×

Ihre Vorbestellung zum Buch »Böse Spiele«

Wir benachrichtigen Sie, sobald »Böse Spiele« erhältlich ist. Hinterlegen Sie einfach Ihre E-Mail-Adresse. Ihren Kauf können Sie mit Erhalt der E-Mail am Erscheinungstag des Buches abschließen.

Böse Spiele

Als Buch hier erhältlich:

Mario ist Robertos einziger Freund, sein bester Kumpel, mit dem er in den Ferien die Wildnis erkundet, sich das Leben als Erwachsener vorstellt und Mutproben in Angriff nimmt. Dann beschließen die zwei, einen gefährlichen Berggipfel zu besteigen und riskieren alles dabei – auch ihre Unschuld... Dreißig Jahre später lebt Roberto in Zürich – als ruhiger Mann, der hart arbeitet, sich Ansehen und Wohlstand verdient hat. Er ist Kunsthändler, unterhält gute Geschäftsbeziehungen und lebt mit einer Freundin, die ihn liebt – Elena. Als sein Vater stirbt, muss er an die Orte seiner Kindheit zurückkehren, und die Vergangenheit holt ihn ein: die Erinnerung an einen Vater, den er erst aus ganzem Herzen liebte und dann hasste, der Rosengarten seiner Mutter, das Familienunternehmen. Das Testament seines Vaters, mit all seinen Verpflichtungen und Enthüllungen, zwingt Roberto dazu, sich den ungelösten Fragen dieses Sommers zu stellen: eine Schuld, die nun aufgedeckt werden muss. Um das zu schaffen, braucht er Mario – und muss ein letztes Mal in die Berge zurückkehren.
  • Erscheinungstag: 19.10.2020
  • Seitenanzahl: 432
  • ISBN/Artikelnummer: 9783312011476
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

 

Böse Spiele

 


Aus dem Italienischen von Monika Köpfer

Für Eva, in Liebe

Das Erste, was ihm bei der Erinnerung an jenen letzten Sommer in den Sinn kommt, ist die schwarze Sonnenbrille. Seine Großmutter hatte sie schnell aufgesetzt, um ihre Tränen zu verbergen, ehe sie in den eisblauen Citroën stieg, der mit Carlo am Steuer immer wie ein drolliges Spielzeugauto wirkte.

In dem kleinen grasbewachsenen Hochtal, wo seit Urzeiten der Gasthof Miravalle stand, schienen sie weit und breit die Einzigen zu sein. Er, seine Großmutter und sein Vater. Der Sturm der vergangenen Nacht hätte eine gute Erklärung für diese eigentümliche trostlose Stimmung sein können, aber er kannte den wahren Grund. Als er sich umblickte, hatte er das Gefühl, in eine Folge von dieser Fernsehserie geraten zu sein, in der eine Epidemie fast alle Menschen ausgelöscht hat und die wenigen Überlebenden auf der Suche nach Freunden und Verwandten durch verwaiste Städte geistern.

Und genau so fühlte er sich: wie ein Überlebender.

Es war verständlich, dass niemand herauskam, um sie zu verabschieden, nach dem, was passiert war. Man zog es vor, sie ziehen zu lassen wie eine dunkle Wolke. In der kurzen Zeitspanne zwischen der vergangenen Nacht und dem Morgen hatte sich bereits jeder für sich eine Erklärung für das, was geschehen war, zurechtgelegt, und obwohl die verschiedenen Versionen nicht übereinstimmten, war man sich einig, dass sie abreisen sollten. Bloß keine zufällige Begegnung mehr, kein Abschied oder irgendeine Einmischung. Man wollte sich raushalten.

Als öffnete man eine gedankliche Klammer, die für immer offen bleiben würde.

Denn nichts und niemand konnte diese Klammer je schließen, die wie ein Bluterguss immer größer wurde und anschwoll, nicht einmal die Zeit, nicht einmal das Versagen der Erinnerung. Nicht einmal, wenn die Erinnerung erstarb.

Nachdem er die beiden Lederkoffer verstaut hatte, trat sein Vater an die Fahrertür und machte ihm von Weitem, als erinnerte er sich erst jetzt an ihn, ein brüskes, instinktives und für ihn doch so untypisches Zeichen, eine ruckartige, hysterische Handbewegung, die bedeutete: nun komm, in der aber zugleich unerwartet seine Verzweiflung und unwillkürliche Abweisung lagen. Dann verschwand er im Wagen und ließ den Motor an.

Roberto blieb noch einen Augenblick lang stehen und sah unverwandt auf die Stelle, an der sein Vater gerade noch gestanden hatte, als hätte diese winzige, aber unglaubliche Episode ein Echo hinterlassen, dem es nachzulauschen galt, bis es ganz, wirklich ganz verklungen war.

Er warf den kleinen Ast, mit dem er den Schlamm von den Sohlen seiner Sandalen gekratzt hatte, in den Brunnentrog und begab sich mit automatisch ausgeführten hüpfenden Schritten zum Wagen. Aber es steckte keine Fröhlichkeit in ihm, und das würde vielleicht nie wieder so sein. Er wusste das in dem Augenblick, als er – nachdem sein Vater den Wagen gewendet hatte – auf dem dunklen Holzbalkon, der um den Gasthof herumlief, plötzlich jemanden wahrnahm. Eine gedrungene bäuerliche Gestalt beugte sich vorsichtig über das Geländer und sah ihnen nach. Die alte Emma hatte der Versuchung nicht widerstehen können, einen letzten Blick, dunkel wie die Finsternis, wie eine Verwünschung, auf sie zu werfen.

Kurz, nur einen Moment lang, starrten sie einander an.

Da wusste er, dass sie, die Beltramis, nicht zu den Überlebenden zählten. Nein, sie waren keine Überlebenden.

Sie waren die Schuldigen.

Während der Wagen längs der Mittellinie über die Asphaltstraße fuhr, machte Roberto die Augen zu und fragte sich, ob man einem Kind verzeihen würde. Ob er, und sei es nur wegen seines Alters, womöglich von Strafe verschont würde. Und ob es möglich wäre, die Erinnerung an den vergangenen Tag wie eine Art Leck oder einen Krater zu umgrenzen, um sie auf Distanz zu halten, sie aus dem eigenen Leben und dem anderer wegzuschieben, damit sie ihnen nicht länger wehtun konnte. Sie zu zähmen, wenn sie schon nicht zu besänftigen war.

Er kannte die Antwort nicht.

Der eisblaue Wagen, der jetzt kein bisschen mehr drollig war, sondern nur noch ein Ding aus Stahl und Gummi, kurvte über die Bergstraße ins Tal.

Erster Teil

Der letzte Sommer, 1981

»… in die Fußspuren tretend,dann über den leblosen Körper [unseres Vaters] steigend, geht einer von uns hinüber in das andere Land.«

 

AGOTA KRISTOF Das große Heft

1.

