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Bratapfel am Meer

Als Buch hier erhältlich:

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»Bring meine Kette zurück zu meiner großen Liebe, nach Juist!« Nur wenige Stunden vor ihrem Tod hat Caros Patientin ihr dieses Versprechen abgenommen. Nun steht Caro auf dem Klinikflur, der ihr alltäglicher Arbeitsplatz ist, und hält Elfriedes kunstvoll gearbeitete Perlenkette in den Händen. Sie spürt, dass dieses Schmuckstück ein ganz besonderes Geheimnis birgt, und beschließt, zum Jahreswechsel auf die kleine Nordseeinsel Juist zu fahren. So kann sie Elfriedes Wunsch erfüllen und sich, bei eisigem Wind und rauer Brandung vor den Fenstern, mit heißem Apfelpunsch die kleine Auszeit nehmen, nach der sie sich schon lange sehnt.

»Ich habe sehnsüchtig auf das neue Buch von Anne Barns gewartet und wurde nicht enttäuscht.«
Leserstimme auf Amazon

»Ein wunderschöner Roman, der mich zum Lachen und Weinen gebracht hat.«
Leserstimme auf Lovelybooks über »Apfelkuchen am Meer«


  • Erscheinungstag: 29.12.2020
  • Seitenanzahl: 352
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749902491

Leseprobe

LICHTER AUS

Guten Morgen, gute Zeiten

Wir haben uns lange nicht gesehen

Und all die tausend Kleinigkeiten

Müssen heute Schlange stehen

Du hast gesagt, so ist das Leben

Es geht nicht immer geradeaus

Und wenn du gehst, dann kommt das Beben

Und macht hier alle Lichter aus

Jedes Mal, wenn wir uns sehen

Bleiben alle Uhren stehen

Bitte sag mir, dass du da bist

Dass du einfach auf mich wartest

Jedes Mal, wenn ich hier steh,

Tut es weh wieder zu gehen

Bitte sag mir, dass du da bist

Dass du einfach auf mich wartest

Guten Morgen, Gute Zeiten

Ihr wart schon lange nicht mehr hier

Gibt keinen Grund mehr, sich zu streiten

Was passiert ist, ist passiert

Du hast gesagt, für jedes Ende

Kommt irgendwo ein Neubeginn

Ich leg mein Herz in deine Hände

Bis ich dann wieder bei dir bin

1. Kapitel

Es gibt Dinge, die ich für immer mit meiner Großmutter verbinden werde. Sie war es, die mir Radfahren beigebracht hat. Von ihr habe ich gelernt, wie man Kirschen entkernt. Und sie hat mir gezeigt, wie man den weltbesten aller Stollen backt, ohne Hefe, ohne Gehzeiten, und er schmeckt sofort nach dem Backen.

Ich schütte Zitronat und Orangeat in den Mixer, gebe zwei Eier dazu und püriere alles zu einer homogenen Masse. Im Originalrezept werden die kandierten Zitrusschalen in gehackter Form zum Teig gegeben. Aber als Kind mochte ich es gar nicht, auf die relativ festen kleinen Teilchen zu beißen. Deswegen hat Oma immer den kleinen Kniff angewendet, sie vorher zu pürieren. Genau wie die Zwiebeln, die sie so in die Fleischklopse gemogelt hat, denke ich, und ein Lächeln huscht über mein Gesicht.

Seit heute Nachmittag läuft der Backofen auf Hochtouren. Die Küche sieht aus wie ein Schlachtfeld. Etliche Schüsseln, Löffel, Messbecher, leere Eierschachteln, halb volle Mehl- und Zuckerpackungen, leere Backpulvertüten und andere Verpackungsreste stapeln sich auf der Arbeitsplatte. Eine Mehlspur verläuft vom Küchentisch über den Fußboden bis zur Spüle. Und an den Fliesen kleben Teigspritzer. Wie ich das wieder geschafft habe, weiß ich nicht.

Egal, denke ich und schütte die Eiermischung in die Schüssel mit den restlichen Zutaten. Das Geschirr kann warten, das Leben nicht! So steht es auf dem Blechschild, das ich letztens in einem kleinen Geschenkladen entdeckt habe und unbedingt kaufen musste. Jetzt hat es einen Ehrenplatz, dort, wo bis vor sechs Monaten noch Jörns Smoothie-Maker stand. Beide gehören mittlerweile der Vergangenheit an. Ein kleiner Stich fährt durch mein Herz. Es wird noch eine Weile dauern, bis ich endgültig darüber hinweg bin. Aber immerhin breche ich inzwischen nicht mehr unkontrolliert in Tränen aus. Ich straffe die Schultern. Positiv denken, Caro. Das Single-Dasein hat auch seine Vorteile. Und außerdem steckt in jeder Krise auch eine Chance, wie man so schön sagt. Noch einmal schaue ich auf das Blechschild, nehme mir felsenfest vor, mich nie wieder auf einen Mann mit Ordnungstick einzulassen, und greife genussvoll mit beiden Händen in den Teig.

Beim Kneten beobachte ich die dicken Schneeflocken, die schon seit heute Morgen schwerfällig vom Himmel fallen. Auf den Straßen liegt zentimeterhoch Schnee. Irgendwo in der Nähe schippt ein Nachbar die Straße. Ein Geräusch, das man die letzten Tage häufiger hört. Gut, dass ich erst im neuen Jahr wieder mit Schippen dran bin, denke ich. Und dass ich unbedingt jemanden finden muss, der das für mich erledigt, wenn ich Frühdienst habe.

Im Wohnzimmer, das sich direkt an die offene Küche anschließt, läuft meine Weihnachtsplaylist. Gerade im Moment höre ich meine Lieblingsversion von »Ave Maria«. Wie immer breitet sich dabei eine wohlige Gänsehaut auf meinem Körper aus. Ich weiß nicht, warum, aber irgendwie berührt mich der Song ganz besonders, wenn Nina Hagen ihn mit ihrer tiefen und ganz speziellen Stimme singt.

Da der Teig noch zu feucht ist, schütte ich etwas Mehl dazu. Schließlich knete ich Haselnüsse und Datteln unter, fülle die Masse in eine Stollenform und stelle sie in den Ofen.

Ich wische mir die Hände ab, lasse mich auf einen der Küchenstühle sinken und schaue zur Uhr. Kurz vor sieben, jeden Moment müsste Jörn hier auftauchen, um mir Einstein zu bringen. Kaum habe ich den Gedanken zu Ende gedacht, klingelt es zweimal ganz kurz hintereinander. Ich atme tief ein, zähle bis fünf, und prompt klingelt es zum dritten Mal. Manche Dinge ändern sich nie. Geduld war noch nie Jörns Stärke. Ich stehe auf, öffne die Tür und warte.

