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Dark Elements 5 - Goldene Wut

Endlich ist der da: Der neue Roman aus der Welt der Gargoyles und Dämonen

Die Apokalypse steht bevor. Um die Welt zu retten, müssen Trinity und Zayne den »Boten« aufhalten. Doch keiner weiß, wer oder was dieses Wesen ist, das wahllos Wächter und Dämonen tötet. In dieser bedrohlichen Situation sind Ablenkungen für Trinity eigentlich tabu. Aber sie steckt mitten im Gefühlschaos. Denn nach dem Verrat ihres alten Beschützers ist sie mit Zayne verbunden, zu dem sie sich hingezogen fühlt, obwohl eine Liebesbeziehung zwischen einer Trueborn und ihrem Beschützer tabu ist. Aber als die Suche nach dem »Boten« immer gefährlicher wird, müssen Zayne und Trinity Hilfe beim Dämonenprinz Roth und bei Layla suchen und noch enger zusammenrücken.

»Ein absolutes Must-read für alle, die Abenteuer, Liebesgeschichten, unerwartete Wendungen und fantastische Welten lieben!«
New-York-Times-Bestsellerautorin Kresley Cole über Dark Elements – Glühende Gefühle


  • Erscheinungstag: 26.01.2021
  • Aus der Serie: Dark Elements
  • Bandnummer: 5
  • Seitenanzahl: 448
  • Altersempfehlung: 14
  • Format: E-Book (ePub)
  • ISBN/Artikelnummer: 9783748850328

Leseprobe

Für Loki,

immer an meiner Seite,

als ich Dark Elements – Goldene Wut geschrieben habe.

Du fehlst mir.

Und für Apollo,

der Hund, der jetzt bei den letzten Änderungen an diesem Buch bei mir ist.

Ich hab dich lieb.

Blinzelnd öffnete ich meine schmerzenden, geschwollenen Augen und blickte unmittelbar in das blasse, durchscheinende Gesicht eines Geistes.

Ich erschrak und richtete mich ruckartig auf. Strähnen meines dunklen Haars fielen mir ins Gesicht. »Peanut!« Mein armes Herz hämmerte wie eine Steel Drum, und um es zu beruhigen, drückte ich eine Hand gegen den Brustkorb. »Was zur Hölle, Dude?«

Der Geist, der seit zehn Jahren so eine Art Mitbewohner von mir war, grinste mich an, während er einige Zentimeter über meinem Bett in der Luft schwebte. Dabei lag er sozusagen auf der Seite und hatte den Kopf lässig in die Handfläche gestützt. »Ich überzeuge mich nur davon, dass du noch lebst.«

»Oh mein Gott.« Ich atmete stockend aus und ließ die Hand auf die weiche taubengraue Bettdecke sinken. »Schon eine Million Mal habe ich dir erklärt, dass du damit aufhören sollst.«

»Ich bin irgendwie überrascht, dass du immer noch glaubst, ich höre dir auch nur halbwegs zu.«

Da hatte er nicht ganz unrecht.

Er hatte nämlich eine Abneigung dagegen, meine Regeln zu befolgen, die eigentlich bloß aus zwei Punkten bestanden.

Anklopfen, bevor du mein Zimmer betrittst.

Beobachte mich nicht, während ich schlafe.

Ich fand, das waren ganz vernünftige Regeln.

Peanut trug immer noch dieselben Klamotten wie in jener Nacht in den 1980er-Jahren, als er starb. Das Band-Shirt von Whitesnake stammte aus dieser Zeit, genauso wie die dunkle Jeans und die roten Chucks. Aus irgendeinem idiotischen Grund war er an seinem siebzehnten Geburtstag bei einem Whitesnake-Konzert auf einen dieser riesigen Lautsprechertürme geklettert und daraufhin in den Tod gestürzt, was beweist, dass an Darwins Gesetz der natürlichen Auslese etwas dran ist.

Peanut war nach seinem Tod nicht in dieses helle weiße Licht gegangen, und nachdem er mir vor ein paar Jahren deutlich zu verstehen gegeben hat, dass seine Zeit noch nicht gekommen sei, habe ich mir abgewöhnt, ihn vom Gegenteil überzeugen zu wollen. Denn Peanut hatte seine Zeit längst überschritten, aber egal. Es gefiel mir, ihn in meiner Nähe zu wissen … außer wenn er mal wieder so gruseligen Mist anstellte wie jetzt gerade.

Ich strich mir die Haare aus dem Gesicht und schaute mich in meinem Schlafzimmer um – nein, stimmt nicht, es war nicht mein Schlafzimmer. Es war nicht mal mein Bett. All das hier gehörte Zayne. Langsam ließ ich den Blick von den schweren Vorhängen, die kein Tageslicht hereinließen, zur geschlossenen Tür wandern – die ich am Abend zuvor nicht abgeschlossen hatte, nur für alle Fälle …

Ich schüttelte den Kopf.

»Wie spät ist es denn?« Ich lehnte mich gegen das Kopfteil des Betts und zog die Decke bis zum Kinn. Es war Juli und draußen bestimmt schwül und heiß wie in der Vorhölle. Da aber die Körpertemperatur von Wächtern höher war als die von Menschen, glich die Wärme in Zaynes Wohnung dem Inneren eines Gefrierschranks.

»Fast drei Uhr nachmittags«, antwortete Peanut. »Und deshalb dachte ich auch, du wärst tot.«

Verdammt. Ich rieb mir das Gesicht. »Wir sind gestern Abend ziemlich spät zurückgekommen.«

»Ja, ich weiß. Ich war hier. Du hast mich nicht gesehen, aber ich habe dich gesehen. Euch beide. Ich habe zugeschaut.«

Ich runzelte die Stirn. Das klang ja überhaupt nicht gruselig.

»Du hast den Eindruck gemacht, als wärst du in einen Windkanal geraten.« Peanuts Blick schnellte zu meinem Kopf. »Und das tust du übrigens immer noch.«

Ja, ich fühlte mich auch wie in einem Windkanal. Mental, emotional und physisch. Gestern Abend, nachdem ich beim alten Baumhaus auf dem Wächter-Gelände einen kompletten und totalen Nervenzusammenbruch erlitten hatte, war Zayne mit mir geflogen.

Es war ein magischer Moment dort oben im kühlen Nachtwind, am Himmel die Sterne, die mir von unten immer so schwach leuchtend vorkamen, in der Höhe aber klar strahlten. Ich wollte nicht, dass der Flug endete, obwohl mein Gesicht taub wurde und meine Lungen sich abmühten, damit ich Luft kriegte. Ich wollte für immer da oben bleiben, denn im Wind und am Nachthimmel konnte mir nichts etwas anhaben, doch Zayne brachte mich zurück auf die Erde und in die Realität.

Auch wenn es mir wie eine Ewigkeit erschien, war das erst vor ein paar Stunden gewesen. Ich konnte mich kaum erinnern, wie wir in die Wohnung zurückgekehrt waren. Bislang hatten wir nicht darüber gesprochen, was mit … Misha passiert war, oder darüber, was mit Zayne geschehen war. Wir hatten überhaupt nicht gesprochen, außer dass Zayne gefragt hatte, ob ich etwas brauche, und ich Nein genuschelt hatte. Ich hatte mich nur ausgezogen und war ins Bett geklettert, und er hatte im Wohnzimmer auf der Couch geschlafen.

»Weißt du was?«, riss Peanut mich aus meinen Gedanken. »Ich mag vielleicht tot sein und so, aber du siehst noch sehr viel übler aus als ich.«

»Echt?«, murmelte ich, obwohl mich seine Worte nicht sonderlich überraschten. So, wie sich mein Gesicht anfühlte, sah ich wahrscheinlich aus, als wäre ich gegen eine Wand gerannt.

Peanut nickte. »Du hast geweint.«

Ja, das hatte ich.

»Sehr viel«, fügte er hinzu.

Auch das stimmte.

»Und als ihr gestern nicht gleich zurückgekommen seid, war ich besorgt.« Damit begab sich Peanut in eine aufrechte Position und hockte sich zu mir auf die Bettkante. Seine Beine und Hüften verschwanden ein paar Zentimeter in der Matratze. »Ich dachte, dir ist etwas zugestoßen, und bin in Panik geraten. Ich konnte nicht mal mehr Stranger Things sehen, so besorgt war ich. Denn wer kümmert sich um mich, wenn du nicht mehr lebst?«

»Du bist tot, Peanut. Niemand muss sich um dich kümmern.«

»Trotzdem muss ich geliebt und umsorgt werden. Es muss auch jemand an mich denken. Ich bin wie der Weihnachtsmann: Wenn mich kein lebendiger Mensch mag und an mich glaubt, höre ich auf zu existieren.«

Zwar funktionierten Geister und Seelen nicht so – ganz und gar nicht! –, aber Peanut war so wunderbar melodramatisch. Unwillkürlich musste ich grinsen, doch dann fiel mir ein, dass ich nicht die Einzige war, die Peanut sehen konnte. Ein Mädchen in dieser Wohnanlage konnte es auch. In ihren Adern musste verwässertes Engelsblut fließen, so wie bei allen anderen Menschen, die Geister sehen konnten oder andere übernatürliche Fähigkeiten besaßen. Genug jedenfalls, dass sie sich … von anderen unterschied. Es gab nicht viele Menschen mit Spuren von Engelsblut in sich, darum war es für mich ein Schock, zu erfahren, dass ausgerechnet hier und in meiner Nähe so jemand wohnte.

»Dachte, du hättest eine neue Freundin gefunden«, erinnerte ich Peanut.

»Gena? Sie ist cool, aber kein Ersatz, wenn du tot wie ein Türnagel wärst, und ihre Eltern sind nicht gerade allererste Sahne, wenn du weißt, was ich meine.« Bevor ich anmerken konnte, dass allererste Sahne total 80er-mäßig klang, fragte er: »Wo warst du denn gestern Abend?«

Mein Blick wanderte erneut zur geschlossenen, unverschlossenen Tür. »Ich war mit Zayne auf dem Siedlungsgelände.«

Peanut rückte näher und hob seine feingliedrige Hand. Er streichelte mein Knie, doch durch die Bettdecke spürte ich nichts, nicht einmal den kühlen Lufthauch, der normalerweise Peanuts Berührungen begleitete. »Was ist da geschehen, Trinnie?«

Trinnie.

Nur Peanut nannte mich so, während alle anderen Trin oder Trinity sagten.

Als mir alles wieder einfiel, schloss ich gequält die Augen. Peanut ahnte nichts, und ich hatte keinen Schimmer, wie ich es ihm erklären sollte, da die Verletzungen, die Mishas Taten hinterlassen hatten, noch nicht einmal annähernd geheilt waren. Wenn überhaupt, hatte ich sie gerade mal mit einem verdammt dünnen Verband umwickelt.

Ich riss mich zusammen, so gut ich konnte. Das Letzte, was ich wollte, war, mit irgendjemandem über das Geschehene zu reden, doch Peanut verdiente es einfach, Bescheid zu wissen. Schließlich kannte er Misha und mochte ihn, obwohl ihn Misha nie gesehen oder mit ihm gesprochen hatte. Außerdem war Peanut mit mir nach D. C. gekommen, um Misha zu suchen, statt in der Potomac-Highland-Wächter-Gemeinschaft zu bleiben.

Zugegeben, ich war die Einzige, die Peanut sehen und mit ihm reden konnte, aber er hatte sich in der Gemeinschaft immer wohlgefühlt. Also war es eine große Sache für ihn, mit mir hierherzureisen.

Die Augen immer noch geschlossen, holte ich tief Luft, sodass mein ganzer Körper erbebte. »Tja, na ja, wir … wir haben Misha gefunden, und das war nicht … das war nicht gut, Peanut. Er ist tot.«

»Oh nein«, flüsterte er. »Nein«, wiederholte er dann lauter.

Ich nickte.

»Oh Gott. Tut mir leid, Trinnie. Es tut mir so verdammt leid.«

Ich schluckte hart, versuchte, den Kloß in meinem Hals loszuwerden, und hob die Lider. Unsere Blicke trafen sich.

»Die Dämonen …«

»Es waren nicht die Dämonen«, unterbrach ich ihn. »Ich meine, sie haben ihn nicht getötet. Sie wollten ihn überhaupt nicht umbringen. Denn in Wirklichkeit hat er mit ihnen gemeinsame Sache gemacht.«

»Was?« Peanuts Schock und die Art, das eine Wort so schrill auszustoßen, dass es auch ein Glas zum Zerspringen hätte bringen können, wären in jeder anderen Situation lustig gewesen. »Er war doch dein Beschützer

»Misha hat alles so arrangiert – seine Entführung und alles andere auch.« Unter der Decke zog ich die Knie an die Brust. »Er hat es sogar so eingerichtet, dass Ryker an diesem einen Tag mitbekommen hat, wie ich meine Gnade eingesetzt habe.«

»Aber Ryker ist der Mörder von …«

Meiner Mutter. Erneut schloss ich die Augen und spürte, dass sie brannten, ganz so, als wären noch mehr Tränen in mir. »Keine Ahnung, was mit Misha los war. Scheinbar hat er mich schon immer … gehasst oder zumindest seine Rolle als mein Beschützer. Ich habe herausgefunden, dass er nicht mit mir hätte verbunden sein sollen. Zayne war eigentlich dafür vorgesehen, doch es ist ein Fehler passiert.«

Ein Fehler, von dem mein Vater gewusst hatte; und nicht nur, dass er nichts dagegen unternommen hatte, um ihn zu korrigieren, nein, die Angelegenheit schien ihn nicht mal die Spur zu interessieren. Auf meine Frage, warum er nichts dagegen getan hatte, meinte er nur, er wollte sehen, was daraus werden würde.

Wie verdammt beschissen war das denn bitte?

»Möglicherweise hat ihn die Verbindung verändert. Ihn irgendwie auf … die dunkle Seite gezogen«, fuhr ich mit belegter Stimme fort. »Ich weiß es nicht. Und ich werde es nie erfahren, aber die Frage nach dem Warum ändert nichts an der Tatsache, dass er mit Bael und diesem anderen Dämon zusammengearbeitet hat. Misha hat sogar gesagt, dass der Bote ihn auserwählt hat.« Vor meinem geistigen Auge tauchte Mishas Gesicht auf, und ich erschrak. »Der Bote hat ihm erklärt, auch etwas Besonderes zu sein.«

»Ist das nicht der, der die Wächter und Dämonen getötet hat?«

»Yep.« Als ich mir sicher war, nicht mehr zu weinen, schaute ich Peanut an. »Ich musste …«

»Oh nein.« Peanut schien sofort zu ahnen, was ich sagen wollte.

Aber ich musste es einfach aussprechen, weil es die Realität war. Die Wahrheit, mit der ich bis ans Ende meiner Tage zu leben hatte.

