abzukaufen. Dabei war ihm klar, dass es schnell gehen musste, denn er wollte seinen guten Ruf nicht durch Geschäfte mit Piraten besudeln. Solche Schwierigkeiten konnte Virginia nicht gebrauchen.

Weniger als ein Jahr später, im März 1620, wurden bei der ersten Volkzählung der Virginia Colony 17 Frauen und 15 Männer verzeichnet, die »keine Christen im Dienste Englands« waren. Eine dieser Frauen taucht in späteren Dokumenten als »Angela« oder »Angelo, a negro woman« auf. Angela kam als Passagierin mit Daniel Elfriths unabhängigem Raubzug-, Versklavungs-, Entführungs- und Dorfverbrennungsunternehmen, der Treasurer, nach Amerika. Es war dasselbe Schiff, mit dem Argall Matoaka entführt und indigene Siedlungen entlang der Küste niedergebrannt hatte. Es war ein Seelendieb, angetrieben von Habgier und Raub, und so amerikanisch, wie man es sich nur denken kann.

Hier, in den Senken und Vertiefungen der Geschichte der geraubten Menschen, liegt das wahre Amerika. Jene andere mythische Erzählung, die an Schulen verbreitet wird, ist für mich so real wie Atlantis oder Oz. Sie ist eine gigantische Lügengeschichte, die durch jahrelanges Garnspinnen immer weiter verfeinert, ausgeschmückt und in Köpfe eingebläut wurde. Doch in der Mittelzimmerwelt von Du Bois und seinen Nachfolgern stellen wir Amerika die wahre Frage:

Wie fühlt es sich an, ein Menschendieb zu sein?

Oder ist das einfach, wie’s läuft auf Welt?

2

DER KIRCHENSTREIT, MIT DEM DIE SKLAVEREI BEGANN

Über die Geschichte der europäischen Religion und sozialen Kastensysteme und die Verwertung des afrikanischen Kontinents als Fabrik für den Rohstoff Mensch durch die Europäer wurden bereits ganze Bücher geschrieben. Um jedoch die Ursprünge des in der amerikanischen Verfassung verankerten Menschenhandelssystems zu verstehen, in dem Menschen rechtlich auf Güter reduziert wurden, müssen wir einen Blick zurück zu den Anfängen des transatlantischen Sklavenhandels werfen, der das Fundament der hautfarbenbasierten sozialen Hierarchie Amerikas bildet.

Es fing an mit der Kirche.

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