»Da bist du ja, du alter Ganove.« Mein Herz geht auf, als der Bobtail die Treppe herauf- und auf mich zugestürmt kommt. Er wackelt vor Freude mit dem ganzen Körper und springt an mir hoch. »Unten bleiben«, schimpfe ich. »Du bist ganz nass.« Ich schnappe nach dem Handtuch, das ich extra bereitgelegt habe, und rubbele Einstein ab.

»Hi!«, ertönt da eine dunkle Männerstimme.

Ich schaue auf und sehe Jörn in der Tür stehen. »Hallo.«

»Wir mussten leider etwas weiter weg parken.« Jörn schnuppert durch die Luft. »Gut riecht es hier. Was backst du?«

»Momentan ist Stollen im Ofen. Aber vorher habe ich schon Apfelbrot und ein paar Lebkuchen gebacken.«

»Mmh«, macht Jörn. »Das klingt gut.«

»Ist es«, entgegne ich knapp.

Jörn fährt sich durchs Haar, auf dem gerade die letzten Schneeflocken schmelzen. »Ach, Scheiße, Caro.«

Alarmiert horche ich auf. In seiner Stimme klingt ein etwas höherer Ton mit, er klingt wehleidig. »Ist was mit Einstein?« Er ist schon über zehn Jahre alt, seine linke Hüfte macht nicht mehr so mit, und in der letzten Zeit hat er schlecht gefressen.

»Nein. Es ist nur so, dass …« Er winkt ab. »Ach, schon gut.«

Ich zögere einen Moment, bevor ich einen Schritt zur Seite gehe. »Komm doch kurz rein.« Ich wuschele Einstein noch einmal durch das Fell. »Und du, ab mit dir, in dein Körbchen. Da wartet etwas Leckeres auf dich.«

Einstein schießt los. Wie immer rutscht er mit seinen Pfoten etwas weg, als er über die glatten Fliesen rennt, und ich nehme mir vor, endlich ein paar Teppichläufer zu besorgen.

Jörn geht hinter mir her in die Küche und lässt seinen Blick über das Chaos schweifen. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich das hier alles vermisse.« Er lächelt wehmütig. »Dein Stollen ist der beste, den ich je gegessen habe.«

»Ich schreibe Fiona gerne das Rezept auf.« Den Sarkasmus in meiner Stimme versuche ich gar nicht erst zu unterdrücken.

»Ja, du hast ja recht«, sagt Jörn. »Ich kann verstehen, dass du immer noch sauer bist. Ich habe es nicht anders verdient, aber …« Er lächelt schief und zuckt mit den Schultern.

»Wie kommst du darauf, dass ich immer noch sauer bin?«, frage ich. »Das würde heißen«, ich lächle zuckersüß, »dass du mir noch was bedeutest.«

»Autsch!«, sagt Jörn.

Das war gemein und so nicht ganz richtig. Ich habe jetzt ein halbes Jahr Zeit gehabt, um mich zu entlieben, aber es ist mir immer noch nicht ganz gelungen. Doch das muss ich Jörn nicht unbedingt auf die Nase binden. Mir liegt eine Entschuldigung für meine Bemerkung auf den Lippen, die ich mir jedoch im letzten Moment verkneife. Gerade noch rechtzeitig erscheint das Bild vor meinem inneren Auge, bei dem mir auch jetzt wieder die Galle hochkommt: Jörn und Fiona in inniger Umarmung und mit verschmolzenen Mündern im Vereinshaus unseres Sportvereins. Der Schmerz sitzt immer noch tief.

Ich betrachte meinen Noch-Mann einen Moment, schließlich seufze ich, gehe zum Kühlschrank, hole eine Flasche Apfelschorle heraus, gieße zwei meiner nigelnagelneuen Bechergläser damit voll und reiche ihm eins davon.

Jörn dreht das Glas in seinen Händen. »Deine Lieblingsfarbe. Blau.« Er lächelt schief und sieht sich noch einmal um. »Es ist wirklich schön hier. Die Küche passt zu dir.«

Ich ignoriere die Tatsache, dass Jörn sich plötzlich an meine Lieblingsfarbe erinnert, und betrachte ihn etwas genauer, während wir trinken. Mein Noch-Mann hat abgenommen und dunkle Ringe unter den Augen. Jörn stand seine Verfassung schon immer ins Gesicht geschrieben. Er sieht müde und traurig aus. Ob etwas mit seinen Eltern nicht stimmt? Sein Vater hat vor zwei Jahren einen Herzschrittmacher eingesetzt bekommen. Und seine Mutter kommt mit ihrem Diabetes nicht zurecht.

»Was ist los?«, frage ich.

Jörn zuckt mit den Schultern. Ich beobachte über den Gläserrand hinweg, dass seine Augenlider flattern. Irgendwas ist da passiert, da bin ich mir sicher.

»Fiona hat mich verlassen.«

Ich hätte nicht trinken sollen, nachdem ich Jörn die Frage gestellt habe. Sofort verschlucke ich mich und schaffe es gerade noch rechtzeitig bis zum Waschbecken, in das ich die Schorle pruste.

Als ich mich wieder aufrichte, zieht sich mein Oberbauch kolikartig zusammen.

»Scheiße«, fluche ich, krümme mich vor Schmerzen und schnappe nach Luft.

Jörn ist sofort zur Stelle.

Er legt seinen Arm um meine Schulter. »Was ist los? Muss ich einen Arzt rufen?«

»Quatsch«, ich schiebe seinen Arm von mir weg. »Das war ein Zwerchfellkrampf. Ich habe mich verschluckt und dabei zu viel Luft eingeatmet. In zwei Minuten geht es mir wieder gut.«

Jörn dreht sich um, geht zum Küchenschrank, zieht die zweite Schublade von oben auf, holt eine Serviette heraus und reicht sie mir. »Du bist ganz nass im Gesicht.«

»Nicht schlecht! Du stehst heute zum dritten Mal hier bei mir in der Küche und weißt, wo ich die Servietten aufbewahre.« Ich tupfe mir über das Gesicht. »Ich zieh immer noch eine Schublade nach der anderen auf, wenn ich irgendwas suche.«

»In unserer Wohnung hast du sie auch in der zweiten Schublade aufbewahrt. In die darüber hast du die Teelichte gepackt und darunter …« Er denkt einen Moment nach und lächelt. »… die Geflügelschere, den Nussknacker und andere Dinge, die wir nicht so oft gebraucht haben.«

»Stimmt.« Ein Lächeln huscht über mein Gesicht. Zum ersten Mal, seitdem Jörn hier ist, ist es echt. »Und wenn ich sie mal benutzen wollte, wusste ich trotzdem nicht, wo ich sie finde.«

»Ja, ich weiß.« Auch Jörn lächelt, aber seine Augen sind traurig.

