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Das Café am California Beach

Als Buch hier erhältlich:

Finde dein Glück am California Beach
Meredith Collins eröffnet sich der perfekte Ausweg, als sie ein Café in Cape Sanctuary an der nordkalifornischen Küste erbt: Nachdem ihr Ex-Mann wegen Veruntreuung verurteilt wurde, hat sie alles verloren. Ihr bleibt nichts anderes übrig als in ihre Heimatstadt zurückzukehren und neu anzufangen, auch wenn das bedeutet, sich mit ihrer Cousine Tori, mit der sie sich vor Jahren zerstritten hat, auseinanderzusetzen. Doch zurück in der Kleinstadt, findet Meredith in dem entzückenden Café eine neue Aufgabe für sich, und ihre Beziehung zu Tori beginnt zu heilen. Und dann ist da auch noch Liam, der gut aussehende Fremde, der plötzlich in der Stadt auftaucht und Merediths Nähe sucht. Sie ahnt nicht, dass sich hinter seiner charmanten Art ein Mann verbirgt, der ihr gefährlich werden könnte – auf verschiedene Weisen …


  • Erscheinungstag: 19.03.2024
  • Seitenanzahl: 400
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749906611
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Meredith

An dem Tag, als Meredith Rowland nach Cape Sanctuary zurückkehrte, weinte der Himmel.

Als die bezaubernde nordkalifornische Stadt in Sicht kam, hatte sie Mühe, überhaupt etwas durch das wilde Peitschen der Scheibenwischer, die erfolglos gegen die Wassermassen ankämpften, zu erkennen.

Natürlich regnete es. Schließlich war sie bereits in den letzten achtzehn Monaten von dieser unheilvollen dunklen Wolke verfolgt worden.

Sie kontrollierte noch einmal die Tankanzeige, während die Reifen das Regenwasser unter ihrem zehn Jahre alten Kleinwagen hochspritzen ließen. Das Auto hatte sie sich von ihren letzten Ersparnissen gekauft, nachdem ihr geliebter Mercedes versteigert worden war.

Der Zeiger stand unter der Leermarke, aber sie hoffte inständig, dass der letzte Tropfen noch bis zum Café reichen würde.

Der Motor stotterte ein wenig. »Ach, komm schon, Posy«, murmelte sie. Den Spitznamen hatte sie ihrem Wagen irgendwo in Nebraska verpasst, aber nicht etwa, weil das Auto irgendetwas mit einem duftenden Blumenstrauß gemeinsam gehabt hätte. Vielmehr ergaben die ersten drei Buchstaben auf dem Kennzeichen POS ein Akronym, das die Qualität des Autos besonders treffend zusammenfasste: piece of shit.

Wieder klapperte es, und Meredith hielt kurz den Atem an. »Du hast bis hierher durchgehalten, also komm schon, nur noch ein paar Meilen. Wir sind fast da, Baby. Du schaffst das.«

Sie wusste selbst, dass es irrational und ein bisschen verrückt war, aber es kam ihr trotzdem so vor, als hätte das Auto neue Kräfte mobilisiert, so wie ein altes Pferd, wenn es den vertrauten heimischen Stall riecht. Denn wenig später tuckerte Meredith mit Ach und Krach auf die Main Street.

Wie durch ein Wunder fand sie einen Parkplatz nicht weit von dem historischen Backsteingebäude, in dem sich das Beach End Café befand.

Als sie das Haus mit der Kuppel und den Pflanzenkübeln entdeckte, aus denen rote und violette Blumen quollen, überrollte sie eine Flut von Erinnerungen. In erster Linie waren es schöne, aber einige bewirkten, dass ihre Kehle schmerzte und die Augen brannten.

Früher einmal hatte sie diesen Ort geliebt. In ihrer Kindheit war das Café ihr Wohlfühlort gewesen. Wann immer sie sich einsam, traurig oder ängstlich gefühlt hatte, war sie in Gedanken hierhergekommen.

Hier hatte sie Liebe und Anerkennung gefunden. Ihrer Großmutter war es egal gewesen, ob sie eine Zwei in französischer Literatur hatte oder nicht mehr wusste, wie man »plündern« konjugierte. Frances und Tori hatten sie so geliebt, wie sie war.