Während sie die Serpentinenstraße hinauffuhren, gab der Citroën Ami 8, wenn er vor einer Kehre in den ersten Gang geschaltet wurde, ein kehliges Geräusch von sich wie ein ungehobelter Kerl, der vor dem Ausspucken vernehmlich den Schleim hochzieht, um dann auf dem geraden Straßenabschnitt mit einem hohen Pfeifton geschmeidig dahinzugleiten, wie in einem Sog, wie befreit. Und bei der nächsten Kurve wieder das Gleiche von vorn, bei allen hundert Kehren, die die Ebene mit dem Hochtal verbanden. Roberto ahmte leise das kehlige Kratzen und dann das Pfeifen nach und amüsierte sich, während er so tat, als steuerte er selbst diesen Spielzeugwagen, den sein Vater geistesabwesend und mit nur einer Hand lenkte und zur Großmutter und dann zu ihm und immer wieder zur Großmutter sah und nur selten auf die Straße, als wäre diese uninteressant und daher unwichtig; und offensichtlich genügte eine Hand am Lenkrad, denn die andere brauchte er unbedingt, um die Umrisse der Wörter und Gedanken nachzuzeichnen, die sonst in der Luft hängen würden wie eine Fahne auf Halbmast und sich verhaspeln könnten, während sie auf diese Weise geschmeidig dahinflossen. Unterdessen saß Lia, eine lange, schneeweiße Zigarette zwischen den Lippen, die nie aufgeraucht zu sein schien, mit nüchterner ungerührter Miene und verschränkten Armen da, den Blick schweigend auf die Straße gerichtet. Nur hin und wieder unterbrach sie mit einer kurzen, dahingeworfenen Bemerkung den Redefluss ihres Sohnes und löste einen Moment der Verwirrung aus, der sofort wieder von einem unaufhaltsamen Wortschwall verdrängt wurde.

Die Sonne hatte die Bergluft in ein galaktisches Blau getaucht, und hin und wieder schien es, als würde es durch die halb heruntergelassenen Fenster hereinströmen und das Wageninnere fluten, zähflüssig wie Lack; währenddessen lehnte Roberto mit dem Kopf an der Scheibe, um den Fahrtwind zu schnuppern, der nach Kiefern und dem gemähten und zum Trocknen ausgebreiteten Gras roch.

Alles an diesem Tag, an dieser Bergfahrt, an der Gesellschaft der beiden Menschen gefiel ihm. Einfach alles. Dreihundertvierundvierzig Tage zuvor hatte er diese Berge mit schrecklichem Heimweh, aber auch dem unbedingten Versprechen wiederzukommen, verlassen, wie alle Sommer davor, an die er sich erinnern konnte. Die Gewissheit dieser Routine hatte ihn beruhigt und zugleich in einen latenten Zustand des Wartens versetzt, als hätte in seinem Kopf parallel zu seinen Gedanken und täglichen Beschäftigungen eine lautlos und unermüdlich tickende Stoppuhr die verbleibende Zeit rückwärts zu messen begonnen. Jetzt war sie im Begriff, sich der Null zu nähern. Diese Momente waren, wie bereits in den Vorjahren, von einem unterschwelligen, schmerzlichen Gefühl angefüllt, einer Art Rausch, einem wilden Juckreiz, der die Eingeweide und Gedanken entzündete, so unerträglich, dass er, hätte er und nicht sein Vater hinterm Steuer gesessen, wieder umgekehrt und nach Hause gefahren wäre. Aber stattdessen saß sein Vater am Steuer des Ami, dieses wie ein Spielzeugauto anmutenden Wagens, der sie Kurve um Kurve ihrem Ziel näherbrachte, und er genoss es, sich auf dem hohen, harten Rücksitz fahren zu lassen, in der Gewissheit dieser Freude, die ihm jetzt bevorstand.

Er riss sich aus seinen Gedanken und lauschte wieder der lebhaften Unterhaltung zwischen Carlo und seiner Großmutter.

»Glaub mir, es birgt gewisse Risiken, wenn man zu klein bleibt.«

»Wenn man als Unternehmen zu schnell wächst, läuft man Gefahr, die Kontrolle zu verlieren, Fehler zu machen und auf einen Schlag den guten Ruf und das Vertrauen, das man sich mit der Zeit aufgebaut hat, einzubüßen, meint dein Vater. Da reicht schon ein falsches Buch, meint er.«

»Papa denkt wie ein Handwerker, aber der Buchmarkt hat sich verändert. Und wird sich weiter verändern. Wir müssen gerüstet sein.«

Carlo drehte den Kopf zur Seite und sah seine Mutter lächelnd an. »Ihr habt mich ja nicht umsonst studieren lassen.«

Aber Lia ging nicht auf seinen abwiegelnden Tonfall ein.

»Bald, wenn du in der Firma das Ruder übernimmst, wirst du die Entscheidungen treffen. Aber du kannst nicht erwarten, dass dein Vater in seinem Alter nochmals seine Denkweise ändert.«

»Tja, aber dann könnte es möglicherweise zu spät sein.«

Bei diesen Worten sahen sie einander an und verstummten, als könnten sie womöglich ein Unheil heraufbeschwören. Der Verlag Beltrami war nicht nur seit drei Generationen in Familienhand, das Familienunternehmen, dem ihr ganzes Augenmerk, ihre ganze Sorge galt, er war viel mehr: Sie brachten diesem Verlag eine Zuneigung entgegen, als wäre er ein natürlicher Zweig ihrer Familie, wie ein angeheirateter Onkel oder adoptierter Neffe, der, weil man ihn ständig um sich hat, wie ein jüngerer Bruder oder ein leibliches Kind geworden ist, man fühlt sich nach all den Jahren verantwortlich, und irgendwann hofft man, er werde das Überleben der Dynastie sichern.

»Und was sagt Anna?«, fragte Lia.

»Sie meint, wir sollten zuerst die ganzen Bücher anzünden, dann den Verlag, sodass keine weiteren mehr gedruckt werden können, und schließlich die Villa. Aber nicht ohne zuvor sämtliche Beltramis zusammenzutrommeln und darin einzuschließen.«

»Sie beweist wie immer Augenmaß.«

»Sie hat schon seit jeher gesagt, die Bücher seien Lügen, nichts als Versuche, sich gegen die Zeitläufte zu stemmen. Wenigstens ist sie konsequent.«

»Aber sie selbst liest doch viel …«, wandte Lia ein.

»Sie meint, man muss die Lügen kennen, an die die Leute glauben. Außerdem seien manche nicht so schlimm.«

»Konsequent, aber ohne Neigung zu Extremen. Aber so ist Anna nun mal.«

Beide lächelten, aber dann wurde Lia sofort wieder ernst und sah ihren Sohn an, drehte ein paar Mal den Kopf zu ihm und wieder weg, als drängte es sie, etwas zu erfahren, und als wäre nun eine gute Gelegenheit, aber als scheute sie zu fragen. Dann fragte sie doch, aber leise: »Und zwischen euch … habt ihr euch entschieden?«

Carlo deutete mit einer Kinnbewegung zum Rückspiegel, zu seinem Sohn, der aus dem Fenster schaute, aber lauschte.

»Nicht jetzt.«

Wieder schwiegen sie eine Weile. Dann blickte Carlo erneut in den Rückspiegel und sagte: »Und, Champion? Bist du in Gedanken schon bei den riesigen Essensportionen?«

Roberto nickte träge, ohne seinen Blick zu erwidern. Immer wenn sein Vater ihn auf diese Weise ansprach, in scherzendem Ton, um ihn in ein Gespräch zu verwickeln, wurde er verlegen.