Ich fühle kurz in mich hinein. Normalerweise müsste ich jetzt eine gewisse Schadenfreude verspüren, aber stattdessen ist es tatsächlich Mitleid, das in mir aufkeimt. Wahrscheinlich Berufskrankheit, denke ich. Ich bin immerhin Krankenschwester.

Da sagt Jörn: »Jetzt weiß ich, wie du dich gefühlt hast, als ich dich verlassen habe.«

Einen Moment lang fehlen mir die Worte. Aber schließlich sprudeln sie doch aus mir heraus. »Nein, weißt du nicht! Wir beide kennen uns seit acht Jahren, drei davon waren wir verheiratet. Wir haben gemeinsam eine Eigentumswohnung gekauft. Wir hatten vor, Kinder zu kriegen und gemeinsam alt zu werden. Bis dass der Tod uns scheidet, Jörn. Fiona und du, ihr hattet ein Dreivierteljahr, wenn ich die ersten drei Monate mitrechne, in denen ihr heimlich miteinander gevögelt habt.« Ich atme tief durch. »Nein, Jörn, du hast keine Ahnung, wie ich mich gefühlt habe – und immer noch fühle.«

»Ja, du hast natürlich recht, tut mir leid.« Jörn fährt sich durchs Haar. »Das war doof von mir.«

Ich nicke grimmig. »Gibt es was Neues vom Notar? Ist die Finanzierung genehmigt worden?«

»Genau darüber wollte ich eigentlich mit dir reden. Ich überlege, ob ich die Wohnung behalte und dich stattdessen ausbezahle.«

»Ist nicht dein Ernst! Jetzt, wo wir endlich Käufer gefunden haben?«

Jörn reibt sich über sein glattrasiertes Kinn. »Doch. Ich überlege, ob ich sie weiterfinanziere. Die dreißigtausend, die du durch den Verkauf erhalten hättest, überweise ich dir dann natürlich. Wäre das in Ordnung für dich?«

»Ja«, sage ich, ohne weiter darüber nachzudenken. »Es wäre für Einstein viel schöner. Dann hätte er weiterhin seinen geliebten Garten, wenn er bei dir ist.«

»Das stimmt.« Jörn grinst spitzbübisch. Die Grübchen in den Wangen und das Funkeln in seinen Augen habe ich immer geliebt. »Du hättest ihn mal sehen müssen, als er gestern Morgen über den Schnee gestürmt ist. Er hatte Spaß ohne Ende.«

»Stimmt das, Einstein?«, rufe ich, stelle aber im nächsten Moment fest, dass ich auch leise hätte fragen können. Denn der treue Bobtail steht schon im Durchbruch zwischen Wohnzimmer und Küche und wedelt mit dem Schwanz. Es hat ein paar Tage gedauert, bis er verstanden hat, dass die Küche keine Tür hat, aber er trotzdem nichts darin zu suchen hat. Aber nun hält er sich daran.

Ich öffne die Dose mit den Leckerchen, die immer griffbereit auf der Arbeitsplatte steht, und hole gerade einen Streifen getrocknetes Hähnchen heraus, da ertönt der Standardklingelton meines Handys.

»Die Klinik ruft«, sagt Jörn, und wahrscheinlich hat er recht. Allen Personen, mit denen ich häufiger telefoniere, habe ich personalisierte Klingeltöne zugeordnet. Jörn habe ich mittlerweile auch auf den Standardton gesetzt, nachdem ich ihm kurzzeitig eine weniger nette Variante verpasst hatte. Aber Jörn steht direkt neben mir. Er ist es also nicht, der mich gerade anruft. Ich drücke ihm das Leckerchen in die Hand und greife nach meinem Handy, das unter dem Fenster auf der Arbeitsplatte liegt. Auf dem Display blinkt tatsächlich die Nummer der Klinik auf.

»Fischer«, melde ich mich.

»Hallo, Caro, Lena hier.« Sie seufzt, und ich weiß in dem Moment, was kommt. »Gaby hat sich krankgemeldet.«

»Frühdienst?«

»Ja«, sagt Lena. »Tut mir echt leid.«

»Blödsinn, dafür kannst du doch nichts.«

»Du übernimmst also?«

»Natürlich.« Wie so oft in den letzten Jahren.

»Danke.« Lena atmet erleichtert auf. »Hier steppt mal wieder der Bär. Wir haben sieben Beatmungen. Deiner alten Dame geht es aber besser. Sie hat sich stabilisiert. Morgen kommt sie auf die normale Station – wenn nichts mehr dazwischenkommt.«

»Das ist gut.«

»Na gut, dann wünsch ich dir einen schönen und vor allem ruhigen Abend. Denk daran, dass die Straßen morgen früh wahrscheinlich glatt sind.«

»Und du komm gleich heil nach Hause. Bis dann«, verabschiede ich mich, trenne die Verbindung und lege das Handy wieder auf die Arbeitsplatte.

»Soll ich noch mal auf Einstein aufpassen?«, fragt Jörn. »Ich könnte ihn jetzt gleich wieder mitnehmen, dann müsstest du ihn nicht in aller Früh bei mir absetzen.«

»Morgen ist der letzte Schultag vor den Ferien. Ist da nicht immer eure kleine gemütliche Weihnachtsfeier nach dem Unterricht? Da bist du erst gegen fünf zu Hause, ich gegen halb drei.«

Jörns Gesichtsausdruck gleicht wieder dem eines verwundeten Rehs. »Ich melde mich krank. Mir geht es wirklich nicht so gut.«

»Mit der Diagnose Liebeskummer?«, frage ich.

»Nein, mit der Diagnose, dass ich den Fehler meines Lebens gemacht habe, als ich mich auf Fiona eingelassen habe. Du warst das Beste, was mir je passiert ist, und ich habe es vermasselt.«

»Sagst du jetzt, nachdem Fiona dir den Laufpass gegeben hat.«

»Sie ist gegangen, weil sie glaubt, dass ich dich immer noch liebe und noch nicht bereit bin für eine neue Beziehung.«

Jörn sieht mich an und wartet auf meine Reaktion. Ich jedoch warte darauf, was als Nächstes kommt, und schweige.