Wenn sie die Augen schloss, sah sie sich und ihre Cousine immer noch vor sich, so wie sie damals gewesen waren, die eine blond, die andere dunkel, aber beide mit den gleichen haselnussbraunen Augen, geerbt von Frances über ihre jeweiligen Eltern.

Sie waren sich so nah gewesen wie Schwestern. Eigentlich sogar näher. Zusammen hatten sie gelacht, geträumt und ihre Geheimnisse miteinander geteilt, in jenen heiteren Sommermonaten, die Meredith bei ihrer Großmutter verbracht hatte.

Wie im Zeitraffer konnte sie es vor sich sehen: sie beide als kleine Mädchen, die sich beim Bonbonladen am Ende der Straße die Taschen mit den Süßigkeiten vollstopften, die sie von Merediths Taschengeld gekauft hatten. Dann, ein paar Jahre älter, wie sie mit ihren Fahrrädern durch die Stadt fuhren und kicherten, wenn sie im Skatepark am Driftwood Beach an all den süßen Jungs vorbeikamen. Wie sie als Teenager ums Lagerfeuer saßen und mit denselben süßen Jungs flirteten und lachten, während die Sterne über ihnen funkelten und das Meer sein endloses Lied sang.

War das wirklich sie gewesen? Die Erinnerungen schienen vage und unbestimmt, verschwommen und nicht ganz real, als gehörten sie zu jemand anderem.

Wahrscheinlich weil es wirklich so war. Meredith war heute ein anderer Mensch als das einsame Mädchen von damals, das sich nach Zuneigung gesehnt hatte.

Sie hatte einmal ein Kindermädchen gehabt, das ihr erzählte, die Zellen in ihrem Körper würden sich alle drei Monate erneuern, sodass sie tatsächlich ein neuer Mensch würde, wie eine Schlange, die ihre Haut abstreift.

Als Erwachsene hatte sie dann erfahren, dass das nicht ganz stimmte – dass manche Zellen sich alle paar Tage regenerierten, während andere eine viel längere Lebensspanne hatten, die Jahrzehnte umfassen konnte, und wieder andere nie ersetzt wurden. Trotzdem fühlten sich so viele Momente in ihrem Leben derartig ätherisch und fern an, als hätte jemand anders sie erlebt.

Die letzten achtzehn Monate waren jedenfalls wie ein Albtraum gewesen, aus dem sie nicht so recht erwachen konnte.

Dennoch waren all diese Dinge geschehen. Sie konnte ihre Vergangenheit nicht ungeschehen machen.

Sie parkte ein, stellte den Motor ab und hielt sich krampfhaft am Lenkrad fest.

Ob es ihr nun gefiel oder nicht, ihre Vergangenheit gehörte zu ihr, und ihr blieb nichts anderes übrig, als die alten Scherben aufzusammeln und sich selbst zu etwas Besserem zusammenzusetzen.

Meredith nahm ihren Regenschirm vom Beifahrersitz, kletterte aus dem Auto und spannte ihn auf. Jeder Muskel in ihrem Körper schmerzte von der langen Fahrt auf dem unbequemen Sitz ohne Lendenwirbelstütze.

Sie sehnte sich nach dem Lederluxus ihres Mercedes inklusive Heiz- und Kühlfunktion, aber verdrängte den Gedanken schnell. Das alles war Teil ihres früheren Lebens. Dies hier war ihre Gegenwart.

Unter dem Geprassel des Regens auf dem Nylonstoff des Schirms richtete sie sich auf und atmete ein paarmal tief durch, um Mut zu schöpfen und sich zu beruhigen.

Eine Geruchsmischung aus Meer und Sturm durchströmte sie und erinnerte sie augenblicklich an lange verregnete Nachmittage in Frances’ altem Cottage am Starfish Beach, an denen sie Brettspiele gespielt und alte Filme geschaut hatten.

Selbst im Regen wirkte Cape Sanctuary warm und einladend. Blumenkörbe hingen an den Straßenlaternen, und auch in den Fenstern standen sie. Vor dem Café lud eine Bank mit abblätternder roter Farbe Besucher dazu ein, innezuhalten, ihre müden Beine auszuruhen und die Aussicht zu genießen.