»Roby, hör mal zu.«

Jetzt schlug sein Vater einen anderen Ton an.

»Du bist fast zwölf! In einem Alter, wo man sich nichts mehr sagen lässt, daher werde ich erst gar nicht den Versuch machen, dir Ratschläge zu erteilen.«

Er sah hilfesuchend Lia an, aber die Großmutter rauchte unerschütterlich weiter, bis die Glut den Filter erreicht hatte.

»Ich muss dich jedoch um zwei kleine Gefallen bitten.«

Jetzt hob Roberto den Blick und sah in den Spiegel. Wie immer hatte sein Vater eine Möglichkeit gefunden, seine Aufmerksamkeit zu erregen.

»Erstens möchte ich dich bitten, auf deine Großmutter aufzupassen. Sie ist nicht mehr die Jüngste, es strengt sie alles an, und wir müssen der Wahrheit ins Auge blicken – im Kopf ist sie auch nicht mehr ganz richtig, die Arme.«

Roberto und sein Vater lachten, während Lia nur den Kopf schüttelte, energisch und unbeirrbar wie immer.

»Womit wieder einmal bestätigt wäre, dass ich einen schwachköpfigen Sohn zur Welt gebracht habe.«

»Du darfst sie also nicht zu sehr ermüden, und wenn sie Nein sagt, musst du ihr, auch wenn sie etwas durchgedreht ist, gehorchen.«

Sein Vater beugte sich mit einer halben Drehung nach hinten, um Roberto auf die Nase zu stupsen und ihm so zu bedeuten, dass er nur Spaß machte.

»Und der zweite Gefallen, um den ich dich bitten möchte – sei offen gegenüber uns, und wenn möglich, allen anderen. In den Bergen gibt es tausend Gefahren und Dinge, die falsch laufen, und in der Stadt hunderttausend, und es ist nicht immer einfach, die richtige Entscheidung zu treffen, und das ist auch gut so, da muss man sich bewähren. Aber wenn du einen Fehler oder etwas Falsches gemacht hast, dann sag es. Versuche nicht, auch wenn es dir noch so schwerfällt, die Wahrheit zu verbergen oder zu verschleiern. Stell dich ihr, ganz einfach. Denn wir sind ja da, um dich zu beschützen, egal, was passiert. Versprichst du mir, dass du immer daran denkst?«

Roberto sah seinem Vater einen Moment lang in die Augen, es fühlte sich an wie eine Ewigkeit, dann nickte er.

Und dann, endlich, tauchte es auf. Madonna del Bosco. Ein Ortsteil von Rovereto. Kaum mehr als eine grasbewachsene kleine Hochebene links und rechts der Straße, mit ein paar Häusern, allenfalls zweistöckig, jedes mit einem Garten, von dem man nicht sagen konnte, wo er endete, falls es überhaupt eine Begrenzung gab. Ein Stückchen weiter standen ein paar Gebäude am Ende einer Seitenstraße dichter beieinander, Heuschober, Tischlerei und Bauernhäuser bis zum Ende der Ebene, wo das Gebirge schroff anstieg. Auf der anderen Seite, mit einer Felswand im Rücken, befand sich wie seit ewigen Zeiten und genau wie im vergangen Jahr, der Gasthof. Darüber hinaus gab es nur noch Berge, Almen, Wälder, Wege und weiter unten und in der Ferne, auf dem gegenüberliegenden Berghang, kleine Dörfer. Noch dominierte in dieser Gegend die Natur.

Der Wagen bog von der Asphaltstraße ab und holperte über den Schotterweg zum Gasthof. Es war ein altes Gebäude mit wenigen Stockwerken und einem mit schiefergedeckten einfachen grauen Satteldach, aber mit Blumen auf allen Balkonen, und es wirkte wie jedes Jahr frisch geweißelt, und vielleicht war es das auch, und strahlte etwas Fröhliches, Luftiges aus.

Dann kam der Wagen mit einem entschlossenen Bremsen vor den Eingangsstufen zum Halten, und das Tönen der Hupe ließ augenblicklich die alte Emma und ihre Tochter Rosa herbeieilen.

Carlo sprang aus dem Wagen und schnappte sich seine Kodak Super 8, die auf der Rückbank bereitlag.

»Ein bisschen näherkommen bitte.«

»Aber nein, Signor Carlo, keine Umstände bitte.«

Emma und Rosa Lines schirmten das Gesicht mit der Hand ab, aber nicht abwehrend, sondern liebenswürdig wie immer – sie protestierten schüchtern, aber nicht allzu überzeugend, um sich schließlich wie jedes Jahr auf diese harmlose Inszenierung einzulassen. Als die 8 mm für eine erste Nahaufnahme auf sie zukam, senkte Rosa den Blick, um sich vor der Kamera zu schützen, während Carlo, das mit der Filmkamera verbundene Mikrofon in der Hand, den Fernsehreporter gab und zu einer Berichterstattung ansetzte, nun seinerseits ein bisschen verlegen. Doch dann hob diese Frau, von der man hätte meinen können, sie sei stumm, diese so schüchterne Frau, deren volles Haar noch immer ein stolzes Mokkabraun zeigte, ohne ein einziges graues Haar, obwohl sie zwei Kinder geboren und sich ihr Leben lang geplagt hatte, den Blick und sah wie eine professionelle Schauspielerin direkt in die Kamera. Zunächst war ihr Ausdruck noch ernst, dann öffnete er sich zu einem Lächeln, das immer strahlender wurde und einen kaum wahrnehmbaren und überraschenden Anflug von Selbstbewusstsein offenbarte – oder Hinterlist, hätte man meinen können, wenn es sich um eine andere Frau gehandelt hätte –, und kurz darauf heftete sie den Blick wieder auf die Erde und erklärte: »Ich habe mich nicht einmal gekämmt«, während sie mit einem Finger über ein Ohr fuhr.

Carlo hatte seine »Fernsehreportage« so lange unterbrochen, wie diese Augen in die 8mm sahen, und sich einfach nur auf die Filmaufnahme beschränkt. Erst als das Lächeln verschwunden war, hatte er sich aus seiner Verzauberung gelöst und sich mit dieser Sequenz zufriedengegeben, um sich der Begrüßung zu widmen.

Wie jedes Jahr filmte Carlo die Phasen der Eingewöhnung und des Sich-Einlebens seines Sohnes und Lias in dem Gasthof, das gemeinsame Abendessen und den Abschied, dann trat er seine Heimreise an.

SOMMER 1981


Ankunft in Madonna del Bosco, Rolle 1 – 8 mm Kodak

 

1. Totale, freihändig vom Auto aus bei langsamer Fahrt aufgenommen. Felder mit Getreide und Sonnenblumen, so weit das Auge reicht. In der Ferne hin und wieder ein Gehöft in der frühen Nachmittagssonne.

Stille.

2. Rundbild, freihändig.

Ein Seitenfenster rückt ins Bild, dann die Autobahn, schließlich das Wageninnere des Ami 8.

Carlo und Lia von hinten, die vorn sitzen und in eine lebhafte Diskussion vertieft sind.

Carlo gestikuliert ausgiebig. Sie beachten die Kamera gar nicht.

Stille.

3. Detailaufnahme.

Lias Profil wird langsam vom Rücksitz aus erkundet. Sie hat eine Zigarette im Mundwinkel.