Er räuspert sich. »Und damit hat sie ja nicht unrecht. Genau genommen habe ich nie aufgehört, dich zu lieben. Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich das alles bereue.« Er lächelt schief. »Ich bin echt ein Idiot. Ich hab’s versaut.«

»Ja, das hast du.« Auf Jörns Liebesbekenntnis gehe ich nicht ein. Das muss ich erst mal sacken lassen. »Sei mir nicht böse, wenn ich dich jetzt rausschmeiße«, sage ich stattdessen. »Aber du hast ja gehört, dass ich morgen ganz früh raus muss.« Ich deute mit dem Kopf zur Arbeitsplatte. »Und das Chaos muss ich auch noch beseitigen.«

»Soll ich dir vielleicht helfen?«, bietet Jörn sich sofort an.

»Nein, lass mal.« Ihm muss es wirklich schlecht gehen. Früher hat er sich immer gedrückt, wenn es ums Putzen ging. »Das machst du, indem du morgen auf Einstein aufpasst. Aufräumen kann ich allein.«

»Na gut«, sagt Jörn und setzt wieder den wehleidigen Gesichtsausdruck auf.

Als wir rüber ins Wohnzimmer gehen, um Einstein zu holen, der wieder in seinem Körbchen liegt, bleibt Jörns Blick am Esstisch hängen. Dort habe ich meine Elisenlebkuchen und das Apfelbrot zum Auskühlen auf Gittern stehen.

»Mh«, macht er und deutet mit dem Kopf auf die Lebkuchen. »Die sehen aber lecker aus. Weiße Schokolade. Was steckt darunter?«

»Pistazien, Mandeln, püriertes Zitronat«, erkläre ich. »Die mit der dunklen Schokolade sind mit Walnüssen, Haselnüssen und püriertem Orangeat, und in denen mit Vollmilch stecken Haselnüsse, Mandeln und gehackte Belegkirschen. Willst du welche mitnehmen?«

Ein Lächeln breitet sich auf Jörns Gesicht aus. »Da sage ich auf keinen Fall Nein.«

Ich gehe zum Schrank. Wo ich die Butterbrottüten aus Papier aufbewahre, weiß ich. Die brauche ich fast jeden Tag.

Zehn Minuten später klappt die Wohnungstür zu. Mein Noch-Mann ist samt Hund, sechs Lebkuchen und einem halben Apfelbrot wieder verschwunden.

2. Kapitel

Aus dem Lautsprecher ertönt Norah Jones’ Version von »Silent Night«. Es wäre mir lieber gewesen, Jörn hätte seine Gefühle für sich behalten. Es macht es noch schwerer zu verstehen, warum er unsere Ehe wegen einer Frau wie Fiona beendet hat. Ich konnte sie noch nie leiden. Auf mich wirkte sie immer aufgesetzt mit ihrer ewig guten Laune. Aber Jörn war der Spaß wichtiger als meine ehrlichen Gefühle. Und letztendlich hat er sich durch ihr attraktives Äußeres blenden lassen, da bin ich mir sicher.

Scheiße, denke ich. Jetzt kämpfe ich doch wieder gegen die Tränen an, obwohl ich schon seit sechs Wochen nicht mehr geheult habe und sozusagen »clean« bin. Übermorgen ist Heiligabend. Es ist das erste Jahr, in dem ich mich für alle drei Weihnachtstage freiwillig zum Dienst gemeldet habe.

»Reiß dich zusammen, Caro!«, sage ich laut zu mir selbst, krempele die Ärmel meines Pullovers hoch und mache mich an die Arbeit.

Es ist schon nach neun, als ich endlich fertig bin. Ich habe aufgeräumt, meinen rot-grün gestreiften Flanellpyjama und dicke Wollsocken angezogen und sitze mit einer dampfenden Tasse Kakao im Schneidersitz auf meiner Couch. Auf dem Esstisch steht jetzt auch ein großer Stollen, den ich gleich nach dem Backen mehrmals mit Butter eingepinselt und mit einer dicken Schicht Puderzucker bestäubt habe. Gut, dass ich noch nicht fertig war, als Jörn vorhin hier war. Doof, wie ich bin, hätte ich ihm wahrscheinlich auch davon die Hälfte mitgegeben.

Eigentlich ist mir nach einem guten Glas Rotwein zumute, vielleicht sogar nach einer ganzen Flasche oder nach etwas noch Stärkerem, wie einem ordentlichen Schuss Rum oder Whiskey im Kakao. Aber zumindest in dieser Hinsicht bleibe ich stets konsequent. Wenn ich am nächsten Tag arbeiten muss, trinke ich nicht. Die Verantwortung, die auf mir lastet, ist groß. Ein Fehler kann jedem passieren, aber ich würde mir niemals verzeihen, wenn er mir fahrlässig unterlaufen würde, weil ich mir am Abend davor den Kopf leicht getrunken habe.

Stattdessen greife ich zu meinem Handy und schreibe eine Nachricht an meine Freundin. Ein Gespräch mit Jana wirkt besser als jeder Schwips.

Ich habe es schon wieder getan, tippe ich in mein Telefon, setze einen entsetzt dreinblickenden Smiley dahinter und drücke auf Senden.

Auf meine Freundin ist Verlass. Nur knapp eine Minute später geht mein Handy, und die Stimmen von Fanta Vier und Clueso erfüllen den Raum. Wir sind zusammen groß, wir sind zusammen alt, komm, lass ’n bisschen noch zusammenbleiben

»Sag nichts! Ich weiß, was passiert ist. Du hast ihn ganz sicher mit Weihnachtsplätzchen versorgt«, legt Jana sofort los.

»Du hast es erfasst«, gebe ich zerknirscht zu.