Ob man hier auch den müden Geist zum Ausruhen einlud? Ihrer war nämlich im Moment so ziemlich am Tiefpunkt angekommen.

Wahrscheinlich wurden hier aber nur andere Reisende gastfreundlich zum Ausruhen aufgefordert. Sie sicher nicht. Denn ihr war vollkommen klar, dass man sie keineswegs mit der Wärme und Gemütlichkeit begrüßen würde, die das Café im Allgemeinen ausstrahlte.

Die Leute da drinnen würden nicht gerade begeistert sein, sie zu sehen. Zumindest galt das für eine Person, nämlich ihre Cousine und ehemals beste Freundin Tori Ayala. Vermutlich würde sie ihr die Tür vor der Nase zuschlagen oder sie direkt wieder in den Regen hinausschicken.

Lass dir ein Rückgrat wachsen, ermahnte sie sich selbst.

Tori konnte sie nicht einfach wegschicken. Nicht, solange ihr die Hälfte des Cafés gehörte.

Sie ging zur Eingangstür und blieb unter dem Vordach stehen, um den Regenschirm zuzuklappen. Dann zog sie mit klopfendem Herzen die Tür auf.

Es war, als verstummte mit dem Läuten der Glöckchen über der Eingangstür schlagartig das leise Murmeln der Gespräche und das Klingen der Gläser. Die Gäste wandten sich um oder schauten auf, um zu sehen, wer gekommen war.

Es war mitten am Nachmittag, der Hochbetrieb um die Mittagszeit war also bereits vorbei. Trotzdem schien das Café gut besucht zu sein, mehr als Meredith es zu der späten Stunde erwartet hätte.

»Komme gleich«, ertönte eine fröhliche Stimme, die Meredith nur zu gut kannte. Langsam wurde sie nervös.

Dies war die Stimme der Person, die alle Geheimnisse mit ihr geteilt hatte, damals, als sie einander noch alles erzählt hatten.

Das Letzte, was sie wollte, war eine Konfrontation mit Tori direkt nach ihrer Ankunft in der Stadt, aber sie wusste, dass es sich nicht vermeiden ließ.

Sie straffte sich und richtete den Riemen ihrer letzten Designertasche auf der Schulter. Alles, was sie noch hatte, waren ein Schrottauto und dreihundert Dollar in einer Louis-Vuitton-Tasche, die etwa sechsmal so viel wert war.

Meredith spürte die neugierigen Blicke der Gäste auf sich. Sie vergrub die Hände in ihren Jackentaschen und kämpfte gegen den Drang an, ihre Handtasche zu packen, zur Tür zu stürzen und zurück in den Regen zu flüchten.

Aber was dann?

Weglaufen ging nicht, weil sie nirgendwo anders hin konnte.

Im nächsten Moment kam die Person, die anzutreffen sie am meisten fürchtete, aus der Küche. Ihre Cousine Tori hatte eine adrette schwarze Schürze mit der Aufschrift »The Beach End Café« in Weiß auf der Vorderseite umgebunden und trug gekonnt ein Tablett mit mindestens drei oder vier Bestellungen darauf.

Ihr braunes Haar war zu einem unordentlichen Dutt zusammengebunden, und hinter ein Ohr hatte sie einen Bleistift geklemmt.

Sie sah so schön aus wie immer, strahlend und lebendig und so lieb, dass ihr Anblick Gefühle in Meredith weckte, die ihr in der Kehle stecken blieben.

Leider wurde die Empfindung jedoch augenscheinlich nicht erwidert. Wie Meredith schon vorausgeahnt hatte, erstarrte Tori in dem Moment, als sie sie sah. Das Tablett schwankte leicht in ihren Händen, aber sie behielt die Kontrolle mit einer Leichtigkeit, die für jahrelange Übung sprach.

Merediths Magen jedoch bewies weniger Kontrolle und knurrte als Reaktion auf die Geruchsmischung aus brutzelndem Fleisch, Kaffee und Bratkartoffeln – einem Duft, den sie auf ewig mit dem Café verbinden würde.