»Ich musste ihn töten.« Jedes einzelne Wort kam mir vor wie ein Stich ins Herz. Immer noch sah ich Misha vor mir. Nicht den Misha auf der Lichtung vor dem Haus des Senators, sondern den Misha, der auf mich gewartet hatte, während ich mich mit Geistern unterhielt. Den, der neben mir in seiner Wächter-Gestalt geschlafen hatte. Den Misha, der mein bester Freund gewesen war. »Ja. Ich habe ihn getötet.«

Peanut schüttelte den Kopf, das dunkelbraune Haar verblasste kurz, während er sich plötzlich materialisierte, bevor er wieder seine Gestalt als Geist annahm. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Echt nicht.«

»Da gibt es nichts zu sagen. Es ist, wie es ist.« Ich atmete tief durch und streckte die Beine aus. »Zayne ist jetzt mein Beschützer, und ich werde hierbleiben. Wir müssen den Boten finden.«

»Das ist die gute Nachricht, oder?« Immer noch in sitzender Position, stieg Peanut vom Bett auf. »Also, dass Zayne nun dein Beschützer ist.«

Ja.

Und andererseits auch nicht.

Mein Beschützer zu werden hatte Zayne das Leben gerettet, das war das Gute daran – das Großartige. Zayne hatte nicht gezögert, die Verbindung mit mir zu akzeptieren, und das sogar, noch bevor er erfuhr, dass er sowieso schon immer dazu bestimmt gewesen war. Andererseits bedeutete das, Zayne und ich … Na ja, wir konnten nie mehr sein als das, was wir jetzt füreinander waren. Egal, wie sehr ich mir wünschte, dass das anders wäre, oder wie sehr ich ihn mochte. Von nun an spielte es keine Rolle, dass er der erste Typ war, in den ich mich ernsthaft verliebt hatte.

Statt mir selbst das Kissen aufs Gesicht zu drücken, um zu ersticken, legte ich nur den Kopf in den Nacken. Peanut näherte sich den Vorhängen und war nur noch undeutlich zu erkennen, aber das hatte nichts mit seiner Gestalt als Geist zu tun. »Ist Zayne schon wach?«

»Ja, aber er ist nicht hier. Er hat dir in der Küche eine Nachricht hinterlassen. Ich habe mitgelesen, während er sie schrieb«, erklärte Peanut ziemlich stolz. »Auf dem Zettel steht, dass er sich mit jemandem namens Nic trifft. Ist das nicht einer der Typen, mit denen er damals zu uns in die Siedlung gekommen ist? Wie auch immer, er ist vor ungefähr einer halben Stunde gegangen.«

Nic war die Abkürzung für Nicolai, den Anführer des Washington-D. C.-Clans. Zayne hatte wahrscheinlich noch etwas mit ihm zu erledigen, da er das Meeting gestern Abend vorzeitig verlassen hatte, um mich zu suchen.

Wegen unserer Bindung hatte Zayne meine Gefühle gespürt. Diese seltsame neue Verbindung hatte ihn direkt zum Baumhaus geführt. Ich war mir nicht sicher, ob mich das verwunderte, verärgerte oder völlig baff machte. Wahrscheinlich eine Mischung aus allem.

»Ich frage mich, warum er mich nicht geweckt hat.« Ich schob die Decke zur Seite und rutschte auf die Bettkante.

»Er ist schon vorher hier reingekommen und hat nach dir gesehen.«

Ich erstarrte und betete innerlich, dass ich in dem Augenblick nicht gerade ins Kissen gesabbert oder irgendetwas anderes Seltsames getan hatte. »Ach ja?«

»Yep. Ich dachte, er würde dich wecken. Es schien, als würde er darüber nachdenken, doch dann hat er dich nur zugedeckt. Ich fand das total riesig von ihm.«

Keine Ahnung, was riesig in diesem Zusammenhang bedeuten sollte, aber ich fand … Gott, das war süß von Zayne.

Und es passte so zu ihm.

Ich kannte ihn vielleicht erst seit ein paar Wochen, allerdings schon so gut, um mir ohne Probleme vorstellen zu können, wie er die Bettdecke vorsichtig über mich breitete, und das so sanft, dass er mich nicht aufweckte.

Meine Brust zog sich zusammen, als wäre mein Herz in einen Fleischwolf geraten. »Ich muss jetzt duschen.« Als ich aufstand, erwartete ich, Beine wie Pudding zu haben, doch überraschenderweise fühlten sie sich kräftig und sicher an.

»Ja, musst du.«

Peanuts Bemerkung schenkte ich keine Beachtung, sondern checkte stattdessen mein Handy. Ein verpasster Anruf von Jada. Sofort drehte sich mir der Magen um. Ich legte das Smartphone weg, tapste barfuß ins Badezimmer und schaltete das Licht an. Bei der plötzlichen Helligkeit zuckte ich zusammen. Meine Augen mochten kein grelles Licht, egal welches. Und genauso wenig dunkle oder im Schatten liegende Sichtbereiche. Eigentlich nervten mich meine Augen 95,7 Prozent der Zeit.

»Trinnie?«

Die Hand noch auf dem Lichtschalter, blickte ich über die Schulter zu Peanut, der näher zum Badezimmer herangeschwebt war. »Ja?«

Er neigte den Kopf zur Seite, und als er mich so ansah, fühlte ich mich entblößt. »Ich weiß, wie viel dir Misha bedeutet hat. Das muss dir sicher sehr wehtun.«

Mishas Leben zu beenden hatte mir nicht wehgetan. Doch sehr wahrscheinlich hatte dies eine Stelle in mir ausgelöscht und durch einen scheinbar unendlich tiefen Sumpf mürrischer Bitterkeit und purer Wut ersetzt.

Aber Peanut musste davon nichts wissen. Niemand musste etwas davon erfahren.

»Danke«, murmelte ich, drehte mich um und schloss die Tür, während mir die Kehle brannte und sich wieder Tränen in meinen Augen sammelten.

Ich werde nicht weinen. Ich werde nicht weinen.

In der geräumigen Dusche, in der zwei ausgewachsene Wächter in voller Gestalt Platz gefunden hätten, nutzte ich die Minuten unter den stechend heißen Strahlen mehrerer Düsen, damit ich wieder einen klaren Kopf bekam.

Oder anders gesagt: um meine Gedanken zu sortieren.

Gestern Abend hatte ich einen dringend benötigten Nervenzusammenbruch erlitten. Ich hatte mir die Zeit genommen, mich tüchtig auszuweinen, doch jetzt musste ich das alles hinter mir lassen, weil ich eine Aufgabe zu erledigen hatte. Nach all den Jahren des Wartens war es endlich so weit.

Mein Vater hatte mich aufgefordert, meine Pflicht zu erfüllen.

Finde den Boten und halte ihn auf.

Um zu tun, wofür ich geboren war, galt es, in meinem Oberstübchen jede Menge Gedanken zu sortieren und ordentlich abzulegen. Ich fing mit dem kritischsten Punkt an. Misha. Was er getan und mich genötigt hatte zu tun, schob ich in eine Schublade ganz unten, versteckt unter dem Tod meiner Mutter und meinem Scheitern, das zu verhindern. Dieses Schubfach trug das Etikett EPISCHE NIEDERLAGEN. In der nächsten Schublade landete die Ursache für die schwarz-bläulichen Flecken an meiner linken Hüfte und auf dem Oberschenkel. Ein weiterer blauer Fleck befand sich rechts auf meinen Rippen, weil Misha mir einen bösen Tritt dorthin versetzt hatte. Er hatte mir in den Hintern getreten und noch so einiges mehr, dennoch hatte ich ihn besiegt.

Aber die übliche Selbstgefälligkeit oder der Stolz darauf, jemanden bezwungen zu haben, der im Kampf gut ausgebildet war, wollte sich diesmal nicht einstellen.

Denn an der ganzen Sache war einfach nichts Gutes zu finden.

Die blauen Flecken, die Schmerzen und all die Qualen wanderten in die Schublade, der ich den Namen KÜBELWEISE ALBTRÄUME gab, da Misha es nur geschafft hatte, so viele brutale Schläge zu landen, weil er genau wusste, dass ich ein eingeschränktes Gesichtsfeld besitze. Er hat sein Wissen gegen mich verwendet. Meine Sehfähigkeit war meine einzige Schwäche im Kampf, und nach gestern musste ich sie unbedingt verbessern, denn wenn dieser Bote herausfand, wie schlecht ich sehen konnte, würde auch er das ausnutzen.

Das hätte ich an seiner Stelle auch getan.

Und ja, das wäre ein Albtraum, weil nicht nur ich sterben würde, sondern auch Zayne. Allein bei dem Gedanken zitterte ich am ganzen Körper, während ich mich langsam unter dem Wasserstrahl drehte. Ich durfte dieser Angst nicht nachgeben – durfte nicht eine einzige Sekunde darüber nachdenken. Angst brachte einen dazu, unverantwortliche, dumme Dinge zu machen, und ich habe ohne guten Grund schon genug davon angestellt.

Die oberste Schublade meines inneren Aktenschranks war bislang leer geblieben und trug noch keinen Namen, aber nun wusste ich, was ich dort ablegen wollte. Alles, was mit Zayne zu tun hatte. Der Kuss, den ich ihm gestohlen hatte, als wir in den Potomac Highlands waren, die zunehmende Anziehungskraft und all das Verlangen … und dann diese Nacht vor unserer Verbindung. Da hatte Zayne mich geküsst, und es war genauso gewesen wie in den Liebesromanen, die meine Mutter so gemocht hatte. Als Zayne mich küsste und wir immer weitermachten, ohne bis zum Äußersten zu gehen, gab es auf einmal nur noch uns, und die Welt um uns herum hatte aufgehört zu existieren.

Ich packte all diese Erinnerungen zusammen, gemeinsam mit dem Bedürfnis, von ihm berührt zu werden, und dem Wunsch nach der Aufmerksamkeit seines Herzens – das höchstwahrscheinlich noch jemand anderem gehörte –, und schloss die Akte.

Beziehungen zwischen Beschützern und Trueborns waren strengstens verboten. Warum? Keine Ahnung, doch ich vermutete, der Grund, weshalb es dafür keine Erklärung gab, lag darin, dass ich die einzig verbliebene Trueborn war.

Ich schob die Schublade zu, der ich die schlichte Beschriftung ZAYNE verpasste, und trat aus der Dusche in das in Dampf gehüllte Badezimmer. Nachdem ich mich in ein Handtuch gewickelt hatte, beugte ich mich vor und wischte mit der Hand den beschlagenen Spiegel frei.

Ich betrachtete mein Spiegelbild. So nah waren meine Gesichtszüge nur ein wenig unscharf. Mein Teint wirkte – trotz meiner sizilianischen Wurzeln vonseiten meiner Mutter – heute blass, was meine braunen Augen dunkler und größer erscheinen ließ. Die Haut um sie herum war geschwollen, und ich hatte gewaltige Augenringe. Meine Nase war immer ein klein bisschen schief, und mein Mund schien immer noch fast zu groß für mein Gesicht.

Ich sah noch genauso aus wie an dem Abend, als Zayne und ich diese Wohnung hier verlassen hatten, um zum Haus von Senator Fisher zu fahren, in der Hoffnung, dass wir Misha oder zumindest Hinweise darauf finden konnten, wo er festgehalten wurde.

Aber mein Gefühlsleben hatte sich seither völlig verändert.

Warum gab es eigentlich keine auffälligeren äußerlichen Anzeichen von all dem, was sich seitdem geändert hatte?

Auch mein Spiegelbild wusste darauf keine Antwort, doch während ich mich abwandte, sagte ich das Einzige, was im Moment wirklich wichtig war.

»Ich bekomme das hin«, flüsterte ich und wiederholte dann lauter: »Ich bekomme das hin.«

Höchstwahrscheinlich gab ich ein komplett chaotisches Bild ab, als ich mit nassen Haaren an der Kücheninsel hockte, mit den nackten Füßen nervös auf den Boden klopfte und auf die leeren Wände starrte, während ich langsam ein Glas Orangensaft trank.

Zaynes Wohnung war so unglaublich trist und erinnerte mich an ein Apartment, wie es Immobilienmakler manchmal inszenierten, um eine Wohnung schneller verkaufen zu können.

Abgesehen von meinen schwarzen Boots, die Kampfstiefeln glichen und an der Aufzugstür standen, waren hier nirgendwo irgendwelche persönlichen Gegenstände verstreut. Es sei denn, man zählte den Boxsack in der Ecke und die blauen Matten an der Wand dazu. Tat ich aber nicht.

Eine kuschelige cremefarbene Decke lag ordentlich gefaltet auf der grauen Couch, wie für ein Fotoshooting drapiert. Auf der Küchenzeile stand nicht einmal ein vergessenes Glas oder eine Schüssel im Spülbecken. Das einzige Zimmer in dieser Wohnung, das auch nur im Entferntesten so aussah, als ob hier jemand leben würde, war das Schlafzimmer, und das auch nur, weil ich all meine Klamotten aus den Reisetaschen gezerrt und überall verstreut hatte.

Vielleicht trug auch das Industriedesign zur Kühle des Apartments bei. Die Betonböden und mächtigen Metallventilatoren, die leise an den frei liegenden Deckenbalken aus Stahl surrten, verliehen dem offenen und luftigen Raum nicht gerade eine heimelige Wärme. Genauso wenig wie die deckenhohe, dunkel getönte Fensterfront, die das Sonnenlicht so weit fernhielt, dass ich immerhin nicht den Wunsch verspürte, mir die Augäpfel zu zerstechen.

Würde ich hier allein leben, würde ich einen Koller kriegen.

All das dachte ich, während ich so dasaß – wirklich wichtige Dinge also –, und urplötzlich breitete sich Wärme in meiner Brust aus.

»Was in aller Welt ist denn jetzt los?«, murmelte ich, während die Hitze in mir regelrecht aufloderte.

Bekam ich einen Herzinfarkt? Okay, dieser Gedanke war gleich aus mehreren Gründen einfach nur dumm. Ich rieb mir die Brust. Vielleicht eine Magenverstimmung oder der Beginn eines Geschwürs …

Moment mal.

Ich setzte das Glas ab. Was ich spürte, war das Echo meines eigenen Herzens, und ich wusste auf einmal, was los war. Heiliger Müsliriegel, die Verbindung – ich spürte Zayne, und er war nah.

Neuerdings besaß ich ein Zayne-Radar, und das war ein wenig – na ja, eigentlich total – verdammt superseltsam.

Mir war danach, am Daumennagel zu knabbern, aber stattdessen nahm ich wieder das Glas Orangensaft und schüttete den Rest in zwei abscheulich lauten Schlucken herunter. Meine Herzfrequenz stieg, als der Fahrstuhl ankam. Ich schaute auf die beiden Stahltüren und wurde immer nervöser. Schnell setzte ich das Glas ab, bevor ich es noch fallen ließ. Jedes Mal, wenn ich Zayne sah, war ich so aufgeregt wie beim ersten Mal überhaupt, aber jetzt war es nicht nur das.

Gestern Abend hatte ich ihn von Kopf bis Fuß vollgeweint – also echt überall.

Hitze wanderte meinen Nacken hinauf. Ich war eigentlich keine Heulsuse, und bis gestern Abend hatte ich geglaubt, dass meine Tränenkanäle irgendwie defekt waren. Doch leider waren sie voll funktionstüchtig. Ich war tatsächlich fähig, viele unschöne, verrotzte Schluchzer von mir zu geben.