»Mensch, Caro! Beim letzten Mal hast du ihm einen Topf Linsensuppe mitgegeben. Und davor war es, lass mich überlegen, ein Stück Baumkuchen. Okay, der war für seine Mutter, die ihn so gerne isst. Sie kann nichts dafür, dass ihr Sohn dich betrogen und verlassen hat. Wobei ich mir dabei nicht so sicher wäre, denn immerhin ist sie seine Mutter und hat ihn erzogen. Über die Linsensuppe haben wir schon gesprochen. Wir waren uns einig, dass du einfach schlecht nein sagen kannst und dass du sie ihm stattdessen hättest über den Kopf schütten müssen.« Sie seufzt. »Wie hat der Blödmann sich die Plätzchen erschlichen? Und jetzt sag mir bitte nicht, weil er auf Einstein aufgepasst hat. Es ist zwar dein Hund, aber dein Ex hängt auch an ihm und darf genau genommen froh sein, dass du ihm den Racker ab und an überlässt.«

»Irgendwie hat er mir leidgetan. Fiona hat ihn verlassen«, sage ich, nachdem meine Freundin ihren Dampf abgelassen hat.

»Scheiße!«, ist die prompte Antwort. Jana schnalzt mit der Zunge. »Aber war doch irgendwie allen klar, dass das nicht lange hält. Hat sie einen anderen?«

»Weiß ich nicht. Jörn hat gesagt, sie sei gegangen, weil er noch zu sehr an mir hängen würde.«

»Ja, klar, wie sehr, hat er ja eindrucksvoll bewiesen. Sag bloß, du glaubst den Scheiß.«

»Nein, aber es hat mich ehrlich gesagt ganz schön ins Schleudern gebracht, als er gesagt hat, er habe nie aufgehört, mich zu lieben.«

»Und das fällt ihm taktisch klug ein, nachdem seine neue Ische ihn abgeschossen hat. Nur mal so zur Erinnerung für dich, damit du gar nicht erst auf falsche Gedanken kommst: Dein Ehemann hat dich betrogen. Du hast die Größe gehabt, ihm das zu verzeihen, und hast ihm angeboten, mit dir eine Ehetherapie zu machen. Die Bedingung war, dass er sie nicht wiedersieht. Er hat zugestimmt. Dir ging es die ganze Zeit schlecht, weil du im Gefühl hattest, dass er sie trotzdem noch trifft. Einen Tag vor dem ersten Therapietermin hat er dir dann eröffnet, er würde nicht mitkommen, weil die doofe Kackbratze ihm doch mehr bedeutet, als er angenommen hat. Anstatt ihn rauszuschmeißen, hast du deine Sachen gepackt und bist vier Monate bei mir eingezogen. In der Zeit hast du die ersten beiden Monate entweder gearbeitet oder geheult. Den dritten Monat hast du gearbeitet und nur noch manchmal geheult. Den vierten Monat hast du gearbeitet und nur noch selten geheult, weil du stattdessen wütend warst. Das war der Monat, der mir am besten gefallen hat. Mittlerweile ist es ein halbes Jahr her, du hast eine wunderschöne eigene Wohnung, bist relativ gelassen, heulst nicht mehr und fängst an, die Situation auch mal positiv zu sehen.« Jana schnaubt laut. »Du weißt, dass ich mir nichts mehr wünsche, als dich glücklich zu sehen. Aber ich denke nicht, dass dir das mit Jörn gelingen wird. Ich mag ihn, er ist an sich ein netter Kerl. Aber unabhängig von dem Scheiß, den er gebaut hat, und dass es verdammt schwer sein wird, wieder Vertrauen aufzubauen, sehe ich da noch einen ganz anderen großen Haken.« Jana legt eine kleine bedeutungsvolle Pause ein. »Jörn hat dich nie wirklich verstanden.«

»Danke, genau das wollte ich hören.«

»Ich weiß, gern geschehen.« An Janas Tonfall kann ich hören, dass sie gerade grinst. »Habe ich schon erwähnt, dass es ihm recht geschieht und der Vollhorst es nicht besser verdient hat?«

»Nein, hast du nicht. Aber jetzt, wo du es sagst, sehe ich es auch so.« Ich schüttele unwillkürlich den Kopf. »Vorhin habe ich tatsächlich einen Anflug von Mitgefühl in mir gespürt. Er sah echt traurig aus.«

»Das ist einer der Gründe dafür, warum ich dich so sehr liebe, Caro. Du fühlst mit und vergisst dabei dich selbst. Oder …« Sie schnalzt mit der Zunge. »Oder du bist weit mehr darüber weg, als dir klar ist. Du liebst ihn nicht mehr.«

»Meinst du?« Ich lasse Janas Worte einen Moment nachklingen. Habe ich mich tatsächlich entliebt?

»Ja! Und jetzt zu den wichtigen Dingen«, sagt Jana da und lacht. »Sind die Lebkuchen gut?«

»Natürlich sind sie das. Willst du probieren?«

»Was für eine Frage! Morgen zum Frühstück? Ich bringe Brötchen mit – und Handschuhe. Wir könnten auf der Wiese vor deinem Haus einen Schneemann bauen – oder eine Schneefrau mit dicken Brüsten. Weißt du noch, wie entsetzt eure Nachbarin war, als sie aus dem Fenster gesehen hat und unser wunderschönes Doppel-E-Modell im Garten deiner Eltern entdeckt hat?«

»Klar. Das werde ich nie vergessen. Meine Mutter war damals auch nicht gerade begeistert. Vielleicht hätten wir unserer Schneedame nicht den BH meiner Oma anziehen sollen«, sage ich und grinse.

»Ich bin mir sicher, wir hätten mehr Ärger bekommen, wenn wir ihr dazu noch den Joint in den Mund gesteckt und angezündet hätten«, feixt Jana, »so, wie du das vorhattest, meine Liebe.«

»Sweet sixteen, das waren noch Zeiten.« Ich seufze tief auf. »Damals war die Welt noch in Ordnung.«

»Das ist sie doch heute auch wieder. Bisher haben wir noch jede Krise gemeinsam überstanden. Wir sind beide gesund. Und wenn alle Stricke reißen, haben wir immer noch uns. Wenn wir alt sind, ziehen wir gemeinsam in eine Seniorinnen-WG, bauen jeden Winter Schneefrauen mit Mördermöpsen und fangen wieder an zu kiffen.«

»Guter Plan.«

»Absolut! Und, was ist jetzt mit morgen, frühstücken wir? So gegen zehn?«

»Das geht leider nicht. Ich habe vorhin einen Anruf aus der Klinik bekommen, eine meiner Kolleginnen ist krank. Ich werde ihren Dienst übernehmen.«

Es ist einen Moment still am anderen Ende der Leitung. »Gesund ist das auf Dauer aber nicht, Caro. Das weißt du, oder? Du musst dich auch mal ausruhen. Ich kann ja verstehen, dass du dich in Arbeit gestürzt hast, um Jörn zu vergessen. Aber jetzt musst du wirklich wieder anfangen, mehr an dich zu denken. Nicht, dass du mir am Ende noch zusammenklappst. Ich brauch dich noch.«