Plötzlich erinnerte sie sich daran, dass sie seit der eiligen Mahlzeit am Abend zuvor nichts mehr gegessen hatte. Ein billiges Tiefkühlgericht, das sie in dem Laden neben ihrem fragwürdigen Hotel in Sacramento gekauft und in der Mikrowelle ihres Zimmers zubereitet hatte.

Sie verdrängte das Hungergefühl, mit dem sie sich später befassen musste. Das wurde offenbar gerade zum Mantra ihres Lebens.

»Hallo«, murmelte sie dann und wusste nicht recht, was sie sonst noch sagen sollte.

Ihre zaghafte Begrüßung prallte auf eine Wand aus Wut, die so greifbar schien wie die sturmgepeitschten Wellen im Driftwood Park.

»Verschwinde«, knurrte Tori. »Raus mit dir, zum Teufel.«

Meredith spürte, wie sie zusammenschrumpfte. Sie hasste Konfrontationen. Sie brachten sie dazu, dass sie sich am liebsten in Luft auflösen oder ganz klein zusammenrollen wollte, die Hände über dem eingezogenen Kopf. Und bei der Wut in Toris Stimme wuchs der Wunsch in Meredith, zur Tür hinauszuschleichen, wieder ins Auto zu steigen und über die regennassen Straßen davonzufahren.

Aber das konnte sie nicht tun. Sie war bereits zu weit gekommen, wortwörtlich und im übertragenen Sinn, um jetzt noch aufzugeben.

Also atmete sie tief die nach Restaurant duftende Luft ein und sah ihre Cousine fest an. »Ich soll mein eigenes Café nicht betreten dürfen? Was sollte mich daran hindern?«

»Es ist nicht dein Café«, stieß Tori aus, deren Gesicht jetzt rot anlief.

»Nicht ganz, aber zur Hälfte.«

Tori verzog den Mund und hievte das Tablett höher. »Neunundvierzig Prozent. Ich habe immer noch die Entscheidungsgewalt.«

»Das weiß ich«, sagte Meredith leise.

Sie war glücklich, überhaupt einen Anteil zu besitzen, zumal ihr im Grunde nicht mal eine Schachtel Strohhalme vom Café zugestanden hätte.

Frances hatte in ihrem Testament eindeutig festgelegt, dass Tori immer das letzte Wort haben würde, was das Café anging, zumal sie ihr ganzes Leben hier gearbeitet hatte, während Meredith jedes Jahr nur ein paar Wochen im Sommer bei ihnen gewesen war.

»Ich habe jetzt keine Zeit für so was«, zischte Tori. »Ich habe Kunden. Manche Menschen müssen für ihren Lebensunterhalt arbeiten, anstatt von Geld zu leben, das man leichtgläubigen Senioren gestohlen hat.«

Wie sie es zweifellos beabsichtigt hatte, trafen ihre Worte tiefer als ein Schnitt mit einem Küchenmesser.

Bevor Meredith jedoch etwas erwidern konnte, trug Tori ihr Tablett zu einem Tisch in der Ecke, wo eine Gruppe von Leuten, augenscheinlich Bauarbeiter, das schlechte Wetter wohl für eine Pause nutzte.

Wie alle anderen im Café warfen sie ihr verstohlene Blicke zu. Meredith wollte am liebsten verschwinden. Stattdessen straffte sie sich noch einmal. Das Getuschel und die Blicke sollte sie eigentlich inzwischen gewohnt sein. In Chicago war sie es tatsächlich, aber hier in Cape Sanctuary, Tausende von Meilen vom Tatort entfernt, hatte sie gehofft, etwas Ruhe zu finden.

Krampfhaft hielt sie sich an ihrem feuchten Regenschirm fest und wusste nicht, was sie tun sollte. Sie hatte schon Schlimmeres erlebt, sagte sie sich. Tori konnte sie nicht rausschmeißen, und sie konnte auch nicht die Polizei auf sie hetzen. Sie hatte das gleiche Recht, hier zu sein, wie ihre Cousine.

Als Tori schließlich mit dem Servieren der Mahlzeiten fertig war, kam sie mit dem leeren Tablett zurück, wobei das höfliche Lächeln, das sie für die Kunden aufgesetzt hatte, sich wieder in den starren Blick von zuvor verwandelte.

