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Carl Spitteler

Als Buch hier erhältlich:

2019 jährt sich die Verleihung des Nobelpreises für Literatur an den Schweizer Autor Carl Spitteler zum hundertsten Mal – willkommener Anlass, an den vielseitigen Erzähler und seine noble Gesinnung zu erinnern und sich mit seinem vielseitigen Werk zu befassen. Anhand eines Querschnitts und kundiger Einleitungen machen die Herausgeber Stefanie Leuenberger, Philipp Theisohn und Peter von Matt das Denken und Wirken dieses herausragenden Mannes zugänglich und vergegenwärtigen ihn als streitbaren, vernunftbetonten Individualisten – Meilenstein der Schweizer Moderne von überraschender Aktualität.


  • Erscheinungstag: 11.03.2019
  • Seitenanzahl: 472
  • ISBN/Artikelnummer: 9783312011223

Leseprobe

Nagel & Kimche E-Book
Herausgegeben von Peter von Matt

Carl Spitteler

Dichter, Denker, Redner

Eine Begegnung mit seinem Werk

 

 

Herausgegeben von Stefanie Leuenberger, Philipp Theisohn und Peter von Matt

Vorwort von Peter von Matt

Erläuterungen von Stefanie Leuenberger

Nachwort von Philipp Theisohn

Vorwort von Peter von Matt

Spittelers Spektrum

Er hat nie ein Blatt vor den Mund genommen und ist doch schwer zu fassen.

Über die bürgerlich-solide Schweiz schrieb er eines der frechsten Bücher, den Roman Imago, mit nadelspitzen Bosheiten, wie sie erst ein halbes Jahrhundert später in Max Frischs Stiller wieder aufblitzen, und doch gilt er weit herum als ein Retter des Vaterlandes, der in gefährlicher Stunde die zerstrittene Eidgenossenschaft mit einer besorgten Rede zur Einheit aufrief. Seine patriotische Ballade «Die jodelnden Schildwachen» blieb jahrzehntelang populär, aber schon beim zweiten Lesen beschleicht einen der Verdacht, sie könnte auch eine Parodie auf alle vaterländische Lyrik sein.

Was literarisch im Trend lag, kümmerte ihn wenig. Er beherrschte das realistische Erzählen der Gotthelf-, Keller- und Meyer-Zeit und griff darauf zurück, wenn es ihm Spaß machte, eine verbindliche Norm war es ihm längst nicht mehr. Der aufbrechende Modernismus um 1900 mit den spektakulären Bewegungen der Futuristen, Expressionisten und Dadaisten ließ ihn kalt. Immer suchte er mit grimmiger Lust seinen eigenen Weg. Aber weil er damit allein war, konnte keine Bewegung daraus werden, keine Schule.

So gab es denn auch für sein gewaltiges Werk Olympischer Frühling nie eine prägende Bezeichnung. Man sprach zwar von einem modernen Epos, aber dies bezog sich nur auf die äußere Form, nicht auf den künstlerischen und denkerischen Wurf. Das Fehlen eines klaren Begriffs für die ästhetische Identität des Olympischen Frühlings mag mit ein Grund gewesen sein dafür, dass das Werk, nach großem Erfolg, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus dem literarischen Bewusstsein verschwand. Dabei hatte Spitteler den Nobelpreis 1919 ausdrücklich für diese Leistung erhalten.

Die mythische Chiffre seines Lebens wie seines Schaffens ist der trotzige Einzelne, der sich seine Bahn bricht durch die Masse der Gleichgeschalteten, allein mit einem unzähmbaren Willen. Das war weit näher beim Denkbild des «Renaissancemenschen» seines Lehrers Jacob Burckhardt als beim demokratischen Empfinden der Schweiz – allerdings ohne die Amoralität jener berühmten historischen Konstruktion. Amoralisch ist bei Spitteler weit eher die von ihren Konventionen gelenkte Gesellschaft, wo man Gut und Böse rasch nach dem Wind hängt, wenn es nur alle andern auch tun. Es lohnt sich, daraufhin das Kapitel «Die Menschen» im fünften und letzten Teil des Olympischen Frühlings zu lesen.

Heute ist Spitteler vorab der Mann, der «Unser Schweizer Standpunkt» geschrieben und als Rede gehalten hat. Wir wissen, dass er zögerte, dies zu tun. Er war in Deutschland berühmt. Eine Verweigerung der Parteinahme für das Kaiserreich konnte ihn um eine breite Leserschaft bringen. Er tat es trotzdem. Einmal mehr setzte sich sein Eigenwille durch, die Lust am Risiko. Er gewann damit einheimischen Ruhm, verlor aber seine solide Präsenz in der deutschen Literatur. Der Maler Hodler, dem es ähnlich ging, ist heute europaweit wieder anerkannt. Könnte das nicht auch mit Spitteler geschehen? Vielleicht käme es dazu, wenn es einigen Fachleuten dämmerte, dass der Olympische Frühling das spektakulärste Ereignis deutschsprachiger Fantasy-Literatur ist, lange bevor es diesen Begriff gab und ein halbes Jahrhundert vor dem Herrn der Ringe. Während Tolkien für sein Werk den Sagenschatz der nordischen Überlieferungen plünderte, tat es Spitteler mit dem verwucherten Vorrat der griechischen Mythologie. Und beide erfanden nach Lust und Laune dazu, was immer ihnen in die Traumwelt passte und womit sie auf Parallelen in ihrer Gegenwart zielen konnten. Spittelers Sprache erscheint einem in diesem Werk wie ein bis heute nicht gehobener Schatz. Sie ist derb und sinnlich, subtil und erkenntnistief, mit nichts Bekanntem zu vergleichen. Bald fährt sie hoch zu steiler Symbolik, bald schildert sie die Niedertracht der Welt mit gnadenloser Drastik. Wie in den Klassikern der Fantasy-Literatur ist auch im Olympischen Frühling alles altertümlich fremd und doch ganz gegenwärtig. Man wird hineingezogen in das tönende Wogen dieser Verse und schnappenden Reime, lebt mit Bildern, wie man sie noch nie gesehen hat, und begegnet einem Denken, das dahinschweift zwischen Lachen und Erschütterung.

Spittelers Spektrum: Da gibt es auch die öffentlichen Reflexionen über Kunst und Politik, über den Umgang mit der Sprache und der Natur. Herausragend etwa der Text «Vom ‹Volk›». Er analysiert scharfäugig, wie in der Politik mit dem Wort «Volk» umgegangen wird, und man stellt verblüfft fest, dass alles, was er aufdeckt, auch heute noch geschieht. Von gleichem Rang der Vortrag «Die Persönlichkeit des Dichters». Spitteler schont seine Kolleginnen und Kollegen nicht, räumt aber zugleich mit vielen billigen Klischees auf und wirft ein wahrhaft bewegendes Licht in die zerklüfteten Seelen derer, die ihr Leben lang schreiben.

Ganz anders wieder die Reportage über die Bahnfahrt durch den Gotthard von der Anfahrt durch Schwyz und Uri bis zum verwandelten Licht am Ende der Südflanke. Der Text erinnert in seiner extremen Präzision an avantgardistische Prosastücke. Ohne poetische Aufschwünge hält er fest, was zu sehen ist und was man darüber wissen muss, und die strenge Sachlichkeit wird dabei zu einer Kunst eigener Art.

Schließlich die Erzählungen – jede anders in Schauplatz und Intonation, als könnte er nicht schreiben ohne den Stachel eines neuen Aufbruchs. Wie es ja tatsächlich war.

Es gibt noch viel zu tun mit diesem Dichter, bei dem der Höchste aller Götter, Zeus, einen Menschen auf den Lebensweg schickt mit den Worten: «Allzeit Trotz im Kopf! / Scher dich um keinen Lumpenhund und sei kein Tropf!»