»Ich weiß, aber momentan ist der Krankheitsstand leider sehr hoch. Alle kämpfen mit irgendwelchen Infekten. Meine Kolleginnen springen auch so oft ein. Wenn man den Dienst auf der Station mit nur einer Kraft weniger schaffen muss, schlaucht das alle. Es ist also effektiver, wenn nur eine in den sauren Apfel beißt. Und das bin in dem Fall ich.« Außerdem hat es sich über all die Jahre so eingespielt. Die Überstunden gehören einfach dazu. »Nach Weihnachten habe ich eine Woche Urlaub. Da werde ich einfach mal die Seele baumeln lassen.«

»Du solltest trotzdem noch mal über eine berufliche Veränderung nachdenken. Du hast doch schon oft gesagt, dass dich die Arbeitssituation dort zu sehr belastet. Was ist mit Berufsschule? Du könntest in die Ausbildung gehen und angehende Krankenschwestern unterrichten«, schlägt Jana vor. Sie ist Lehrerin, wie Jörn. Auch er hat mir immer mal wieder nahegelegt, in die Ausbildung zu wechseln.

»Ich bin gerne Krankenschwester. Unterrichten kann ich mir, zumindest im Moment, nicht vorstellen.«

»Dann wechsele von der Intensivstation auf eine normale. Oder du studierst doch noch Medizin. Du hast inzwischen auf jeden Fall mehr als genug Wartesemester.«

»Super, dann bin ich fast vierzig, bis ich mit meiner Ausbildung komplett fertig bin. Davon mal ganz abgesehen, geht es mir als Ärztin auch nicht besser. Da schiebst du genauso viele Überstunden und Nachtdienste.«

»Dann wirst du eben Landärztin. Letzens habe ich gehört, dass dringend Mediziner gesucht werden. Unser Hausarzt hier sieht schon ziemlich alt aus. Der hört bestimmt bald auf. Davon mal ganz abgesehen, gibt es momentan rund um Bocholt fünfzehn Niederlassungsmöglichkeiten, die sofort besetzt werden könnten. Und das Studium wird irgendwie gefördert, weil so viele Landärzte fehlen. Darüber habe ich vor Kurzem erst einen Bericht gelesen.«

»Du kennst dich ja gut aus«, stelle ich fest und schmunzele. Seit Jörn Geschichte ist, versucht Jana immer mal wieder, mich davon zu überzeugen, in ihre Nähe zu ziehen. Sie hat damals nicht gezögert, als sie nach dem Referendariat eine Stelle in Bocholt angeboten bekommen hat. Aber irgendwie hängt mein Herz an Oberhausen. Außerdem wohnen meine Eltern und meine Großeltern mütterlicherseits hier.

»Davon mal ganz abgesehen, bist du nicht zu alt für einen Neuanfang. Erstens ist man das nie, und zweitens wärst du gerade mal sechsunddreißig, wenn du zehn Semester Studienzeit rechnest. Denk wenigstens noch mal darüber nach, Caro. Du bringst deine Erfahrung als Intensivkrankenschwester mit und wärst ganz sicher eine fantastische Ärztin. Das wolltest du doch früher immer.«

»Du meinst, als wir noch Schneedamen mit Übergrößen-BHs gebaut haben.«

»Ja, und noch einige Jahre danach. Aber irgendwie bist du dann in deinem Job hängen geblieben. Apropos Job. Gut, dass morgen mein freier Tag ist und somit die Schulferien für mich schon früher beginnen. Ich muss noch ein paar Geschenke besorgen und hätte mich morgen nach dem Frühstück bei dir ins Centro gewagt, die letzten Weihnachtseinkäufe erledigen. Was hältst du davon, wenn wir aus dem Frühstück ein Kaffeetrinken machen? Dann geh ich erst einkaufen und wäre dann so gegen halb vier bei dir. Passt das?«

»Ja, das ist eine schöne Idee«, sage ich.

Da klingelt plötzlich jemand an der Tür.

»Wer ist das denn?«, fragt Jana. »Jörn?«

»Keine Ahnung. Bleib dran, ich nehm dich mit.«

»Es ist Frau Matuschyk, eine Nachbarin aus dem Erdgeschoss«, sage ich, nachdem ich durch den Türspion gesehen habe.

»Guten Abend.« Die alte Dame lächelt mich zaghaft an. »Ich störe Sie nur ungern, aber als wir uns gestern so nett in der Waschküche unterhalten haben, haben Sie mir erzählt, dass Sie als Krankenschwester arbeiten. Und jetzt ist es nämlich so, dass ich mir Sorgen um meinen Mann mache. Er klagt über Brustschmerzen, möchte aber nicht, dass ich einen Notarzt rufe.«

»Ist Ihnen noch etwas an Ihrem Mann aufgefallen?«, frage ich, während ich in meine Schlappen schlüpfe. »Hat er auch Schmerzen im linken Arm?«

»Davon hat er nichts gesagt. Aber er ist ganz blass und nassgeschwitzt.«

»Ich ruf dich später noch mal an, Jana.« Ohne weiter zu zögern, drücke ich meine Freundin weg. Herr Matuschyk sitzt auf einem Sessel und atmet schwer. Er ist, wie seine Frau gesagt hat, komplett nassgeschwitzt und kreidebleich im Gesicht.

»Guten Abend, Herr Matuschyk, ich bin Caro Fischer, die Nachbarin von ganz oben. Ihre Frau hat mich geholt, weil sie sich Sorgen um Sie macht. Ich bin Intensivkrankenschwester und wollte mal nach dem Rechten schauen. Haben Sie starke Schmerzen, Herr Matuschyk?«

»Auf meiner Brust sitzt ein Elefant. Ich bekomme keine Luft mehr. Meine Schultern tun weh und mein linker Arm auch.«

Herzinfarkt, denke ich. Er hat Todesangst. Ich greife zum Handy, rufe einen Rettungswagen und ordere dazu einen Notarzt, bevor ich mich wieder an Herrn Matuschyk wende. »Hilfe ist schon unterwegs, Herr Matuschyk.« Ich lächle ihn an, öffne die oberen Knöpfe seines Hemdes und sage zu seiner Frau: »Sind Sie so lieb und holen einen lauwarmen Waschlappen, gut ausgewrungen.« Das ist nicht notwendig, lenkt sie aber ab, und sie hat etwas zu tun.