»Ich dachte, du wolltest gehen«, schnauzte sie. »Reisende soll man nicht aufhalten. Nicht dass du die Tür in den Rücken kriegst. Oder wenn schon, mir egal. Hauptsache, du verziehst dich.«

Meredith seufzte tief und wünschte, inmitten der Feindseligkeit ihrer Cousine eine kleine Spur ihrer einstigen allerbesten Freundin zu finden, auf die sie sich immer hatte verlassen können. Der Freundin, die jedes Mal geweint hatte, wenn sie am Ende des Sommers wieder in ihr richtiges Leben zurückkehren musste.

Doch sie wusste, dass sie das, was sie sich erhoffte, hier nicht finden würde. Sie hatte die Brücken zu dieser Freundschaft schon vor langer Zeit hinter sich abgebrochen.

»Ich fürchte, ich werde nicht weggehen«, sagte sie und kämpfte um Gelassenheit. »Diesmal nicht. Grandma Frances hat mir die Hälfte des Cafés hinterlassen – ja, ich weiß, neunundvierzig Prozent. Und ich werde nur gehen, wenn du mich auszahlst.«

Meredith hatte gehofft, dass sie zumindest höflich miteinander umgehen könnten, aber sie nahm ihrer Cousine die Wut nicht übel. Sie wusste, sie hatte all das und noch mehr verdient.

»Kannst du das?«

Die Gesichtszüge ihrer Cousine verhärteten sich. »Dich auszahlen? Du weißt, dass ich es nicht kann.«

Meredith zuckte mit den Schultern und versuchte sich an einem beschwichtigenden Lächeln. »Dann wirst du mich wohl vorerst nicht los, bis ich weiß, wie es weitergeht.«

»Was meinst du damit?«

Sie zuckte wieder mit den Schultern. »Ich besitze zwar nur die Hälfte vom Café, aber das Spindrift Cottage hat Frances mir komplett hinterlassen. Ich werde dortbleiben, während ich hier von der Pike auf lerne.«

»Von der Pike auf«, echote Tori, als ergäben die Worte keinen Sinn für sie.

»Genau. Ich ziehe heute in das Cottage ein und melde mich morgen zum Dienst.«

Frustriert stieß Tori einen leisen Laut aus, der direkt aus ihrer Kehle zu kommen schien. »Das ist so typisch. Du tauchst aus heiterem Himmel auf und erwartest, dass sich alles um dich dreht.«

»Es tut mir leid, dass du das so siehst«, sagte Meredith mit einer Gelassenheit, die sie gar nicht empfand. »Ich will nur helfen. Seit Frances gestorben ist, habe ich dir die ganze Last der Leitung des Cafés aufgebürdet, was nicht fair war. Jetzt bin ich hier, um meinen Teil beizusteuern. Ich wäre schon früher gekommen, aber ich hatte … na ja, ein paar Dinge zu erledigen.« Meredith merkte, dass ihre Finger zitterten, und hoffte, dass Tori es nicht sehen würde.

»Du bist hier nicht willkommen«, schnappte ihre Cousine zurück.

Der Fluchtimpuls überwältigte sie. Sie könnte immer noch in ihrem Auto leben, der einzigen Unterkunft, die sie sich noch leisten konnte.

Wann war sie eigentlich so ein Feigling geworden?

Leider kannte sie die Antwort auf diese Frage nur zu gut.

Dennoch, sosehr sie Konfrontationen auch hasste, diese hier war unvermeidbar. Tori konnte sie nicht zwingen zu gehen. Trotz allem und obwohl Meredith wusste, wie unverdient es war, hatte Frances sie geliebt. Und ihre Großmutter hatte ihr ein wertvolles Erbe hinterlassen: einen Teil ihres geliebten Cafés und das kleine Cottage mit zwei Schlafzimmern am Strand.

Das Cottage gehörte also ihr. Kein wütender Gläubiger konnte es ihr wegnehmen.