Sie ist ausgegangen, aber erst zur Hälfte aufgeraucht.

Stille.

4. Nahaufnahme. Carlo beugt sich zwischen den beiden Vordersitzen zurück, streckt die andere Hand zur Filmkamera aus, hantiert daran herum und sagt etwas, halb im Ernst, halb im Scherz.

Stille.

 

Plötzlich sind ein Knistern und unangenehmes Pfeifen zu hören.

5. Detailaufnahme.

Robertos Hand erscheint, sie hält ein großes, flaches Mikrofon. Das Mikrofonkabel verschwindet aus dem Bild.

 

Die Kamera wackelt, während gelacht wird.

Carlo:

Wenn du das Mikro richtig angeschlossen hast, haben wir dieses Jahr sogar Ton. Was sollen wir sonst mit all diesen stummen Szenen anfangen? Lauter kleine Stummfilme wie die mit Stanley und Oliver?

 

Lachen. Roberto lacht in der Nähe des Mikrofons.

SCHNITT

6. Halbtotale.

Autobahnraststätte: Asphalt.

Der parkende Wagen. Passanten.

Zwischen zwei parkenden Wagen Roberto und Carlo mit dem Rücken jeweils an eines der Fahrzeuge gelehnt, sie beißen in ihre Panini.

Carlo spricht mit Roberto,

der kauend nickt.

 

Sie blicken in Richtung Kamera.

 

Carlo spricht mit Lia.

Roberto winkt mit der flachen Hand.

Autolärm und Stimmengewirr von Reisenden.

 

Carlo (isst):

Wenn du mit dem Gymnasium fertig bist, schicke ich dich nach Amerika, und wenn du zurückkommst, arbeitest du bei mir im Verlag. Du wirst den Jugendbuchverlag leiten. Ein junger Mensch, der die Bücher für die Jugendlichen aussucht. Wie gefällt dir das?

 

Carlo:

Mama! Das ist doch kein Fotoapparat!

 

Lia (aus dem Off):

Tja, nur ein Genie wie du kann das! Los, stell dich richtig hin.

SCHNITT

7. Halbnahaufnahme. Carlo umarmt Roberto. Drückt ihn an sich. Dann nimmt er wie ein Fernsehreporter das Mikrofon zur Hand.

 

Carlo reicht das Mikrofon Roberto, der ziemlich selbstsicher in die Kamera blickt und das Wort ergreift. Carlo folgt amüsiert seinem Bericht.

 

Carlo nimmt Robertos Kopf und drückt ihn zärtlich an sich, um seinen Vortrag zu beenden.

Carlo: Das ist mein Sohn Roberto. Wir fahren in den Sommerurlaub in die Berge. Er wird genau so brav und verantwortungsvoll wie zu Hause sein, auch wenn ich nicht da bin.

 

Roberto:

Das ist mein Vater Carlo. Der intelligenteste Mensch, den ich kenne. Er fährt heute wieder nach Hause und wird genauso leichtsinnig und dickköpfig wie immer sein, aber davon abgesehen, hat er auch eine gute Seite: Normalerweise hält er seine Versprechen!

 

Roberto jubelt und lacht.

SCHNITT

8. Totale.

Der Wagen fährt die Serpentinen hinauf, die sich zwischen Weiden und Pinienwäldern hinaufschlängeln.

Leichtes Windrauschen.

9. Halbnahaufnahme.

Roberto und Lia hieven die Gepäckstücke aus dem Kofferraum.

Sie gehen die Eingangsstufen des Gasthofs Miravalle hinauf und verschwinden aus dem Blickfeld. Emma und Rosa kommen ins Bild. Beide sind verlegen.

 

Rosa fährt sich mit den Fingern durchs Haar.

Lia:

Statt Regisseur zu spielen, könntest du deiner Mutter helfen, die Koffer zu schleppen!

 

Emma:

Aber nein, Signor Carlo, bemühen Sie sich bitte nicht!

10. Nahaufnahme.

Rosa schaut einen langen Moment lang ernst in die Kamera.

Dann senkt sie den Blick.

Rosa:

Ich habe mir nicht einmal die Haare gekämmt!

11. Totale.

Roberto kommt aus dem Gasthof und blickt sich auf dem kleinen Vorhof um, sein Ausdruck ist ernst, als suchte er jemanden.

Er wirkt enttäuscht.

Dann sieht er seinen Vater.

Roberto:

Filmst du immer noch?

SCHNITT

 

»Und du folgst deiner verrückten Großmutter immer brav, hast du verstanden? Du weißt ja, was dein Großvater immer sagt, nicht wahr?«

Roberto fuhr mit gesenktem Blick fort, den Zipper seines Sweatshirt-Reißverschlusses mit den Zähnen rauf- und runterzuschieben, während der Motor des Autos ein lautes Brummen von sich gab.

»O wie schön, o wie trügerisch sind die Berge doch …«

Er sang den erfundenen Refrain vor sich hin, dann hob er schlagartig den Kopf, richtete die Augen auf seinen Vater und sagte atemlos: »Kommst du nächsten Sonntag mit Mama?«

Carlo, der bereits auf dem Fahrersitz saß, löste den Blick vom Gesicht seines Sohnes und schaute stumm und gedankenverloren nach vorn durch die Windschutzscheibe. Schließlich lächelte er.

»Natürlich. Wenn es ihr besser geht, kommt sie bestimmt mit. Du weißt doch, wie lieb sie dich hat, oder? Sie ist zur Zeit leider nicht auf dem Damm und braucht ihre Ruhe.«

»Und gehen wir dann zu den Colme hinauf?«

Carlo lachte, es klang nicht echt, als wollte er Zeit schinden.

»Klar wandern wir zu den Colme. Wenn das Wetter schön ist. Und wir nehmen auch Mattia mit. Dieses Jahr können wir das machen, ihr seid ja jetzt groß.«

Bei diesen Worten spiegelte sich auf Robertos Gesicht eine seltene helle Freude. Doch schon erschien wieder sein gewohnt skeptischer Ausdruck, und er warf seinem Vater aus seinen blauen Augen einen erbarmungslos durchdringenden Blick zu.

»Versprich es.«

Carlo zog die Hand zurück, schien mit einem Mal befangen, als wäre ein Zauber gebrochen.

»Ich mag es nicht, wenn du so fordernd bist, Roberto.«

»Ich will ja nur wissen, ob es auch wirklich stimmt … das, was du gesagt hast.«

Er war unvermittelt weinerlich geworden, wieder einmal fühlte er sich ertappt.

»Na gut, wie gesagt, bei schönem Wetter, ja.«

Sein Vater winkte ihm zu und setzte den Wagen in Bewegung.

Während er wendete und in Richtung Straße fuhr, blieb Roberto mitten auf der Wiese stehen und sah ihm nach, bis er an der letzten Kurve am Ende des Hochtals zwischen den Bäumen verschwand.