Sie nickt und verschwindet sofort im Bad. Ich schaue auf meine Uhr, zähle dabei die Pulsschläge des Mannes und hoffe inständig, dass der Rettungswagen und der Notarzt trotz des Schneefalls schnell eintreffen werden.

»Hier.« Auch Frau Matuschyk ist kreidebleich im Gesicht, als sie mir den Waschlappen reicht. »Der Rettungswagen wird jeden Moment hier sein«, erkläre ich ihr. »Haben Sie Verwandte in der Nähe? Kinder?«

»Eine Tochter, sie wohnt in der Bottroper Straße, in Richtung Vonderort.«

»Gut, das ist ja nicht weit. Sie sollten sie anrufen und ihr sagen, dass ihr Vater gleich ins Krankenhaus gebracht werden wird. Vielleicht kann sie Sie hier abholen, und Sie fahren gemeinsam hinterher.«

Frau Matuschyk nickt wieder. Kurz darauf höre ich, wie sie im Flur telefoniert.

»Es dauert nicht mehr lang, Herr Matuschyk. Der Arzt müsste jeden Moment hier sein.« Ich tupfe ihm mit dem Waschlappen über die Stirn und lege meine Hand auf seine Schulter. »Nehmen Sie irgendwelche Medikamente ein?«

»Nein, bisher war ich immer kerngesund.«

»Das ist gut. Ich weiß, dass es Ihnen gerade schwerfällt, aber versuchen Sie möglichst ruhig zu atmen. Ich bleibe bei Ihnen und passe auf, bis der Rettungswagen da ist.«

Er nickt und greift nach meiner Hand. Ich drücke sanft zu und streiche mit dem Daumen über seinen Handrücken.

»Meine Tochter kommt sofort«, sagt Frau Matuschyk da. »Claudia ist gleich da, Erwin.«

»Schön, dann ziehen Sie sich jetzt eine dicke Jacke über, Frau Matuschyk, und stellen sich unten vor die Haustür. Winken Sie, wenn der Rettungswagen kommt. Und knipsen Sie das Licht wieder an, wenn es ausgeht, damit man Sie sofort sieht.«

Nur kurze Zeit später trifft der Notarzt fast zeitgleich mit dem Rettungswagen ein. Ich schaue auf die Uhr, sechs Minuten, das ging schnell. Erleichtert atme ich auf.

Eine knappe Viertelstunde später ist Herr Matuschyk notfallmäßig versorgt.

»Wo bringt ihr ihn hin?«, frage ich einen der Rettungssanitäter, als Herr Matuschyk auf die Trage gehievt wird.

»Ins Clemens.«

»Da arbeite ich auch. Ich habe ab sechs Uhr Dienst. Dann sehen wir uns morgen früh, Herr Matuschyk.«

»Ihr Wort in Gottes Ohr.«

Das hat bei mir noch nie funktioniert. Aber auf mein Gefühl konnte ich mich schon immer gut verlassen. »Wir sehen uns!«, wiederhole ich noch einmal. »Und seien Sie doch so lieb, und sagen Sie meinen Kolleginnen bitte liebe Grüße von mir und dass ich morgen frisch gebackenen Stollen mitbringe.«

Herr Matuschyk nickt – und lächelt, unglücklich, aber immerhin versucht er es.

»Halt die Ohren steif, alter Ganove!« Im Hausflur ist die Tür der Nachbarn aufgegangen. Ein älterer Mann mit Glatze steht in einem blauen Trainingsanzug in der Türöffnung. Dahinter sehe ich seine Frau. Auch sie habe ich schon das eine oder andere Mal in der Waschküche oder im Hausflur getroffen. Sie macht einen langen Hals, sagt aber nichts.

»Kommen Sie, Frau Matuschyk.« Ich ziehe meine Nachbarin sanft zurück in die Wohnung. »Packen Sie für Ihren Mann alles Nötige zusammen, was er für das Krankenhaus braucht. Schlafanzug, Zahnputzzeug, Hausschuhe …«

Fünf Minuten später ist die Tochter eingetroffen, und Frau Matuschyk hat eine provisorische Tasche gepackt.

»Danke.« Die Tochter reicht mir die Hand.

»Nicht dafür«, sage ich, da fällt mir plötzlich siedend heiß ein, dass ich meine Tür oben zugezogen habe. »Mist, ich habe keinen Schlüssel mitgenommen.«

»Sie können gerne hierbleiben, Schätzchen.« Frau Matuschyk lächelt mich an. »Wir haben auch ein Gästezimmer.«

»Das ist lieb, danke. Meine Eltern und meine Freundin haben einen Ersatzschlüssel. Es würde mir reichen, wenn ich so lange bleiben könnte, bis mir jemand den Schlüssel bringt.«

»Das ist doch selbstverständlich.« Meine Nachbarin zeigt auf einen großen Plätzchenteller auf dem Couchtisch. »Heute ganz frisch gebacken. Bedienen sie sich.« Ein letztes Mal lächelt sie mich an, bevor sie mit ihrer Tochter ins Krankenhaus fährt.

3. Kapitel

Ich stehe in Flanellpyjama, Wollsocken und Schlappen im Wohnzimmer meiner Nachbarn. Im Fernsehen liefern sich Sean Connery und ein paar Bösewichte gerade eine waghalsige Verfolgungsjagd. Mir ist kalt, obwohl es in der Wohnung sehr warm ist und die Heizung wahrscheinlich auf Hochtouren läuft, so wie bei meinen Großeltern immer. Ich schaue mich einen Moment um, entdecke eine hellbraune Wolldecke auf der Couch, wickle mich darin ein und rufe bei meinen Eltern an. Sie wohnen in Oberhausen. Janas Weg ist weiter. Von Bocholt bis hierher sind es etwa fünfzig Kilometer. Bei dem Wetter braucht sie jetzt bestimmt eine Stunde.

»Papa, hier ist Jana, ich habe mich ausgesperrt und sitze bei einer Nachbarin. Könnt ihr mir vielleicht meinen Schlüssel bringen?«

Es bleibt einen Moment still am anderen Ende der Leitung. »Deine Mutter ist mit ihrem Kegelclub unterwegs – und ich kann nicht mehr fahren.«

Wie jeden Abend, denke ich. Nur ein, zwei Flaschen Bier und danach ein Schnäpschen – oder auch mal ein paar mehr.