Die Aufzugtüren glitten auf, und als Zayne hereintrat, explodierte die ängstliche Energie in meinem Magen.

Verdammt.

Das schlichte weiße T-Shirt und die dunkle Jeans sahen aus, als wären sie für ihn maßgeschneidert. Der Stoff umspannte seine breiten Schultern und den Brustkorb und schmiegte sich perfekt an die schmale Taille. Alle Wächter in ihrer menschlichen Form waren hochgewachsen, doch Zayne war einer der größten, die ich je gesehen hatte, denn er maß fast zwei Meter.

Zayne hatte wunderschönes, kräftiges blondes Haar mit Naturlocken, die ich bei mir nicht einmal nach Stunden, einem YouTube-Tutorial und einem Dutzend Lockenstäben zustande gebracht hätte. Heute trug er es wieder zu einem Knoten im Nacken zusammengebunden, und ich hoffte inständig, dass er sich nie die Haare abschneiden würde.

Er sah mich sofort, und obwohl ich von der Kücheninsel aus seine Augen nicht erkennen konnte, spürte ich seinen Blick. Der war irgendwie bleischwer, zugleich aber sanft und ließ mich erschauern, sodass ich dankbar war, das Glas bereits abgestellt zu haben.

»Hey, Schlafmütze«, sagte er, während sich die Lifttüren hinter ihm schlossen. »Schön, dass du wach und auf den Beinen bist.«

»Tut mir leid, dass ich so lange geschlafen habe.« Ich hob die Hände und ließ sie dann wieder in den Schoß fallen, weil ich nicht wusste, was ich mit ihnen anfangen sollte. Zayne trug irgendeine Art zusammengerolltes Papier unter einem Arm und in der anderen Hand eine braune Papiertüte. »Kann ich dir helfen?«, fragte ich, was wirklich bescheuert war, wenn man bedenkt, dass Zayne einen SUV mit nur einer Hand anheben konnte.

»Nein. Und entschuldige dich nicht. Du hast Ruhe gebraucht.« Selbst mit Brille konnte ich seine Gesichtszüge nur verschwommen erkennen, aber mit jedem Schritt, den er auf mich zumachte, wurden sie klarer und schärfer.

Rasch schaute ich weg, dennoch wusste ich genau, wie er aussah.

Absolut atemberaubend und unglaublich attraktiv. Mir fielen noch viel mehr Adjektive ein, um ihn zu beschreiben, aber ehrlich gesagt wurde seiner Schönheit keines gerecht.

Seine Haut schimmerte golden – ein Farbton, der nicht von der Sonne stammte. Die hohen, breiten Wangenknochen passten zu dem großen, ausdrucksstarken Mund, und sein Kiefer schien wie aus Granit gemeißelt.

Ich wünschte, er wäre weniger attraktiv gewesen – oder ich weniger unscheinbar –, aber selbst wenn beides der Fall gewesen wäre, letztlich hätte das nichts geändert. Denn Zayne war mehr als eine hübsche Verpackung, die ein hässliches Inneres oder einen faden Charakter verbarg. Er war wahnsinnig smart, und seine Intelligenz war genauso bestechend wie sein Humor. Ich fand ihn lustig und unterhaltsam, auch wenn er mir manchmal auf die Nerven ging und überfürsorglich war. Am wichtigsten jedoch: Zayne war wirklich freundlich, und – oh, Mann – Freundlichkeit wurde von den meisten Menschen total unterschätzt.

Zayne besaß ein gutes Herz, ein großes und liebenswürdiges Herz, obwohl er einen Teil seiner Seele verloren hatte.

Das Sprichwort, dass die Augen das Fenster zur Seele sind, stimmte. Zumindest was die Wächter anging, und Zaynes Pupillen hatten wegen all der Dinge, die ihm bislang zugestoßen waren, einen blassen eisblauen Farbton.

Früher hatte er Layla gedatet – halb Dämonin und halb Wächterin –, mit der er aufgewachsen und die zufällig die Tochter von Lilith war. Zayne und sie hatten sich geküsst, und da sich Liliths Fähigkeiten in Layla offenbarten, hatte sie ihm einen Teil seiner Seele gestohlen.

Ich ballte die Hände zu Fäusten. Die ganze seelenraubende Angelegenheit war versehentlich passiert, und Zayne hatte damals von den damit verbundenen Gefahren gewusst, trotzdem änderte all das nichts daran, dass mich blitzartig Wut und etwas weitaus Bittereres durchströmte. Zayne hatte Layla derart stark gewollt – er liebte sie so sehr, dass er das Risiko eingegangen war, sich und sein Leben für alle Ewigkeiten einer Gefahr auszusetzen, nur um Layla zu küssen.

Das war echt Hardcore, denn ich bezweifelte, dass eine nicht ganz intakte Seele positiv beurteilt werden würde, wenn man ans Himmelstor trat, egal, wie gutherzig man ansonsten war.

Diese Art von Liebe verging nicht einfach, nicht in nur sieben Monaten, und etwas, das ich mir nicht eingestehen wollte – etwas, das ich unter der Dusche in dieser Schublade abgelegt hatte –, sackte in meinem Herzen schlaff in sich zusammen.

»Geht es dir gut?«, fragte Zayne, als er die Tüte und die Papierrolle auf der Kücheninsel ablegte. Der Duft, der aus der Tüte drang, erinnerte mich an Grillfleisch.

Während ich mich fragte, ob er durch unsere Verbindung mehr mitbekam, als mir bewusst war, hielt ich den Blick stur auf die Papiertüte gerichtet und nickte. »Yep. Also, ähm, wegen gestern Abend …«

»Was soll damit sein?«

»Tut mir leid, dass ich dich so voll geheult habe.« Ich wurde rot, und Hitze stieg mir in die Wangen.

»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, Trin. Du hast eine Menge durchgemacht …«

»Du doch auch.« Ich blickte auf meine Finger und die abgeknabberten, ungepflegten Nägel.

»Du hast mich gebraucht, und ich wollte für dich da sein.« Aus Zaynes Mund klang das so leicht, als ob es schon immer so gewesen wäre.

»Das hast du gestern Abend auch schon gesagt.«

»Und das gilt auch heute noch.«

Ich presste die Lippen fest aufeinander und nickte wieder, während ich tief Luft holte und sie langsam wieder ausstieß. Ich spürte die Wärme seiner Hand schon, bevor die Finger mein Kinn anhoben. Vom allerersten Augenblick, als seine Haut meine berührte, erfasste mich eine Art merkwürdiger Stromschlag, etwas Wohlbekanntes durchzuckte mich, und ich hatte keine Ahnung, ob das an unserer Verbindung lag oder an Zayne selbst. Dieser einzigartige Duft, den er verströmte und der mich an Wintermint erinnerte, weckte meine Sinne. Zayne hob meinen Kopf an, sodass ich ihm in die Augen schaute.

Er hatte sich über die Kücheninsel gebeugt, und unter seinem ausgestreckten Arm befand sich die Papierrolle. Er betrachtete mich und zog leicht amüsiert den Mundwinkel nach oben. »Du trägst ja deine Brille.«

»Ja, tue ich.«

Jetzt grinste er. »Du trägst sie nicht oft.«

Richtig, allerdings nicht aus irgendwelchen lahmen Gründen der Eitelkeit. Denn anders als beim Lesen oder am Laptop half die Brille ansonsten nicht viel mehr, als einige Dinge lediglich etwas weniger verschwommen zu erkennen.

»Ich mag sie. Ich mag sie an dir.«

Meine Brille bestand nur aus Gläsern in einer einfachen quadratischen schwarzen Fassung, keine coole Farbe oder irgendein ausgefallenes Design; doch plötzlich hatte ich das Gefühl, ich sollte sie öfter tragen.

Und dann dachte ich nicht mehr an meine Brille, denn Zayne bewegte die Finger an meinem Kinn, und ich spürte, wie er mit dem Daumen über die Haut direkt unter meiner Unterlippe strich. Ein wohliges Prickeln erfasste erst meine Haut und schließlich meinen ganzen Körper. Es war berauschend.

Du willst mich noch mal küssen, oder?

Ich hörte ihn diese Frage stellen, als ob er sie laut ausgesprochen hätte, genauso wie damals, nachdem ich geholfen hatte, die Trollkralle aus seiner Brust zu entfernen. Ohne zu zögern hatte ich Ja gesagt, auch wenn das nicht gerade eine schlaue Idee gewesen war.

Unschlaue Ideen haben mir ja schon immer Spaß gemacht – viel Spaß.

Zayne senkte den Blick, die Wimpern schützten seine Augen, und ich dachte, er schaute auf meinen Mund und dass … Ich wollte das unbedingt.

Ich wich zurück, gerade mal so weit, dass ich außerhalb seiner Reichweite war.

Zayne ließ die Hand sinken und räusperte sich. »Wie hast du geschlafen?«

»Gut.« Das aufregende Prickeln verschwand, und mein Puls normalisierte sich, sodass ich langsam meine Sprache wiederfand. »Und du?«

Zayne richtete sich auf, und sein Blick verriet, er war sich nicht sicher, ob er mir meine Antwort abnehmen sollte oder nicht. »Ich bin bloß eingeschlafen, weil ich so erschöpft war, hätte aber besser schlafen können.«

»Bestimmt ist die Couch nicht allzu bequem.«

Wieder trafen sich unsere Blicke, und mir stockte der Atem. Ich hatte nicht vor, ihm das Bett anzubieten, aber es war groß genug, dass ich es mit ihm teilen konnte, denn wir waren schließlich reife Erwachsene. Oder so ähnlich. Wir hatten schon früher das Bett miteinander geteilt, ohne irgendwelchen Unfug zu treiben, doch beim letzten Mal hatte sich der Unfug der lustigen eindeutig der verbotenen Art angenähert.

Zayne zuckte mit den Schultern. »Hast du meine Nachricht gelesen?«

Erleichtert über den Themawechsel schüttelte ich den Kopf. »Peanut hat zugesehen, wie du den Zettel geschrieben hast, und mir davon berichtet. Er meinte, du wärst bei Nicolai.«

Mitten im Öffnen der Papiertüte hielt Zayne inne und erstarrte.

Um nicht zu lächeln, presste ich fest die Lippen aufeinander, während Zayne verunsichert hinter mich schaute. »Ist er momentan hier?«

Ich blickte mich im leeren Zimmer um. »Nicht, dass ich wüsste. Warum? Jagt es dir Angst ein, dass er bei dir war und du das nicht bemerkt hast?«, neckte ich ihn. »Fürchtest du dich vor dem kleinen alten Peanut?«

»Ich bin mir meiner knallharten Männlichkeit vollkommen bewusst und habe kein Problem damit, ehrlich zuzugeben, dass mir ein Geist, der in meiner Nähe rumhängt, unheimlich ist.«

»Unheimlich?« Ich lachte auf. »Wie alt bist du? Zwölf?«

Er schnaubte, während er die Tüte auspackte und sich der Duft von gegrilltem Fleisch weiter ausbreitete. »Pass auf, was du sagst, oder ich esse diesen Hamburger, den ich für dich gekauft habe, direkt vor deinen Augen und werde es genießen.«

Beim Anblick der weißen Schachtel, die Zayne hervorgeholt hatte, knurrte mir der Magen. »Solltest du das wagen, würde ich dich mit einem Dropkick in die Wand rammen.«

Zayne grinste, als er die Schachtel vor mir hinstellte und dann eine weitere aus der Tüte holte. »Möchtest du etwas trinken?« Er drehte sich zum Kühlschrank um. »Ich glaube, ich habe noch eine Cola, da du dich ja weigerst, Wasser zu trinken.«

»Wasser ist für Menschen, die sich um ihre Gesundheit sorgen, und ich halte nichts von dieser Lebensart.«

Kopfschüttelnd nahm er eine Dose kohlensäurehaltiger Göttlichkeit und eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank. Die Dose schob er über die Kücheninsel zu mir.

»Wusstest du, dass dieses ganze Gequatsche, dass man täglich mindestens zwei Liter Wasser trinken soll, genauso unsinnig und wenig gesundheitsfördernd ist wie der Spruch, jeden Tag ein Stück Obst zu essen?«, fragte ich. »Eigentlich muss man nämlich nur Wasser trinken, wenn man durstig ist, weil, logo, deshalb hat man ja Durst, vor allem weil man ansonsten die nötige Flüssigkeit auch aus anderen Getränken wie beispielsweise meinem schönen kalorienreichen Drink und aus Nahrungsmitteln bekommt. Hast du gewusst, dass die Studien, die das mit den zwei Litern täglich erforscht haben, auch angaben, dass man den größten Anteil von Flüssigkeit aus Nahrungsmitteln beziehen kann, die man isst, aber bei der Veröffentlichung der Forschungsberichte wurde das praktisch überhaupt nicht erwähnt?«

Stirnrunzelnd schraubte Zayne seine Wasserflasche auf.

»Ich bin der allerbeste Beweis dafür. Denn es gibt keinen wissenschaftlichen Beleg, der die Zwei-Liter-Formel stützt, und ich muss mich nicht unbedingt mit Wasser ertränken.« Damit öffnete ich meine Cola. »Also, lass mich mein Leben leben.«

In einem beeindruckenden Zug trank Zayne die Hälfte seines Wassers. »Danke für die Gesundheitsberatung.«

»Gern geschehen.« Ich grinste ihn an und öffnete die Schachtel mit dem Burger. Mein Magen führte ein Freudentänzchen auf, als ich das gegrillte Fleisch zwischen dem getoasteten Sesam-Bun und daneben eine Portion Curly Fries sah. »Ich danke dir für das Essen. Dich muss man sich warmhalten.«

»Ja. Ich will auch warmgehalten werden.«

Ich sah ihn an, aber er erwiderte meinen Blick nicht, weil er damit beschäftigt war, seine Schachtel zu öffnen, was gut war, denn sonst wäre die Fantasie mit mir durchgegangen.

Aufregung machte sich in mir breit, und merkwürdigerweise musste ich an den Geruch von Pfeffer denken. Irgendwie fühlte sich das frustrierend an, und ich dachte, dieses Empfinden hätte sich vielleicht von Zayne übertragen.

Das Ganze war sonderbar.

»Aber du kannst mich jetzt nicht mehr wirklich loswerden, oder?« Den Kopf gesenkt, schaute er mich unter dichten Wimpern an. »Du bist fest mit mir verbunden.«

»Ja.« Blinzelnd schnappte ich mir meinen Burger. Ich betrachtete die Angelegenheit etwas anders als Zayne. Er war mein Beschützer. Ich war die Trueborn, die er bewachte. Gemeinsam waren wir ziemlich mächtig, weil wir füreinander geschaffen waren, und das Einzige, was uns trennen konnte, war der Tod.