Der Erzähler

Spitteler war Theologe, jedoch einer ohne Kirche. Die Wahl des Studienfachs war aus einem Kompromiss mit dem Vater resultiert. Allerdings hatten bereits die frühen «poetischen Pläne» Spittelers theologische Reflexionen enthalten.1 Durch seine «Visionen und Inspirationen» fühlte er sich in die Verwandtschaft mit Religionsstiftern gerückt, «die, indem sie ‹Gott› predigen, nicht umhinkönnen, zugleich ihr eigenes Ich, das den Gott in sich spürt, zu verkündigen».2 Seiner daraus abgeleiteten «Glaubenslehre» von der «Würde des Menschen» entsprach eine optimistische «Oberstimmung», die jedoch mit der «Trauer über die Leiden der Kreatur» konfligierte.3 Auf Voltaires Candide wies ihn schon früh der Schopenhauer-Anhänger Jacob Burckhardt hin.4

Zur Kanzel wurde für Spitteler nach seiner Rückkehr aus St. Petersburg zuweilen das Feuilleton. Seine «Russischen Skizzen», durch die er den Weg zum Schreiben in Prosa fand, sind Satiren, die sich noch im Fahrwasser nationaler Stereotypisierung bewegen. Im Feuilleton erschienen dann aber auch erste Erzählungen: Darin verbindet sich die Spottlust, die Spitteler als Kennzeichen für die Vorurteilslosigkeit der Großstadt ansah, als deren Urbild ihm Paris als Zentrum der Aufklärung und Hauptstadt des 19. Jahrhunderts galt, wo sich zuerst der Vornehme «zu ‹enkanaillieren›» liebte,5 mit der Forderung nach der Unantastbarkeit der «Würde des Menschen». Sie richtet sich gegen ur-schweizerische Verhältnisse und Verhaltensweisen, etwa gegen Fremdenfeindlichkeit und Doppelmoral wie in «Xaver Z’Gilgen», aber auch gegen Kolonialismus, Rassismus und Mission wie in «Mariquita»: Hier wächst der Sarkasmus des in seiner Haltung radikal gewandelten Erzählers parallel zu seinem Mitgefühl gegenüber jenen, die keine Stimme haben.

Mit ebendiesen solidarisiert sich auch Viktor, der Protagonist des Imago-Romans, und gerät dabei in eine «Prophetenwut»: Die Menschen in der Kleinstadt, in die er zurückkehrt, scheinen ihm selbstgerecht und engherzig. Die bürgerlich-biederen Damen jubeln «über das qualvolle Ende einer russischen Studentin, welche vorige Woche beim Zigarettenrauchen jämmerlich verbrannte», und wünschen: «möge es jeder, die da raucht, ähnlich ergehen.» Viktor dagegen sieht «deutlich vor seinen Augen die arme Studentin in brennenden Kleidern herumtanzen, schreiend und sich windend, […] und um sie herum beifallklatschend die teuflisch grinsenden Pharisäerinnen».6 Historischer Hintergrund dieser Szene ist die Tatsache, dass ab 1850 wegen eines diskriminierenden Numerus clausus viele Juden und viele junge Frauen aus dem Zarenreich zum Studium in die Schweiz kamen.7 Auch hier schlug ihnen Feindschaft entgegen: Die «Berner Volkszeitung» unter Redakteur Dürrenmatt schrieb, das Benehmen der «studierenden Judenrussen» in Bern könne einen fast dazu bringen, die Pogrome in Osteuropa als «Ausbruch der Notwehr der Bürger gegen fremde Unverschämtheit und unaufhörliche Störungen und Ärgernisse» anzusehen.8

Xaver Z’Gilgen

Wer die Natur aufrichtig schätzt, hat seine Lieblingsgegenden, in welche er immer wieder zurückkehrt, selbst wenn er inzwischen überlegenere landschaftliche Bilder kennengelernt haben sollte.

Ja es wird sich gewöhnlich etwas Eifersucht in die Liebe mischen. Man möchte eine Landschaft, die man in den verschiedensten Stimmungen geschaut und hierdurch gewissermaßen erlebt und sich angeeignet hat, nicht mit dem ersten besten teilen; man empfindet die Anlage einer Verkehrsstraße oder den Bau eines Gasthauses als einen Eingriff, man fühlt sich dadurch verletzt und beleidigt.

Eine der Gegenden, die es mir angetan haben, liegt zwischen dem Kloster Einsiedeln und dem Flecken Schwyz; sie ist schön genug, um das Auge und das Herz durch ihre Majestät zu entzücken, aber auch einsam genug, um ungestörtes Sinnen und Genießen zu erlauben.

Man fährt des Morgens in der Frühe mit der Bahn von Zürich an dem freundlichen Seeufer dahin, dann mit einer Bergbahn nach den Höhen der Schindellegi und über die Wasserscheide nach Einsiedeln.

Hier hat die Welt ein kleines, hohes und wildes Ende, und es gilt, über den Yberg, einen harmlosen, die Kraft eines rüstigen Spaziergängers erfordernden Pass unterhalb des Mythenstocks, zu steigen.

Der Weg ist weiter, als einem die Erinnerung, welche ja stets die Entfernungen verkürzt, gesagt hatte; die Zeit verstreicht; man hat vielleicht ein Stündchen zu lange beim Mittagessen verweilt, und wenn man oben auf der Passhöhe angelangt ist, wird es wahrscheinlich Abend sein.

Aber wie sehr auch die Uhr und die sinkende Sonne mahnen mögen, oben bei dem Hüttchen werden wir eine Stunde ruhen; denn vor uns liegt zwischen dunklen Wäldern eine grüne, nicht allzu steile Halde von schwindelhafter Tiefe, oben einsam, unten mit hundert winzigen Häuschen besät, ganz zuunterst ein Zipfelchen Vierwaldstättersee, eingeschlossen in einem wahren Labyrinth von wirr durcheinander geschobenen trotzigen Alpenhäuptern. Das ist keine Aussicht, es ist mehr als das: eine Landschaft, und zwar eine Landschaft, wie sie etwa die Phantasie eines Lionardo da Vinci hätte träumen mögen.

Während stundenlang keine menschliche Seele zu erblicken war, schleichen jetzt, wo die Sonne sich zum Untergange anschickt, einige Gestalten plumpen Ganges nach dem Felsen zu unserer Linken. Was wollen sie dort oben? Sie gucken zwischen den Tannen hervor und lugen bedächtig ins Tal.

 

Plötzlich beginnt ein Jodeln nach allen vier Windrichtungen hin; tief unten an der Halde antwortet Schellenklang und Rindergebrüll, und ehe wir uns dessen versehen, klettern und kriechen die Herden ameisenartig gegen uns heran, immer zahlreicher und immer größer, quer über die Triften, schlangenförmig auf dem gewundenen Weg, längs den Hecken.

Da gibt es kein Entrinnen, wir müssen mitten hindurch.

Die Kühe bleiben wie auf Befehl stehen, uns anglotzend, bis wir auf Armeslänge herankommen, dann flüchten sie mit schwerfälligen Sprüngen zur Seite; die Stiere dagegen behaupten mürrisch das Feld, wir müssen ihnen den Platz räumen.

Und dann geht es stundenlang im steilen Zickzack talabwärts zwischen Ställen und Sennhütten, an schmucken Landhäusern, dem luftigen Sitze der beneidenswerten Herren von Schwyz, vorbei.

Die Dämmerung schleicht aus dem See empor; hoch oben blinken die Sterne; um die fernen Gipfel der Alpen brüllt ein Gewitter, und wenn wir endlich in Schwyz anlangen, ist es finstere, späte Nacht.

Nicht immer jedoch teilen sich Blitze und Sterne friedlich in den Himmel; es kann auch vorkommen, und dann kommt es meist urplötzlich vor, dass man sich auf halber Höhe dem Unwetter preisgegeben sieht.

So erging es auch mir im vergangenen Sommer.

Die Nacht, der strömende Regen und der fast ununterbrochene Blendschein der blauen Blitze verhüllten mir den Weg, und ich kam nur tappend und tastend vorwärts. Da überholte mich ein junger, wohlgestalteter, fester Senn und bot mir in der biederen und treuherzigen Weise der Älpler Hilfe und Quartier an. So brachte ich die Nacht in einer Hirtenwohnung zu.

