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Bradwood Studios

Als Buch hier erhältlich:

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3, 2, 1 … und…Action!

Alexandra Clark studiert im zweiten Semester an der Bradwood Academy Schauspiel und ergattert eine Rolle nach der anderen. Damit eckt sie vor allem bei ihren Kommilitonen ordentlich an. Unterstützung findet die Studentin einzig in ihrem Agenten Jack Hastings, der ihr zu einem Vorsprechen für eine bedeutende Serienproduktion verhilft. Beiden ist klar, dass dies eine rein professionelle Beziehung ist - doch wieso ist da dann diese wachsende Anziehung, die die beiden immer weniger leugnen können?


  • Erscheinungstag: 22.10.2024
  • Aus der Serie: Bradwood Studios
  • Bandnummer: 2
  • Seitenanzahl: 400
  • ISBN/Artikelnummer: 9783745704396
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für meinen Papa.
Alles Gute zum Geburtstag und danke für alles!

1. Kapitel

Wiedersehen

Jack

»Hör zu, Bob, es ist mir egal, ob Paramount letzte Woche bereits das Casting hatte. Ich hab einen neuen Schützling im Team, der euren Suchkriterien genau entspricht: blond, eins neunzig groß und braun gebrannt. Er bedient das Klischee, ganz so, wie ihr es möchtet.« Ich bemühe mich um einen ernsten, professionellen Ton, der von den weißen Wänden meines kleinen Büros widerhallt.

Angespannt reibe ich mir über den Nacken, der schon seit Stunden von der Sonne durch das Fenster hinter mir angeschienen wird. Die grünlich getönte Milchglasscheibe meines Schreibtischs reflektiert die weiß leuchtenden Strahlen und wirft einen künstlichen Regenbogen an die weiße Decke über mir. Ich folge dem Farbenspiel zu der mit dunkelbraunen Holzpaneelen verzierten Wand links von mir, von wo aus ich an dem kleinen weinroten Sofa und dem golden verzierten Beistelltisch hängen bleibe. Die Einrichtung war schon Teil dieses Büros, als ich hier angefangen habe. Prunk und Pracht zählen zu den Bradwood Studios wie der Fürstenpalast zu Monaco.

Ich schüttelte den Kopf, als die Stille in der Leitung so lang anhält, dass ich dem Drang widerstehen muss, etwas zu sagen – jetzt einzuknicken wäre das Schlimmste, was ich machen könnte. Stattdessen begnüge ich mich damit, sie mit dem Klickgeräusch meines schwarz-goldenen Kugelschreibers zu füllen, während ich meinen Blick auf den Stapel wichtiger Unterlagen fokussiere, die ich heute noch abarbeiten muss. Das leichte Schnaufen meines Gesprächspartners verrät mir, dass ich ihn so gut wie auf meiner Seite habe. Ich halte kurz den Atem an und warte ab, bis Bob mir eine Antwort gibt.

»Jack, du weißt, wenn ich entscheiden könnte, würde ich ein weiteres Casting stattfinden lassen. Aber ich kann nicht alle noch mal für eine einzige Person zusammentrommeln.«

Dieses Mal bin ich derjenige, der schnauft. »Bob, das ist jetzt schon die dritte Runde gewesen, und ihr habt immer noch niemanden für die Quarterbackrolle gefunden. Seit Wochen fragst du mich, ob ich jemanden vertrete, der da reinpasst. Und jetzt, da ich jemanden habe, erzählst du mir, ihr könnt ihn nicht einfach für ein Fünf-Minuten-Casting zu euch ins Bürogebäude rufen? Bei allem Respekt, mein Freund, aber das ist völliger Unsinn. Andrew passt sehr gut in die Rolle, er hat sogar selbst Football an der Uni gespielt. Ganz abgesehen von seinem jungen Aussehen, mit dem er trotz seiner fünfundzwanzig Jahre super als Highschool-Schüler durchgehen würde. Wenn du ihn nicht einlädst, schlage ich ihn Disney vor, und wenn die ihn nehmen, ist er durch das Exklusivrecht für einige Jahre vertraglich an sie gebunden.«

Wieder höre ich einen Seufzer auf der anderen Seite. »Ich weiß. Pass auf, ich rede mal mit dem Team und melde mich nachher noch mal bei dir. Dein Schützling soll sich erst mal nichts vornehmen, für den Fall, dass wir ihn doch einladen.« Bob klingt zwar genervt, aber überzeugt. Ich vermute, dass er sich in ein paar Minuten wieder melden wird, ohne die Sache erst mit dem Team besprochen zu haben. Es geht nur darum, die Oberhand zu behalten. Er gönnt mir den Triumph nicht.

»Gut, dann höre ich gleich von dir. Du weißt, du wirst es nicht bereuen.«

»Dafür bist du mir was schuldig, Hastings«, erwidert er und legt ohne ein weiteres Wort auf.

Ein Grinsen schleicht sich auf meine Lippen. Das war gut. Verdammt gut sogar. Mag sein, dass ich ihm dafür etwas schuldig sein werde, auch wenn es bei dem Geld, das Bob als Casting-Direktor bereits durch mich verdient hat, in meinen Augen eher umgekehrt sein müsste. Ich lasse mich gegen das weiche Leder der Lehne meines Bürostuhls fallen und drehe mich so, dass das große quadratische Fenster nicht mehr hinter, sondern vor mir ist. Noch immer den Kugelschreiber in der Hand haltend, schließe ich für einen Moment die Augen, während die morgendlichen Sonnenstrahlen mein Gesicht benetzen. Wir haben gerade einmal Februar, weshalb die wärmenden Strahlen eine willkommene Abwechslung zu der bisher anhaltenden Kälte in Monaco sind. Ich stelle mir vor, wie Bob Runden um seinen dunklen Holzschreibtisch zieht. Male mir aus, wie er genervt den Kopf schüttelt, weil er weiß, dass ich nicht nur vermutlich, sondern sehr wahrscheinlich den passenden Kandidaten für ihn habe.

Ein lautes Piepen reißt mich aus meinen Gedanken. Mein Telefon. Ich drehe mich um hundertachtzig Grad, sodass ich erneut auf die völlig überfüllte Arbeitsfläche meines Tisches schaue. Jedes Jahr zu Semesterbeginn bietet sich mir derselbe Anblick: Berge voller Unterlagen zu kommenden Filmprojekten und Veranstaltungen, die demnächst anstehen, begraben das feine Glas unter sich. Mein innerer Monk klopft mir seit Tagen gegen die Stirn und erinnert mich daran, alles sorgfältig abzuheften und wegzupacken, damit mein Arbeitsplatz wieder so aussieht, wie ich ihn am liebsten habe: übersichtlich und ordentlich.

Beim erneuten Klingeln fällt mein Blick auf das Display meines iPhones. Auf dem hellblau leuchtenden Bildschirm erkenne ich die Durchwahl von Christine, meiner Sekretärin. Ihr kleiner Empfang liegt eigentlich genau vor meiner Tür, doch sie müsste Kilometergeld bekommen, würde sie jedes Mal mein Büro betreten, wenn es eine Neuigkeit gibt. Da sind Anrufe doch deutlich entspannter.

»Ja, was gibt’s?«

»Jack, in zehn Minuten ist die Agentursitzung, vergiss das nicht. Und ich hab hier noch einen dicken Ordner für dich.«

»Danke, Christine, ich hol ihn mir gleich nach dem Meeting. Falls in der Zwischenzeit Bob Prescott von Paramount anruft, kannst du den Anruf annehmen. Ich erwarte nur eine kurze Rückmeldung von ihm.«

»In Ordnung, das mache ich.«

Ich lege auf und drehe mich ein letztes Mal um, damit ich die Sonnenstrahlen erneut auf dem Gesicht spüren kann. Vor mir leuchtet Monaco in einem orangefarbenen Licht, das sich wie ein Tuch aus feinster schimmernder Seide über die bergige Landschaft legt. Mein Blick fällt auf den Jachthafen, wo die weißen Luxusboote sanft im Wind hin und her schaukeln. Ein Meer aus türkisfarbenem Schimmer färbt die Wellen um sie herum und vermischt sich mit der Sonne, die sich auf der Oberfläche spiegelt.

Ich wende mich ab und stehe auf, laufe an der breiten Nische links von mir entlang, wo ein deckenhohes schwarzes Bücherregal eingebaut ist, in dem jedoch mehr Ordner als Bücher zu finden sind. Fürs Lesen habe ich schlichtweg keine Zeit. Seit fast drei Jahren bin ich nun schon als Agent in der Filmbranche tätig, habe etliche Kontakte knüpfen und Schützlinge vermitteln können. Was toll klingt, aber auch nächtelange Arbeit und null Privatleben bedeutet.

»Ich bin dann weg, Christine«, rufe ich ihr im Vorbeigehen zu, sobald ich durch die Milchglastür aus meinem Büro getreten bin.

Sie nickt mir mit ihrer dicken Nickelbrille und den violetten Haaren zu und schmunzelt, wobei sich ihre ohnehin ausgeprägten Grübchen noch tiefer in ihre Wangen graben.