Hielt er uns etwa tief in seinem Inneren für ungewollt verbunden, obwohl er nicht eine Sekunde gezögert hatte, als ihm die Bindung angedient worden war? War das nicht das Gleiche wie mit Misha? Mal abgesehen davon, dass Misha und ich nie füreinander bestimmt gewesen waren, hatte ich eine wachsende Unruhe in ihm gespürt, aber ich war damals dermaßen mit mir selbst beschäftigt, dass ich nicht darauf geachtet hatte.

Bis es zu spät war.

Zayne hatte mittlerweile erfahren, dass mich meine Mutter damals eigentlich zu seinem Vater bringen sollte, und weil sie das nicht getan hatte, dachte sein Vater, dass von Zayne erwartet wurde, Layla aufzunehmen, eine Halbdämonin und Halbwächterin, weil er sie fälschlicherweise für mich hielt, eine Trueborn, in der sehr viel Engelsblut floss.

So eine Art riesiges Ups.

Keine Ahnung, wie Zayne über all dies dachte. Oder ob es ihm überhaupt etwas ausmachte, dass er eigentlich mit mir hätte aufwachsen sollen.

Ich hob die obere Hälfte des Buns an, entfernte die dicke Tomatenscheibe und öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Aber dann machte ich den Fehler, einen Blick auf Zaynes Essen zu werfen. Er hatte ein gegrilltes Sandwich mit Huhn. Ich verzog das Gesicht, weil das Ganze ungefähr so appetitlich aussah, wie eine ungewürzte Hühnerbrust eben aussehen konnte. Während ich das Brötchen wieder auf meinen Burger klappte, nahm Zayne seine obere Sandwichhälfte ab.

»Du bist ein Monster«, flüsterte ich.

Leise lachte Zayne. »Isst du die noch?« Er zeigte auf die Tomatenscheibe, die ich beiseitegelegt hatte. Ich schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht. Du magst ja weder Gemüse noch Wasser.«

»Das ist nicht wahr. Ich mag Zwiebeln und Gurken.«

»Aber nur auf Hamburgern.« Er trug seine Schachtel mit dem Essen um die Kücheninsel herum, ließ sich auf den Hocker neben mir fallen, schnappte sich die Tomate und legte sie dann auf sein mickriges Hühnchensandwich. »Iss, und dann zeige ich dir, was ich von Nic mitgebracht habe.«

Wir aßen Seite an Seite, reichten uns gegenseitig Servietten und hatten beide nicht das Bedürfnis, die Stille mit irgendwelchen nutzlosen Gesprächen zu füllen. Dadurch entstand eine ziemlich überraschende Intimität. Nachdem wir fertig gegessen hatten, meldete ich mich freiwillig, alles wegzuräumen, weil Zayne das Essen geholt und ich bisher nichts anderes getan hatte, als zu schlafen. Nachdem ich die Kücheninsel abgewischt hatte, kletterte ich wieder auf den Hocker neben Zayne.

»Bevor wir uns ansehen, was du mitgebracht hast, muss ich dich um einen Gefallen bitten.« Ich holte tief Luft.

»Schon erledigt«, antwortete er.

Erstaunt schossen meine Augenbrauen nach oben. »Ich habe doch noch gar nicht gesagt, worum es geht.«

Er zuckte mit einer Schulter. »Was auch immer es ist, dein Wunsch ist mir Befehl.«

Ich starrte ihn an. »Und was, wenn ich dich bitte, deinen Vintage-Impala gegen einen Minivan aus den 1980ern einzutauschen?«

Wieder sah Zayne mich stirnrunzelnd an. »Das wäre echt eine seltsame Bitte.«

»Genau, und du hast einfach schon vorher zugestimmt!«

Er neigte den Kopf zur Seite. »Du bist zwar sonderbar, Trin, aber ich glaube nicht, dass du dermaßen sonderbar bist.«

»Irgendwie habe ich das Gefühl, ich sollte jetzt beleidigt sein.«

»Also, um was für ein Gefallen geht’s?«, fragte Zayne grinsend.

»Ich brauche Hilfe … beim Training.« Ich streckte die Schultern. »Misha und ich haben jeden Tag trainiert. Das brauche ich zwar nicht, aber in einem bestimmten Bereich muss ich unbedingt üben.«

Damit hatte ich seine volle Aufmerksamkeit erregt. »Und der wäre?«

»Du weißt ja, dass ich nur ein eingeschränktes Sichtfeld habe.« Ich nahm die Füße vom Boden und setzte sie auf das Fußteil des Barhockers. »Für mich ist da außen buchstäblich ein blinder Fleck, und wenn ich kämpfe, versuche ich, genügend Abstand zwischen mich und meinen Gegner zu bringen, damit er in meinem zentralen Sichtbereich bleibt.«

Zayne nickte. »Klingt sinnvoll.«

»Na ja, Misha kannte meine Schwäche, und er hat sie gestern ausgenutzt, darum konnte er so viele Treffer landen. Ich würde im Kampf das Gleiche tun. Denn schließlich ist alles erlaubt.«

»Geht mir genauso«, murmelte Zayne.

»Aber ich bezweifle, dass Misha dieses Wissen für sich behalten hat. Vielleicht hat er es Bael verraten. Vielleicht sogar diesem Boten«, erklärte ich. »Ich muss meine Fähigkeiten verbessern. Ich weiß nicht wie, aber ich muss …«

»… lernen, dich nicht auf dein Sehvermögen zu verlassen?«, fragte er.

Ich nickte und atmete aus. »Ja.«

Nachdenklich verzog Zayne den Mund. »Es ist eine großartige Idee, daran zu arbeiten, und Training ist immer schlau. Daran habe ich gar nicht gedacht.«

»Na ja, die ganze Sache mit der Verbindung ist ja gerade erst passiert, darum …«

Kurz grinste er mich an. »Lass mich über Möglichkeiten nachdenken, wie wir an deinem Wunsch arbeiten können.«

Ich lächelte erleichtert. »Ich werde mir auch etwas überlegen. Also, was wolltest du mir zeigen?«

Zayne breitete die Papierrolle auf der Kücheninsel aus. »Gideon hat für mich die Pläne aus Senator Fishers Haus ausgedruckt, die Layla abfotografiert hat. Ich dachte mir, du würdest sie vielleicht sehen wollen.«

An dem Abend hatte ich die Pläne nicht sehen können, also war das unglaublich … aufmerksam von Zayne. Ich beugte mich über das Dokument, das ungefähr halb so groß war wie die Kücheninsel, und überflog die Entwürfe, während Zayne vom Barhocker aufstand. Zwar hatte ich keine große Ahnung von Bauplänen, aber innerhalb weniger Augenblicke erkannte ich, dass die ersten Vermutungen richtig waren. »Das sind wirklich Pläne für den Bau einer Schule, oder? Das hier sind Klassenzimmer. Da ist eine Cafeteria, und das sind Schlafsäle.«

»Yep.« Zayne trug seinen Laptop zur Kücheninsel. »Gideon hat eine schnelle Recherche im Stadtarchiv durchgeführt und konnte keine Genehmigungen finden, die mit dem Senator und dem Bau der Schule zu tun hatten, aber ich schaue mal, ob ich online etwas finden kann, das sich darauf bezieht, während Gideon in unterschiedlichen Datenbanken weitersucht.«

»Klingt gut«, murmelte ich und studierte eingehend die Pläne vor mir.

»Hör dir das an«, meinte Zayne einige Minuten später. »Wir wissen, dass Fisher der Mehrheitsführer des Senats und dafür bekannt ist, ein gottesfürchtiger Mann und ein Vorbild zu sein, der die traditionellen Familienwerte der 1950er-Jahre vertritt.«

»Wie ironisch«, murmelte ich.

»Ich kann dir gar nicht sagen, wie viele Websites von religiösen Leuten sich ihm widmen. Sogar die der Kirche der Kinder Gottes.«

Ich verdrehte die Augen. »Tja, genau das sollte dir etwas sagen.«

Zayne lächelte. »Auf ihrer Homepage steht, sie glauben, er ist eine Art Prophet oder Heiland, der dazu bestimmt ist, die USA zu retten. Ich frage mich, vor was.« Seine Finger bewegten sich über das Touchpad, und er schüttelte den Kopf. »Glücklicherweise scheinen diese Leute eine sehr, sehr kleine Minderheit zu sein.«

Gott sei Dank. Die Sache mit dem Senator war irgendwie verdreht ironisch. Der Mann war definitiv kein Fan von Gott, wenn man bedachte, dass er mit einem uralten Hohedämon abhing und Hexen aufsuchte, um Verwünschungen zu erreichen und Menschen in Kanonenfutter zu verwandeln – genau derselbe Hexenzirkel, der uns an Dämon Aym verraten hatte.

Mann, ich wünschte, ich könnte auch ein paar echte Hexenschwüre, denn dann würde ich diesem Zirkel die Beulenpest und noch ein wenig mehr anhängen. »Egal, was er vorhat, ich bezweifle, dass es etwas Gutes ist.«

»Ganz deiner Meinung.« Zayne tippte auf der Tastatur herum. »Scheinbar hat es das Feuer in die Nachrichten geschafft.« Er stellte den Laptop etwas schräger, sodass ich das Bild von dem ausgebrannten, verkohlten Haus und die Überschrift Feuer in der Nacht zerstört Zuhause von Senator Fisher, Mehrheitsführer des Senats gut erkennen konnte. »Da steht nicht mehr, als dass vermutlich ein Kurzschluss die Ursache war«, erklärte Zayne.

Verächtlich schnaubte ich. »Ich mag ja keine Brandspezialistin sein, aber ich bezweifle ernsthaft, dass auch nur irgendetwas an diesem Feuer die Vermutung zulässt, dass es auf einen Kurzschluss zurückzuführen ist …« Ich brach ab, denn vor meinem geistigen Auge tauchten erneut die unselig lodernden roten Flammen auf und Zayne in seiner eigentlich fast unbesiegbaren Wächter-Gestalt und wie er brannte und dem Tod nahe war …

»Wahrscheinlich gibt es bei der Feuerwehr Leute, die mit Fisher zusammenarbeiten«, erklärte Zayne und riss mich aus meinen Gedanken. »Wenn Dämonen in menschliche Kreise eindringen, löst das eine Epidemie aus, der Dämon wird zur Krankheit. Der erste davon befallene Mensch ist die Quelle und infiziert weitere. Wie ein Virus, das sich durch Kontakt ausbreitet, und je weiter der neue Empfänger von der eigentlichen Quelle entfernt ist, desto weniger ahnen die Menschen, für was oder wen sie tatsächlich arbeiten.«

»Aber der Senator weiß, dass er mit einem Dämon gemeinsame Sache macht. Er ist zum Hexenzirkel gegangen und hat diesen Zauberspruch erhalten.« Ich runzelte die Stirn. »Und als Gegenleistung hat er Teile eines Trueborns versprochen – also von mir. Der Idiot.«

Plötzlich war ein leises Knurren zu hören, sodass sich mir die winzigen Härchen an meinem ganzen Körper aufstellten, und ich blickte mich in der Küche um, woher das Geräusch kam. Ich hatte noch nie einen Höllenhund gesehen, stellte mir aber vor, dass er genau solche Töne von sich gab. Doch das Geräusch stammte von Zayne.

Überrascht riss ich die Augen auf.

»Das wird nicht geschehen.« Seine Augen sprühten hellblaue Funken. »Niemals. Das kann ich dir versprechen.«

Langsam nickte ich. »Nein, wird es nicht.«

Zayne hielt noch einen Moment den Blickkontakt aufrecht und widmete sich dann wieder der Internetrecherche. Auf einmal breitete sich Angst in meinem Herzen aus, und alle Muskeln spannten sich an, denn urplötzlich wurde mir klar, dass Zayne … sein Leben für mich geben würde. Das hatte er ja fast schon einmal getan, und das sogar, bevor wir verbunden wurden. Er hatte mich aus dem Weg geschubst, als Aym mich angegriffen hatte, und das fast mit dem Leben bezahlt. Aym besaß ein unglaublich fürchterliches Talent, mit Höllenfeuer umzugehen, das alles, was ihm im Weg war, niederbrennen konnte, einschließlich eines Wächters.

In Zaynes Jobbeschreibung als mein Beschützer stand, dass er sein Leben für mich gab. Sollte ich sterben, würde auch Zayne sterben. Und sollte er sterben, weil er mich beschützte, würde ich weiterleben, und ich nahm an, dass ihn dann ein anderer ersetzen würde – einer wie Misha, der nie mit mir hätte verbunden sein sollen.

»Du musst keine Angst haben«, sagte Zayne und starrte weiter auf den Bildschirm.

Sein Profil wurde von dem Licht des Laptops angestrahlt. »Was?«

»Ich kann das spüren.« Er legte die linke Handfläche an seine Brust, und meine Schultern spannten sich an. »Das fühlt sich an wie ein Eiszapfen in meiner Brust. Und ich weiß, dass du keine Angst vor mir oder um dich selbst hast. Dafür bist du viel zu krass drauf. Du hast Angst um mich, und das brauchst du nicht. Weißt du, warum?«

»Warum?«, flüsterte ich.

Zaynes Blick war unerschütterlich. »Du bist stark, und du bist eine verdammt gute Kämpferin. In manchen Momenten mag ich dein Beschützer sein, aber wenn wir kämpfen, bin ich dein Partner. Ich weiß, dass du nicht meinen Arsch riskieren wirst, nur weil du dich nicht selbst behaupten kannst. Es ist unmöglich, an deiner Seite zu scheitern, und niemand wird dich je besiegen, solange ich an deiner Seite bin. Also, verscheuch die Angst aus deinem Kopf.«

Mir stockte der Atem. Das war vielleicht das Schönste, was je jemand über mich gesagt hatte. Mir war danach, Zayne zu umarmen. Das tat ich aber nicht, und irgendwie gelang es mir, meine Hände und Arme stillzuhalten. »Ich mag es, wenn du sagst, dass ich krass drauf bin.«

Das wurde mit einem Grinsen belohnt. »Bin nicht im Geringsten überrascht, das zu hören.«

»Heißt das, du gibst endlich zu, dass ich dich damals im Trainingsraum unserer Gemeinschaft besiegt habe?«, fragte ich.

»Ach komm. Ich werde nicht lügen, nur damit du dich besser fühlst.«

Ich lachte, spielte verlegen mit meinen Haaren und wickelte sie zusammen. »Gehen wir heute Abend auf Patrouille?«

Normalerweise patrouillierten Wächter, um die Verbreitung von Dämonen in Schach zu halten, aber ich meinte etwas anderes. Zayne und ich suchten nach einem bestimmten Dämon und einer Kreatur, für die wir keinen anderen Namen hatten als der Bote.

Zayne hielt inne. »Ich dachte, wir könnten uns einfach mal einen Abend ausruhen. Entspannen.«

Entspannen mit Zayne? Einerseits war mir total danach, aber die Tatsache, dass ich das so unbedingt wollte, war andererseits ein deutlicher Hinweis darauf, dass das besser überhaupt nicht infrage kam.