«Vornehm ists nicht», munkelte der Brave, als er mich in die Kammer seines abwesenden Bruders geleitete, «aber gut ists gemeint, und hätt ichs besser, so gäbe ichs besser. Und» – fügte er mit einigem Stolze hinzu – «wenn Ihr etwa vor dem Schlafen noch ein wenig lesen wollt ...»

Mit diesen Worten leuchtete er mit der rauchenden Talgkerze gegen den Fenstersims und legte mir drei staubige Bücher in die Hand.

Die Artigkeit erforderte, dass ich sie oberflächlich musterte. Es war eine Schweizergeschichte für Schulen, ein Andachtsbuch und eine vergilbte Sammlung von Hexen- und Zauberprozessen.

Wie ich die letztern aufschlug, fiel mein Blick auf folgenden Satz: «... und selbst auf dem Wege nach dem Hochgericht seyne Unbußfertigkeit nicht abgeleget, und die Sanctam Absolutionem nicht nachgesuchet, sondern fortgefahren, die heylige Dreyfaltigkeyt u. Fürsehung u. Weltordnung mit schröcklichen Reden anzuklagen, auch unter den peynlichen Griffen des Henkers seyne gräuliche Ketzerey keyneswegs widerruffen, sondern mit lauter Stimme geschrieen, dem heyligen Evangelio zum Trotze dabey zu verbleyben, dass die gesammte Mundicreation aus eytel Bosheyt u. Schadenfrohmüthigkeyt von s. v. dem Teuffel auscogitiret u. einstituiret worden sey.»

Diese Worte überraschten mich, da in religiösen Zeiten selbst die ruchlosesten Verbrecher den Namen Gottes und der Heiligen zu schonen pflegten. Offenbar war da von einem Vorläufer der modernen Pessimisten die Rede, und ich war um so begieriger, die Beweggründe dieser vereinzelten Denkungsart kennenzulernen, als dieselben von gewaltiger Kraft sein mussten, um die furchtbare Rüstung der Kirche und des Zeitalters zu durchlöchern.

Nachdem daher mein Wirt die Kammer mit einem frommen «Bhüt Euch Gott!» verlassen, spürte ich dem Anfang des Berichtes nach, wobei ich denn aus dem Wust von gerichtlichen Prozeduren und aktenmäßig niedergeschriebenen Geständnissen eine ergreifende Leidensgeschichte herauslas.

 

Xaver Z’Gilgen, so hieß der Delinquent, war einst ein armer Schiffsmann aus Brunnen bei Schwyz, der um Lohn die Marktleute in die Dörfer und Flecken des gegenüberliegenden Seeufers und mitunter bis gegen Flüelen hinaufführte.

Einmal im Jahre, zumeist im Spätherbst, trieb er eine der großen Viehherden über den Gotthard auf den Markt von Lauis9. Wenn der Winter kam und die Arbeit mangelte, verdingte er sich wohl auch für einige Monate als Bedienter bei den Vornehmen in Schwyz, wo er wegen seines stillen, bescheidenen Wesens, seiner Anstelligkeit und seines gefälligen Äußern gern gelitten war.

Die Sorgen um den Lebensunterhalt nahmen nicht allein seine Tätigkeit, sondern auch seine Aufmerksamkeit in Anspruch, und obschon der schmucke Bursche auf dem Tanzboden die reichsten Sennen in der Gunst der Mädchen ausstach, war ihm doch niemals eingefallen, dass so ein armer Schiffsmann heiraten dürfte.

So verstrichen die Sommer und Winter, und als er Anno 1641 dreißig Jahre alt wurde, überließ er als alter Knabe den Tanzboden den Jüngeren.

Im folgenden Herbst trieb er wie gewöhnlich seine Herde nach Lauis, und da er gerade dazukam, wie in Giornico die Weinlese stattfand, stellte er seine Herde in den Pferch und schaute mit der Ruhe des Älplers dem Geschäft zu.

Eine braune Dirne mit bloßen Füßen und aufgeschürztem Rock, welche eine Granatblüte über dem Ohr in den schwarzen Locken stecken hatte, schritt mehrmals freien Ganges mit dem gefüllten Korbe an ihm vorüber, ihm einen prüfenden Seitenblick zuwerfend. Endlich wies sie ihm ihre weißen Zähnchen, stieß ihn mit dem Ellenbogen leicht an und rief mit lauter Stimme in gebrochenem Schwyzerdeutsch: «Faulpelz! Anstatt da zu stehen, könntest du uns ein wenig helfen.»

Ein allgemeines Gelächter hinter den Weinranken begleitete ihre Neckerei, und Xaver hielt sich hierdurch für verpflichtet, der Aufforderung nachzukommen.

Den ganzen Abend führte er fleißig das Winzermesser, und wenn er einen Augenblick ruhen wollte, deutete die Dirne auf die Trauben.

«Ancora!» befahl sie, und er begann sofort von neuem.

Nicht einmal einen Dank bekam er zum Abschied. Es musste wohl in Giornico gewöhnlicher Brauch sein, die Reisenden zum Winzerdienst zu pressen.

Aber als er schon hundert Schritte entfernt war, wendete er sich um und schlich nochmals herbei.

Die Augen des Mädchens leuchteten, wie sie ihn umkehren sah, dann biss sie sich auf die Lippen und wartete.

«Wie heißt du?» fragte er mit unsicherer Stimme.

«Speranza», antwortete sie und lachte mit heller Stimme.

Jetzt schämte er sich über die Maßen. Offenbar hatte er etwas Dummes gefragt, und es reute ihn, dass er umgekehrt war.

Der Weg nach Lauis ist weit, und die Herden ‹fahren langsam›. Xaver fand mithin, obschon er nichts weniger als ein Denker war, Zeit genug, um mit den Gedanken, die ihm unwillkürlich aufstiegen, fertig zu werden.

Nachdem er daher in Lauis seine Geschäfte erledigt hatte, begab er sich zum Landvogt, einem Schwyzer, bei dem er einst in Dienst gestanden, und fragte ihn treuherzig, ob er wohl ein Mädchen, das er gerne heiraten möchte, heiraten solle.

Der Landvogt klopfte ihm auf die Schulter und sprach: «Vereli, ich bin kein Beichtvater, und wenn ich auch ein solcher wäre, so würde ich mirs zweimal bedenken, ehe ich einem andern in Heiratsangelegenheiten einen Rat gäbe; aber so viel getraue ich mir schon zu sagen, weil Ihr mich einmal gefragt habt, dass es nichts schadet, wenn man diejenige, welche man heiratet, gerne heiratet.»

Danach begab sich Xaver auf die Heimreise, suchte seine Speranza auf, machte es mit ihr ‹richtig› und nahm sie als seine Frau mit über den Gotthard. Vieler Umstände bedurfte es dabei nicht, denn die Gemeinde war froh, der bettelarmen Speranza loszuwerden, und ein Fuhrwerk hatten sie auch nicht; die ganze Mitgift des Mädchens hatte in einem Bündel Platz, welchen Xaver auf seinen Rücken schnallte.

Xavers Landsleute sperrten die Augen auf und schüttelten den Kopf, als sie ihn mit einer Frau heimkehren sahen. Dass sie arm war, wollten sie ihm zur Not verzeihen, aber eine Fremde und dazu noch eine aus dem ennetbergischen Untertanenland zu nehmen, während man unter den vollblütigen Schwyzerinnen wählen konnte, das kam einer Beleidigung des herrschaftlichen eidgenössischen Kantons gleich. Eine Missheirat wird auf dem Lande noch strenger geahndet als bei Hofe.

Xaver sah sich als ‹Abtrünniger› gemieden, und wenn ihn nicht seine Gönner, die Vornehmen von Schwyz, welche freieren Anschauungen huldigten, mit Arbeit bedacht hätten, so würde ihn seine Vereinsamung zur Auswanderung gezwungen haben.