Vom Vorzimmer trete ich hinaus in unser Großraumbüro in der zwölften Etage, wo all meine Kollegen in ihren kleinen Glaskastenbüros sitzen. Hier sind nicht nur ein paar Agenten, sondern auch der komplette Verwaltungsapparat der Bradwood Studios untergebracht: Buchhaltung, Management, Personalabteilung. In den anderen Stockwerken sind Produktionsräume, die Abteilung für den Schnitt und die für den Ton. Natürlich finden nicht alle Prozesse hier im Gebäude statt, vielmehr der finale Schliff.

»Hey Jack, na, heute schon einen Bonus eingeheimst?«, ruft mir Luke, einer der anderen Agenten von unserer Küche aus zu.

»Bin auf dem besten Weg dahin«, rufe ich ihm entgegen. Wann immer einer von uns es schafft, Studierende der Bradwood Studios zu vermitteln, bekommen wir einen kleinen Bonus ausgezahlt. Viel ist es nicht, aber es soll ein Ansporn sein, um der Academy zu einer gewissen Reputation zu verhelfen: Wer hier studiert, den erwartet eine strahlende Zukunft.

»Bist du gleich dabei?«, frage ich ihn, und er nickt bestätigend, während er den Wassertank unserer Kaffeemaschine auffüllt.

Am Ende des Ganges liegt einer der größeren Käfige, wie ich sie liebevoll nenne.

Ich betrete ihn und nehme an dem riesigen Tisch aus dunkelbraunem Mahagoni Platz. Meinen Laptop lege ich auf der Tischplatte vor mir ab und schnappe mir die edle Glaskaraffe und ein Glas von der Mitte des Tisches und schenke mir etwas Wasser ein.

Kurz nach mir betritt Ms. Sinclair das Büro, die von der Academy für dieses Meeting hergekommen ist. In ihrem hellblauen Hosenanzug läutet sie quasi den Frühling ein. Ihre dunkelrot gefärbten Haare bilden einen perfekten Kontrast zu ihrem Zweiteiler. Schon seit ich sie kenne, finde ich, dass sie eine der bestgekleideten Personen in Monaco ist.

»Ah, Jack, es freut mich, Sie zu sehen! Sind Sie bereit für ein paar Neuzugänge?«, erkundigt sie sich und streicht sich eine ihrer Haarsträhnen hinters Ohr. Ms. Sinclair trifft immer eine Vorauswahl und gibt dann eine Liste mit den passendsten Studierenden an unsere Agentur weiter. Sie erleichtert uns die Arbeit damit enorm, und ich habe ihrem scharfen Blick für Talente schon einige vielversprechende Newcomer zu verdanken.

»Haben Sie Ihren Studierenden gesagt, dass die Zusammenarbeit mit mir fürchterlich anstrengend, nervenaufreibend und zeitaufwendig ist und ich ein Drache bin? Dann ja«, scherze ich.

Wir lachen, als Adina und Luke den Raum betreten und sich setzen. Auch Adina ist Agentin. Sie hat kurz nach mir hier im Unternehmen angefangen. Mit ihren High Heels, der Jeans und der dunkelblauen Bluse strahlt sie pures Business aus. Ihr und Luke, dessen T-Shirt und lässige Jeans sie lediglich provozieren sollen, folgt ein groß gewachsener, breit gebauter Mann in schwarzem Anzug: Clayton Bradwood, Urenkel des Gründers der Bradwood Studios und aktueller CEO. Mit seinem energischen Gang wirkt er keinesfalls wie ein Mann Mitte vierzig, wenn auch seine graubraunen Geheimratsecken und die tiefe Falte auf seiner Stirn einige Anhaltspunkte dafür liefern.

»Guten Morgen allerseits«, ruft er, noch ehe er den Glaskasten betreten hat. Spätestens als er seinen Aktenkoffer auf den Tisch schmettert, haben alle Platz genommen.

»Wir haben heute nicht viel Zeit, also lasst es uns kurz machen. Es wird in diesem Jahr noch einige Filmprojekte geben. Ihr habt bisher gut gearbeitet und im Januar bereits zehn eurer Klienten vermittelt. Doch unsere Studios haben einiges vor, und wie ich von den Kollegen anderer Filmstudios höre, stehen in diesem Jahr noch einige Produktionen an. Damit die Bradwood Academy auch etwas davon hat, ist Eddison Sinclair hier.« Mein Boss schaut zur Schulleiterin der Academy. »Du hast Nachschub für uns?«

Eddison lächelt stolz, während sie ihre Hände auf dem Holztisch vor sich verschränkt. »Ganz recht, Clayton. Im letzten Semester gab es innerhalb unserer Theatergruppen ein paar talentierte Neuzugänge. Ich hab bereits eine Auflistung ihrer Namen an euch weiterleiten lassen.«

Unser Boss nickt ihr zu und schaut anschließend zu Adina, Luke und mir. »Ihr müsstet auf euren Schreibtischen bereits Unterlagen dazu finden. Jedem von euch wurden einige vielversprechende Kandidatinnen und Kandidaten zugeteilt.«

»Das Prozedere bleibt das gleiche wie in den vergangenen Semestern?«, erkundigt sich Adina. Sie lehnt sich nach vorne und setzt sich ein wenig auf, als wäre sie im Angriffsmodus.

»Ganz genau. Wenn sie mit euch zusammenarbeiten wollen, schließt ihr mit ihnen Verträge ab. Wenn nicht, dann ist es so. Es ist lediglich eine Hilfestellung unsererseits«, erklärt Clayton.

»Macht aus ihnen die Stars, die in ihnen stecken«, schließt Eddison unser Meeting.

»Jack, bleibst du bitte noch kurz im Raum?«, erkundigt sich Clayton und betrachtet mich eindringlich. Ein unangenehmer Schauer läuft mir dabei über den Rücken. Was könnte er wollen?

Während Luke und Adina wie auch Sinclair den Käfig verlassen, riskieren sie alle nacheinander einen letzten neugierigen Blick zurück. Was zurückbleibt, ist die Stille im Raum. Erwartungsvoll schaue ich Clayton an. Er lässt sich in seinen Stuhl fallen und dreht sich damit von mir weg. Jetzt kann er aus dem Glaskasten heraus die ganze Etage beobachten, als wäre sie das Königreich und er ihr König.

»Sag mir, Jack, wie lange bist du jetzt bei uns angestellt?«, fragt er, obwohl er die Antwort eigentlich kennen sollte. Schließlich arbeiten wir seither eng zusammen.

»Seit etwas mehr als drei Jahren«, entgegne ich trocken.

Jetzt wendet er sich mir wieder zu. »Weißt du, als wir vor zehn Jahren das Förderprogramm ins Leben gerufen haben, war mein Vater dagegen. Seiner Meinung nach sollte die Academy allein dafür sorgen, ihren Bekanntheitsgrad zu steigern – ohne Hilfe von außen. Ein Förderprogramm erschien ihm nicht elitär genug. Er wollte nicht sehen, welche Vorteile es uns allen bringen würde, dabei erhalten wir mittlerweile jedes Semester mehrere Tausend Bewerbungen, von denen wir nur einen Bruchteil annehmen können. Doch diese allein haben ausgereicht, um die Nachfrage zu steigern und somit die Studiengebühren erhöhen zu können. Das hat es uns wiederum ermöglicht, mehr Studienplätze zu schaffen, qualifiziertere Dozenten einzustellen und zusätzlich Werbung zu schalten, sowohl für die Academy als auch unsere Agentur. All das dank des Förderprogramms.«

Irritiert versuche ich herauszufinden, worauf er hinauswill. Ich kenne die Entstehungsgeschichte des Programms. Nicht zuletzt, weil ich seit drei Jahren dabei helfe, es auszubauen.

»Der Grund, weshalb ich dir das erzähle, Jack, ist, dass wir wachsen. Immer weiter. Das würden wir nicht, wenn mein Vater damals allein entschieden hätte. Ich war so viel jünger und wusste es dennoch besser. Ich hatte Talent und habe ihm gezeigt, dass ich mehr von diesem Business verstehe, als er glaubt. Dieses Talent sehe ich auch in dir.«

Ich spüre, wie mein Mund trocken wird und die Fragen meine Zunge verknoten. Ich bin selten sprachlos, doch jetzt gerade schon. Clayton Bradwood ist niemand, der einfach ein Lob ausspricht. Vielmehr kassiert er die Lobeshymnen von anderen und suhlt sich darin.

Was bezweckt er also damit?