»Ich finde, wir sollten den Boten suchen«, sagte ich. »Wir müssen ihn finden.«

»Ja, aber macht da eine Nacht mehr oder weniger einen Unterschied?«

»Bei unserem Glück? Ja.«

Ein kurzes Grinsen tauchte in Zaynes Gesicht auf und verschwand genauso schnell wieder. »Bist du sicher, dass du dazu schon wieder imstande bist? Gestern …«

Ich streckte den Rücken durch. »Gestern war gestern. Ich bin bereit. Was ist mit dir?«

»Aber immer«, murmelte er zuerst und sagte dann lauter: »Wir patrouillieren heute Abend.«

»Gut.«

Daraufhin konzentrierte er sich wieder auf den Bildschirm. »Ich habe noch etwas gefunden. Einen Artikel, der im Januar in der Washington Post erschienen ist und in dem Fisher über Spendengelder für eine Schule für chronisch kranke Kinder spricht. Ich zitiere: ›Diese Schule wird ein Ort der Freude und der Bildung werden, an dem nicht die Krankheit die Schüler definiert und ihre Zukunft bestimmt.‹ Und dann spricht er darüber, dass es dort medizinisches Personal geben wird, ebenso wie Betreuer und hochmoderne Reha-Einrichtungen.«

»Das kann echt nicht sein, oder? Dass er eine Schule für kranke Kinder baut? Ein dämonisches Erholungsheim?« Angewidert blieb mir nichts anderes übrig, als die Zeilen auf dem Bildschirm anzustarren, die ich nicht deutlich genug erkennen konnte, um sie wirklich zu lesen. »Kranke Kinder als Tarnung benutzen? Mann, das ist ein ganz neues Niveau von Boshaftigkeit.«

»Tja, warte, bis du das hier hörst.« Zayne lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Er erklärt in dem Artikel, dass das gesamte Vorhaben und der Plan im ehrenvollen Gedenken an seine Frau geschehen, die den langen Kampf gegen den Krebs verloren hat.«

»Oh Gott. Ich weiß gar nicht, welche Seite der Geschichte ich schlimmer finde.«

»Beide sind gleich grässlich.« Zayne schaute mich an. »Hier steht, dass er das Land für die Schule bereits gekauft hat. Interessant also, dass Gideon noch keinen Eintrag dazu gefunden hat. Da stellt sich doch die Frage, warum in öffentlichen Verzeichnissen einfach nichts zu finden ist.«

Ich nahm einen Schluck von meiner Cola. »Schwer zu glauben, dass das wahr ist. Dass er wirklich eine Schule baut. Zumal ich ernsthaft bezweifle, dass das Ganze dazu beiträgt, das Leben von irgendwem zu verbessern.«

»Stimmt. Und das Übelste daran? Eine Schule wie diese wird wirklich gebraucht, und deshalb wird es auch nicht an Leuten mangeln, die bereit sind, sich dafür einzusetzen.« Das war eine erschreckende Wahrheit. »Meine Vorstellungskraft reicht für eine Million unterschiedlicher schrecklicher Motive dafür, zumal Fisher mit Bael und dem Boten in Kontakt steht.«

Und alle – Bael, Aym, der Bote – führten zurück zu Misha.

Deshalb musste ich da raus und Bael und diesen Boten finden. Unbedingt. Nicht nur, weil der Bote Wächter und Dämonen jagte oder weil mein Vater uns gewarnt hatte, dass der Bote ein Zeichen für das Ende der Welt war, sondern auch, weil es hier um etwas Persönliches ging.

Misha hatte gesagt, der Bote hätte ihn erwählt, und ich wollte wissen, warum … warum er ausgewählt wurde, warum er bei alldem mitgemacht hatte. Ich wollte wissen, warum er das getan hatte.

Ich musste es verstehen.

Als ich auf meine Hände blickte, merkte ich, dass ich die Fäuste so fest geballt hatte, dass sich die stumpfen Nägel in die Handflächen bohrten.

Der heutige Abend konnte für mich gar nicht schnell genug kommen.

»Warte hier, Trin. Ich bin gleich wieder da.«

»Was …« Ich drehte mich zu der Stelle um, an der Zayne gestanden hatte, aber er war bereits verschwunden.

Der Arsch war bereits in der Menge untergetaucht, zwischen den Menschen, die den lauen Abend in Washington D. C. genossen und sich schneller bewegten, als mein Sichtfeld folgen konnte.

Mit offenem Mund blickte ich auf all die verschwommenen, unbekannten Gesichter. Hatte mich Zayne gerade ernsthaft wie ein lästiges Anhängsel auf dem Gehweg geparkt, während er hinter dem Hohedämon her war, den ich hier irgendwo gespürt hatte?

Völlig verblüfft und ein wenig dümmlich blinzelte ich, als ob Zayne auf diese Weise wieder vor mir auftauchen würde.

Yep.

Genau das hatte er getan.

»Du willst mich wohl verarschen, verdammt noch mal!«, rief ich laut. Ein Mann, der gerade mit seinem Handy telefonierte, blickte stirnrunzelnd in meine Richtung. Was auch immer er von meinem Gesicht ablas, veranlasste ihn nicht nur, zügig einen Bogen um mich zu machen, sondern auch noch, die Straßenseite zu wechseln.

Und das war wahrscheinlich auch besser so, denn ich war bewaffnet und ausreichend gereizt, um einen eisernen Dolch gegen einen beliebigen Menschen zu richten.

Unglaublich, dass Zayne mich einfach so stehen gelassen hatte, vor allem, weil es ziemlich bedeutend war, einen Hohedämon aufzuspüren. Sie waren die gefährlichsten Dämonen, die auf der Erde wandelten, und tarnten sich als ganz normale Menschen, sodass sie sich in Kreisen der mächtigsten und einflussreichsten Leute der Welt bewegen konnten. Ihre Fähigkeit zu manipulieren war so groß, dass sie den freien Willen der Menschen gegen die Menschheit einsetzten. Hohedämonen waren die schrecklichsten Gegner im endlosen Kampf um das Gleichgewicht von Gut und Böse, aber seit die als Bote bekannte Kreatur, Monate bevor ich in der Stadt angekommen war, aufgetaucht war, ließen sie sich nur noch selten blicken.

Einen Hohedämon zu finden war schon eine riesige Sache, aber noch wichtiger war, wo wir ihn entdeckt hatten. Zayne und ich hatten nämlich in genau dem Stadtgebiet patrouilliert, in dem Bael mit Senator Fisher gesehen worden war.

Es bestand also die Möglichkeit, dass uns dieser Dämon zu Bael führte oder wir ihn benutzen konnten, um herauszufinden, was zur Hölle der Senator mit dieser Schule wirklich vorhatte. Und selbst wenn dieser Dämon nichts mit dem Boten zu schaffen hatte, wäre ich trotzdem etwas von meiner Aggression losgeworden. Aber statt mit Zayne auf die Jagd zu gehen, stand ich hier wie der kümmerliche Rest eines unfertigen Gedankens, und das war gar nicht cool.

Offensichtlich verstand Zayne nicht, dass mein offizieller Beschützer zu sein kein Geheimcode dafür war, mich – seine Trueborn – zurückzulassen, während er loslief, um Dämonen aufzuspüren. Zugegeben, unsere Verbindung war noch frisch, so also würde ich Zayne ausnahmsweise die Ereigniskarte »Du kommst aus dem Gefängnis frei« geben, aber trotzdem …

Ich war damit echt nicht glücklich.

Ein Auto hupte, und jemand schrie etwas. Ich ließ mich auf eine Parkbank fallen und seufzte tief, während ich mich umblickte. Da ich meine Umgebung nur verdammt schemenhaft erkennen konnte, war es schwer zu sagen, ob die Leute, die an mir vorbeigingen, gewöhnliche Menschen oder Tote waren.

Geister und Seelen – dazwischen gab es einen großen Unterschied – nahmen mich häufig nicht nur wahr, sondern wussten, dass ich sie sehen und mit ihnen sprechen konnte, bevor ich überhaupt ahnte, dass sie in meiner Nähe waren. Da mich aber hier niemand behelligte, vermutete ich, dass alle um mich herum zum Team Gesund und Munter gehörten.

Ich schlug die Beine übereinander, stützte den Ellenbogen aufs Knie und den Kopf in die Handfläche. Trotz des Abgasgestanks roch ich, dass irgendwo Fleisch gebraten wurde, und ich bekam Hunger, obwohl Zayne und ich erst vor etwa einer Stunde etwas gegessen hatten. Das allgegenwärtige warme Kribbeln im Nacken sagte mir, dass sich in der Nähe Dämonen befanden, wahrscheinlich niedere wie Chaos-Dämonen, darum hatte ich nicht vor, etwas gegen sie zu unternehmen, solange sie die Menschen in Ruhe ließen.

In der Stadt kannte ich mich nicht gut aus, und bei meinem schlechten Sehvermögen wäre es nicht die allertollste Idee, hier ziellos herumzuwandern; aber bloß wie ein dressiertes Hündchen herumzusitzen trieb meine Verärgerung zur Höchstform.

Die Wahrscheinlichkeit, dass ich Zayne bei seiner Rückkehr an die Kehle sprang, lag derzeit zwischen 60 und 70 Prozent. Obwohl diese Vorstellung vermutlich noch viel vernünftiger war als das, was mir normalerweise in den Sinn kam, wenn ich Zayne sah.

Ich konzentrierte mich auf die pulsierende Wärme in meiner Brust. Bei Misha hatte ich so etwas nie gefühlt, aber da es außer mir keine Trueborns gab, hatte mich das nicht stutzig gemacht.

Andererseits hatten andere schon bemerkt, dass zwischen Misha und mir etwas nicht stimmte. Thierry, der Herzog, der die Wächter in der Region der Potomac Highlands beaufsichtigte, und sein Mann Matthew hatten gleich bei Zaynes Ankunft vermutet, dass ein Fehler geschehen sein musste. Und wenn ich ehrlich war, hätte mir klar sein müssen, dass etwas nicht stimmte. Bereits als ich Zayne zum allerersten Mal gesehen hatte, war da etwas gewesen. Jetzt, in diesem Augenblick, fühlte ich diese Wärme, sie war wie ein kleiner Ball in meinem Herzen. Anders als gestern, da hatte ich alle Emotionen und Zaynes Enttäuschung gespürt, als wäre sie meine eigene. Vielleicht hatte die momentane Entfernung zwischen uns etwas damit zu tun.

Wir mussten das alles noch herausfinden.

Ich ließ den Blick zum Restaurant auf der gegenüberliegenden Seite schweifen. Zwar konnte ich den Namen des Lokals nicht erkennen, aber es war definitiv ein Burgerladen. Wenn ich schon hier warten musste, könnte ich mich genauso gut einer gebratenen Köstlichkeit hingeben. Und da mir allein schon bei dem Gedanken daran der Magen knurrte, wusste ich, mein Bauch war damit einverstanden.

Keine Ahnung, warum ich immer hungrig war. Vielleicht lag es am vielen Herumlaufen. Ich verbrannte schließlich eine Menge Kalorien und …

Plötzlich vibrierte das Handy in meiner Tasche, und ich fischte es heraus. Als ich auf dem Display das hübsche Gesicht meiner besten Freundin sah, wurde mir das Herz schwer. Jada rief wieder an.

Unentschlossen ließ ich den Finger über dem Display schweben. Eigentlich sollte ich rangehen, weil sich Jada bestimmt fragte, was mit Misha war, aber ich war nicht …

Auf einmal explodierte ein glühender Strahl in meinem Genick und riss mir den Kopf nach oben. Dieser heiße, prickelnde Druck war ein Warnsystem, das mir in die DNA gebrannt war.

Ganz in der Nähe befand sich ein Dämon.

Ich wartete, bis Jadas Anruf auf der Mailbox landete, und schob dann das Smartphone wieder in die Tasche, während ich den belebten Gehweg scannte. Dämonen in menschlicher Gestalt gingen leicht in der normalen Bevölkerung unter. Das einzig Auffallende waren ihre Augen, die wie bei einer Katze das Licht reflektierten. Einen Dämon in einer Menschenmenge auszumachen war schon für jemanden mit gesunden Augen nicht einfach, doch für mich war es eine frustrierende Übung. Verzweifelt blinzelte ich, um unbedingt etwas schärfer zu sehen.

Aber es half nichts.

Ich erkannte niemanden, der kein Mensch war, sondern Luzifer huldigte, doch der Druck ließ nicht nach und nistete sich stattdessen zwischen meinen Schulterblättern ein. Der Dämon musste …

Da.

Mein Blick blieb bei einem blonden Mann in einem dunklen Anzug hängen, der mit den Händen in den Hosentaschen den Gehweg entlangschritt. Alles an ihm schien normal, und er war nicht nah genug, dass ich seine Augen erkennen konnte, aber mein angeborener Spürsinn sagte mir: Er war der Dämon.

Und nicht nur das – er war ein Hohedämon!

Die Gewissheit erfasste meinen ganzen Körper, während ich die Füße fest auf den Boden setzte. Bis ich nach D. C. gekommen war, um Misha zu suchen, hatte ich nur eine Handvoll Dämonen gesehen, und das nie in einer solchen Situation wie jetzt, aber ich wusste, ich lag richtig.

Und da es sich bereits um den zweiten Hohedämon handelte, der in der gleichen Gegend auftauchte, in der Bael unterwegs gewesen war, hatte das etwas zu bedeuten.

Noch bevor ich überhaupt merkte, mich erhoben zu haben, stand ich. Bald würde er die Straßenkreuzung erreichen und aus meinem Sichtfeld verschwinden. Wenn ich auf Zayne wartete, würde ich ihn verlieren.

Zayne hatte zwar gesagt, ich sollte hierbleiben, aber ich entschied, das war eher ein Vorschlag als ein Befehl.

Mein Entschluss stand fest, ich eilte um eine Gruppe von Leuten herum, die darauf wartete, die Straße überqueren zu können, und schob mich unauffällig hinter den Anzug-Typ-Dämon. Damit ich mit niemandem zusammenstieß, wollte ich mich nahe der Gebäude halten und hoffte, der Dämon bliebe im Schein der Straßenlaternen.

Erst als die Fußgängerampel auf Grün sprang, lief er wieder los. Ein Dämon, der nicht bei Rot ging. Wie ungewöhnlich.

Ich hatte keinen Plan, während ich ihm folgte, vorbei an einem geschlossenen Bankgebäude und mehreren ebenfalls geschlossenen Verwaltungsämtern, aber das hielt mich natürlich nicht auf.

Anzug-Typ-Dämon bog auf einmal scharf nach rechts ab und verschwand aus meinem Sichtfeld. Innerlich fluchend lief ich schneller und merkte dann, dass er eine nur schwach beleuchtete, schmale Gasse zwischen zwei riesigen Hochhäusern betreten hatte. Verärgert blieb ich stehen und scannte den relativ sauberen Durchgang zwischen den beiden Gebäuden. Er war leer …

Ich schaute nach oben. »Heilige Scheiße«, entfuhr es mir, denn ich erhaschte einen flüchtigen Blick auf einen verschwommenen Umriss, der wie Spider-Man kopfüber die Wand des Gebäudes hinaufstürmte. Ich blickte mich über die Schulter um, aber kein Passant zeigte mit offenem Mund nach oben.