Für die Ungunst, die ihm in der Öffentlichkeit, auf der Landsgemeinde und im Wirtshaus begegnete, entschädigte ihn freilich das Glück, das er in seinem Häuschen fand. Speranza, obschon unordentlich, ja selbst unreinlich im Hauswesen, so dass die Nachbarinnen die Hände über dem Kopf zusammenschlugen, war allzeit fröhlich, sang bei der Arbeit in der Küche und im Gärtchen und lachte, wenn sie nichts Besseres zu tun oder zu reden wusste. Des Sonntags, auf dem Weg zur Messe, ging sie mit aufrechter Haltung und vornehmen Schritten neben ihm einher, dass er sich wie der Landammann von Schwyz vorkam und mit dem reichsten Sennen nicht getauscht hätte.

Als sie ihm vollends übers Jahr ein Mädchen schenkte, da wurde er glücklich wie ein Kind, kümmerte sich um die ganze Welt nicht mehr, besuchte weder die Landsgemeinde noch das Wirtshaus, ja sogar nur selten die Kirche und saß zu Hause, so oft es nur seine Arbeiten erlaubten.

Natürlich ließ er das Mädchen Speranza taufen, denn einen lieberen Namen wusste er nicht auf der Welt.

Das ging so in Glück und Frieden bis zum Februar 1645.

Um diese Zeit, während der Fastnacht, auf dem Heimweg vom Tanz in Lowerz, wo sie allein hingegangen war, weil Xaver unterdessen das Kind hütete, wurde seine Speranza von ‹lustigen Nachtbuben› aus Zug angehalten und, da sie sich zur Wehre setzte, erschlagen – ‹aus Übermut und Kurzweil›, wie es in den Akten heißt.

Seit diesem Augenblick – ich folge von nun an der Anklage im Stil wie im Inhalt – legte Xaver ein unchristliches Wesen an den Tag.

Zunächst zeigte er seinen Hochmut damit, dass er ein großes ‹Wesen› von dem Totschlag machte, ungeachtet derselbe doch nur von trunkenen Nachtbuben zur Kurzweil an einem hineingeschleppten ennetbergischen Mädchen verübt worden war. Ja, allen vernünftigen Zureden zum Trotze belästigte er die gnädigen Herren und die Landsgemeinde mit unaufhörlichen Anträgen, man möge um dieser unnützen Geschichte willen den lieben, teuren, eidgenössischen, freundnachbarlichen und katholischen Stand Zug von Amts wegen zeihen und beklagen, respektive mit Krieg überziehen.

Nachdem er wiederholt in dieser Angelegenheit von der Landsgemeinde mit Spott und Schande überstimmt worden war, verschloss er sich plötzlich den Menschen, vernachlässigte seine Arbeit und seine Kleidung, ging auch nicht mehr zu Kommunion und Beichte und antwortete dem Kaplan, wenn ihm dieser derohalben Vorstellungen machte, erst möge ihm der liebe Gott ein Wunder zeigen und ihm seine liebe Speranza wieder ins Leben rufen, dann wolle er seine Güte und Allmacht preisen.

Während er dergestalt die heilige Kirche verachtete, trieb er eine ärgerliche Abgötterei mit seinem Kinde, indem er ihm aus dem jahrelang zusammengesparten Gelde köstliche Kleider und Leckerbissen und allerlei Kurzweil kaufte, dass es hochmütig einherging wie eines Ratsherrn Töchterlein von Luzern. Auch züchtigte er dasselbe niemals mit Ruten, nach frommem, christlichem Brauch, sondern liebkoste es vom Morgen bis zum Abend, nannte es mit den süßesten Namen und willfahrte jedem seiner Wünsche, gleich als ob er sein Diener und nicht sein Vater gewesen wäre.

Und das Kind hing an ihm wie ein Hund an seinem Herrn und wollte mit keinen andern Kindern spielen, sondern begleitete seinen Vater auf seinen Fahrten, bis Stans und Luzern, ja sogar nach Uri und Italien.

Und es herrschte eine solche sündhafte, abgöttische Anhänglichkeit zwischen den beiden, dass es allmählich ruchbar wurde, wie er zu dem Frevel seiner hochmütigen Ketzerei noch das Verbrechen der Zauberei hinzugesellte.

Vor allen Augen offenbar aber wurde seine Zauberei bei der schweren Heimsuchung, welche Gott der Allmächtige in seiner Gnade im Jahre 1647 über die Gemeinde Brunnen wegen ihrer Sünden verfügte.

Im selbigen Sommer nämlich führte der Magister Balzer die Kinder zum Feste nach Einsiedeln über den Yberg.

Weil aber jenseits der Allmend im Walde viele rote giftige Beeren wuchsen, welche schon manchem Schaden an seiner Gesundheit gebracht hatten, so ermahnten die Väter ihre Kinder mit vieler Strenge, nicht seitwärts vom Wege zu gehen und keine roten Beeren zu essen, sondern dem Magistro in Gehorsam untertan zu bleiben, gleich wie sie selber ihrer Obrigkeit in Zucht und Frömmigkeit untertan wären.

Und damit ihre fürsorgliche Lehre und Exhortation eindrücklicher im Gedächtnis verbliebe, züchtigte ein jeder sein Kind vor dem versammelten Volke mit Ruten; auch hielten sie den Magistrum an, selbige Züchtigung zu besserem Gedächtnis zu wiederholen, zuerst an der Säge, unterhalb der Allmend, und dann auf dem Berge bei den vier Winden ob dem Walde.

Nur Xaver Z’Gilgen züchtigte weder sein Kind selber mit Ruten noch wollte er leiden, dass der Magister dasselbe tätlich exhortiere, redete ihm auch nicht scharf zu, sondern sah ihm milde in die Augen und fragte mit sanfter Stimme, ob es ein freies10 Schwyzerkind sein wolle oder ein stolzes11. So nämlich pflegte er es alle Tage zu fragen.

Das Kind aber zeigte keinerlei Angst noch Untertänigkeit, sondern antwortete mit beherzter Stimme, ein freies Schwyzerkind sein zu wollen und keine Beeren anzurühren, geschweige denn rote, und sie zu essen.

Xaver Z’Gilgen belobte sein Kind und herzte es gleich einer Mutter und gab ihm durchaus keine andere Exhortation, so dass das Volk von großem Schrecken über sein nahes, elendigliches Ende ergriffen wurde.

Und die Kinder überwältigten den Magistrum bei den vier Winden ob dem Walde und banden ihm die Hände und Füße mit Tüchern. Darauf gingen sie hin und aßen rote Beeren bis zum späten Abend.

Aber als der Mond herauszog und die Kälte ihnen zusetzte und das Gift in ihren Eingeweiden zu grimmen anfing, bereuten sie ihren Ungehorsam, lösten den Magistrum von seinen Banden, umfassten seine Knie und flehten zu ihm mit Tränen und erbärmlichen Reden, er möge sie doch um Christi Barmherzigkeit willen von ihrer grausamen Pein erretten und in ihre Heimat zurückführen.

Und von selbigen Kindern starben sieben eines elenden Todes, die einen auf dem Wege, die andern am folgenden Tage in ihren Betten, die übrigen aber lagen lange Zeit krank unter großen Schmerzen.

Einzig Speranza Z’Gilgen, obschon sie weder Zucht noch Exhortation erhalten hatte, wich nicht von dem Magistro und aß nicht von den roten Beeren und spürte auch keinerlei Pein, so dass ihres Vaters Zauberei vor allen Augen offenbar wurde und ohne die Intervention und Fürbitte der gnädigen Herren von Schwyz schon damals seine Freveltaten zur verdienten Strafe wären gezogen worden.

Allein da sich sein Hochmut von Tag zu Tag mehrte, setzte der Allmächtige seiner Langmut ein Ende, indem er den sündhaften Abgott seines Herzens, die Speranza, an einem Steinwurf, den sie in der Kurzweil mit fröhlichen Knaben erhalten, nicht gesunden, sondern unter grausamen Schmerzen dahinsiechen ließ.

Anstatt jedoch die Strafe mit christlicher Demut zu seiner Buße und Besserung zu benützen, verstockte Xaver Z’Gilgen sich nur um so hartnäckiger und setzte seinem ketzerischen Hochmut dadurch die Krone auf, dass er, die wundertätige Fürbitte des Klosters verachtend, mit großen Kosten zwei gelahrte Doctores nächtlicherweile von Luzern auf dem Nauen12 herüberholte, welche die Kranke mit aller Kunst und Sorgfalt schonten und pflegten und ihr die schwärenden Wunden mit dem Messer und dem glühenden Eisen säuberlich reinigten.