»Also, langer Rede kurzer Sinn: Ich hab ein Angebot für dich. Wenn die Academy noch weiter wächst, könnten wir zur besten Filmuniversität Europas werden. Und das alles nur, weil unsere Agenten es schaffen, den Studierenden bereits während ihres Studiums bedeutende Rollen zu ermöglichen. Damit das weiter so funktioniert, brauche ich jemanden, der sich auskennt und mehr Verantwortung übernimmt, um mich zu entlasten.«

»Soll ich etwa …?«

Clayton klopft mit den Fingern auf dem Holztisch herum. Seine Bewegungen folgen keinem Rhythmus als vielmehr einer durcheinandergeratenen Melodie. »Ich möchte, dass du das Team hier leitest und vergrößerst. Luke und Adina haben viel zu tun, genau wie du. Irgendwann werdet ihr mehr Unterstützung brauchen. Ihr könnt nicht jeder hundert Klienten betreuen, und dafür sollst du sorgen.«

Seine Worte fühlen sich an, als würde jemand ein viel zu eng geschnürtes Korsett aufspringen lassen. Ich atme tief ein, gebe mir Mühe, ruhig zu bleiben. Das ist die Gelegenheit, auf die ich schon so lange warte.

»Clayton, das klingt großartig. Ich bin dabei – unbedingt«, entgegne ich, und zum ersten Mal in Claytons Gegenwart muss ich nicht so tun, als würde ich mich über etwas freuen – nein. Denn diesmal tue ich es wirklich. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals, und die dunklen Härchen auf meinen Armen richten sich auf, beinahe als würden sie genauso tanzen wollen wie ich.

Mit einem Mal hebt mein Boss beschwichtigend die Hand. »Das ist gut, Jack. Das ist sehr gut. Doch bevor du die Stelle bekommst, musst du noch einen großen Fisch an Land ziehen. Beweise mir, dass du den Blick dafür hast, ein Talent ebenso zu erkennen, wie ich es tue. Wir brauchen eine Person, die zum Aushängeschild unseres Förderprogramms wird. Wenn du jemanden findest, der der geborene Star ist, dann gehört die Leitung des Agenten-Teams dir«, sagt er und nickt bekräftigend.

»Ich muss also den Star von morgen finden?«, hake ich nach und warte auf die Antwort, die ich bereits kenne.

»Ganz recht. Nicht mehr und nicht weniger«, fügt er mit einem trockenen Lachen hinzu.

Es ist, als würde er von mir verlangen, der Sonne das Licht zu nehmen oder den Stöpsel in den Tiefen der Meere zu ziehen. Es bedarf viel Glück und das richtige Gespür, ganz abgesehen von den richtigen Kandidaten, dem perfekten Timing und den richtigen Entscheidungen, um so schnell in Hollywood Fuß zu fassen. Wenn ich also jemanden finden will, der sich selbst die Sterne vom Himmel holt, sollte ich anfangen, die passende Rakete zu basteln.

Alexandra

»Mein Schatz, du wirkst so nachdenklich. Ist alles gut?«, höre ich meine Mom fragen, während ich immer weiter in den dunkelbraunen Ledersitz ihres SUVs einsinke.

Seit knapp zehn Minuten sitzen wir im Auto auf dem Weg zum Flughafen in Atlanta und haben kaum miteinander geredet. Ich lasse meinen Blick durch das leicht beschlagene Fenster der Beifahrerseite gleiten und betrachte das trübe Grau über der Stadt. Atlanta ist meine Heimat, und normalerweise liebe ich diesen Ort. Doch im Winter ist alles so trist, als hätte jemand ein graues Seidentuch über die Silhouette gelegt. Während im Sommer zahlreiche Grünanlagen der Stadt nicht umsonst den Titel »the City in the Forest« verleihen, kann ich ihr aktuell gar nichts abgewinnen. Ein riesiges Bürogebäude jagt das nächste, kaum Menschen sind auf den Straßen, und selbst die Sonne versteckt sich hinter riesigen Dunstwolken. Ich wende meinen Blick ab, als wir am Museum »World of Coca-Cola« vorbeifahren.

»Tut mir leid, Mom, ich hab geträumt. Ich bin nur gespannt, was dieses Semester so bringt, weißt du?«

Meine Mutter wirft ihre honigblonden Haare nach hinten über die Schulter und nickt leicht. Sie ist, seit ich denken kann, mein Fels in der Brandung. Und obwohl sie es nie zugeben würde, weiß ich, dass sie nicht ganz hinter meinem Schauspielstudium steht. Ich kann es ihr nicht verdenken, es muss schmerzlich sein, wieder an all das erinnert zu werden.

Ich greife nach ihrer Hand, die sie stumm auf ihrem Oberschenkel abgelegt hat. »Wieso habe ich das Gefühl, dass du diejenige bist, die so nachdenklich ist, Mom.«

Sie wirft mir ein zögerliches Schmunzeln zu. Ihre azurblauen Augen, die ich von ihr geerbt habe, verengen sich dabei zu kleinen Schlitzen. »Ach, Unsinn, das bildest du dir ein, Alex. Ich finde es nur so schade, dass du heute wieder abreist. Die Semesterferien sind schneller vergangen, als ich gedacht hätte. Eddie war auch nur kurz bei uns, und jetzt muss ich euch beide schon wieder ziehen lassen. Es tut weh, wenn die Kinder so groß sind, dass sie ihre eigenen Wege gehen können und nur noch gelegentlich als Besucher auftauchen.«

Ich schenke ihr ein trauriges Lächeln. Nach ganzen sechs Wochen geht es heute für mich zurück an die Bradwood Academy in Monaco. Ich freue mich sehr, Eloise und Chase am Flughafen wiederzusehen, die gerade zusammen in Australien waren. Und auch auf Sophie, die die Ferien bei ihren Eltern in Arizona verbracht hat.

»Du würdest mir doch sagen, wenn dir das Studium nicht mehr zusagt, oder?«, fragt sie mit einem Mal, als wir den Highway Richtung Flughafen verlassen.

Ich ziehe die Augenbrauen zusammen. »Was ist das denn für eine Frage? Ich schauspielere, seit ich ein kleines Kind bin. Warum sollte ich das nicht auch jetzt wollen? Wie kommst du darauf?« Natürlich weiß ich, wie sie darauf kommt, nur dachte ich, dass sie damit längst abgeschlossen hat.

Mom winkt mit der rechten Hand ab und streicht sich ihre schulterlangen Haare hinters Ohr. »Na ja, nachdem du mir von Eloise und diesem Regisseurssohn erzählt hast, mache ich mir Sorgen. Ich weiß ja, dass er jetzt das macht, was er möchte, und ich will nur, dass du deinen Weg auch aus den richtigen Gründen gehst, weißt du? Du sollst das machen, was du liebst.«

Ich drücke ihre Hand ein weiteres Mal, diesmal etwas fester. »Ach Mom, das ist Quatsch. Ich liebe mein Studium. Ich möchte mit der Schauspielerei erfolgreich sein, und mein Bauchgefühl sagt mir, dass ich das schaffen kann. Du musst dir keine Sorgen machen.«

»Das hoffe ich für dich, mein Schatz«, gibt sie zurück, sobald wir langsamer werden. Vor der Einfahrt zum Flughafen stauen sich etliche Autos. Anscheinend bin ich nicht die Einzige, die heute auf Reisen geht.

Ich tippe auf dem großen Touchscreen neben Moms Lenkrad herum, um die Musik etwas lauter zu stellen, als gerade mein Lieblingssong Give me a Kiss von Crash Adams läuft. Leise singe ich mit und versuche, meine Gedanken zu ordnen. Nicht nur, um Moms, sondern auch meine eigenen Sorgen zu vertreiben. »Ich hab mir vorgenommen, mir in diesem Semester die Hauptrolle zu schnappen. Das muss einfach klappen.« Ich spüre, wie die Worte meinen Ehrgeiz pushen. Denn ich will die Beste sein. Für nichts anderes mache ich dieses Studium. Ich habe es ganz allein bis an die Bradwood Studios geschafft. Und vor allem das sollen alle sehen.

Als Mom und ich wenige Minuten später den Flughafen in Atlanta erreichen, parkt sie direkt vor dem Eingang des Hartfield Jackson Airports. Rasch schnalle ich mich ab und steige aus, während das geschäftige Treiben vor dem riesigen Gebäude ein mir nur allzu bekanntes Rauschen ergibt. Gesprächsfetzen der Menschen um mich herum, das Starten und Landen der Flugzeuge – all diese Geräusche lassen mich in eine vorfreudige Aufbruchsstimmung verfallen.

»So, dann ist es jetzt wohl so weit, was?«, murmelt Mom, während sie sich ihre dunkelblaue Winterjacke über den weißen Pullover streift und auf den Bürgersteig tritt. In ihren Augen erkenne ich ein paar Tränen. Das Blau darin erinnert mich an das Meer in Monaco, und Traurigkeit mischt sich unter die Vorfreude in meiner Brust.

»Ach, Mom, nicht weinen. Ich dachte, nach sechs Wochen bist du froh, mich wieder los zu sein«, flüstere ich ihr bemüht lustig ins Ohr, als sie mich umarmt. Der zarte Geruch nach Kokosshampoo strömt mir in die Nase, während ich mit dem Gesicht in ihre blonden Haare eintauche.