»Hast du den Schlüssel zum Spindrift Cottage, oder ist es dir lieber, wenn ich mich an den Anwalt wende, der Frances’ Nachlass verwaltet?«

»Tut mir leid, dir das so unverblümt sagen zu müssen, aber das Spindrift Cottage ist in einem schlimmen Zustand. Es ist kaum bewohnbar. Die Vormieter haben es ziemlich ramponiert hinterlassen, als ihr Mietvertrag letzten Herbst ausgelaufen ist, und im Winter war das Dach undicht. Das habe ich zwar reparieren lassen, was ich dir in Rechnung stellen werde, aber sonst ist nichts gemacht worden.«

Ein mulmiges Gefühl stieg in Meredith auf, und sie schluckte. Vielleicht würde sie am Ende doch auf Posy als Schlafplatz zurückgreifen müssen.

»Vielen Dank jedenfalls dafür.«

»Ich hatte zu viel zu tun, um noch mehr zu machen, auch wenn ich es gewollt hätte, denn ich musste Frances’ Haus ganz allein ausräumen.«

Meredith wusste, dass Tori das Haus ihrer Großmutter, Seafoam Cottage, geerbt hatte. Sie selbst wohnte in einem dritten Haus, dem Sandpiper Cottage, das am selben Strandabschnitt lag. Ihr verstorbener Mann und sie hatten es kurz nach ihrer Heirat von Frances gekauft und umgebaut.

Alle drei Cottages waren als kleine Strandhäuschen zur selben Zeit errichtet worden. Ihre Großmutter hatte sie von ihrem eigenen Vater geerbt, in einem davon gewohnt und die anderen beiden vermietet, bis Tori und Javier das Sandpiper Cottage übernommen hatten.

Meredith kämpfte gegen ihre wachsende Verzweiflung an. Bestimmt versuchte Tori nur, sie abzuschrecken. Wie schlimm mochte es wirklich um das Haus stehen?

»Ich komm schon klar«, sagte sie. »Ich brauche nicht viel.«

Tori schnaubte verächtlich.

»Ist es wenigstens möbliert?«

»Technisch gesehen, ja. Es gibt ein Bett, ein Sofa und einen Küchentisch mit Stuhl. Sicherlich nicht dein üblicher vergoldeter Standard.«

»Ich komm schon klar«, wiederholte sie mit einer Zuversicht, die sie bei Weitem nicht fühlte. Aber selbst wenn es ein Zelt mitten im Sumpf wäre, würde sie Tori gegenüber kein Wort darüber verlieren.

Egal in welchem Zustand das Spindrift Cottage war, wertlos konnte es nicht sein. Schließlich lag es am Strand, und das hier war Kalifornien mit einem der teuersten Immobilienmärkte des Landes.

Es würde funktionieren. Es musste. Sie würde ihr Erbe in Ordnung bringen, das Cottage verkaufen und sich mit dem Erlös irgendwo weit weg ein neues Leben aufbauen.

Und natürlich hatte sie nicht vor, sich ihren Anteil am Café von Tori auszahlen zu lassen. Es war ein kompletter Bluff gewesen, aber das würde sie ihrer Cousine gegenüber nicht zugeben.

Und sobald sie das Haus verkauft hätte, wollte sie ihren Anteil am Café an Tori übertragen. Das wäre zwar nur eine kleine Entschädigung für all das, was Frances – und damit auch Tori – ihretwegen durchgemacht hatte, aber es war besser als nichts.

Doch bis dahin brauchte Meredith Bargeld, das war die nackte Wahrheit. Sie hatte noch genau dreihundert Dollar, was schon kaum ausreichen würde, um Farbe zu kaufen, wenn sie das Haus ein wenig in Schuss bringen wollte. Und die naheliegendste Geldquelle war die Arbeit im Beach End Café.

»Um wie viel Uhr soll ich morgen hier sein? Ich habe draußen das Schild ›Aushilfe gesucht‹ gesehen und dachte mir, dass ich die Stelle annehmen könnte.«

Tori warf ihr einen ungläubigen Blick zu. »Du willst in der Frühschicht Tische abräumen?«

Tische abräumen. Das schien ihren Fähigkeiten im Gastronomiebereich genau zu entsprechen.

»Klingt perfekt. Und um wie viel Uhr wäre das?«

»Wir öffnen um sechs Uhr dreißig. Die Belegschaft kommt um sechs.«

Sechs Uhr morgens. Meredith erschauerte innerlich.