Speranza aber wollte sich den Doctoribus nicht in Güte unterziehen, sondern begann heftig zu schreien und zu klagen, warum sie so grausame Pein leiden müsse und ob sie denn nicht allezeit ein freies Schwyzerkind gewesen sei.

Und sie flehte mit Worten und Blicken so rührend zu ihrem Vater, dass alle Umstehenden weinten.

Selbst jetzt aber noch redete er ihr nicht mit Strenge zu, erklärte ihr auch nicht, dass sie ihre Leiden als gnädige, gerechte Strafe für ihre Sünden erdulde, sondern lobte sie mit zärtlichen Reden, schalt auf die Welt und den Himmel und nannte sie sein liebes, freies Schwyzerkind.

Als aber Speranza die abgöttische Liebe ihres Vaters bemerkte, umschlang sie seinen Hals und schwor mit Zittern und mit Schreien, sie wisse nicht, was sie Übles getan habe, dass er sie so grausam von den Doctoribus bestrafen lasse, und er möge ihr doch verzeihen und die Doctores wegschicken und ihre Schwären heilen, so wolle sie ihr ganzes Leben lang ein freies Schwyzerkind sein und nie wieder etwas Stolzes begehen.

So flehte und schrie sie bis an ihr unbußfertiges Ende, den 12. Januarium 1648.

Am 17. Januario aber, am Tage der heiligen Gertrud, als der ehrwürdige Pater Aloysius in der Kirche zu Brunnen über den Text predigte: «Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte: und siehe da, es war sehr gut» (1. Moses 1,31), da sprang Xaver Z’Gilgen auf und schalt unter vielem Schreien und Weinen den ehrwürdigen Patrem Aloysium einen Lügner und das heilige Evangelium eine Irrlehre und fing an, insbesondere gräuliche Ketzereien auszustoßen, als wäre die Welt nicht aus Güte vom lieben Gott geschaffen worden, sondern von s. v. dem Teufel aus grausamer Arglist, um sich an der Pein und Folter der unschuldigen Menschen und Tiere zu belustigen.

Also kam seine ruchlose Ketzerei an den Tag.

Das Volk aber empörte sich über seine Reden, schlug ihn und überwältigte ihn und überlieferte ihn den Richtern zu seiner wohlverdienten Strafe ...

Die Kerze war zu Ende gebrannt, und die Müdigkeit übermannte meine Gedanken.

Während der Donner rollte und der Regen durch die Fugen der Fenster strömte, schlief ich einen gesunden Schlaf bis zum späten Morgen.

Aber als nun beim Erwachen der glänzende Tag ins Zimmer schien und unten vor meinen Augen Brunnen über dem See im hellen Sonnenschein glitzerte und oben der hohe Mythen und der Yberg, da erinnerte ich mich, die ganze Nacht von dem unglücklichen Xaver Z’Gilgen, seinem schönen Weibe und der lieblichen kleinen Speranza geträumt zu haben. Wir wandelten alle vier von Einsiedeln nach Schwyz; Xaver und sein Weib jauchzten oben am Gipfel von den Felsen übers Tal, Speranza pflückte mir Enzianen, und ich nannte sie ein liebes, freies Schwyzerkind.

«Ihr habt gut geschlafen», lachte der Hirt, der in diesem Augenblick unversehens zur Kammer hereinstieg. «Ja, ja! wenn mans nicht gewohnt ist – nach einem tüchtigen Marsch, wie Ihr gestern einen gemacht habt, kann man das Schlafen schon brauchen. Ich bring Euch ein Glas Milch, wenn Ihr fürlieb nehmen wollt. Kaffee und Zichorien und Zucker und derlei Kostbarkeiten kann ich Euch leider nicht anbieten.»

«Wem habe ich für die Gastfreundschaft zu danken?»

«Ignaz Z’Gilgen sagt man mir», und da er meine Bewegung bemerkte und durch einen Blick auf die abgebrannte Kerze und das aufgeschlagene Buch die Ursache derselben erriet, fügte er hinzu: «Von einem Bruder jenes Xaver Z’Gilgen stamm ich ab ... Es ist seither manches besser geworden. Und wenn ich schon gerade wie er mit einer Tessinerin verlobt bin, habe ich deshalb doch keine Angst. Auf der andern Seite des Gotthard sind sie ja auch Menschen, so gut wie wir, oder was meint Ihr dazu?»

Ei Ole

Das Floß war bereit, die Hütte am Steuer mit Pelzen, Brennholz und gedörrten Fischen für ein halbes Jahrzehnt ausgerüstet, und die beiden Flößer stiegen einer nach dem andern mit schweren Tritten, dass das Wasser durch die Fugen plätscherte, auf die stattlichen Stämme. Am Ufer vor dem Häuschen stand die kleine Familie: der alte Rakka, neben ihm Mutter Muora und an ihrem Rockzipfel die kleine Rethi, mit offenem Munde die abreisenden Brüder anstarrend.

Jetzt erschien auch der fremde Agent, der in dem Häuschen seine Brille verlegt hatte, und las zum dritten Male den Kontrakt vor, zuerst in schwedischer, dann in finnischer Sprache: «Die Gebrüder Ingen und Kompanie, Holzhändler in Stockholm, kaufen hiemit durch ihren Agenten Gustav Lindequist aus Åbo zweihundert Stück junges, sauberes Tannenholz, zwanzig Fuß lang und neun Zoll dick, um sechzig finnische Mark von Ruppari Rakka zu Rüttelä, Kreis Kuopio in Finnland, zahlbar in Stockholm am Tage der Ankunft des Floßes an die Söhne des obgenannten Ruppari Rakka, Heikki und Rizzi Rakka.

Gezeichnet: Für die Gebrüder Ingen und Kompanie Gustav Lindequist. – Ruppari Rakka.»

«Hyvä» 13 murmelte der Alte, als die Lesung zu Ende war. Darauf schob der Agent den Vertrag sorgfältig in eine lederne Mappe, band dieselbe mit Schnüren vierfach zu, zweimal übers Kreuz und zweimal über die Winkel, und überreichte das Ganze dem ältern der beiden Flößer. Der wischte erst die Hände an seinem grauen Kittel ab, dann nahm er das wichtige Stück feierlich entgegen, um es in der Hütte zwischen den Heringen und dem ‹Knäckebröd› zu vergraben.

Damit war man reisefertig. Aber es schien allen, als ob jemand von ihnen noch etwas sagen wollte. Da indessen keiner den andern den Mund auftun sah, nahmen die Männer die Ledermütze vom Kopf, drehten sie zwischen den Fingern und beteten, während Muora die Stirn der kleinen Rethi umspannte. «Far väl», rief der Agent, sobald das Floß sich bewegte. Die Flößer lehnten sich über die Ruder und arbeiteten eifriger als nötig war, die übrigen blieben unbeweglich am Ufer stehen, der Alte mit der Mütze in den Händen und Muora den Kopf der kleinen Rethi an sich drückend.

Eine halbe Stunde währte es, bis die stämmigen jungen Burschen das Fahrzeug um die nächste Ecke gebracht, dann ließen sie die Ruder fahren und wischten sich die Stirn. «Ei ole Rüttelää»14, sagte der Ältere ruhig; hierauf schritt er bedächtig zu einer Kiste, zog einen Streifen Tabak hervor und zerschnitt ihn mit dem Gürtelmesser. «Hyvä», sagte er nachdrücklich und nötigte dem Bruder die Hälfte in die Hand. Nachdem er endlich noch die Angelschnur hinten an den Pflock befestigt, legten sich beide zum Rauchen nieder und ließen das Floß von der Strömung des Sees langsam dahintreiben, nahe dem Ufer, um nicht den Dampfschiffen in den Weg zu geraten. Nur wenn das Fahrzeug zu hart an die Felsen oder zu tief in den See hinein takelte, rutschte der eine oder der andere gemächlich nach dem Steuer, damit er demselben eine bessere Wendung gebe.