Nachdem er wieder in den Gasthof zurückgekehrt war, durchquerte er die Bar und sah sich um. Es war niemand da. Er ging durch die angrenzenden Gemeinschaftsträume, den kleinen Fernsehraum, das Spielezimmer. Dann begab er sich in den winzigen Eingangsbereich, von wo aus man in den Speisesaal gelangte. Rosa deckte zusammen mit einer Kellnerin die Tische für das Abendessen ein. Als Roberto sie sah, blieb er stehen und wartete darauf, dass sie Notiz von ihm nahm. Aber sie warf ihm nur einen kurzen Blick zu und fuhr eine Weile mit dem Eindecken fort, ein Tanz der mechanischen Gesten, der schön anzusehen war: Tischdecke, Gabel und Löffel, Messer, Gläser, Teller. Als sie mit dem Tisch fertig war, hielt sie einen Augenblick lang inne und sah ihn erneut an.

»Er ist heute nicht da. Er hat Dino zu seiner Oma ins Tal runtergebracht. Aber morgen siehst du ihn.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, deckte sie mit den gleichen geübten, präzisen Gesten langjähriger Routine weiter die Tische ein. Resigniert wandte sich der Junge ab und lief die Treppe hinauf.

An jenem Abend gingen Roberto und seine Großmutter wie gewohnt früh schlafen. Lia war noch einmal mit einer gemurmelten Entschuldigung hinuntergegangen, um draußen eine ihrer langen weißen Zigaretten zu rauchen. Und kaum war sie wieder zurück, machten sie das Licht aus.

Die Großmutter schlief tief und ziemlich geräuschvoll, aber Roberto mochte es, sie im Dunkeln atmen zu hören. Selbst als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, fuhr er fort, sie von der anderen Seite des Zimmers aus anzusehen. Währenddessen stellte er sich vor, was er in den nächsten Tagen alles machen würde, und legte sich einen Terminplan zurecht, den er nie in die Tat umsetzen würde. In diesem Warten auf den nächsten Tag lag eine Unruhe, die er nur ungern zuließ und die daher in der Schwebe blieb, kaum mehr als eine Ahnung.

Dabei lag dieser Zweifel, den er sich so schwer eingestehen konnte, auf der Hand: Wie konnte er sich sicher sein, dass sich die Dinge nicht geändert hatten? Dass sich alles mit der gleichen Intensität und Leichtigkeit wiederholen würde, wie in den vergangen Jahren? In ein paar Monaten war er zwölf, und zu Hause und in der Schule hatte sich alles verändert, warum sollte es hier anders sein? In seiner Erinnerung waren die Ferien in den Bergen in ein blendend helles Licht von geradezu rührender Reinheit getaucht. Aber wie würde es morgen sein? Dass er ihn bei der Ankunft nicht angetroffen hatte wie in allen Jahren zuvor, war auf gewisse Weise bereits eine schmerzhafte Veränderung gewesen.

Er sah sich ein letztes Mal im Zimmer um: Es war dasselbe wie immer; dieselben Möbel, dieselbe Wandfarbe, und auch Lia schien kein bisschen anders als im Vorjahr.

2.

Am nächsten Tag wartete Roberto bereits in aller Frühe auf den Eingangsstufen und ließ die Straße, die zum Gasthof führte, nicht aus den Augen.

Während er unverwandt dorthin blickte, schoss aus dem Wald ein schwarzer, beweglicher Fleck hervor. Schnuppernd und hüpfend huschte ein Eichhörnchen über den Saum der Wiese, um dann anzuhalten und die Eicheln zu inspizieren, die zuhauf auf der Straße verstreut lagen. Einige waren geöffnet, andere schienen schon schwarz zu sein, aber es würde ziemlich lange dauern, bis alle untersucht waren, denn es waren viele Eicheln. Das Eichhörnchen rollte sie, schnupperte an ihnen, versuchte, eine zu transportieren, ließ sie wieder fallen. Man sah auf den ersten Blick, dass es noch jung und unerfahren war.

Hinter der bewaldeten Kurve kam der metallgraue, mit Holzverschnitt beladene Geländewagen des Sägewerks zum Vorschein und brauste mit Höchstgeschwindigkeit über die leere Straße. Er hielt geradewegs auf das Eichhörnchen zu, das seelenruhig seine Tätigkeit fortsetzte. Roberto beobachtete die Szene aufmerksam und ungerührt. Wie hoch standen die Chancen, dass das Eichhörnchen zerquetscht werden würde? Der Geländewagen war jetzt nur noch circa vierzig Meter entfernt, es fehlten nur wenige Sekunden. Weder bremste noch drosselte er die Geschwindigkeit, um dem Tier auszuweichen. Doch als das Vorderrad es beinahe erwischt hätte, rettete sich das Eichhörnchen mit einem anmutigen Satz zum grasbewachsenen Straßenrand.

Kaum war der Wagen vorbeigefahren, nahm der kleine Nager unerschrocken seine Inspektion der Eicheln wieder auf.

»Weißt du, wie viel Spaß es macht, es von hier aus mit dem Karabiner ins Visier zu nehmen? Peng und tot ist es.«

Da war er ja, dachte Roberto.

Er hatte sich lautlos neben ihn gesetzt. Roberto sah ihn lange an, um ihn sich wieder gut einzuprägen, und das war fast wie eine Umarmung.

Mattia Slat.

Seit dem letzten Jahr hatte er sich kaum verändert. Ein bisschen größer als Roberto, schulterlange Haare, die ihm, wenn er sich vorbeugte, wie ein Vorhang vor die Augen fielen, ein Ohrring; sein Knochenbau war stämmig und geschmeidig zugleich – ein Erwachsener in Miniaturform. Die hageren, leicht slawischen Züge, die seine Mutter ihm vererbt hatte, verliehen ihm etwas Nervöses, das mit dem Gesicht eines Engels kontrastierte, eines Engels mit Wut im Bauch.

Und diese einzigartige typische Stimme. Eine raue, tiefe Raucherstimme bereits mit zwölf, auch wenn sie gar nicht vom Rauchen kam. Jemand hatte Roberto mal erklärt, bei Mattias Geburt sei etwas schiefgegangen. Die beiden Jungen hatten nie darüber geredet. Mattia hatte sie schon immer, und so gut wie niemand verlor ein Wort darüber. Hier oben in den Bergen sprach man ohnehin nicht viel.

Auch Mattia ließ unter seiner Löwenmähne ein unwilliges Lächeln erkennen, hielt den Blick jedoch stur geradeaus gerichtet, um seine Freude und seine Verlegenheit darüber zu verbergen.

»Kannst du denn schießen?«

»Ja, ein bisschen. Leo hat es mir beigebracht. Irgendwann, wenn es mal passt, zeig ich es dir.«

Genau wie Roberto nannte auch Mattia seinen Vater beim Vornamen.

»Ich habe es nur mit einem Luftgewehr probiert.«

»Ist doch gleich.«

Roberto nickte. Dann schwiegen sie eine Weile. Sie waren wieder beisammen, das genügte.

Ein paar Minuten lang saßen sie so da, hockten auf den Stufen und genossen die milde Morgensonne.

»Ist unser Comic-Heft noch da?«

Mattia antwortete nicht sofort.

»Hab nicht mehr nachgeschaut.«

Tief in den Wald einzudringen machte ihm eigentlich immer ein bisschen Angst, aber jetzt dachte er nicht daran, weil Mattia dabei war, und sein Freund kannte bestimmt jeden Zentimeter und jeden Baum.