Sie schlingt ihre Arme fester um mich, dann löst sie sich von mir und sucht meinen Blick. »Keine Zeit der Welt mit dir wäre mir zu lang, mein Schatz. Ich wünsche dir viel Spaß an der Uni. Ruf mich zwischendurch an und erzähl mir, wie es läuft. Ich möchte alles wissen, von Jungs, deinen Noten … und auch von deiner Theatergruppe.« Bei Letzterem könnte ich mir einbilden, ein leichtes Zucken in ihren Zügen zu erkennen. Ich weiß, wie Mom über diesen Bereich meines Lebens denkt, und ich weiß, wie hart es für sie ist, mich zu unterstützen. Dafür, dass sie es dennoch tut, liebe ich sie umso mehr.

»Ah, da ist ja meine allerliebste Lieblingsfreundin«, rufe ich durch die große Flughafenhalle, als ich gegen Mittag von Eloise und Chase in Nizza empfangen werde. Einen kurzen Moment lang meine ich für mein Gepäck einen ungläubigen Blick von Chase zu kassieren, doch als ich ihn noch einmal anschaue, grinst er nur.

»Wow, ich hatte ganz vergessen, dass deine Semester immer gleich mehrere Jahre andauern«, erklärt Elli, als sie mir meinen großen hellblauen Rollkoffer abnimmt. Ihrem berühmten Freund drücke ich Gepäckstück Nummer zwei und meine Reisetasche in die Hand.

»Du hättest dein Work-out im Country Club heute Morgen gar nicht gebraucht«, meint Elli belustigt an Chase gewandt.

»Allerdings. Alex, was hast du hier drin? Goldbarren? Hantelstangen?«, fragt Chase, während er sich meine Reisetasche über die Schulter wirft.

»Ach, kommen Sie schon, Mr. High Class. Jetzt zeig mir mal, dass sich deine Work-outs in Australien gelohnt haben«, gebe ich entschlossen zurück.

Chase mustert Elli mit übertrieben betroffenem Blick. Der Spitzname scheint ihm nicht ganz so zu gefallen. »Mr. High Class, ja? Manchmal weiß ich nicht, ob du mich liebst oder quälen willst«, murmelt er ihr belustigt zu, woraufhin sie ihm einen Kuss auf die Lippen drückt.

»Du bist mein Held, also liebe ich dich«, erwidert meine beste Freundin, ehe wir uns in Bewegung setzen. Ich beobachte die beiden und schüttele lächelnd den Kopf. Sie sind verdammt süß zusammen, aber für jemanden wie mich, die eher auf Lockeres aus ist, wäre das zu viel des Guten. Gemeinsame Urlaube und Co. – das schreit nach viel zu viel Ernsthaftigkeit. Dennoch habe ich mich mittlerweile daran gewöhnt, dass Elli ihre bessere Hälfte gefunden hat. Im letzten Semester bin ich ihm gegenüber zwar etwas skeptisch gewesen, doch mittlerweile habe ich verstanden, dass Chase lange in einem Käfig aus Erwartungen gefangen war. Jetzt, da er in Cannes studiert, wirkt er lockerer und nicht mehr so angespannt wie noch vor wenigen Monaten.

»So, und jetzt erzählt mir mal, wie euer dreiwöchiger Spontanurlaub ohne Presse im Outback war. Habt ihr Krokodile gesehen und Kängurus?« Chase hatte Eloise bereits in der ersten Ferienwoche gefragt, ob sie gemeinsam Urlaub in Australien machen wollen.

Eloise deutet mit einem Nicken zu ihrem Freund und setzt einen schwärmerischen Gesichtsausdruck auf. »Es war fantastisch, wirklich! Wir waren schnorcheln, haben Kängurus in freier Wildbahn beobachtet, und Chase hat mich auch zu einem dreitätigen Aufenthalt nach Neuseeland eingeladen. Wir waren im Hobbiton. Du weißt schon, da wo sie einige Szenen aus Der Herr der Ringe gedreht haben.«

Chase dreht sich zu Eloise um und legt ihr seinen noch freien Arm über die Schultern. »Ja, Eloise hat es da geliebt. Ich bin mir aber nicht sicher, ob das nicht auch daran liegt, dass sie aufgrund ihrer Größe selbst als niedlicher Hobbit durchgehen könnte.«

»Chase Emmanuel Edwards, du wirst ganz schön frech«, ruft sie, und ich kann mir nicht verkneifen, zu lachen.

»Emmanuel? Nicht wahr, oder?«

Wir alle drei brechen in schallendes Gelächter aus, als uns von Weitem ein Mann mit kurzen Haaren vor einem riesigen SUV begrüßt. Das Fahrzeug schimmert in einem dunkelgrauen Metallic-Look. Die Mittagssonne, die Monaco so langsam, aber sicher etwas aufwärmt, wird von einer der geöffneten Beifahrertüren reflektiert und blendet mich ein wenig.

»Was soll ich sagen? Mom und Dad hatten einfach keinen Geschmack«, kommentiert er seinen schrecklichen Zweitnamen und schüttelt den Kopf. »Alex, das ist Simon, der Fahrer meines Dads. Simon, das ist Alex, eine Freundin.« Er deutet mit einem Kopfnicken von einem zum anderen.

»Freut mich«, begrüßt mich Simon mit einem freundlichen Lächeln und fasst sich mit einem angedeuteten Nicken an die schwarz glänzende Schirmmütze, ehe er mir mein Gepäck abnimmt.

»Freut mich auch, danke«, entgegne ich, ehe mein Blick auf den Wagen hinter ihm fällt. »Meine Güte, das ist der neue BMW, oder? Den gibt es doch erst seit ein paar Monaten.«

Chase und Simon starren mich kurz verblüfft an, ehe Eloise sich schließlich zu Wort meldet. »Alex liebt Autos. Zumindest die sehr teuren Modelle. Frag sie, welches Modell zu welcher Marke gehört, und sie hält dir einen Vortrag, der alle Autoliebhabenden wie Amateure aussehen lassen würde.«

Es gibt nur eine Person, von der ich die Leidenschaft für teure Autos habe. Aber über die will ich jetzt nicht nachdenken. »Man könnte sagen, ich hab einfach einen Blick für solche Dinge. Und dieser Wagen hier«, beginne ich und zeige mit dem Finger auf den metallicgrauen SUV, »kostet in der einfachsten Ausstattung schon über hundertachtzigtausend Dollar.« Zwar ist meine Mom eine sehr erfolgreiche Anwältin, die meinen Bruder und mich mit allem verwöhnt, was möglich ist, dennoch sind solche Werte auch für mich nicht selbstverständlich.«

»Das ist beeindruckend. Irgendwie hab ich nicht damit gerechnet, dass du dich für so etwas interessierst.« Chase mustert mich interessiert.

»Wieso, weil ich blond bin und viel Make-up besitze?« Meine Stimme klingt dabei etwas forscher als beabsichtigt, doch es wäre nicht das erste Mal, dass mich jemand nur auf Basis meines Äußeren beurteilt.

Doch Chase schüttelt den Kopf. »Nein, das wäre dämlich«, bestätigt er meine Gedanken. »Ich meine nur, dass Eloise das gar nicht erwähnt hat, dabei mag ich Autos selbst ziemlich gern. Ich finds einfach angenehm, mal auf jemanden zu treffen, der sich damit genauso beschäftigt und auskennt.«

Eloise setzt einen entschuldigenden Blick auf und verzieht ihren Mund zu einer Schnute. »Ja, okay, das hätte ich durchaus mal erzählen können, aber die Gelegenheit ergab sich irgendwie nie.«

Ich winke ab und nicke den beiden lächelnd zu. »Ist schon okay. Ich wollte auch nicht so forsch sein, Chase. Nur wenn ich mit etwas Erfahrung habe, dann sind das Vorurteile.« Wie die meines Fahrlehrers Mr. Ferretti, der erstaunt darüber war, eine Blondine in seiner Führerschein-Prüfung gehabt zu haben, die bereits beim ersten Anlauf bestanden hat. Oder die meiner Klassenlehrerin Mrs. Fowler, die mir nicht zugetraut hatte, es trotz ewig langer Theaterproben zu schaffen, für die Abschlussprüfungen zu lernen.

Ich bin nicht doof und weiß, dass ich als blonde Schauspielerin aus wohlhabendem Elternhaus perfekt ins Klischee passe. Aber das ist ein Fehler, den ziemlich viele machen. Hier steckt mehr drin als nur das Wissen über die nächste große Designerkollektion oder darüber, welches Hollywood-Traumpaar demnächst heiratet«, antworte ich und deute mit dem Finger auf meinen Kopf.

Ich werde von einem Rumpeln aus den Gedanken gerissen und schaue zu Simon, der unter leisem Ächzen jedes meiner Gepäckstücke in den riesigen Kofferraum hievt. Kurz bekomme ich doch ein schlechtes Gewissen, so viel eingepackt zu haben. Dabei liebe ich das Gefühl, all meine Sachen um mich zu haben. Da Mom und Eddie in Amerika geblieben sind, möchte ich neben Elli so viel Heimat um mich herum haben, wie es nur geht.