Gut so – weil die Öffentlichkeit zwar über Wächter Bescheid wusste, doch die überwiegende Mehrheit keinen Schimmer hatte, dass auch Dämonen wirklich existierten. Wegen einer ganzen Reihe Himmelsgesetze zu freiem Willen und blindem Vertrauen sollten die Menschen nicht wissen, dass Taten zu Lebzeiten ganz sicher Konsequenzen im Jenseits hatten.

Die Leute glaubten, Wächter wären eine Art genetische Kreuzung zwischen Menschen und wer weiß was. Keine Ahnung, wie sie sich selbst eingeredet hatten, dass all das auch nur annähernd möglich war, aber die menschliche Natur verlangte eben logische Antworten, auch wenn die Antwort in Wirklichkeit vollkommen unlogisch war.

Für Menschen waren Wächter so etwas wie Sagenwesen und zum Leben erwachter Stein, also Superhelden, die häufig die Arbeit der Polizei unterstützten. Dabei war es nicht Aufgabe der Wächter, Kriminelle zu jagen.

Ich betrat die Gasse und stolperte über unebene Pflastersteine, die ich nicht richtig erkennen konnte. Auf der Mitte des Weges entdeckte ich an einer Hauswand und ein ganzes Stück über dem Boden das Ende einer Feuerleiter.

»Wie ätzend!«, murmelte ich, während ich mich zur Straße umblickte und dann wieder die Feuerleiter ansah, um den Abstand zwischen Boden und letzter Stufe zu schätzen.

Die schlaue Trinity wollte zu der Stelle zurückkehren, an der Zayne mich gebeten hatte zu warten. Ich hatte keinen Plan, und wenn jemand mitbekam, was ich vorhatte, wäre das schwer zu erklären gewesen.

Doch die ungeduldige Trinity brüllte innerlich MACH SCHON – wie einen Schlachtruf!

»Superätzend«, stieß ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, denn die Ungeduldige in mir siegte.

Ich nahm Anlauf, und mit einem Stoßgebet gen Himmel, bitte nicht mit dem Gesicht voran auf die Hauswand zu prallen, denn das würde bestimmt wehtun, hob ich ab.

Meine Handflächen klatschten auf das Metallgestänge. Ich streckte die Armmuskeln und schwang den Körper vorwärts. Dann stemmte ich die Füße gegen die Gebäudewand und stieß mich kräftig ab. Beim Zurückschwingen drehte ich mich, während ich gleichzeitig mit den Händen losließ und über das Geländer sprang.

Als ich am Fuß der Feuertreppe landete und daraufhin das laute Klappern der Metallstreben hörte, erschrak ich kurz. Einen Moment lang erstarrte ich und wartete, ob wohl jemand schreien würde, doch als alles still blieb, war ich irgendwie enttäuscht, dass niemand mein großartiges gymnastisches Kunststück beobachtet hatte.

Wie immer. Story of my life.

Schnell kletterte ich die Feuerleiter hinauf, die vermutlich über hundert unterschiedliche Bauvorschriften verstieß. Da ich mich nur nach dem Mondlicht richten konnte, gewann mein Instinkt die Oberhand, und ich ließ nicht zu, lange darüber nachzudenken, dass ich nicht wirklich sehen konnte, wohin ich Hände und Füße setzte. Zweifel schlichen sich ein, denn ich konnte vielleicht fallen und war schon hoch genug, um mir eine Menge Knochenbrüche einzuhandeln.

Auf dem Dach angekommen, erfasste eine warme, schwüle Brise die losen Haarsträhnen, die sich aus meinem Knoten gelöst hatten. Beide Handflächen auf den Betonboden gestützt, verschaffte ich mir erst einmal einen Überblick. Glücklicherweise wurde alles von grellem Scheinwerferlicht aus gleich drei Wartungsschuppen mit riesigen Antennen beleuchtet. Ich konnte den Anzug-Dämon nicht sehen. Aber ich wusste, er musste irgendwo hier oben sein. Ich konnte ihn spüren.

Schnell zog ich mich über die Dachkante. Die Brise war nun zu einem richtigen Wind geworden, der über meine schweißüberströmte Haut strich und mir sehr willkommen war. Die Dolche hingen fest an meiner Hüfte, und meine Finger zuckten vor Verlangen, sie aus der Scheide zu ziehen, während ich über das Dach schritt.

In der Nähe des zweiten Schuppens entdeckte ich dann den Anzug-Dämon. Er befand sich auf dem Sims gegenüber der Stelle, die ich erklommen hatte, und kauerte in Wächter-Manier mit dem Rücken zu mir. Verblüfft runzelte ich die Stirn. Irgendwann hatte er offenbar sein Jackett ausgezogen, denn jetzt trug er ein weißes Hemd. Der Dämon schien die Welt unten zu beobachten. Wartete er auf jemanden? Vielleicht auf den Dämon, dem Zayne gefolgt war?

Vielleicht sogar Bael.

Gott sei Dank fasste ich rasch einen Plan: den Dämon überraschen, die Oberhand gewinnen und ihn zum Reden bringen.

Klang gut und wohlüberlegt.

Also trat ich aus dem Schatten des Schuppens und hielt die geöffneten Handflächen an die Hüfte. »Hi!«

Anzug-Dämon schnellte herum und erhob sich mit überirdischer Geschmeidigkeit. Zuerst stand er noch auf dem schmalen Sims, doch einen Herzschlag später war er nur wenige Schritte von mir entfernt.

Ein vernünftiger Mensch hätte da ein gewisses Maß an Furcht entwickelt, aber ich spürte nichts in der Art.

Er war nah genug, dass ich erkennen konnte, dass er attraktiv war, was mich nicht erstaunte. Dämonen präsentierten sich häufig in einer Form, die allgemein als gut aussehend bezeichnet wurde. Denn was vermochte das pure, unverfälschte Böse besser zu verbergen als ein hübsches Gesicht?

Der Dämon reckte den Kopf und runzelte die Stirn. Er starrte mich an, als hätte er ein zart mariniertes Filetstück bestellt, aber stattdessen eine billige, geschmacklose Frikadelle erhalten. Irgendwie beleidigte mich das.

Na, schönen Dank. Schließlich war ich im übertragenen Sinne einhundert Prozent Biofleisch vom Angusrind.

Doch der Dämon erkannte das nicht, weil ich mich für ihn wie jeder andere Mensch anfühlte, der ihm blöderweise in die Quere kam … und das auf einem Dach.

Seine gerunzelte Stirn glättete sich, und obwohl ich seine Augen nicht sehen konnte, spürte ich, wie er den Blick über mich wandern ließ, als ob er sich ein Bild von mir machen und mich einordnen wollte. Und ich fühlte exakt den Moment, in dem er entschied, dass ich harmlos sei.

Großer Fehler.

Anzug-Dämon lächelte. »Was willst du hier oben, Mädchen?«

Überrascht, dass er vor dem Mädchen nicht auch noch kleines sagte, zuckte ich bloß die Achseln. »Tatsächlich wollte ich Ihnen gerade die gleiche Frage stellen.«

»Ach ja?« Er lachte, und der Ton, den er dabei von sich gab, zerrte an meinen Nerven. Er war herablassend. »Du wirkst ein wenig zu jung, um der offiziellen Dachpolizei anzugehören.«

»Und Sie wirken alt genug, um nicht so etwas wie offizielle Dachpolizei zu sagen.«

Ein warmer Luftzug wehte über das Dach, und jegliche Belustigung verschwand aus seinem Gesicht. »Auf jeden Fall bist du offensichtlich nicht klug genug, um zu merken, wann du aufpassen solltest, was du sagst.«

»Seltsam, dass ausgerechnet Sie meine Intelligenz infrage stellen, da Sie nicht einmal gemerkt haben, dass ich Ihnen folge.«

Seine Oberlippe kräuselte sich, und er stieß einen Laut aus, der so bedrohlich klang, dass er sogar einen Puma beeindruckt hätte. »Mir gefolgt? Wenn das stimmt, dann hast du den dümmsten Fehler deines Lebens begangen.«

»Tjaaa«, zog ich das Wort in die Länge und machte einen kleinen Schritt rückwärts, wobei ich darauf achtete, dass er in meinem Blickfeld blieb. »Ich glaube eigentlich nicht, dass dieser es auch nur unter die zehn dümmsten Fehler meines Lebens schaffen würde.«

Er fauchte und, yep, klang nicht mehr wie ein Puma, sondern eher wie ein sehr verärgerter Löwe. »Du wirst mich noch um Verzeihung bitten …« Damit sank er in die Hocke und grub die Fingernägel in seine Handflächen. »… und um deinen Tod betteln.«

Ich spannte den Körper an, setzte aber ein Lächeln auf. »Nicht sehr originell. Echt zum Fremdschämen. Warum sind Sie nicht etwas kreativer?«

Anzug-Dämon starrte mich nur an.

»Wie wäre es zum Beispiel mit ›Du wirst mich noch anflehen, nicht weiter auf deinen Eingeweiden herumzukauen, und betteln, dass ich dich vom Dach werfe‹? Das ist ein nicht so schönes Bild, finden Sie nicht auch?«

Anzug-Dämon blinzelte.

»Warum versuchen Sie’s nicht mal?«, schlug ich hilfsbereit vor. »Und dann mal sehen, ob ich diese Begegnung auf die Liste der zwanzig dümmsten Fehler meines Lebens setze?«

Daraufhin gab er ein klagendes Jaulen von sich, eine Mischung aus einem weinenden Kind und einer tollwütigen Hyäne. Eines der unangenehmsten Geräusche, das ich je gehört hatte, und es stellten sich mir am ganzen Körper die Härchen auf.

»Ich werde dir die Zunge rausreißen«, versprach er. »Und danach schieb ich sie dir wieder in den Hals.«

»Na also!« Begeistert klatschte ich in die Hände. »Das klingt schon sehr viel besser …«

Wie ich es erwartet hatte, hob Anzug-Dämon in die Luft ab, und bestimmt dachte er, das sähe so furchterregend aus, dass ich mir in die Hosen machen würde. Ich wünschte, ich hätte seinen Gesichtsausdruck sehen können, als ich plötzlich angriff, aber leider blieb mir nichts anderes übrig, als mir nur vorzustellen, wie er dumm aus der Wäsche schaute und Oh, Mist! dachte.

Ich tauchte nach unten und unter ihn, während ich gleichzeitig nach oben griff, um mich an seinen Beinen festzuhalten. Dabei machte ich mir die Wucht seiner Bewegung zunutze, als ich ihm die Beine wegzog. Das war anstrengend. Anstrengender, als ich dachte. Als ich losließ, schoss ich aufwärts, während er mit dem Bauch voran einige Meter tief auf das Dach schlug, wobei der Aufprall die Tür des nahe gelegenen Schuppens klappern und das Scheinwerferlicht flackern ließ. Eine tintenartige Flüssigkeit spritzte aus seinem Gesicht und verteilte sich auf dem Dach.

Verdammt!

Mir war gar nicht klar gewesen, dass ich so stark bin.

Ich zog die Dolche aus der Scheide und schlich mich an den Dämon heran. Ich besaß noch eine andere Waffe – eine weitaus bessere. Meine Gnade. Aber es war zu riskant, sie hier, mitten in der Stadt, zu zeigen, obwohl sie wie Säure im Magen brannte und forderte, freigelassen zu werden.

Forderte, dass ich sie einsetzte.

Der Dämon drehte sich auf den Rücken und verlor die Fassade seiner menschlichen Gestalt. Das blonde Haar verschwand, während sich die Haut in ein dunkles Orange, marmoriert mit wabernden schwarzen Streifen, verwandelte. Er hob die Hand, und die tintenartige Flüssigkeit auf seiner Haut floss in die Handfläche und bildete schemenhaft eine Kugel.

Oh, zur Hölle, nein.

Ich stürzte vorwärts, rammte ihm das Knie in den Bauch und setzte das scharfe Ende des einen Dolchs an seine Kehle und den anderen an sein Herz. Beide Stellen wären tödlich.

»Das sind Eisendolche«, warnte ich ihn. »Was auch immer Sie mit der kleinen Albtraum-Kugel vorhaben, überlegen Sie’s sich gut. Sie werden nicht so schnell sein wie ich.«

Er riss die pechschwarzen, pupillenlosen Augen weit auf, und ich ahnte, dass ihn meine Kraft und allgemeine Großartigkeit schockierten. Er hatte keine Ahnung, was ich war, aber wenn er es wüsste, würde er versuchen, mich derart zu verschlingen, wie ich es gern mit einem Hamburger tat. Sich meine Gnade einzuverleiben würde dem Dämon nicht nur unermessliche Macht und Stärke verleihen, sondern er käme dem Himmelreich so nah wie nie.

Ich war eine Trueborn, und in der riesigen Hackordnung aller Lebewesen war dieser Hohedämon im Vergleich zu mir ein Kater ohne Krallen.

Die dunkle Kugel pulsierte in seiner Hand und zerfiel dann zu feinem Staub ungenutzter Kraft. »Was bist du?«, brachte er röchelnd hervor.

»Die offizielle Dachpolizei«, erwiderte ich. »Und Sie und ich werden uns jetzt ein wenig unterhalten.«

»Du dummer, idiotischer Mensch«, spottete der Dämon. »Ich bin …«

»Nicht besonders wachsam und kreativ? Das haben wir ja schon bemerkt, also wird es jetzt Zeit voranzukommen.« Ich drückte ihm den Dolch an den Hals und hatte den Eindruck, der Dämon hörte auf zu atmen. »Antworten Sie auf meine Fragen, dann werde ich Sie vielleicht nicht durch Ihre Kehle aufs Dach spießen.«

Wütend, aber stumm blickte mich der Dämon an.

Ich lächelte. »Arbeiten Sie mit Bael zusammen?«

Seine Nasenlöcher bebten etwas, aber er schwieg weiter.

»Sie machen hier gefälligst mit, und zwar schnell, denn ich habe die Geduld eines hungrigen Kleinkinds und ein ernsthaftes Problem mit meiner Impulskontrolle. Ich denke nicht nach, bevor ich handle. Arbeiten Sie mit Bael zusammen?«

Knurrend öffnete er die Lippen und enthüllte gezackte, haifischähnliche Zähne, sodass ich mich fragte, ob er wohl etwas von einem Nachtkriecher hatte. »Bael ist nicht an der Oberfläche.«

»Bullshit. Doch, ist er. Ich habe ihn mit meinen eigenen Augen gesehen, und außerdem wurde er genau in diesem Viertel hier gesichtet. Weiter, nächster Versuch!«

Erneut gab er ein Knurren von sich.