Erst als sie an ihrem Ziel ankamen, merkten sie, dass sie nichts zum Ausgraben dabei hatten, und in jenem Jahr war die Erde unter der neuen Laubschicht steinhart geworden. Sie betrachteten die Stelle, wo sie die Zeitschrift vergraben hatten, und blickten sich ein wenig ratlos um.

»Was meinst du? Komm, benutzen wir die Hände, was anderes haben wir nicht.«

Nach zwanzig Minuten gruben sie immer noch mit bloßen Händen in der schwarzen Erde, senkten sie immer wieder in das bereits ausgebuddelte Loch, entfernten aber jedes Mal nur eine lächerliche Handvoll, weil die Erde weiter unten immer härter wurde, und als sie sich ansahen, mussten sie lachen. Schließlich stießen sie dann doch auf die Plätzchendose und holten sie heraus; sie war ganz rostig geworden. Roberto drehte sie einen Moment lang zwischen den Fingern, als würde der Rost endgültig beweisen, dass ein Jahr vergangen war. Sie öffneten sie, und soweit sie es durch die Zellophanfolie hindurch erkennen konnten, schien die Zeitschrift unversehrt.

Sie tauschten ein komplizenhaftes Lächeln, wie immer, wenn sie Hochgefühl teilten. Dann entfernten sie die Folie und stellten fest, dass die Seiten durch die Feuchtigkeit hoffnungslos verklebt waren. Sie versuchten, sie voneinander zu lösen, aber sie zerrissen sie nur. Von den schönen Abbildungen aus dem vergangenen Jahr – die Roberto in seiner Fantasie immer wieder heraufbeschworen hatte, die Bilder von nackten Frauen in allen möglichen Stellungen, deren Bedeutung Roberto noch nicht ganz erfasste – war nichts als ein Umschlag mit verblichenen Farben übriggeblieben.

»Was für eine Scheißidee, es im Wald zu vergraben. Was für eine saublöde Idee.«

Es war seine Idee gewesen. Während sich Roberto damit abmühte, doch noch ein paar Seiten zu retten, hatte sich Mattia auf den Boden gehockt und kaute seitlich auf etwas herum.

Plötzlich reichte es Roberto, und er legte sich den Teil, den er hatte retten können, unter die Füße, riss den größeren Teil, der seinen Bemühungen widerstanden hatte, ab und schleuderte ihn weit weg. Mattia sah ihm zu und lächelte ihn, als er fertig war, schief an. Roberto schnaubte und beruhigte sich dann wieder.

»Komm, gehen wir.«

Sie gingen denselben Weg zurück, auf dem sie gekommen waren.

»Wir finden jede Menge andere von diesen Heften, wirst sehen. In unserem Tal lesen die nichts anderes.«

Er hatte es nicht im Spaß gesagt: Es war eine Feststellung, eine Tatsache.

»Ja klar, aber ich pfeif drauf. Das war unseres.«

Den ganzen Tag bauen wir an unserer Baumhütte. Die, die wir vor zwei Jahren gebaut haben, ist runtergefallen. Wir wählen einen großen, alten Baum aus, dann fangen wir an.

Wir bringen das gute Holz von der alten zum neuen Baum. Dann sammeln wir trockene Äste und legen sie in einem Haufen unter den Baum.

Als wir genug beisammen haben, entfernen wir die Blätter.

Dann fangen wir mit dem Bauen an.

Wir beschließen, dass wir auswendig lernen müssen, wie man es macht: Einer schreit laut die Worte hinaus, die die Überschrift für den jeweiligen Arbeitsgang bilden. Der andere wiederholt sie genauso laut, und beim dritten Mal schreien wir sie zusammen hinaus. Bei den ersten paar Malen müssen wir so lachen, dass er der eine fast erstickt und der andere fast vom Baum fällt.

Für das Dach fügen wir zwei Lagen Äste in Form eines X zusammen und legen eine Decke auf den Boden, die wir im Gasthof geklaut haben.

Dann klettern wir herunter und begutachten das Ergebnis. Wir sind zufrieden. Wir ritzen die Anfangsbuchstaben unserer Namen in den Stamm und eine Todesdrohung an jeden, der unsere Hütte betritt.

Wir klettern wieder hinauf und nehmen unser Heft zur Hand.

Die erste Regel für unsere Einträge lautet, dass wir beide hineinschreiben können.

Die zweite Regel lautet, dass wir gemeinsam entscheiden, was aufgeschrieben wird und was nicht.

Die dritte Regel lautet, ins Heft wird nur das geschrieben, was wir beide für richtig halten, nichts anderes.

Die anderen Regeln sind geheim, die sagen wir uns nur vor und lernen sie auswendig, dann beschließen wir, sie nicht aufzuschreiben, und schwören, sie niemandem zu verraten.

Dann machen wir eine Liste mit den Sachen, die wir heute schreiben wollen. Von jetzt an schreiben wir alles gleich auf, damit wir nichts vergessen.

Wir haben Lust, Krieg zu spielen, wir gegen alle, um die Hütte zu testen, aber wir wollen niemand erzählen, wo sie ist, außerdem gibt es hier in der Gegend niemanden, der es wert wäre.

Also beschließen wir, dass wir lieber einen richtigen Boden bauen, damit uns der Hintern beim Sitzen nicht wehtut.

Morgen machen wir eine Strickleiter.

Wir schaffen Äste und Steine auf die Hütte und trainieren, uns bei einem Angriff zu verteidigen. Aber ohne Feind macht es keinen Spaß. Wir machen eine Liste mit den Waffen, die wir unbedingt brauchen. Und eine Liste mit den möglichen Feinden.

Dann legen wir uns auf die Decke und erzählen uns abwechselnd was aus unserem Leben, was der andere noch nicht kennt. Eine halbe Stunde lang sind wir still und überlegen. Dann sagt einer von uns: Ich bin in die siebte Klasse versetzt worden. Ich bin in Mailand mit der U-Bahn gefahren. Ich habe allein ein Segelboot gelenkt. Mein Großvater, der Vater meiner Mama, ist jetzt richtig krank, er stirbt vielleicht bald.

Der andere sagt: Ich bin auf die Jagd gegangen und habe geschossen. Mein Vater hat mich auf dem Motorrad mitgenommen und ist zweihundertfünfundfünfzig Sachen gefahren. Ich komme jetzt erst in die sechste, weil ich in einem Jahr mal krank war. Wir haben einen Farbfernseher gekauft, und jetzt kriegen wir auch das Schweizer Fernsehen rein. Ich habe ein ganzes Glas Wein getrunken. Ich habe zugesehen, wie man ein Schwein schlachtet. Wenn du mit dem Finger ins Blut fasst, verbrühst du dich.

Sie hätten noch stundenlang so weitergemacht, aber als sich die Schatten der Berge auf den Wald senkten, hörte Roberto plötzlich Lia wie so oft aus der Ferne nach ihm rufen. Es war kaum mehr als ein Säuseln zwischen den Bäumen, doch beim ersten Rufen sprang Roberto auf, und Mattia folgte ihm den Baum hinunter und dann im Laufschritt hinab zum Gasthof, der im Grunde keine dreißig Meter entfernt war.