»Keine Sorge, den Fehler mache ich sicher nicht. Hier«, sagt er und wirft mir die Autoschlüssel zu. »Wenn dir das Teil so gut gefällt, dann fahr du uns doch zurück zum Campus.«

Seine Worte lösen ein vorfreudiges Kribbeln in meinen Fingerspitzen aus. Ich liebe es, schnell zu fahren, liebe das Adrenalin, das meinen Puls hochtreibt und mich schwerelos fühlen lässt. »Echt? Das ist ja cool von dir«, rufe ich begeistert und stupse Chase mit der Hand leicht an der Schulter an. »Schnallt euch gut an, Freunde. Denn ich werde ordentlich aufs Gas drücken«, verkünde ich, ehe ich die Tür öffne und mich in das weiche Leder des Fahrersitzes fallen lasse.

»Ich habe nichts anderes erwartet«, entgegnet Chase und schenkt mir ein kameradschaftliches Grinsen.

Jack

Es ist später Abend, als ich ein leises Klopfen an meiner Bürotür vernehme. Ich schaue auf und erkenne hinter dem milchig grünen Glas die Silhouette meiner Assistentin.

»Komm ruhig rein, Christine«, rufe ich ihr zu, den Blick bereits wieder auf ein paar Vertragsunterlagen gerichtet, die ich für einen meiner Klienten durchgehe.

»Ich würde jetzt Feierabend machen, oder benötigst du noch etwas?«, fragt sie, während sie sich einen weißen Kaschmirschal um den Hals bindet.

Ich werfe einen Blick auf die Uhr an meinem Handgelenk. Mit Erschrecken stelle ich fest, dass es kurz vor 20 Uhr ist.

»Warum bist du noch hier? Los, ab mit dir nach Hause.« Nur, weil ich kein Privatleben habe, erwarte ich das keinesfalls von anderen. Vor allem nicht von Christine, die in keine leere Wohnung geht, in der sie ohnehin nur an die Arbeit denkt. Im Gegensatz zu mir hat sie eine Familie.

Sie übergeht meine Anweisung, nickt nur und deutet auf einen Stapel mit Ordnern. »Ich wollte dir nur sagen, dass das deine neuen Studierenden sind, die du noch benachrichtigen musst. Ich hab gehört, einige davon waren im letzten Semester sehr erfolgreich. Die sind bestimmt eine tolle Errungenschaft für das Förderprogramm.«

Ich schenke ihr ein dankbares Lächeln und fahre mir durch die Haare. »Danke. Was würde ich nur ohne dich tun.« Nachdem ich die erste Hälfte des Tages mit Meetings und die andere mit Telefonaten verbracht habe, sind die neuen Klienten auf meiner To-do-Liste irgendwie untergegangen. Und das, obwohl sie nach meinem heutigen Gespräch mit Clayton eigentlich ganz oben stehen sollten.

»Du würdest kläglich untergehen«, murmelt sie leise, aber dennoch laut genug, damit ich sie hören kann, ehe sie sich mit einem Zwinkern abwendet und lachend die Tür hinter sich schließt. Ich streiche mir ein wenig müde über das Gesicht, ehe ich mich wieder meiner Arbeit widme. Der Tag heute ist zwar anstrengend, doch definitiv ruhiger als manch andere.

Nach der regulären Arbeitszeit folgen oft noch Veranstaltungen oder Abendessen mit den Vertretern verschiedenster Produktionsfirmen. Ein gutes Verhältnis ist das A und O, wenn ich sicherstellen möchte, kontaktiert zu werden, sobald irgendwo ein Casting stattfindet. All diese Beschäftigungen fühlen sich für mich nicht an wie ein Job. Zudem sind sie das Einzige, das einem Sozialleben nahe kommt. Darüber hinaus liebe ich es, gebraucht zu werden. Denn so fühlt sich mein Beruf zumindest die meiste Zeit über wie ein Hauch von Privatleben an.

Ich greife nach dem roten Ordner, der als einer der letzten noch auf meinem Schreibtisch liegt. Mit großen Lettern hat Christine auf einem Post-it »Zuwachs« geschrieben. Gerade als ich im Begriff bin, mir Kandidat oder Kandidatin Nummer eins der Schauspielneuzugänge anzuschauen, klingelt mein Telefon. Auf dem Touchscreen meines Handys erkenne ich erneut den Namen des Mannes, auf dessen Anruf ich bereits den ganzen Tag warte.

»Hastings«, begrüße ich ihn. Wie vorhergesagt, meldet sich der Casting-Direktor von heute Morgen zurück.

»Jack, hier ist Bob.«

»Was gibt’s, mein Lieber?« Auf der anderen Seite höre ich ein lautes Husten. Bob ist seit vielen Jahren starker Raucher, und das hört man auch.

»Tut mir leid, mein Freund. Aber die Produktionsleitung hat sich eben erst bei mir gemeldet, weshalb es nicht vorher ging.«

»Kein Problem. Ich gehe nämlich einfach mal davon aus, dass du gute Neuigkeiten für mich hast?«

»Das kannst du laut sagen. Du hast wieder einmal Glück gehabt, du Halunke. Dein Schauspieler soll sich morgen bei uns im Büro in Nizza melden. Das sollte kein Problem für den Jungen sein, oder?«

Ich stoße einen stummen Jubelschrei aus und recke eine geballte Faust in die Luft. Dann räuspere ich mich. »Na, das ist doch die Antwort, die ich hören wollte. Du wirst es nicht bereuen. Er ist verdammt gut«, entgegne ich und klemme den Hörer zwischen Ohr und Schulter ein, damit ich aus einer meiner Schreibtischschubladen einen Notizblock herausholen kann. Eilig schnappe ich mir einen Kugelschreiber und kritzle eine Notiz darauf: Bob, Casting, Nizza. Das reicht, damit ich mich daran erinnere, was zu tun ist.

»Das will ich auch hoffen. Ich habe mir ein Bein ausgerenkt, damit das klappt.« Wir wissen beide, dass er übertreibt. Es hat ihn höchstens einen Anruf gekostet.

»Dann hoffe ich mal, dass du einen guten Chiropraktiker hast, Bob. Es war die Mühe allemal wert.«

2. Kapitel

Drei Freundinnen

Alexandra

»Du kannst dir nicht vorstellen, wie froh ich bin, dich endlich wiederzusehen, Knorki. Auch wenn ich deinen Fahrstil eindeutig nicht vermisst habe«, fügt sie lachend hinzu, als wir ein paar Stunden später alles an Gepäck ausgepackt haben.

Da das Semester erst in wenigen Tagen beginnt, hat der Campus auf dem Weg zu unserem Wohnheim beinahe wie ausgestorben gewirkt. Eine hauchdünne Tauschicht überdeckt das grün schimmernde Gras des Campusgeländes, und die Bäume um uns herum lassen sich angesichts der noch leicht frostigen Temperaturen Zeit, ihre Blätterkronen zurückzuerobern. Dennoch duftet es bereits herrlich nach Frühling. Zumindest versuche ich, mir das einzureden – ich bin einfach kein Wintermensch. Nachdem Chase und Simon uns am Wohnhaus abgesetzt und wir uns in unserem kleinen Zimmer eingerichtet haben, hatten wir beschlossen, uns bei einem kleinen Kaffeeklatsch auf dem Campus auf den neuesten Stand zu bringen.

»Puh, gut, dass ich nicht mit im Wagen gesessen hab. Mein Magen verträgt keine adrenalingeladenen Fahrmanöver«, höre ich links neben mir Sophie murmeln, die an ihrem Kaffee nippt. Ich schenke dem Becher in ihrer Hand einen skeptischen Blick.

»Na ja, ich kann euch sagen, was ich eindeutig nicht vermisst habe, und das ist der Kaffee, den unsere Cafeteria anbietet. Ich liebe alles an dieser Uni, aber das ist das Einzige, an was ich mich auch in diesem Semester nicht gewöhnen werde.«

Ich schüttele mich angewidert, und Eloise neben mir stupst mir leicht gegen den Arm. »Dann trink es einfach nicht. Also, wie war es in Atlanta? Hat deine Mom mich vermisst?«

Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen, denn natürlich hat Eloise meiner Mom gefehlt. Schließlich ist sie seit Kindheitstagen meine beste Freundin und bei uns quasi ein- und ausgegangen.

»Natürlich tut sie das. Für dich hätte sie extra ihren Nudelauflauf gemacht, wenn du mit nach Atlanta gekommen wärst. Und du weißt, das ist das Einzige, was sie wirklich kochen kann.« Das Lachen, das wir drei ausstoßen, füllt die Luft um uns herum mit Leichtigkeit und lässt mich kurz vergessen, dass ich in diesem Semester so richtig durchstarten muss. Denn das Schauspielbusiness ist hart und die Konkurrenz groß. Schon beim letzten Mal waren die Castings der Theatergruppen wie ein Becken voller Piranhas, in dem alle nur hoffen, das größte Stück abzubekommen. Wenn ich mir also einen Namen in dieser Branche machen möchte, muss ich gut sein. Nein, ich muss sehr gut sein.