Ich verdrehte genervt die Augen. »Ihnen ist schon klar, dass Sie ohne hilfreiche Informationen tot sind, bevor Sie auch nur Pfefferminz aussprechen können.« Ich hielt kurz inne. »Und Sie brauchen unbedingt eins. Sofort. Weil Ihr mieser Atem einen umhaut.«

»Was für ein süßes kleines Ding du doch bist«, blaffte er zurück. »Na ja, nicht allzu klein. Ich glaube, dein Hintern zerquetscht gerade mein Zwerchfell.«

»Das ist mein Knie, Sie Idiot, und ich werde gleich noch mehr zerquetschen.« Um ihm seine Situation zu verdeutlichen, schob ich mein Knie weiter runter und stoppte knapp unter der Gürtellinie. »Los, wo ist Bael?«

Der Dämon blickte mich einen Moment an, und dann lachte er – ein tiefes Lachen mitten aus dem Bauch, das mich hin und her schüttelte. »Du blöde Kuh …«

Ruckartig kippte ich die Klinge des Dolchs an seiner Kehle, sodass der Griff nun nach unten gerichtet war, dann schwang ich die Faust seitlich an den Kopf des Dämons und schnitt ihm so das Wort ab. Warme Feuchtigkeit spritzte an meine Handfläche. »Wenn Sie nichts Nettes zu sagen haben, dann halten Sie gefälligst die Klappe. Hat Ihnen Ihre Mommy das nicht beigebracht?«

Er fluchte, als ich den anderen Dolch fester in seine Brust drückte und dabei den feinen Stoff seines Hemdes zerschnitt. »Du bist … offensichtlich verrückt … falls du glaubst … ich werde irgendwelchen Mist über Bael sagen. Ich habe keine Angst vor dem Tod.«

»Aber vor Bael?«

»Wenn du auch nur irgendetwas über Bael wüsstest, dann wär dir klar, dass das gerade die siebenfache Potenz einer dummen Frage war.«

»Meinen Sie, er kann Ihnen Schlimmeres antun als ich?« In mir loderte Wut auf, und das Bedürfnis, ihn zu besiegen, weckte meine ganze Stärke, während ich mich nach unten beugte, sodass er und ich auf Augenhöhe waren. Mir war klar, dass ich es eigentlich nicht tun sollte. Aus hundert verschiedenen Gründen war es falsch, aber ich ließ nur den allerkleinsten Funken meiner Gnade aufblitzen. Die Ränder meines Sichtfelds, die normalerweise dunkel und wie beschattet waren, leuchteten plötzlich grellweiß. »Denn ich bin hier, um Ihnen zu zeigen, dass er das nicht kann.«

Daraufhin riss er die Augen auf, und als er sprach, glich sein Tonfall einer Mischung aus Entsetzen und Ehrfurcht. »Du bist es. Du bist das Nephilim.«

Ich zwang die Gnade zur Ruhe, und das weiße Licht verblasste. »Erstens ist der Begriff Nephilim dermaßen altmodisch, und zweitens haben Sie mit Bael gesprochen, weil …«

»Wäre allgemein bekannt, dass eine deiner Art in der Stadt ist, wärst du schon tot.« Er senkte die Lider, und ein träges Lächeln erschien auf seinem mit orange-schwarzen Schlieren durchzogenen Gesicht. »Oder schlimmer. Stimmt’s? Ist es wahr? Was man sich über deine und meine Art erzählt?«

Ich verzog den Mund und starrte ihn ungläubig an. Er machte einen beinah orgastischen Eindruck, und das war mehr als nur ein bisschen beunruhigend. »Ist was wahr?«

»Dass, wenn ein Dämon dich frisst …«

Ich verlagerte das Gewicht und grub mein Knie in seine Leiste. Er schrie vor Schmerz auf und krümmte sich unter mir. »Yep, ich stoppe Sie genau an dieser Stelle. Sagen Sie, wo …«

»Es war nicht Bael, der …« Er atmete tief ein und keuchte vor Schmerz. »Es war nicht Bael, der mir von dir erzählt hat, du blöde Sa…«

Während ich ihm erneut einen Schlag auf den Kiefer verpasste, sorgte ich dafür, dass der Dolchgriff den Rest übernahm. »Ich will hoffen, dass Sie gerade das Wort Sahneschnitte sagen wollten.«

Nachdem er Blut und möglicherweise einen Zahn ausgespuckt hatte, hob der Dämon den Kopf. »Ja, er war es.«

Kälte kroch in mir hoch, gleichzeitig nahm ich die zunehmende pulsierende Wärme in meiner Brust wahr. »Wer?«

»Der, der dich verraten hat. Wie hieß er noch mal?« Der Dämon lachte, spuckte, und Blut floss aus seinen Mundwinkeln, während seine Arme schlaff zur Seite sackten. »Ach ja. Misha. Das Komische ist, dass ich ihn seit ein paar Tagen nicht mehr gesehen habe. Was wohl mit ihm los ist? Außer er ist tot.«

»Sie haben mit Misha gesprochen?« Ein inneres Beben erfasste mich. »Was hat er gesagt? Was haben Sie …«

»Du hast ihn getötet. Richtig? Hast seine Seele in die Hölle geschickt. Dort ist er jetzt, denn er war genauso böse wie ich.«

Ein Schauder erfasste mich. »Sie lügen.«

»Warum sollte ich?«

»Da fallen mir eine Menge Gründe ein.« Ich schäumte vor Wut, aber selbst als ich den Satz aussprach, klang er falsch. »Sagen Sie mir, was er gesagt hat, oder …«

»Oder was? Willst du mich töten? Du bist das Nephilim. Ich bin bereits tot«, sagte er, und ich hatte keine Ahnung, was er damit meinte. Der Dämon hob den Kopf vom Boden, dicke Sehnen zeichneten sich an seinem Hals ab. »Du hast ihn getötet, und darum ist es bereits zu spät. Du hast keine Ahnung, was für ein Sturm auf dich zukommt.«

Ich schlug seinen Kopf zurück auf den Boden und war nun so zornig, dass ich auf weitere Höflichkeiten verzichtete. »Sag sofort, was du ihm angetan hast!«

»Er war erwählt.« Der Dämon lachte auf, sodass ich ganz tief in mir fröstelte. »Der Bote ist endlich da, und das, was jetzt folgt, ist nicht aufzuhalten. Die Flüsse werden rot. Endzeit, Baby, und es gibt keine Möglichkeit, den Boten aufzuhalten. Du wirst bei alldem dabei sein.«

Schon öffnete ich den Mund, doch plötzlich bewegte sich der Dämon unter mir. Nicht um mich abzuwerfen oder anzugreifen; er schnappte sich das Gelenk der Hand, das den Dolch an seinem Herz hielt, und dann stieß er sich nach oben, während er mich nach unten zog.

Er hatte sich selbst erstochen.

»Was zum …«, rief ich, sprang auf und stolperte rückwärts, weil bereits Flammen aus dem Loch in seiner Brust züngelten und seinen Körper erfassten.

Innerhalb von ein paar Sekunden war nicht mehr von ihm übrig als ein Brandfleck auf dem Dach.

Ich schaute auf meinen Dolch, dann auf den Fleck und dann zurück zu meinem Dolch. »Was, verflucht noch mal …«

Der warme Ball in meiner Brust direkt neben meinem Herzen pulsierte, und nur einen Moment später fiel ein gigantisches Ding vom Himmel und landete wendig auf dem Dachsims wie eine total angepisste, ferngesteuerte Rakete auf der Suche nach Trinity.

Oh, Scheiße.

Der Wächter erhob sich zu seiner vollen Größe. Die Flügel spannten sich so weit, wie der Körper groß war, und noch etwas breiter. Unter dem silbernen Mondlicht erkannte ich goldblonde Haare zwischen zwei stolzen, mächtigen Hörnern.

Zayne wirkte sehr furchteinflößend, als er auf das Dach trat und sich mit gesenktem Kinn auf mich zubewegte. Manche Leute mochten vielleicht finden, dass Wächter in ihrer echten Gestalt grotesk erscheinen, ich aber nicht. Ich fand Zayne auf eine brachiale, primitive Weise schön – wie eine sich windende Kobra, kurz bevor sie angriff.

In Wächtergestalt war Zaynes Haut schiefergrau, und die beiden Hörner konnten Stahl und Stein durchbohren, ebenso wie diese bösartig scharfen Krallen, und ich dachte zum wahrscheinlich hundertsten Mal, dass es verdammt gut war, dass Wächter im Team der Guten kämpften.

Als er näher kam, bemerkte ich, dass die Reißzähne ausgefahren waren. Diese Dinger waren enorm groß, und ich kannte Zayne gut genug, um zu wissen, dass er sehr, sehr wütend war. Doch selbst wenn ich seine Reißzähne nicht gesehen hätte, wäre mir das klar gewesen. Ich konnte seinen Zorn direkt an meinem Herzen spüren. Das fühlte sich an wie der Geruch von Hustensaft und war eine weitere Bestätigung dafür, dass unsere Verbindung keine Einbahnstraße war, sondern die Gefühle in beide Richtungen übertrug.

Langsam schob ich die Dolche zurück in die Futterale an meiner Hüfte und verschränkte dann die Hände. Es vergingen einige Sekunden, und schließlich platzte ich mit dem Erstbesten heraus, das mir in den Sinn kam: »Weißt du schon, dass ich Feuerwerk liebe?«

Wow. Das kam überraschend, selbst für mich.

»Von hier aus könnte man sich wunderbar ein Feuerwerk ansehen«, fügte ich hinzu. »Ich wünschte, ich hätte vor dem Nationalfeiertag von diesem Gebäude gewusst.«

Zayne überhörte geflissentlich, was ich sagte. »Du bist nicht da, wo ich dich verlassen habe.«

Ich schaute mich auf dem leeren Dach um. »Stimmt.«

»Welchen Teil von ›Warte hier‹ hast du nicht verstanden?«

»Den Teil, bei dem du angenommen hast, ich würde dir tatsächlich zuhören?«, entgegnete ich.

Zayne blieb kurz vor mir stehen. »Trin …«

»Nicht«, unterbrach ich ihn mit einer Handbewegung. »Du hast mich zurückgelassen.«

»Ich habe dich bloß ein paar Minuten allein gelassen, um herauszufinden, wer dieser Dämon war, bevor ich dich dazugeholt hätte. Das ist mein Job …«

»Nein. Es ist nicht dein Job, mich auf dem Gehweg zu parken wie einen Hund, der nicht mit ins Restaurant darf.«

»Was?« Der Wind erfasste sein schulterlanges goldblondes Haar und wirbelte mehrere Strähnen über die Hörner. »Wie einen Hund …«

»Du hast mich da stehen lassen. Okay, ich verstehe ja, dass diese ganze Beschützernummer neu für dich ist, aber mich einfach stehen zu lassen …«

»Offenbar wirklich nicht mein klügster Gedanke, denn wenn ich dir auch nur fünf Minuten den Rücken zuwende, landest du mehrere Blocks entfernt auf einem Dach«, unterbrach er mich. »Wie bist du überhaupt hier hochgekommen? Und noch interessanter: warum

Die Arme vor der Brust verschränkt, antwortete ich: »Gerannt und gesprungen.«

»Ach, echt?«, gab er trocken zurück und streckte die Flügel nach hinten.

»Über die Feuerleiter«, erklärte ich. »Niemand hat mich gesehen, und ich bin hier …«

»Was zur Hölle …?« Zayne stand auf einmal neben mir und starrte auf den Brandfleck auf dem Beton. Sehr langsam hob er wieder den Kopf. »Bitte sag, dass du keinem Dämon hierher gefolgt bist.«

»Ich hasse es, dass du so nett fragst, weil ich antworten muss, was du nicht hören willst.«

»Trinity! Du hast dich mit einem Dämon eingelassen?«

»Ja, genauso, wie du es vorhattest, als du weggelaufen bist«, stellte ich klar. »Ich habe ihn entdeckt, als ich auf dich gewartet habe, und da ich der Ansicht war, einer großen Sache auf der Spur zu sein, wenn sich gleich zwei Hohedämonen in der gleichen Gegend wie Bael aufhielten, beschloss ich, dass es schlau wäre, nachzusehen, was los ist.«

Zayne öffnete den Mund.

»Du weißt verdammt gut, dass ich auf mich selbst aufpassen kann. Das hast du selbst gesagt. Oder war das gelogen?«, redete ich weiter, bevor er etwas sagen konnte, das mich daran erinnern würde, dass ich vorhin noch vorgehabt hatte, ihm einen Schlag gegen den Kehlkopf zu verpassen. »Ich bin eine Kämpferin. Dafür wurde ich ausgebildet, und du weißt, dass ich mich verteidigen kann – mit oder ohne dich. Genauso, wie ich weiß, dass du dich ohne mich verteidigen kannst. Verbann mich nicht auf die Ersatzbank, denn das ist nicht nur uncool, sondern auch reine Zeitverschwendung. Weil ich dort nicht sitzen bleiben werde.«

Zayne hob das Kinn, und ein langer, eindringlicher Moment verging. »Ja, du hast recht.«

Seine Reaktion überraschte mich total. »Ich weiß.«

»Allerdings irrst du dich auch.«

Ich blinzelte. »Wie bitte?«

»Was ich gesagt habe, gilt. Ich zweifle nicht daran, dass du fähig bist, dich zu verteidigen. Ich habe dich ja in Aktion gesehen. Dass ich dich gebeten habe, während der Überprüfung des Dämons zurückzubleiben, hatte nichts damit zu tun, dass ich dich aus der Sache raushalten wollte, weil ich dachte, du kannst nicht auf dich selbst aufpassen.«

»Sondern?«

»Es ging um das, was mit Misha passiert ist«, erklärte er, und ich schreckte sofort zusammen, wich tatsächlich einen Schritt zurück, während meine Arme schlaff herabhingen. »Das«, erklärte Zayne, »genau das hier. Deine Reaktion. Du hast gerade erst etwas Schreckliches durchgemacht, Trin, und …«

»Mir geht’s gut.«

»Bullshit«, blaffte er, und wie immer, wenn er fluchte, musste ich den irrationalen Drang zu lachen unterdrücken. »Uns beiden ist klar, dass das nicht wahr ist, und das ist auch in Ordnung. Niemand, der bei klarem Verstand ist, würde erwarten, dass es dir gut geht.«

Doch es musste so sein.

Verstand er das denn nicht? Was mit Misha passiert war, war extrem beschissen, aber alle damit verbundenen Gefühle waren fein säuberlich abgeheftet und weggeschlossen, und das sollte für immer und ewig so bleiben. Das musste es. Schließlich hatte ich einen Job zu erledigen, eine Pflicht zu erfüllen.

Zayne seufzte. »Ich denke, es war ziemlich offensichtlich, dass ich heute Abend nicht auf Patrouille gehen wollte. Meiner Meinung nach hätten wir zu Hause bleiben sollen.« Er machte eine Pause. »Aber ich verstehe auch, warum du hier draußen sein und etwas unternehmen willst, also habe ich nachgegeben.«

Allmählich wurde ich wütend. »Als mein Beschützer darfst du nicht nachgeben, auf alle Fälle nicht, wenn …«

»Als dein Freund darf ich ganz sicher einschreiten, wenn ich finde, dass etwas eine schlechte Idee ist.« Zayne spannte den Kiefer an. »Das tun Freunde nun mal, Trin. Sie lassen dich nicht einfach machen, was auch immer du willst, und wenn, sind sie keine echten Freunde.«

Ich dachte an Jada. Ja, sie hätte dasselbe wie Zayne vorgeschlagen. Lass dir etwas Zeit. Versuch, mit dem Geschehenen umzugehen und es so gut wie möglich zu verarbeiten.