»Roberto! Roberto! Es ist Zeit fürs Abendessen, nun komm!«

Lias Stimme klang angestrengt. Als er in Sichtweite des Gasthofs war, winkte Roberto ihr zu, woraufhin sie im Gasthof verschwand. Der Junge verabschiedete sich mit einem Nicken von seinem Freund und einem Blick, der besagte: Dann bis morgen. Es schwang auch Bedauern über die Unterbrechung mit, ihr beider Leben lag weiterhin in der Hand der Erwachsenen.

Mattia grüßte zurück, pustete sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und rannte nach Hause.

3.

Im Speisesaal war es auf einen Schlag still geworden, eine unwirkliche, übertriebene Stille, so als wüssten sogar die kleinen Kinder – die kleinen Hosenscheißer, wie Roberto sie gern nannte, die noch von nichts eine Ahnung hatten –, was passiert war, und als wären sie genauso betroffen wie die Erwachsenen.

Es war nun ungefähr zwanzig Tage her, dass dieser kleine Junge irgendwo, Roberto hatte nicht genau verstanden wo, nur dass es irgend so ein gottverlassenes Nest sein musste, in einen artesischen Brunnen gefallen war.

Roberto wusste nicht einmal, was artesisch bedeutete, und hatte auch niemanden gefragt, vielleicht um die Faszination, die davon ausging, nicht zu zerstören, aber jedes Mal, wenn er dieses Wort hörte, das alle immer wieder in den Mund nahmen, hatte er den Eindruck, es musste etwas Schreckliches, Unheilvolles und vielleicht sogar Übernatürliches sein. Er hatte begriffen, dass es etwas war, was in der Natur vorkam, aber hier zeigte die Natur ihr erbarmungsloses Gesicht und ihren grausamen Willen, Böses zu tun; es musste etwas in der Art von Treibsand sein, sinnierte er, Sand, der zu leben schien und der einen mit Haut und Haar verschlingen konnte. Aber mehr Beispiele fielen ihm nicht ein.

Bis eben noch waren über den großen Fernsehbildschirm unbeachtet die Gesichter von Politikern geflimmert. Die Lautstärke war dezent leise eingestellt, und von den beiden Tischreihen, die in ein von blumengemusterten Lampenschirmen gedämpftes melancholisches Licht getaucht waren, erhob sich leises Geklapper von Tellern und Gläsern und das Stimmengewirr der Gäste.

Aber als jetzt zum soundsovielten Mal in den letzten Wochen das unscharfe und inzwischen bekannte Foto des kleinen Jungen in einem blauweiß gestreiften Matrosenhemdchen erschien, änderte sich die Atmosphäre in dem Saal schlagartig. Sofort drehte jemand die Lautstärke hoch, die Gespräche erstarben, die Mütter ermahnten ihre unartigen Kinder still zu sein, und alle wandten die Köpfe oder ihre Stühle in Richtung des Fernsehers.

Doch auch diese soundsovielten Nachrichten nach dem Unglück erbrachten nichts Neues: Die Ermittlungen dauerten an, der Ermittlungsrichter war fest entschlossen, die möglicherweise Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Zu den Umständen des Vorfalls schien es indes ein paar Neuigkeiten zu geben. Doch die Leute, die am Ende des Berichts zu Wort kamen und die sich während der drei Tage dauernden Tragödie an der Unglücksstelle aufgehalten hatten, konnten am Ende nur Unwichtiges zum Geschehen nach dem Unglück beisteuern.

Die Vorstellung, dass ein Kind nur wenige hundert Meter Luftlinie von zu Hause entfernt in einen von Gras verdeckten Brunnen gefallen war und dort, in einer Tiefe zwischen neunzehn und sechzig Metern unter der Erde hilflos festsaß, war grauenhaft, und sie ging einem auch nahe, weil es jeden hätte treffen können. Und es gab noch einen weiteren Aspekt. Menschliches Leid wurde zu einer öffentlichen Angelegenheit. Denn übereifrige RAI-Kameraleute hatten ein Mikrofon bis fast auf Kopfhöhe des Jungen hinabgelassen. Diese kindliche Klage war in aller Ohren gedrungen, hatte die Alltagsgeräusche übertönt und war allen, Erwachsenen wie Kindern, durch Mark und Bein gegangen.

Und dann plötzlich das Ende.

Der Tod war in aller Stille gekommen.

Nach drei Tagen und zahlreichen Experimenten und fehlgeschlagenen verzweifelten Rettungsversuchen hörte das Kind zu atmen auf.

 

In jener Nacht saß Roberto mit seinen Eltern in deren Bett vor dem Fernseher. Den Blick auf den Bildschirm geheftet, tauschten sie sich darüber aus, was man tun könnte, um das Kind zu befreien, doch mit einem Mal verkündete seine Mutter, dass es Zeit sei, sich schlafen zu legen. Es folgte eine Diskussion; Roberto pochte auf Rechte, die er mit elf eigentlich noch nicht hatte, und zum Schluss gab sich seine Mutter geschlagen. Ein bitterer Ausgang. Gegen Anna zu gewinnen tat immer ein bisschen weh. Sein Vater verfolgte die Direktübertragung weiter, aber mit leise gestelltem Ton. Kurz darauf schickte er Roberto zu Bett, der diesmal auf Widerworte verzichtete.

 

Als die Nachrichten endeten, setzte im Speisesaal wieder der übliche Geräuschpegel ein, aber erst nach einigen Minuten, als müsste man Distanz zwischen diesen Vorfall und seinen eigenen Alltag bringen.

»Sie hätten einen Jungen runterlassen sollen. Einen wie mich.«

Roberto sah seine Großmutter ernst an.

»Ja, einen wie mich. Ich hab nämlich keine Angst vor dem Tod. Nicht vor meinem eigenen und auch nicht vor dem von anderen.«

Die Großmutter betrachtete ihn leicht amüsiert, dann kehrte ihre Miene zur gewohnten Strenge zurück, nahm einen ärgerlichen Ausdruck an, und irgendwann konnte sie seinen herausfordernden Blick nicht länger ignorieren.

»Sag so etwas nicht, Roberto, denn damit machst du dich lächerlich.«

Während sie sprach, führte sie würdevoll die Serviette zum Mund, um eine gewisse Beiläufigkeit vorzutäuschen. Roberto, überrascht von ihrer ruhigen Härte, beäugte sie. Er antwortete nicht sofort, sondern überlegte sich seine Worte.

»Ich wollte nur sagen, dass auch ein Junge mutig sein und richtig handeln kann, wenn jemand in Todesgefahr ist. Nicht nur ein Erwachsener. Niemand will sterben, das ist doch klar. Aber auch wenn man noch ein Kind ist, kann man Ruhe bewahren, das muss man nur trainieren. Ein kleiner sportlicher Junge hätte leicht an einem Seil in den Brunnen runtersteigen, das Kind daran anbinden und sich mit ihm hochziehen lassen können. Dann hätte es überlebt. Es wäre darauf angekommen, klein und wendig zu sein, und nicht groß und stark.«

In seinen Worten hatten weder Stolz noch Arroganz oder Anmaßung mitgeschwungen, und bevor die Großmutter antworten konnte, fügte er hinzu: »Ich glaube, die sind gar nicht auf diese Idee gekommen. Die Erwachsenen machen immer alles so, wie wie sie es kennen, die probieren nie was Neues aus.«

Lia runzelte erst die Stirn, dann entspannte sie sich.