»Aber sonst war nicht viel los. Ich hab mich mit ein paar Leuten aus der Schule getroffen. Aber mir kommt unser Leben von damals auf einmal so fremd vor, seit wir hier sind. Wie die Seiten eines Buches, das man das letzte Mal vor vielen, vielen Jahren gelesen hat.« Mit einem stummen Nicken bestätigen Sophie und Elli mein Gefühl, und einen Augenblick lang gibt es nichts um uns herum, außer den seichten Wind, der über Monaco weht, und die Sonne mit ihren warmen Sonnenstrahlen, die meine Nasenspitze kitzeln.

»Was nur bedeutet, dass wir nun unser nächstes Kapitel aufschlagen müssen. Nachdem Eloise im letzten Semester zu einer kleinen Berühmtheit geworden ist, bist ja vielleicht du in diesem Halbjahr dran, Alex.« Sophie wirft mir durch ihre dunkel geschminkten Augen einen vielversprechenden Blick zu, der der Sorge in meinem Inneren nur noch mehr Ausdruck verleiht.

»Da sagst du was. Ich denke auch, dass es an der Zeit ist, Monaco um eine neue Schauspielgröße reicher werden zu lassen«, bestätigt Elli.

»Es klingt wirklich toll, wenn ihr das so sagt, aber das wird verdammt hart. Ich bin mir nicht sicher, ob ich das wirklich schaffen kann.«

»Hey, Moment mal, wo ist denn die selbstbewusste Alex hin, die sich jeder Herausforderung stellt, als wäre es ein Klacks? Du zweifelst nie an dir, ganz im Gegensatz zu uns anderen.« Eloise legt den Kopf in den Nacken, und in ihrem Blick erkenne ich einen Hauch von Sorge. Wenn sie wüsste, wie oft ich in Wirklichkeit an mir zweifle, ohne es die beiden sehen zu lassen. Sie haben selbst so viele Sorgen. Wer bin ich da, dass ich ihnen mein Herz ausschütte, nur weil ich Angst habe, keine berühmte Schauspielerin zu werden?

»Elli hat völlig recht. Nur durch dich ist das Ödipus-Stück im letzten Semester so erfolgreich geworden. Auch wenn sie es alle nicht zugeben würden, aber die Hälfte aller Schauspiel-Studierenden hier ist neidisch auf die Performance, die du hingelegt hast. Wenn du es nicht schaffst, wer dann?«

Beschwichtigend hebe ich die Hände und ringe mir ein müdes Lächeln ab. »Schon gut, ihr habt ja recht. Ich bringe bestimmt ein paar gute Voraussetzungen mit. Und doch bin ich mir einfach nicht sicher, wo ich anfangen soll. Ich bin zwar weiterhin in der Theatergruppe und werde mich um eine der Hauptrollen bemühen, aber wie ich damit den großen Durchbruch schaffen soll, bleibt dennoch eine unbeantwortete Frage.«

»Es gibt doch dieses Förderprogramm. Da hast du vielleicht Chancen«, erklärt Sophie und erntet von Elli und mir dafür einen fragenden Blick.

»Leute, ihr lest einfach echt nie die Broschüren. Das stand in der Infomappe aus dem ersten Semester. Es gibt hier ein Förderprogramm, das den Studierenden im Bereich Schauspiel, Regie und Produktion helfen soll, an ihre ersten großen Jobs zu kommen. Soweit ich weiß, ist das besonders bei denen im Schauspielbereich gefragt. Wer da reinkommt, sichert sich die großen Jobs.«

Eloise macht große Augen. »Aber, das ist es doch! Das könnte deine Chance sein, Alex. Was muss man dafür tun, Sophie? Also, wie kommt man da rein?«

»DAS kann ich euch nicht sagen. Das stand in der Broschüre nicht. Aber wenn ihr mich fragt, dann glaube ich, dass man dafür ausgewählt wird. Die wollen ja nur die Talentiertesten unter uns vermitteln.«

Wo wir wieder beim Thema wären. Denn augenblicklich frage ich mich, wer überhaupt entscheidet, was Talent bedeutet.

Jack

»Pass auf, du gehst jetzt da rein und bist einfach ganz du selbst. Dieses Casting könnte dein Leben verändern, und ich glaube felsenfest daran, dass du die Rolle bekommen wirst«, erkläre ich Andrew, als wir am nächsten Tag in Nizza vor dem Außensitz der Produktionsfirma stehen. Eine Ausnahme, weil Castings normalerweise nicht direkt vor Ort, sondern in angemieteten Räumlichkeiten stattfinden.

Andrew fährt sich durch seine nach hinten gestylten Haare, die ihn ein wenig wie einen hellblonden Elvis aussehen lassen, und richtet den Kragen seiner hellblauen Jeansjacke. »Danke, dass du mir das ermöglicht hast, Jack. Du bist der Beste.«

»Die eigentliche Herausforderung liegt vor dir, ich hab nur einen Anruf getätigt. Meld dich nachher direkt und erzähl, wie es war. Und jetzt geh da rein und zeig ihnen, wie gut du bist.« Ich packe Andrew bei den Schultern und drehe ihn Richtung Eingang des grauen Backsteingebäudes.

Paramount hat Standorte unter anderem in Silicon Valley, New York und Berlin – und seit Kurzem auch einen in Nizza. Dieser ist im Vergleich zu seinen Vorgängern deutlich kleiner, doch die Nähe zu Monaco und Cannes, wo jedes Jahr die Filmfestspiele stattfinden, macht ihn nicht weniger attraktiv. Wobei ich vermute, dass der Hauptsitz der Bradwood Studios ein weiterer ausschlaggebender Punkt war, schließlich sind beide starke Konkurrenten. Und bei beiden konnte ich bereits ungefähr gleich viele Talente für große und kleine Rollen unterbringen.

Insgesamt vierzig Klienten betreue ich in meiner Kartei an Schauspielern. Darunter Personen verschiedenster Altersgruppen, Hautfarben und Identitäten. Sie alle haben das Zeug, groß rauszukommen, und ich bin jedes Mal stolz, wenn ich jemanden vermitteln konnte. Nicht nur auf sie, sondern auch auf mich selbst. Denn ich bin so weit gekommen … und das komplett aus eigener Kraft.

Eine knappe Dreiviertelstunde später schließe ich die Tür zu meinem Apartment auf. Im südlichsten Teil Monacos, in Fontvieille gelegen, habe ich mir hier meinen Rückzugsort geschaffen. Nachdem der Großteil meiner Kindheit aus Partys, Spendengalas und quasi nicht vorhandener Privatsphäre bestanden hat, achte ich nun beinahe penibel darauf, meinen persönlichen Bereich zu schützen.

Ich streife meine Schuhe ab und folge wie jeden Abend der gleichen Routine: Im faden Licht der Dämmerung stapfe ich zu der großen Fensterfront im Wohnzimmer und greife nach den mitternachtsblauen Vorhängen, riskiere einen letzten Blick auf die nachmittägliche Skyline Monacos und ziehe die Vorhänge so weit zu, dass nicht ein einziger Sonnenstrahl hindurchscheinen kann. Erst nachdem alles blickdicht ist, streife ich mir in der Garderobe die blaue Winterjacke ab und hänge sie neben dem Eingang auf.

Ich wende mich ab und schalte das Licht an, gebe den Blick frei auf all das, was ich mir mit unermüdlichem Eifer und Ehrgeiz erarbeitet habe. Einen kurzen Augenblick lang betrachte ich mein Wohnzimmer mit der gemütlichen hellbraunen Drei-Sitzer-Couch aus Leder, die vor der roten Backsteinfassade links platziert ist. Genau gegenüber davon steht mein Flachbildfernseher, der beinahe die gesamte gegenüberliegende Wand einnimmt. Von der maßgeschneiderten Küche mit schwarzer Theke und bronzefarbenen Griffen bis hin zum kleinen Badezimmer meiner Dreizimmerwohnung ist alles im Industrial-Look designt. Das dunkle Laminat, das perfekt zu der roten Backsteinwand im Wohnzimmer passt, aber auch die dunkelgraue Badewanne – alles ist genauestens aufeinander abgestimmt und genau so, wie ich es mir schon immer vorgestellt habe. Zugegeben, all diese Dinge waren teuer und haben mich viel von meinem Ersparten gekostet, dafür strotzt dieses Apartment in meinen Augen nur so vor Rückzugsmöglichkeiten und ist damit kein Vergleich zu dem frostigen Ambiente, in dem ich aufgewachsen bin.

Mittlerweile völlig k.o., stapfe ich zurück ins Wohnzimmer, wo ich von einem Blinken des Anrufbeantworters willkommen geheißen werde. Ich nähere mich dem weißen Gerät, um die Benachrichtigungen abzuspielen. Niemals könnte ich ruhig schlafen, wenn ich es nicht täte, dafür habe ich einen viel zu hohen Anspruch an mich selbst, wenn es darum geht, für meine Klienten und neue Gelegenheiten erreichbar zu sein.