Aber das alles wirklich zu verarbeiten war unmöglich.

Zaynes Flügel zuckten. »Ich wollte, dass du wartest, weil ich es für eine gute Idee hielt, es ruhig angehen zu lassen, nachdem du das Leben von jemandem beenden musstest, der dir sehr am Herzen gelegen hat.«

Ich holte so scharf Luft, dass es in der Lunge brannte.

»Und wenn du meinst, dass das falsch ist, dann ist das eben so. Es tut mir leid, wenn du gedacht hast, ich würde an dir zweifeln, aber es tut mir nicht leid, dass ich auch an das denke, was du durchgemacht hast.«

Ich schluckte schwer und wollte schon irgendetwas zurückfeuern, doch … was er sagte, ergab Sinn. Daraufhin schaute ich weg und schüttelte leicht den Kopf. »Ich bin bereit, hier draußen zu sein.«

Zayne schwieg.

»Mir geht es gut. Ich war nicht abgelenkt oder in Gefahr. Wie du sehen kannst.« Ich drehte mich um und stolperte prompt über irgendetwas auf dem Boden, denn, natürlich, Gott hasste mich. Als ich mich wieder gefangen hatte, schaute ich zu Zayne.

Frustriert warf er die Arme in die Luft. »Ernsthaft?«

Ich blickte nach unten und erkannte, dass es sich um ein Kabel gehandelt hatte. »Ich hab’s nicht gesehen. Was soll’s?« Zeit, das Thema zu wechseln. »Hast du den Dämon aufgespürt?«

Zuerst murmelte Zayne etwas, das sich wie ein Fluch anhörte. »Ich habe ihn verfolgt, aber dann bog er um eine Ecke in die First Street und verschwand.«

Die First Street sagte mir nichts.

Zayne musste das bemerkt haben, denn er erklärte: »Die First Street führt zu mehreren Senatsgebäuden. Das bedeutet jedoch nicht, dass der Dämon dorthin unterwegs war. Und was ist hier passiert?«

Ich drehte den Oberkörper und schaute auf den verkohlten Fleck. »Na ja, der Dämon hat sich irgendwie entschieden, die Dinge selbst zu beenden.«

»Bitte wiederhol das noch mal.« Ruckartig wandte er den Kopf in meine Richtung und presste die grauen Lippen zu einem schmalen Strich zusammen.

»Er hat sich in meinen Dolch gestürzt«, erklärte ich achselzuckend. »Er war ein Klugscheißer und hat mich bedroht, bis ich ihn auf dem Rücken hatte. Ich wollte ihn zum Reden bringen. Herausfinden, ob er etwas über Bael oder den Boten wusste.«

»Ihn zum Reden bringen?«

Ich nickte und entschied, es wäre eine gute Idee, die Tatsache für mich zu behalten, dass ich dem Dämon gezeigt hatte, was ich eigentlich war. »Ich habe gelernt, sehr überzeugend zu sein.«

Erneut kam ich Zaynes Erwiderung zuvor.

»Jedenfalls wollte er mir nichts über Bael sagen, aber er kannte ihn … und Misha.«

Zayne trat näher, und ich blickte wieder auf den Fleck auf dem Boden. »Wie kannst du dir da sicher sein?«

Vor lauter schlechtem Gewissen bekam ich ein beklommenes Gefühl in der Magengegend. »Er erwähnte Misha, und er muss aufgrund der Fragen, die ich gestellt habe, bemerkt haben, wer ich bin.« Das war nicht gerade gelogen. »Er wusste, dass ich ihn getötet habe.«

»Trin.« Zayne griff nach mir, und ich spürte, wie seine warmen Finger über meinen Arm strichen.

Sofort stürmten wilde, pochende Emotionen auf mich ein, und ich trat rasch aus Zaynes Reichweite. »Er wusste auch über den Boten Bescheid. Er sagte ungefähr das Gleiche wie mein Vater. Die Flüsse würden rot getränkt sein, und das Ende der Welt sei nah.« Den Teil über Mishas Seele ließ ich aus und auch, dass ich ein Teil von alldem war, weil ich Ersteres nicht glauben konnte und Letzteres keinen Sinn ergab. »Er hat nicht wirklich Hilfreiches gesagt, bevor er sich mit meinem Dolch aufgespießt hat. Es war bizarr, aber ich denke …«

»Was?«

»Keine Ahnung. Er meinte, er sei bereits tot, weil ich das Nephilim sei.« Erneut verschränkte ich die Arme vor der Brust. »Als wäre Selbstmord die einzige Option.«

Zayne schien darüber nachzudenken. »Als hätte er befürchtet, dass entweder Bael oder der Bote erfahren würde, dass er mit dir gesprochen hat, und das wäre es dann sowieso für ihn gewesen?«

Ich nickte langsam. »Das ergibt doch nicht wirklich Sinn.«

»Doch, tut es, wenn der Dämon so viel Angst davor hatte, was der Bote unternehmen würde, wenn der annahm, der Dämon hätte dir gegenüber ausgepackt.« Zayne entfaltete die Flügel, und das erzeugte einen Windstoß. »Oder der Dämon hat begriffen, dass es sowieso kein Entkommen für ihn gab, weil er herausgefunden hatte, was du bist. Du hättest ihn sowieso umgebracht.«

Stimmt.

Wegen seiner lahmen Drohungen hätte ich ihn liebend gern umgebracht, aber darum ging es hier nicht. Der Dämon hatte mehr Angst vor dem Boten als vor mir, und das war kein gutes Zeichen.

Ganz und gar nicht.

Der restliche Abend verlief ziemlich ruhig. Keine Dämonen mehr, bloß Gewalttaten unter Menschen. Zayne und ich liefen auf dem Heimweg an einem Club vorbei, in dem es gerade eine Schießerei gegeben hatte, weil offenbar irgendjemand einen Drink über die Freundin von irgendwem geschüttet hatte.

Eins war sicher: Menschen brauchten keine Dämonen, um zu schrecklichen Dingen angestiftet zu werden.

Darüber dachte ich nach, als wir wieder in Zaynes Wohnung waren und er sich ins Wohnzimmer und ich mich ins Schlafzimmer zurückgezogen hatte. Manchmal fragte ich mich, warum sich Gott so sehr um die Rettung der Menschheit und ihrer Seelen bemühte, wenn die Menschen alles derart schnell wegwarfen.

Zwischen Gut und Böse musste ein Gleichgewicht herrschen. Deshalb durften sich einige Dämonen zeigen, zum Beispiel die Chaos-Dämonen. Sie waren eine Art Prüfung, um Menschen den letzten Nerv zu rauben, und sie zerstörten Dinge, damit sie miterleben konnten, ob die Menschen ausrasteten. Ein Wutausbruch war noch kein Ticket in die Hölle, aber alles, was ein Mensch machte oder dachte, wurde aufgelistet, und seit der Erfindung von Social Media konnte ich mir gut vorstellen, wie umfangreich diese Aufzeichnungen werden konnten. Sogar einige Hohedämonen dienten einem bestimmten Zweck, nämlich mit Menschen in Kontakt zu treten, um sie dazu zu verleiten, ihren freien Willen für Sünden und unangemessenes Verhalten zu nutzen. Das wurde allerdings erst dann zum Problem, wenn die Dämonen eine Grenze überschritten, indem sie Menschen aktiv manipulierten oder ihnen direkten Schaden zufügten. Natürlich durften sich Dämonen, die keine menschliche Gestalt hatten – und davon gab es viele –, nicht in der Nähe von Menschen aufhalten, denn dann schritten die Wächter ein.

Auf der anderen Seite töteten die meisten Wächter bei Sichtkontakt sofort alle Dämonen, sogar Chaos-Dämonen, und das taten sie, na ja, von Anfang an.

Doch eigentlich hatte Gott die Wächter geschaffen, damit sie sich um die Menschen kümmerten. Wächter sollten ihr Leben aufs Spiel setzen, um das Rad statt in Richtung ewiger Verdammnis zugunsten ewiger Herrlichkeit zu drehen; aber die Menschheit … sie versuchte trotzdem, sich selbst zu vernichten, als wäre das ein angeborener Trieb. Manche würden sagen, dass dies von dem selbstzerstörerischen Wesen von Adam und Eva herrührte, von der Geschichte mit dem Apfel und dem Sündenfall, sodass sich der Kampf jeden Tag in jedem Menschen abspielte und dass dies die größte Leistung – oder eben der Fluch – der Schlange war. Doch letztendlich entschieden sich die Menschen für ihren eigenen Weg.

Mittlerweile war eine ganze Reihe von Verlusten zu beklagen. Mord und Körperverletzung, Raub und Habgier, Rassismus und Bigotterie, Hass und Intoleranz – all das nahm zu, statt sich zu bessern, als würde der Siedepunkt bevorstehen. Handelte es sich um Anzeichen von Dämonen, die verdammt gute Arbeit leisteten, oder waren die Menschen dazu vorherbestimmt und entschlossen, den Job der Dämonen gleich selbst zu übernehmen?

An manchen Tagen fragte man sich, was zum Teufel eigentlich der Sinn der Sache war.

»Oh Gott«, murmelte ich, während ich unruhig mit den Armen herumzappelte. »Wie finster.«

Von meinen eigenen Gedanken genervt, rollte ich mich auf die Seite und schloss die Augen. Ich vermisste diese kitschigen Klebesterne, die meine Zimmerdecke zu Hause geschmückt hatten. War es dunkel, leuchteten sie in einem sanften, funkelnden Weiß und vermittelten mir das Gefühl … von Trost. Ja, das klang seltsam.

Ich war ja auch seltsam.

Keine Ahnung, wann sich mein Gehirn abgeschaltet hatte und ich eingeschlafen war, aber als ich die Augen öffnete und bemerkte, dass die Dunkelheit aus dem Zimmer gewichen war, kam es mir vor, als wären nur ein paar Minuten vergangen.

Weil ich das Gefühl hatte, überhaupt nicht geschlafen zu haben, schleppte ich mich mühsam aus dem Bett und ging ins Badezimmer. Ich ließ mein Haar an der Luft trocknen, zog mich genauso schnell an, wie ich geduscht hatte, und nur eine Viertelstunde nach dem Aufwachen war ich mit der Brille auf der Nase bereit, das Schlafzimmer zu verlassen.

Kurz zögerte ich, bevor ich die Tür öffnete, und stellte mich innerlich darauf ein, gleich einem verschlafenen, zerzausten Zayne zu begegnen. Erneut hatte ich in der Nacht die Tür unverschlossen gelassen und weigerte mich, weiter über den Grund dafür nachzudenken. Als ich ins Wohnzimmer trat, mussten sich meine Augen erst einmal an die Helligkeit gewöhnen. Zayne befand sich nicht an der Kücheninsel, also bedeutete das …

Ich ließ den Blick zur Couch wandern, und, ja, da war er, saß aufrecht und …

Muskeln zeichneten sich unter der golden schimmernden Haut ab, und während Zayne die Arme über den Kopf hob, um sich zu strecken, traten sie deutlich an den nackten Schultern hervor. Dann beugte er den Rücken, und ich war mir unsicher, ob ich dankbar sein sollte oder nicht, dass die Rückwand der Couch den größten Teil der Sicht versperrte.

»Ich kann nicht wegschauen, auch wenn ich eigentlich sollte«, meinte Peanut plötzlich, und weil er aus dem Nichts neben mir auftauchte, hob ich vor Schreck fast vom Boden ab. »Er gibt mir das Gefühl, dass ich mehr Zeit im Fitnessstudio verbringen sollte.«

Meine Augenbrauen schossen nach oben.

Zayne drehte sich zu mir um. »Hey«, sagte er mit rauer, verschlafener Stimme und fuhr sich mit einer Hand durch sein verstrubbeltes Haar.

»Morgen«, murmelte ich und war dankbar, weil Peanut wieder verschwand. Unsicher hob ich die Hand und knabberte dann an einem Fingernagel.

»Gut geschlafen?«, fragte Zayne gähnend, und ich nickte, obwohl das gelogen war.

Als Zayne von der Couch aufstand, schaute ich schnell weg und eilte in Richtung Küche, wobei ich die ganze Zeit hoffte, dass mein Gesicht nicht dermaßen rot angelaufen war, wie es sich anfühlte. Den Anblick von Zaynes herrlicher Brust konnte ich jetzt echt nicht gebrauchen. »Möchtest du etwas trinken?«

»Nö, aber danke«, antwortete er. »Bin gleich wieder da.« Zayne war nach dem Aufwachen nicht sehr gesprächig, das kapierte ich so langsam. Nachdem ich mir Orangensaft eingeschenkt hatte, trank ich einen Schluck und stellte das Glas dann auf die Kücheninsel neben die dort immer noch ausgerollten Baupläne für die Schule.

Daraufhin hörte ich, wie die Dusche lief, und hoffte, dass Peanut, der kleine Spion, nicht im Badezimmer war. Ich ging zur Couch, schaltete den Fernseher und einen Nachrichtensender an. Dann faltete ich die weiche graue Decke und legte sie über die Rückwand der Couch, bevor ich zur Kücheninsel zurückkehrte. Dort trank ich zuerst den O-Saft aus und war schon bei einer Dose Cola, als Zayne endlich aus dem Schlafzimmer trat. Total nervös knabberte ich wieder am Daumennagel, während ich mich fragte, warum er zum Duschen eigentlich doppelt so lange brauchte wie ich. Sein Haar war noch nass und nach hinten gekämmt, doch glücklicherweise war er nun mit einer marineblauen Sporthose und wieder mal mit einem schlichten weißen Shirt bekleidet. Die Füße waren nackt.

Er hatte schöne Füße.

»Cola zum Frühstück?«, kommentierte er, als er an mir vorbeischlenderte, meine Hand ergriff und sie sanft von meinem Mund wegzog.

Ich seufzte. »Ist der Nachtisch.«

»Sehr schön.« Er ging zum Kühlschrank, aber der winterliche Duft, der ihn immer umgab, blieb mir in der Nase hängen. War das eine Art Duschcreme? Eigentlich nicht, denn an den Flaschen in der Dusche hatte ich bereits gerochen.

Ich drehte mich um. »Muss ich dich an unser gestriges Gespräch über Wasser erinnern?«

»Oh, bitte nicht.« Er öffnete den Kühlschrank. »Magst du vielleicht ein paar Eier?«

»Klar. Kann ich dir helfen?«

Er blickte kurz auf, während er eine Schachtel Eier und die Butterdose auf die Kücheninsel stellte. »Bist du nicht diejenige, die bei dem Versuch, Brathähnchen zu machen, beinah Thierrys Haus niedergebrannt hätte?«

Ich stieß einen missbilligenden Laut aus. »Und bist du nicht derjenige, der versprochen hat, mir beizubringen, wie man gegrillten Käse macht?«

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