In der zweiten Woche gewahrten sie eine Stadt auf einem Berge und über der Stadt noch einen Berg und auf dem obern Berg einen See. Heikki nahm die Pfeife aus dem Munde: «Kuopio«. «Hyvä Kuopio»15, antwortete Rizzi.

Darauf kam der Johannistag und nach dem Johannistag die Johannisnacht. An den Vorgebirgen standen steile Holzburgen aufgerichtet, und mit Sonnenuntergang, kurz vor Mitternacht, flammten von allen Hügeln die Feuer gegen den tageshellen Himmel hinan. Wilde, ungeschlachte Gesänge schlugen herüber, wenn die Schiffer sich einem Dorfe näherten, und ab und zu konnten sie die Worte ‹Kukkuu, Kukkuu› unterscheiden. Da begannen die Augen der beiden Rakka zu spielen.

Heftig schoben sie einige Armvoll Brennholz übereinander, und kaum züngelte die rote Flamme aus dem Rauch empor, so sprangen sie wie besessen darum und herüber und hinüber, in einem fort singend, so laut sie konnten:

«Kultani kukkuu, kaukana kukkuu, Saimaan rannalla ruikuttaa; Ei ole ruuhta rannalla, Joka minun kultani kannattaa.»16

Wie die Feuerwehrmänner von Kuopio stampften und grölten sie um die Flamme, bis dass gegen ein Uhr die Morgensonne strahlend vom Himmel schien. Da legten sie sich wieder rauchen und sprachen während fünf Tagen kein Wort mehr.

Sie glitten von Seen in Kanäle und von Kanälen in Seen, dann fingen die Septemberstürme an zu blasen, welche sie wochenlang ans Ufer zwangen, endlich froren sie ein. Jetzt mauerten sie die Hütte außen mit Schnee zu, inwendig heizten sie, wie Nordländer heizen, und wenn ihnen der Rauch die Augen biss, dass die Tränen herunterrieselten, dehnten sie sich vor Behagen. Ein Hamsterschlaf kürzte ihnen die Zeit, deren Maß bei der ewigen Sturmnacht ohnehin keinem zum Bewusstsein kam, und die Vorräte wurden ob diesem schlummernden Dasein kaum angegriffen.

Eines Nachts, zwischen den dumpfen Schüssen des Sturmes und dem kläglichen Geheul der Wölfe, sangen aus der Ferne die Kirchenglocken. Von links eine, von rechts eine und endlich von allen Seiten zusammen, lang anhaltenden, zitternden Gesanges, wie nur europäische Glocken singen können. «Joulu»17, murmelte Heikki. Hierauf schlich er leise auf den Absätzen zwischen den Kisten herum, ängstlich den schlummernden Rizzi beobachtend, ob er nicht aufwache, suchte an Fetzen und Lappen das Bunteste zusammen, stülpte ein Hemd über den Kopf und steckte die Arme in zwei Stiefel. Nachdem er diese Vorbereitungen beendet, überfiel er den Schlafenden mit einem markerschütternden Gebrüll. Der griff mit entsetzten Gebärden an sein Gürtelmesser, da er nichts anderes erwartete, als einen Bären zu erblicken. Plötzlich jedoch sprangen ihm zwei Tränen über die Backen. Er hatte begriffen: es war das Weihnachtskind. Nun legte sich Rizzi seinerseits auf den Schragen, und so dauerten die Überraschungen abwechslungsweise fort, solange die Glocken summten. Als aber die letzte Glocke verklang, tauschten sie ihren Tabak und ihr Feuerzeug. Das war das Geschenk zum neuen Jahr.

Im andern Sommer, nachdem das Eis aufgetaut, gelangten sie ins Meer. Dort schlüpften sie zwischen den Schären so friedlich und still hindurch, als ob das Meer ein finnischer See wäre. Eines Tages aber trugen die Schären Häuser und die Klippen Kanonen. Gegenüber auf dem festen Lande sahen sie eine schokoladebraune Kirche, mit schneeweißen Zwiebeldächern überzuckert. Heikki nahm die Pfeife aus dem Mund: «Helsinki.» Und Rizzi antwortete: «Hyvä Helsinki.» Ein Boot kam herangefahren mit zwei grünen Soldaten darin, welche auf das Floß stiegen und in fremder Sprache grimmig gegen die Flößer schrien. «En ymmärrä»18, erwiderte Heikki. Die Soldaten taten noch ungebärdiger und schrien noch lauter. Heikki erwiderte noch dreimal «En ymmärrä», jedesmal mit abnehmender Stimme, dann schwieg er endgültig still. Schließlich zuckten die Grünen die Schultern und wackelten mit dem Boote heim.

Die Schären hatten nun wieder keine Häuser, sondern Tannenbäume, Felsen und Wasserfälle.

Eines warmen Tages, als die Sonne untergegangen war und das Abendrot Hand in Hand mit dem Morgenrot über das lichte, kaum dämmernde Meer wanderte, hörten sie in einer Bucht ein Plätschern und Schwallen, untermischt mit rauhen, gurgelnden Lauten. «Veden koira»19, flüsterte Heikki und legte den Finger an die Lippen. Dann ruderte er so sachte als möglich darauf los und lauerte mit vorgebeugtem Nacken. Plötzlich drehte er sich um und verzog seinen Mund zu einem breiten Behagen, während sein ganzes Gesicht leuchtete. «Tyttö»20, grinste er. Und beide begrüßten das Wort mit einem lautschallenden Gelächter. Die erschrockene ‹Tyttö› wollte zuerst aus dem Wasser flüchten. Kaum gewahrte sie aber die friedlichen, gutmütigen Landsmannsgesichter, so kehrte sie getrost um, stimmte in das Gelächter ein und klammerte sich, mit den Armen übergreifend, ans Floß, indem sie bis an den Hals untertauchte, so dass ihre langen, krausen Flachshaare sternenförmig auf den Wellen schwammen wie eine Wasserblume. Darauf wickelte sich ein lebhaftes, überstürztes Gespräch zwischen ihr und Rizzi ab, und bald waren sie soweit vertraut, dass die ‹Tyttö› ihren Namen nannte: Maarian. Dabei zeigte sie auf ihre Heimat, mit dem Arm nach dem Dorfe auf dem Hügel deutend. Zur größern Gemütlichkeit streckte sich Rizzi der Länge nach nieder, die Ellbogen aufgestemmt, das Kinn in den Händen, die qualmende Pfeife im Mund. So rauchte er der Maarian in die Augen. Inzwischen war der Ältere bedacht, das Floß mit dem Ruder stillezuhalten, damit die Freundschaft keine Unterbrechung erleide. Als er jedoch allmählich Anstalten machte, das Fahrzeug verstohlen an einen Baum festzubinden, warf sich Maarian rückwärts fliehend ins Wasser, wobei sie statt des Abschiedes den schmauchenden Rizzi mit einer großen Welle übergoss, dass ihm der Sturzregen bachweise aus den Haaren über die Augen flutete.

Durch das Wasser verblendet, hörte er noch ein Gelächter, dann ein wildes Wasserwogen und endlich ein Platschen und Triefen, wie wenn ein Eisbär mit breiten Sohlen ans Land steigt. Als er wieder klar sehen konnte, war Maarian verschwunden. «Ei ole Tyttö»21, spottete Heikki. «Hyvä tyttö», entgegnete Rizzi, während er dem Bruder gutmütig lachend seine durchweichten Kleider und seine ausgelöschte Pfeife wies. Und die folgenden Tage, sooft die Pfeife des Rizzi nicht gleich brennen wollte, schmunzelte der Bruder spöttisch: «Tyttö.»