Ich drücke den Play-Knopf, woraufhin eine automatische Ansage ertönt: »Sie haben zwei neue Nachrichten«, gefolgt von einer Stimme, die ich sofort wiedererkenne.

»Jack? Sag mir bitte, dass du zu Hause bist. Wir haben heute sturmfrei. Die Kinder sind bei Rebeccas Mutter, und wir wollten was kochen. Du wurdest eingeplant. Und komm mir nicht wieder mit der Ausrede, dass du noch zu irgendeiner Veranstaltung musst. Es ist nicht gut für mein Ego, wenn mein bester Freund mich ständig für den roten Teppich und elende Paparazzi versetzt. Ich hab dich den ganzen letzten Monat über nicht gesehen. Also ruf zurück. Oder noch besser: Komm einfach her.« Liams Worte, gepaart mit seiner Beharrlichkeit, bringen mich zum Schmunzeln.

Ehe der Anrufbeantworter die nächste Nachricht abspielen kann, habe ich schon mein Handy aus der Hosentasche geholt.

Ich

Wann soll ich heute bei euch sein? Hab gehört, ich muss mal wieder meinen Pflichten als bester Freund nachkommen.

Liam und ich sind seit Kindertagen unzertrennlich. Er ist drei Jahre älter als ich und war der einzige Mensch, der meine Kindheit zu etwas Besonderem gemacht hat. Und obwohl ich zu enge Bindungen normalerweise meide, ist er die einzige Konstante in meinem Leben.

Während ich auf Liams Antwort warte, drücke ich erneut den Play-Knopf, um die zweite Nachricht abzuhören.

»Hey Jack, ich wollte dir nur sagen, dass ich grad aus dem Casting raus bin und wir bis Mittwoch erfahren werden, ob ich die Rolle habe. Ich hab ein verdammt gutes Gefühl und glaube, es war die richtige Entscheidung von Paramount, mich nachträglich einzuladen. Ich denke wirklich, dass es gut lief!« Andrews Stimme überschlägt sich am Ende des letzten Satzes beinahe. Einen kurzen Moment verharre ich in dem Gedanken, Andrew könnte die Rolle tatsächlich bekommen. Für ihn als Schauspieler wäre es eine große Chance und für mich als Agenten bedeutet es einen weiteren Schritt nach oben auf der Karriereleiter, vorausgesetzt, Andrew macht seine Sache gut.

Als das Handy in meiner Hand vibriert, schaue ich auf das Display. Liam hat geantwortet.

Liam

Gut für dich, dass du nicht absagst, sonst hätte ich dich persönlich abgeholt. Heute Abend um 7 bei uns. Sei pünktlich.

Mit einem Grinsen betrachte ich die Nachricht meines besten Freundes, dann nehme ich auf dem Sofa Platz und lege das Telefon auf dem schwarzen Metallcouchtisch ab. Ehe ich mir erlaube, mich für einen Moment zu entspannen und in das weiche Leder zu sinken, werde ich von einem weiteren Piepen hochgerissen. Es ist eine Erinnerung meines Kalenders: Unterlagen sichten.

Verdammt. Ich habe immer noch nicht die Ordner mit den neuen Studierenden angeschaut. Suchend blicke ich mich um, denn ich erinnere mich gar nicht mehr, wo ich vorhin im Dunkeln die Mappe mit den Neuzugängen abgelegt habe. Sowohl auf meiner Couch als auch auf dem kleinen weißen Schuhregal nahe meiner Wohnungstür kann ich keinen Ordner erkennen, doch auf der leicht schimmernden Keramikoberfläche meiner Küchenzeile werde ich schließlich fündig.

Ein Bild, das inmitten des Zettelberges herausragt, erregt meine Aufmerksamkeit. Es ist nur ein Schnipsel, auf dem kaum etwas zu erkennen ist, und dennoch habe ich das Bedürfnis, ihn mir genauer anzuschauen. Darauf zu sehen ist eine junge blonde Frau mit strahlend blauen Augen und hohen Wangenknochen. Sie ist wunderschön. Doch das ist nicht der Grund, wieso das altbekannte Kribbeln, das sich bei jedem vielversprechenden Kandidaten in meinem Magen festsetzt, wiederkehrt. Vielmehr ist es ihre Ausstrahlung, die Erhabenheit und Tiefe, die ihr Blick, ihr Lächeln und alles an ihr ausstrahlt. Ihr Gesicht, die feinen Sommersprossen, die leichte Unebenheit ihrer linken Augenbraue, erzählen eine Geschichte, die ich unbedingt hören will. Augenblicklich frage ich mich, wie ihre Stimme klingt, wie sie sich bewegt, wie ihr Lachen klingt. »Alexandra Clark«, steht über ihrem Bild in großen Lettern geschrieben. »Zweites Semester Schauspiel an der Bradwood Academy.« Mein Erfolgsgeheimnis ist mein Bauchgefühl, weshalb ich keinen Moment zögere und die Bewerbung auf dem Deckblatt mit einem Sternchen markiere. Sie könnte genau das sein, was ich brauche, um einen weiteren Schritt auf meinem Karriereweg vorwärts zu kommen. Wenn ich ein Gespür für etwas habe, dann ist es der für Erfolg.

Ich durchforste den Ordner nach weiteren Details, finde die Auflistung ihrer Noten aus dem ersten Semester. Neben einigen Highschool-Produktionen, die hervorgehoben wurden, beeindruckt mich vor allem ihre Besetzung als Mutter des Ödipus, die sie zuletzt gespielt hat. Ein Artikel der Monaco Times ist beigefügt.

In dieser Woche fanden die halbjährlichen Aufführungen der Theaterclubs der Bradwood Academy statt. Unter den fünf Theaterclubs hat es vor allem einer geschafft, sich besonders hervorzutun. Der Club »Bradwoods best Acting« konnte mit seinem Stück des Ödipus auf ganzer Länge überzeugen. Die Monaco Times führte nach jedem der fünf unterschiedlichen Stücke eine Umfrage durch, wobei 95 % der Befragten angaben, den Ödipus besonders genossen zu haben. Heimlicher Star des Stücks war die Erstsemester-Studentin Alexandra Clark, die mit ihren fast 21 Jahren bereits auf zahlreiche Aufführungen zurückblicken kann. Obwohl die Mutter des Ödipus, die die junge Schauspielstudentin verkörperte, als eher kleine Rolle gedacht war, erklärte Club-Leiterin Meredith Abrahamson, sie hätten diese eigens für Alexandra Clark angepasst.

»Natürlich spielt Ödipus’ Mutter eine tragende Rolle, schließlich heiratet er sie später. Doch Alex hat beim Casting so überzeugt, dass ich ihr mehr Präsenz auf der Bühne gab und sie so auch in anderen Szenen aufstellte. Das hat wahnsinnig viel Spaß gemacht, und Alex hat der Rolle die Kraft verliehen, die sie brauchte.« Auch die Rektorin der Academy, Eddison Sinclair, äußert sich zu der Aufführung des Clubs.

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich froh darüber sein soll, dass bei der Aufführung keine Talent-Scouts dabei waren. Einerseits hätte das sicher den Grundstein für die Karrieren einiger Mitglieder gelegt, andererseits hätte ich jetzt sicherlich ein paar talentierte Studierende weniger an der Academy. Und das wäre doch sehr schade.«

Ich überfliege den Rest des Artikels, der auch die anderen aus dem Ensemble beschreibt, und verstaue das Papier wieder im Ordner. Ich weiß nicht, was es ist, das mich an ihr direkt so begeistert, doch in diesem leicht erhabenen Blick auf dem Foto, zu dem ich direkt wieder zurückkehre, erkenne ich für einen Augenblick genau das, was Clayton sucht: den neuen Stern am Hollywoodhimmel. Und ich habe sie entdeckt.

»Endlich!«, ertönt Liams Stimme bereits im Hauseingang. Mein bester Freund und seine Frau Rebecca wohnen eigentlich nur ein paar Straßen von mir entfernt, und dennoch schaffen wir es in letzter Zeit immer seltener, uns zu sehen. Was zum einen an meinem Arbeitspensum, aber auch an der Tatsache liegen könnte, dass die beiden zwei noch relativ junge Söhne haben.

»Ich freu mich, dass du da bist! Ich will nicht sentimental erscheinen, aber du hast mir richtig gefehlt, Kumpel«, murmelt Liam und umarmt mich, als ich vor der hellbraunen Wohnungstür im dritten Stock ihres Wohnhauses stehe. Erst jetzt wird mir bewusst, dass wir uns mindestens über einen Monat lang nicht gesehen haben. Seine Halbglatze, die er wie Prinz William schon seit jungen Jahren hat, glänzt im schwachen Schein der Lampe im Flur. Ich bin froh, ihn endlich mal wiederzusehen, denn das letzte Mal ist schon so lange her, dass mir sogar seine frechen Sprüche richtig gefehlt haben.

»Du mir auch«, gebe ich zurück und merke erstaunt, ein paar mehr Muskeln an seinen Oberarmen spüren zu können. Noch ehe ich ihn damit aufziehen kann, dass er mich einfach durch Sport ersetzt hat, werden wir je unterbrochen.