»Wenn ich dich so daherreden höre, als hättest du die Weisheit mit Löffeln gefressen, fällt mir sofort dein Vater als kleiner Junge ein. Aber ich nehme es dir nicht übel. Ich stimme dir zwar nicht zu, und unter uns gesagt ist die Idee, das Leben eines Kindes zu riskieren, um ein anderen zu retten, derart wider alle Vernunft, dass man darüber wirklich nicht weiter zu reden braucht. Aber du hast deine Meinung mit guten Argumenten untermauert und bist weder hitzig geworden, noch hast du dich von meiner scharfen Erwiderung entmutigen lassen. So gefällst du mir. Daran erkennt man, dass du ein richtiger Beltrami bist.«

Dann lachte sie vergnügt und stellte damit Roberto in seiner Altklugheit bloß. Und er wurde auf der Stelle wieder zum Kind.

»Du nimmst mich nie ernst, Großmutter! Und egal, wie ich argumentiere, du akzeptierst es nicht und versuchst immer sofort mich zu erziehen.«

»So wie ich deinen verrückten Vater kenne, wirst du über kurz oder lang selbst Verantwortung für dich übernehmen müssen. Daher ist es besser, wenn du dich darauf vorbereitest, stimmt’s?«

4.

Zu ihren Lieblingsbeschäftigungen gehörte, sich morgens in der Bar des Gasthofs aufzuhalten. Denn die Bar war ein beliebter Treffpunkt für die Älteren – nicht nur unter den Gästen, die nicht mehr gut zu Fuß waren –, sondern auch für die wenigen Bewohner des Ortsteils und des ganzen Tals, die in Madonna del Bosco arbeiteten oder von dort zur Arbeit fuhren.

»Grüß Gott, Bürgermeister Pichler.«

Kaum hatten die Gäste ihn erblickt, begrüßten ihn alle, auch die ältesten sagten respektvoll »Bürgermeister«, während sie sich ein wenig erhoben und eine Verbeugung andeuteten.

»Bitte, bleibt doch sitzen.«

Der ungefähr vierzigjährige Mann, der soeben hereingekommen war – und der eigentlich eine eher unauffällige Erscheinung war –, sprach die Worte mit verlegenem Wohlwollen aus. Er grüßte den Barista, bestellte ein Glas Weißwein und setzte sich damit zu den Alten. Dann fragte er: »Und, was gibt’s Neues?« Und schon begannen sie zu erzählen, Geschichten, in denen es um Grenzsteine und Holzeinschlagsrechte und dergleichen ging. Um Fragen, die seit Jahrhunderten ungelöst waren.

Mattia und Roberto hielten sich gern in der Bar auf, weil sie nur dort ungehindert den Unterhaltungen der Großen lauschen konnten. Dort redete jeder, wie ihm der Schnabel gewachsen war, und ließ den Gefühlen freien Lauf, das war eine ausdrückliche Funktion dieses Ortes. Die Leute kamen und gingen, es wurden schnell ein paar Worte gewechselt, kurzum, es war immer etwas los. Die beiden Buben setzten sich an einen Tisch in der Nähe der Panoramafenster, ein bisschen abseits von den anderen. Sie wollten möglichst nicht auffallen, denn die Leute sollten sich nicht wegen ihnen zurückhalten. Als Ablenkungsmanöver hatten sie einen Stapel Karten mit an den Tisch genommen, um sich zu beschäftigen. Hin und wieder, wenn Roberto den Gesprächen nicht ganz folgen konnte, versuchte er Lücken mithilfe seiner Fantasie zu ergänzen, oder er fragte Mattia. Vor allem bei heiklen Themen verfiel man hier gerne in den örtlichen Dialekt, von dem er kein Wort verstand, vor allem aber wurde viel Wissen über Personen und Zusammenhänge vorausgesetzt, das er als Fremder nicht besaß.

 

Gegen Mittag traf Aldeno ein. Den sechsundzwanzigjährigen Aldeno kannten alle im Tal, weil er ein merkwürdiger Kerl war und hin und wieder verrückte Sachen machte. Er brachte immer die Post zum Gasthof, denn er war Postbote, und zwar fest angestellt, wie er gern betonte, aber alle nannten ihn nur »Poet«. Aldeno, der Dorfpoet, denn er betrachtete sich als modernen Dichter. Ob er tatsächlich Gedichte schrieb, wie viele und in welchem Stil, wusste niemand zu sagen. Manchmal wurde er zu besonderen Anlässen eingeladen, um etwas vorzutragen: Aber niemand wusste dann, ob die »Gedichte« von ihm stammten oder von jemand anderem.

Sein Vortrag war nicht gut, er lispelte, schnarrte und stotterte stets vor Nervosität und Anspannung. Aber im Grunde war das eine intensive Form von Poesie, der man gern lauschte. Er hatte eine untersetzte Statur und trug sommers wie winters eine schwarzen Heavy-Metal-Lederjacke. An Werktagen brauste er mit seiner roten Fantic Caballero, die immer tipptop gepflegt war, durchs Tal.

Nachdem er dem Barista die Briefe gegeben hatte, nahm er, so wie es seine Gewohnheit war, am Tresen Platz, um seinen Vormittagsaperitif einzunehmen.

»Das Übliche, Gigo, ich hab‘s eilig.«

Doch in Wahrheit hatte er es nicht eilig, sondern einfach keine Geduld. Er nannte alle Gigo, aber kein Mensch wusste, warum. Der Barista holte wortlos die Weißweinflasche hervor, dann die Zedernlimonade, schenkte ein bisschen Wein in ein Glas, entfernte den Kronkorken des Limofläschchens und stellte beides vor den jungen Heavy-Metal-Rocker hin. Aldeno goss die Limo ins Weinglas und ließ den Inhalt eines Zuckertütchens hineinrieseln.

»So ein ekliges Zeug kriegst nur du runter. Und dann kostet es auch noch was. Stimmt’s, Poet?«

Auf die Frage folgten zwei Klapse in den Nacken. Von Leo, der gerade hereingekommen war. Er hatte nur kurz zu den beiden Jungen, die an ihrem Fenstertisch saßen, hinübergeschaut, und Roberto hatte die Hand gehoben, um ihn zu grüßen, schließlich war er der Vater seines Freundes. Er ließ sie aber gleich wieder sinken, weil Leo keinerlei Notiz von ihnen nahm, weder von ihm noch von Mattia, sondern sich zu Aldeno gesellte.

»Und?«

Aldeno senkte den Blick, denn man musste sich vor Leos blauen Augen schützen, wenn er einen unter den langen braunen Haaren hervor ansah, vor allem, wenn man ihm etwas schuldete. Aldeno zögerte, während er mit einem Kaffeelöffel den Zucker in seinem Glas umrührte.

»Was?«

»Spiel nicht den Trottel, Alden, du hast schon verstanden.«

»Sie haben mir gesagt, ich soll dir sagen: die Hälfte.«

»Arschlöcher. Ich scheiß auf die Hälfte.«

Roberto wusste von Mattia, dass sein Vater eine kleine Werkstatt mit zwei Mitarbeitern betrieb. Er arbeitete für Subunternehmer, vor allem jenseits der nahen Grenze, ein Vorteil in Anbetracht des niedrigen Lire-Kurses. Aber die ...

Autor