Dann stürmte wieder der Regen, später der Schnee, und sie froren zum andernmal ein. Dieses Mal jedoch begab sich der Ältere öfters ans Land, wo er mitunter tagelang verweilte. Wenn er dann heimkehrte, fertigte er mit großem Eifer die neue Hütte zurecht, an welcher er seit dem Herbst gearbeitet. Endlich, am Weihnachtsabend, erschien er mit zwei fremden ‹Tyttö› und einem ‹Herrapappi›22. Bei ihrem Anblick wurde Rizzi dunkelrot vor Zorn. «I»23, schrie er, darauf zog er sich an das äußerste Ende des Floßes zurück, den Ankommenden den Rücken kehrend. Heikki stieß die eine der ‹Tyttö› von hinten an den Bruder heran und suchte denselben mit unartikulierten Lauten zur Annahme zu bewegen. «I», wiederholte Rizzi, und dabei blieb es. Der ‹Herrapappi› machte der Werbung mit vernünftigem Zuspruch ein Ende, und die verschmähte ‹Tyttö› schlich traurig ans Land. Heikki jedoch ließ sich mit der andern ‹Tyttö› vom ‹Herrapappi› einsegnen. Darauf erhielt der ‹Herrapappi› für seine Arbeit einen geräucherten Lachs zum Geschenk, den er in den rechten Stiefel steckte. Heikki aber zog mit Lussika, seiner jungen Frau, in die neue Hütte ein.

 

Im dritten Sommer sahen sie viele hundert Schiffe aneinandergepökelt, alle so groß wie der ‹Pyhä vuori›24, mit Stangen darauf, so hoch wie der Kirchturm von Kuopio. Hinter den Schiffen lag eine unglaubliche Zahl von Städten auf Inseln und Bergen herumgestreut. Heikki nahm die Pfeife aus dem Mund: «Tukholma»25, und Rizzi antwortete: «Hyvä Tukholma». Als aber Lussika den Kopf aus der Hütte steckte, um ‹Tukholma› zu betrachten, schrie Heikki mit zorniger Stimme: «Perkele»26, und sogleich verschwand der Kopf wieder. Zwei blaue Soldaten kamen in einem Boot dahergewackelt, stiegen auf das Floß und schwatzten in fremder Sprache freundlich, aber schnell wie Mühleräder auf die Flößer ein. «En ymmärrä»27, entgegnete Heikki dreimal; nach dem dritten Mal schwieg er still. Da fingen die Blauen endlich an zu lachen und zogen wieder heim. Die Flößer aber steuerten nach der Seite, wo sie die Holzstämme in langen Gassen haushoch am Ufer aufgerichtet sahen, bis ihnen die vorliegenden Barken den Weg versperrten und die Wellen allmählich ihr Fahrzeug unbeweglich einkeilten. Jetzt kramten sie die Mappe aus den Heringen hervor, zerschnitten die Schnüre mit dem Messer, schälten den Vertrag heraus und stellten sich vorn an das Floß, jeder zwei Zipfel des Papiers mit den Händen festhaltend, damit dasselbe ja nicht ins Wasser gleite. Eine Stunde lang standen sie geduldig da, ab und zu von einem jähen Wellenstoß geschüttelt, wenn nebenbei eine Barke plötzlich geladen oder entladen wurde oder wenn sich ein Fahrzeug aus der allgemeinen Umarmung löste. Einmal wurden sie von einem harten Rucke nach verschiedenen Richtungen geschleudert, wobei das Papier, trotz seiner ehrwürdigen Dicke, tief einriss. Dadurch belehrt trafen sie die Vorkehrung, den Vertrag abwechslungsweise zu halten, doch so, dass der Müßigstehende die Hände des andern scharf überwachte. In der zweiten Stunde kroch ein dicker Mann im grauen finnischen Kittel über eine Barke bedächtig zu ihnen herunter und fragte in ihrer Landessprache, was sie begehrten. Der Mann trug einen weißen Sichelbart, und seine Stimme klang rauh und polternd wie die Stimmen in Kuopio. Statt der Antwort gaben sie ihm den Vertrag. Den steckte er einfach in die Tasche und kletterte mit ihm über die Barken nach dem Ufer. Zwei Stunden lang sahen sie nichts mehr von ihm. In der dritten Stunde jedoch kam jener zurück, begleitet von einem vornehmen Herrn und einem blauen Soldaten. Die beiden letzten blieben auf dem Verdeck der Barke stehen, der Alte dagegen kroch wieder auf das Floß herunter, um den Flößern Bescheid zu geben, welche jetzt angesichts des vornehmen Herrn ihre Mütze höflich in die Hand nahmen, ohne sich übrigens im mindesten zu verbeugen.

«Ei ole Ingen»28, erklärte der Alte und gab ihnen das Papier zurück; zum Beweise zeigte er auf eine Randbemerkung, mit lauter Stimme vorlesend: «Ei ole Ingen» und auf schwedisch «Ingen finds inte». «Finds inte», bestätigte der vornehme Herr von der Barke herunter. Inzwischen buchstabierten die beiden Rakka, welche besser zu lesen als zu sprechen verstanden, die Bemerkung nach, und als die Schrift zu den Worten stimmte, nickten sie, und einer nach dem andern erklärte: «Hyvä.» Die Fremden verzogen sich nach einigen mitleidigen Bemerkungen. An ihre Stelle traten mehrere Händler, welche allerlei Angebote machten und mit heftigen Gebärden einander überschrien. Scheuen Blickes hörten die Flößer zu; als jedoch der Haufe beständig wuchs und der Lärm immer stärker wurde, sagten sie plötzlich: «I» und setzten sich auf den Boden, ohne sich mehr um die Reden zu kümmern, die ihnen entgegenflogen.

Den andern Morgen aber stießen sie das Floß wieder ins Meer. Bei diesem Anlass bekam Lussika, welche hartnäckig aussteigen wollte, um in ‹Tukholma› etwas Unnützes zu kaufen, so viele ‹Perkele› zu hören, dass sie sich monatelang nicht mehr muckste.

Nicht lange nachher, im zweiten Monat ihrer Heimfahrt, es mochte Ende September sein, die Nächte wurden schon länger, weckte Heikki den Bruder früh am Morgen und schaute ihn pfiffigen Blickes an, mit den Ohren zuckend. Rizzi richtete sich auf und lauschte. Das Wimmern eines Kindes zitterte aus der andern Wohnung herüber. «Yksi»29, erklärte der Vater. Im folgenden Sommer meldete er: «kaksi»30.

Zwischen den Schären von Helsinki, unweit der Stelle, wo sie die Maarian getroffen, bekamen sie nach vierjähriger Reise den ersten Streit. Heikki hatte eine kürzere Durchfahrt ausgespäht, Rizzi wollte durchaus nicht leiden, dass man die frühere Straße aufgebe. Die Köpfe wurden röter, die ‹Perkele› ließen immer mehr ‹r› hören, welche unheildrohend zwischen den Brüdern hin und her rollten, bis endlich Rizzi das Messer aus dem Gürtel zog. Da legte sich Lussika ins Mittel, und Heikki gab nach. So kamen sie denn wieder zu dem Badeplatz der Maarian. Hier begehrte Rizzi zu halten. Ein Büblein fischte am Ufer. «Missä Maarian?»31 fragte Rizzi. «En muista»32, lautete die barsche Antwort. «Missä Maarian?» wiederholte Rizzi. «En muista», gab der andere nochmals zurück. «Missä Maarian?» wiederholte Rizzi zum drittenmal. Jetzt warf der Junge die Angel weg und eilte mit den bloßen Füßen schnurgerade über Gestrüpp und Stein durch den kärglichen Wald hinan zum Dorf. Bald darauf erschien er mit einigen Bauern. «Missä Maarian?» fragte Rizzi. «Ei ole Maarian», tönte es im Chor. Da fuhren sie mit dem Floß weiter. Am nächsten Johannistag aber weigerte sich Rizzi zu tanzen, und zu Joulu wollte er nicht das Weihnachtskind spielen.

An einem kalten Herbstmorgen, bei strömendem Regen, kamen sie gegen Rüttelä. Heikki nahm, sobald er das väterliche Häuschen erblickte, aus dessen Tür der Rauch in regellosen Wolken zwischen dem Regen in die Höhe zog, die Mütze in die Hand und stellte sich vorn hin. Lussika mit ihren vier Kindern hielt sich versteckt hinter der Hütte. Rizzi lehnte am Steuer. Das Plätschern des näherkommenden Floßes wurde endlich gehört, und der alte Rakka kam hastig, obschon mühsam, ans Ufer gehumpelt. Seine Freude verwandelte sich indessen beim Anblick der unverkauften Tannen jählings in ein zorniges «Perkele».