»Dann rufe ich Jana an.«

»Warte mal«, sagt mein Vater da. »Ich schick dir jemanden von Pröse vorbei. Die können ja auch mal einen Schlüssel ohne Fahrgast transportieren.«

»Gute Idee.« Der Taxianbieter befindet sich in unmittelbarer Nähe meiner Eltern. »Dann musst du das Taxi aber im Voraus bezahlen. Ich habe kein Geld dabei.«

»Mach ich gerne, Schatz. Wie lautet noch mal deine neue Adresse? Ich habe die Hausnummer vergessen.«

Typisch mein Vater, denke ich, gebe sie ihm durch, bitte ihn, sich gleich noch mal zu melden, wenn er weiß, wann das Taxi kommt, setze mich auf die Couch und lasse meinen Blick durch das Zimmer schweifen. Es ist ähnlich eingerichtet wie das meiner Großeltern. Eiche rustikal, denke ich und nehme mir ein Vanillekipferl vom Plätzchenteller. Nur kurz darauf meldet sich mein Vater.

»In fünfzehn bis zwanzig Minuten ist jemand da.«

»Danke, Papa.«

»Ich sage deiner Mutter, dass sie sich gleich noch mal melden soll, wenn sie zurück ist.«

»Dann liege ich bestimmt schon im Bett, ich habe morgen Frühdienst.«

»Ich schaue mir gerade einen James-Bond-Film an.« Diese Aussage scheint nur im ersten Moment völlig aus dem Zusammenhang gerissen. Mein Vater will mir damit sagen, dass er jetzt auflegen möchte. Ein großartiger Telefonierer war er noch nie.

»Okay, danke noch mal, Papa. Ich melde mich morgen bei Mama.«

Mein Vater ist ein guter Mensch. Er kommt nur nicht damit klar, dass er schon mit siebenundfünfzig Jahren Frührentner ist. Aber nach dem zweiten Bandscheibenvorfall musste er seinen Beruf als Fliesenleger vor einem Jahr an den Nagel hängen. Meine Mutter arbeitet in der Pflege. Wenn sie so weitermacht, ist sie die Nächste, die Rückenprobleme bekommt. Und ich wahrscheinlich auch, denke ich, vielleicht sollte ich doch mal darüber nachdenken, in die Ausbildung zu gehen. Das mit dem Studium kann ich mir momentan nicht vorstellen. Ich greife nach meinem Handy und rufe Jana an. »Hi, ich bin’s wieder. Was meine Nachbarin gesagt hat, hast du ja noch gehört. Es ging ihrem Mann wirklich nicht gut. Herzinfarkt. Er ist jetzt auf dem Weg ins Krankenhaus …«

Ich erzähle meiner Freundin, was sich eben ereignet hat, und bin froh, als endlich der Taxifahrer vor der Tür steht, der mir grinsend meinen Schlüssel überreicht.

Zurück in der Wohnung der Matuschyks finde ich auf der Kommode im Flur gleich neben dem Festnetztelefon einen Block und einen Stift, mit dem ich eine Nachricht an meine Nachbarin schreibe.

Liebe Frau Matuschyk,

ich hoffe, dass es Ihrem Mann den Umständen entsprechend gut geht. Sie können jederzeit bei mir klingeln, wenn Sie etwas brauchen – auch wenn es nur ein wenig seelischer Beistand ist.

PS: Ihre Vanillekipferl schmecken köstlich. Verraten Sie mir das Rezept?

Herzliche Grüße

Ihre Nachbarin von oben, Caro Fischer

Ich lege den Zettel gut sichtbar auf den Wohnzimmertisch, knipse den Fernsehapparat aus, schließe die Tür hinter mir und gehe hoch in meine Wohnung.

Es ist halb elf, ehe ich hundemüde, aber immer noch aufgekratzt von den Ereignissen des Tages, im Bett liege.

Wie immer versuche ich vor dem Einschlafen, meine Gedanken zu sammeln und an die positiven Dinge zu denken, die mir heute passiert sind. Ich habe eine wundervolle Freundin. Frau Matuschyk hat sich wahrscheinlich gerade noch rechtzeitig dazu entschieden, Hilfe für ihren Mann zu holen. Meine neuen Lebkuchenvarianten sind einmalig lecker. Beim nächsten Gedanken zögere ich einen Moment. Jörn hat mir gesagt, er habe nie aufgehört, mich zu lieben. Ich fühle noch einmal ganz tief in mich hinein. Freue ich mich darüber? Oder habe ich mich tatsächlich endlich entliebt, wie Jana vermutet? Und steckt vielleicht doch ein Fünkchen Genugtuung oder Schadenfreude hinter dem guten Gefühl, das sein Geständnis in mir auslöst? Hat Jana recht? Hat Jörn es nicht anders verdient?

Ich kuschele mich in meine Decke und rolle mich zur Seite. Mein Bett ist einen Meter vierzig breit. Nicht zu groß für eine einzelne Person, aber breit genug, falls ich doch mal – irgendwann in ferner Zukunft – überraschend Besuch erhalte.

Die erste Nacht hat Jana hier im Bett mit mir in meiner neuen Wohnung geschlafen. Ich hatte mir die ersten drei Tage nach dem Umzug freigenommen. Da ich noch keine Gläser hatte, haben wir Wein aus Kaffeebechern getrunken, und am nächsten Morgen sind wir beide mit einem mächtigen Kater aufgewacht. Vier Wochen später hat Jana mir erzählt, dass sie vorerst keinen Alkohol mehr trinken wird, da sie schwanger ist und ich Patentante werde. Mein letzter positiver Gedanke gilt dem kleinen Menschenwesen, das unter dem Herzen meiner Freundin heranwächst.

Im Sommer fällt es mir leichter aufzustehen, wenn der Wecker morgens oder besser gesagt mitten in der Nacht klingelt. Aber das geht wahrscheinlich jedem so. Es ist halb fünf. Mein Dienst beginnt um sechs. Normalerweise brauche ich um diese Uhrzeit fünfzehn Minuten bis zur Klinik. Aber heute habe ich aufgrund des Wetters einen Puffer eingebaut. Ich strecke mich noch einmal, bevor ich aufstehe. In der Küche höre ich schon den Kaffee vor sich hin brühen. Ich habe mir einen schlichten Filterautomaten zugelegt, der über eine Zeitschaltuhr verfügt. Wenn ich zwischendurch Lust auf einen Kaffee bekomme, brühe ich ihn ganz altmodisch mit der Hand und einem Porzellanfilter auf. Die Hightech-Maschine habe ich Jörn überlassen. Mir war sie sowieso immer zu kompliziert.

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