»Onkel Jack, Onkel Jack«, ertönen die Rufe von Fynn und Nicky. Die beiden Jungs stürmen aus einem der Kinderzimmer und stürzen sich in meine Arme, kaum dass ich den Flur betreten habe.

»Ah, ihr beiden Verrückten. Ihr seid ja schon wieder locker zwanzig Zentimeter gewachsen seit letztem Mal«, stelle ich fest und ziehe sie enger zu mir heran. Ich würde von mir behaupten, eher kein Kindermensch zu sein. Nach all dem, was ich selbst zu Hause erlebt habe, bin ich nicht einmal sicher, ob ich eines Tages selbst welche haben möchte. Doch wenn ich die beiden Jungs mit Liam und Rebecca sehe, kann ich zumindest erahnen, wie das Leben in liebevollen Familien so aussieht. Ich strubble ihnen durch die blonden Haare, und ein lautes Kichern erfüllt den kleinen Flur, in dem wir nun zu viert stehen.

»Nein, nein, wir sind gerade mal zwei Zentimeter gewachsen«, erklärt Fynn mir und schüttelt den Kopf, ehe er sich aus meiner Umarmung löst. Sein Bruder Nicky zeigt auf den Türrahmen, auf dem mit einem feinen Stift ein paar waagrechte Markierungen aufgemalt worden sind.

»Oh wow, zwei Zentimeter! Das ist unglaublich«, gebe ich erstaunt zurück.

»Gewöhnt euch nicht dran, Jungs. Noch sind zwei Zentimeter die Welt für euch, aber wenn ihr erst mal erwachsen seid, reichen die nicht aus«, entgegnet Liam. Ich verstehe, was er damit eigentlich sagen will, und muss mir ein Grinsen verkneifen.

»Liam Garisson, ich warne dich. Noch mal so ein Kommentar, und du schläfst auf dem Balkon«, ermahnt ihn seine Frau Rebecca. Ich spüre ihre schmale Hand auf meiner Schulter und drehe mich zu ihr um, um sie zu drücken. Rebeccas blonde Locken kitzeln mich dabei in der Nase, während mir augenblicklich der Geruch von Zitronen-Shampoo in die Nase steigt. Ich löse mich von ihr, und sie strahlt mich mit ihren großen blauen Augen an.

»Na, Beccs, sieht aus, als würden dich die drei ganz schön auf Trab halten, was?« Ich zwinkere ihr zu, und sie streicht sich ihre rosafarbene Bluse glatt.

»Ganz ehrlich, die beiden Zwerge da«, sagt sie und deutet auf ihre Söhne, die sofort im Kinderzimmer verschwinden, »sind nichts im Vergleich zu dem Riesenbaby, das ich zusätzlich erziehen muss.« Sie verdreht die Augen und kneift Liam in den Bauch. Ihr Blick fällt erneut auf die Jungs, die gerade wieder im Türrahmen erscheinen.

»Na los, ihr beiden, ab mit euch ins Esszimmer. Es gibt Lamm. Und für Fynn und Nicky gibt’s noch ein paar Süßkartoffeln dazu.« Das Wort Süßkartoffeln betont sie extra laut und deutlich, und schon stürmen die Jungs an uns vorbei.

»KARTOOOOOFFEL«, brüllen sie.

»Das klingt super, Beccs, danke dir«, antworte ich ihr.

»Wir sind froh, dass du gekommen bist. Und beim Essen erzählst du mir, warum ich meinen besten Freund so lange nicht zu Gesicht bekommen habe«, sagt Liam und schüttelt den Kopf, ehe er und Rebecca vorausgehen.

Ich folge ihnen in einen Raum, der mich deutlich weniger an den Luxus erinnert, den Monaco vielerorts versprüht, sondern vielmehr an einen Ort, den ich nicht anders als ehrlich beschreiben kann. Terrakottafarbene Fliesen zieren den Boden und passen perfekt zum Landhausstil der Küche. Vielleicht liegt es an den kleinen Deko-Elementen, nach denen Rebecca süchtig ist, dem Geruch nach Cookies, der hier oft in der Luft liegt, oder auch an den etlichen Spielsachen ihrer beiden Zwillingssöhne, die überall herumliegen. Wenn dieses Zuhause mir etwas gezeigt hat, dann das: Es braucht keine Hausangestellten, seltene Möbelstücke und so viel Platz, dass man sich selbst verliert, um einen perfekten Ort zu schaffen. Denn nur weil etwas makellos ist, bedeutet es nicht, dass es auch für einen selbst perfekt ist. Rebecca deutet auf einen der Stühle am Kopfende – es ist der Platz, auf dem ich immer sitze, wenn ich zu Besuch bin. Während sich die Jungs bereits setzen, lasse auch ich mich auf den Stuhl fallen. Ich beobachte Liams Frau, wie sie eine große Schüssel voller Barbajuan de Monaco – also speziell frittierter Ravioli aus Monaco – von der Arbeitsplatte nimmt, ehe sie sie an Liam weiterreicht.

»Danke, Schatz«, murmelt sie ihm zu und drückt ihm einen sanften Kuss auf die Wange.

Als wir wenige Augenblicke später alle am Tisch sitzen und Liam mir gerade ein Stück Lamm auf den Teller tut, spüre ich Rebeccas eindringlichen Blick auf mir.

»Also, wo hast du dich den ganzen Monat über rumgetrieben, Jack?«

»Viel gibt es nicht zu sagen, außer dass anscheinend immer mehr Schauspieltalente geboren werden. In letzter Zeit war ich bei etlichen Castings, habe meine Schützlinge auf Veranstaltungen besucht, Meetings abgehalten und dafür gesorgt, dass nicht nur mein Verdienst stimmt, sondern auch der meiner Klienten. Ganz Hollywood hat letztes Jahr gestreikt, und mein Ziel ist es, dass man an den Gehältern meiner Schauspieler sieht, dass es etwas gebracht hat. Aber natürlich denke ich dabei auch an mich. Stellt euch nur vor, wie viel mehr Geld bei mir hängen bleibt, wenn meine Schützlinge endlich das bekommen, was sie sich auch verdient haben.«

»Wir dachten schon, du hast vielleicht endlich eine Frau kennengelernt, weil du dich so rar gemacht hast«, erwähnt Rebecca beiläufig und wirft Liam einen verschwörerischen Blick zu. Mein bester Freund serviert seiner Frau das Essen und nickt bestätigend in meine Richtung, ehe er selbst Platz nimmt und sich über seinen gefüllten Teller hermacht.

»Ach, hört auf. Ihr wisst genau, dass es da niemanden gibt. Sonst hätte ich sie euch schon lange vorgestellt. Es war einfach stressig in letzter Zeit, und jetzt kommen durch das Förderprogramm noch mehr Studierende zu meiner Kartei hinzu. Es wird also nicht weniger anstrengend als sonst.«

Liam kaut gequält auf dem Stück Lamm herum.

»Es ist übrigens köstlich«, erkläre ich Rebecca dankbar, nachdem ich bereits Bissen Nummer drei genommen habe. Zwar ist das Lamm sehr salzig und die Bratensauce viel zu wässrig, doch sie hat sich augenscheinlich viel Mühe gegeben. Eine gute Köchin war sie zwar nie, aber sie gibt dennoch nicht auf.

Sie nickt freudig und wirft Liam einen erwartungsvollen Blick zu. Als er das bemerkt, verschluckt er sich fast. »Ähm ja. Ja, auf jeden Fall. Es ist … definitiv etwas anderes.« Ich kann mein Lachen nur mühevoll unterdrücken, doch Rebecca ist es, die sich von dem Kommentar ihres Mannes nicht beirren lässt und mich genau auf das Thema anspricht, das wir schon öfter diskutiert haben.

»Ich freue mich wirklich für dich, dass es beruflich gerade so gut läuft und du einige neue Klienten bekommst. Deine harte Arbeit zahlt sich aus, und das ist es, was ich mir für dich wünsche. Aber denk auch daran, dass das nicht alles ist. Du wirst älter und vielleicht irgendwann an den Punkt kommen, an dem du nicht mehr allein durchs Leben gehen willst. Ich will dich gar nicht zu irgendwas drängen, sondern möchte nur, dass du dran denkst, dass da draußen mehr als Arbeit auf dich warten könnte.«

Liam räuspert sich kurz und nickt seiner Frau zu. »Beccs hat recht, Jacky. Bei dir geht alles rasend schnell, was deine Erfolge anbelangt, und ich bin echt stolz auf dich. Aber die Zeit rennt, und irgendwann ist es vielleicht zu spät, dich auch noch in anderen Bereichen zu verwirklichen.«

Beschwichtigend hebe ich die Hände, die noch mit Messer und Gabel bestückt sind. »Ich weiß, ihr macht euch Sorgen. Aber mein Job ist mein Leben. Und das reicht mir.«

3. Kapitel

Durchbruch

Alexandra

Der nächste Morgen kommt schneller als gedacht, und obwohl i...

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