«Ei ole Ingen», erklärte Heikki, den Vertrag überreichend. Danach stieß er ein rauhes Gurgeln aus der Kehle, und Lussika mit den Kindern kam zum Vorschein. Die Vorstellung war bündig und klar: Lussika, Ruppari, Heikki, Rizzi, Ranzi. «Hyvä» antwortete der Alte. Aber Rizzi rührte sich noch immer nicht vom Steuer und blickte über die Maßen betrübt ins Wasser. Der Bruder glaubte ihn entschuldigen zu müssen. «Maarian» erklärte er dem Vater. «Missä Maarian?» fragte dieser. «Ei ole Maarian», entgegnete Heikki. Jetzt fiel es ihm auf, dass die Mutter nicht da war. «Missä Muora?» Der Alte zog seine runzlige Stirn hart zusammen: «Ei ole Muora.» Nach einer Weile fragte Heikki wieder: «Missä Rethi?» Da begann der Alte zu schluchzen: «Ei ole Rethi.»

In diesem Augenblick hörten sie einen schweren Körper hinter dem Floß ins Wasser fallen, und als sie sich umdrehten, war Rizzi verschwunden. Fürchterliche Töne ausstoßend eilten sie nach dem Steuer und fischten mit Stangen und Rudern in dem See herum. Nach einer Viertelstunde legte Heikki sein Ruder weg und ließ die Arme hangen. «Ei ole Rizzi» sagte er mit trüber Stimme. «Perrrkele» knirschte der Alte.

Mariquita

Eine Novelle aus dem südamerikanischen Urwald

von Don Rodrigo Mendoza de Gibraleon y Lucena. Übersetzt von Carl Spitteler

Der dies schreibt, ist ein Greis von vierundfünfzig Jahren, dessen Haar seit einem Jahrzehnt erbleichte und den der Arzt vor wenigen Tagen mit bedenklicher Miene beiseite nahm, um ihm schonend mitzuteilen, dass er nur noch ein Jahr zu leben hat. Ich habe überhört, was für eine ‹itis› oder ‹ose› meinen Körper bedroht, aber bei der Erwähnung meines nahen Endes entfloh mir ein lauter Ausruf der Freude, was den guten Mann nicht wenig verblüffte. Seit jenem Augenblick bin ich wie neu geboren, alles interessiert mich, alles freut mich; ich bin heiter und aufgeräumt wie ein Mädchen, welchem man ein Ballkleid versprochen; winkt mir doch jetzt die Aussicht, eine Erinnerung, die mir mein Leben vergiftete, die mir täglich und allnächtlich das Herz zusammenschnürte, los zu werden und all meine einsamen Leiden in eine einzige ewige, sehnsüchtig erbetene Vergessenheit ausmünden zu lassen, da ich das schreckliche und doch so süße Bild, welches mir die Erde zu einem Aufenthalt der Verdammnis machte, welches sich zwischen die Sonne und meine Augen mit glühenden Farben unvertilglich hinstellte, nicht mehr sehen werde. Zwar das Bild wird nicht sterben, es wird noch mit seiner fürchterlichen Realität über meinem Grabe schweben; aber ich werde es nicht mehr fühlen; ich werde nicht mehr sein und nicht mehr leiden.

Was das für ein Erlebnis ist, vor dessen Erinnerung ich in den Tod wie zu einer Hochzeit flüchte, das muss ich jetzt berichten, ähnlich wie es den Verbrecher drängt, in der letzten Stunde durch ein genaues Bekenntnis seiner Taten sich die Seele zu erleichtern. Denn Verbrecher oder Opfer, Schuld oder Unglück: vor der Phantasie gilt das gleich. Wem stündlich und ewig ein Tag vor Augen steht, den er wünschte nicht gelebt oder anders gelebt zu haben, dem ist Reue, dem ist Vorwurf, dem ist Orestes’ Qual, vor deren Größe jedes andere Leid verschwindet, vor deren Unerschöpflichkeit nur der Tod Erlösung bringt.

Es sind nun zweiunddreißig Jahre her, dass ich als junger spanischer Offizier auf der Fregatte ‹Isabella› nach Südamerika segelte, um daselbst unter dem Vorwande maritimer Exerzitien den politischen Zustand der altspanischen Kolonien, namentlich Venezuelas, zu studieren, welches damals gewaltig gärte und durch die drohende Ankunft des Generals Paez in Aufregung erhalten wurde. Um Verdacht zu vermeiden, legten wir in dem kleinen Puerto Cabello an und ließen die Mannschaft sowie die Marineoffiziere an Bord wohnen, während wir andern, welche mit dem politischen Amt betraut waren, uns unter fingierten Titeln einzeln oder paarweise in der Stadt einlogierten. Der mit mir dasselbe Zimmer bezog, war ein Adeliger aus altem baskischem Geschlecht, namens Don José, ein hochgewachsener, schöner Mann mit regelmäßigem und kühnem Profil, dunklem und feurigem Auge, lockigem Haar und Bart und von distinguierten, sichern Manieren. Nicht bloß an Alter, da er schon siebenundzwanzig Jahre zählte, war er mir überlegen, sondern auch an Lebenserfahrung und Selbstvertrauen, wie sich denn überhaupt in unserem beiderseitigen Charakter wenig Berührungspunkte vorfanden; zum Teil mochte dies in der andersartigen Erziehung und den verschiedenen Lebensschicksalen seinen Grund haben, indem ich als verwöhntes rotwangiges Muttersöhnchen auf den schönen Erbgütern meiner Familie bei Sevilla aufwuchs, während ihn der frühe Verlust seiner Eltern und drückende Armut an den Hof von Madrid geworfen hatte, woselbst er sich durch Talent, List und Kühnheit den Offizierstitel zu erwerben wusste. Aber die größte Kluft zwischen unseren Naturen lag tiefer und erstreckte sich bis in das eigenste angeborne Wesen; ich war sensitiv, träumerisch, nach außen sanft und fast schüchtern; mein ganzes Fühlen war durch das Streben nach den beiden idealen Gütern des Spaniers beeinflusst: nämlich nach militärischem Ruhm vor dem königlichen Hofe und nach der Gunst einer zwar noch unbekannten, aber vor meiner Phantasie wirklich lebenden tugendhaften, schönen und hochsinnigen Frau. José hingegen kannte keine andern Motive seiner Handlungen als den Trieb, zu avancieren und Karriere zu machen, einerlei, in welchem Dienste und durch welche Mittel; er gestand öfter, als es nötig war, dass er lieber im Zollamt General, als in der Artillerie Hauptmann heißen wollte, und wenn man ihm heute die Stelle eines Direktors einer Tabaks- oder Vanille-Kompagnie mit vierzigtausend Pesos Gehalt angeboten hätte, so würde er sie ohne Bedenken angenommen haben. So wenig wie der Waffenruhm, so wenig galt ihm der Wert der Frauen; seine Äußerungen über die Señoras klangen nicht bloß unehrerbietig, sondern zynisch und bildeten lange Zeit den Gegenstand ernster Streitigkeiten zwischen uns beiden, bis wir endlich durch einen stillschweigenden Vertrag übereinkamen, dieses Thema ferner nicht zu berühren. Nicht als ob er den Umgang der Frauen gemieden hätte, im Gegenteil, es war ihm unbehaglich zumute, falls er sich nicht in eine Intrige mit irgendeiner Doña Jimena oder Juana verwickelt wusste; aber bei all diesen Verhältnissen spielte weder Liebe noch Achtung mit, dieselben mussten einzig seiner Zerstreuung, seiner Lust und am meisten wohl der Befriedigung seines Selbstgefühls dienen. Was sein Auftreten kennzeichnete, das war neben weltmännischer Sicherheit vor allem eine kalte Ironie, welche er bei seinem großen persönlichen Mut und seiner Geschicklichkeit in den Waffen nicht zu verbergen oder zu mildern für nötig hielt. Wie weit er der Freundschaft fähig war, weiß ich nicht zu beurteilen; vielleicht wa...

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