»Ich werde hier sein. Du kannst das Schild abnehmen.«

Tori warf Meredith einen Blick zu, der ihr eindeutig vermittelte, was sie am liebsten mit dem Schild tun würde. Meredith beschloss, auch das zu ignorieren.

»Wo finde ich denn nun den Schlüssel zum Spindrift Cottage? Hast du ihn, oder muss ich diesen Anwalt aufsuchen?«

Tori starrte sie einen Moment lang wortlos an, dann griff sie in ihre Schürzentasche, zog einen lila Karabiner mit mehreren Schlüsseln daran heraus und machte einen davon ab. Anschließend streckte sie ihn ihr entgegen.

Aus Furcht, Tori könnte es sich anders überlegen und ihn wieder in ihrer Tasche verschwinden lassen, schnappte sich Meredith schnell den Schlüssel und umschloss das kalte Stück Metall mit ihren Fingern.

Wieder knurrte ihr Magen, laut genug, dass Tori es hören musste. Und obwohl Meredith sich am liebsten in eines der so vertrauten Sitzabteile gesetzt und einen der berühmten Beach-End-Burger bestellt hätte – oder zumindest ein Stück Dutch Apple Pie zum Mitnehmen –, wollte sie doch ihr Glück nicht übermäßig herausfordern.

»Danke. Dann sehen wir uns morgen früh. Oder sogar vorher, wir wohnen ja am selben Strand.« Mit diesen Worten lief sie aus dem Café, den Schlüssel wie eine Rettungsleine umklammernd. In ihrer Eile dachte sie jedoch weder an den Regen noch an den Regenschirm, den sie immer noch in der anderen Hand hielt. Und als sie ihn schließlich öffnete, war sie bereits durchnässt.

Sicherlich gab es eine passende Metapher, die das Chaos in ihrem Leben beschreiben konnte, aber sie hatte gerade weder die Energie noch die Kreativität dafür übrig, sie zu benennen.

Sie war hier, in Cape Sanctuary. Sie hatte einen Platz zum Schlafen und einen Job. Es war vielleicht keine ideale Situation, aber sie war verzweifelt genug, dass es ihr egal war.

2. KAPITEL

Tori

Die Tür des Cafés fiel mit dem gewohnten Läuten zu, einem fröhlichen, musikalischen Klang, der so gar nicht zu Toris plötzlich mieser Laune passen wollte.

Meredith. Hier.

Dabei war ihr Tag bisher super gelaufen.

Das Café war gut besucht, seit sie geöffnet hatten, alle Lieferungen waren pünktlich gewesen, und die Köche waren beide relativ gut drauf, was nicht immer der Fall war.

Und sogar das Wetter hatte sie heute beim Aufwachen positiv überrascht, als sie das Prasseln auf dem Cottagedach gehört hatte. Die Gegend brauchte den Regen so dringend. Wie köstlich die feuchte Luft roch, nach Wachstum und Frühling, und alles sah in dem intensiven Licht sauber und neu aus.

Und dann war da noch die Tatsache, dass Tori seit drei oder vier Tagen das seltsame Gefühl nicht loswurde, dass etwas Wunderbares auf sie zukam. Sie hätte nicht sagen können, was es war, aber irgendwie hatte es erwartungsvoll zwischen ihren Schulterblättern gekribbelt.

O Mann, das war das letzte Mal, dass sie ihrer eigenen Intuition vertraut hatte.

Sie hätte wohl kaum weiter danebenliegen können.

Meredith. Hier.

Was wollte sie bloß? Sicher hatte sie nicht erwartet, mit offenen Armen empfangen zu werden. Wenn doch, dann würde sie ihr blaues Wunder erleben. Tori hätte sie am liebsten mit einer Backpfeife, gefolgt von einem Tritt in den Hintern, begrüßt.

In einem Café voller Kunden wäre das sicher spitzenmäßig angekommen, ganz zu schweigen davon, dass man sie wahrscheinlich im Anschluss daran verhaftet hätte. Zum Glück war sie keine gewalttätige Person, aber wenn Meredith am Starfish Beach leben würde, änderte sich das vielleicht noch.

»Wer war denn diese Prinzessin?«, fragte Ty Kemp, einer der beiden Köche. Neugierig verfolgte er durch das Fenster, wie Meredith durch den Regen zu ihrem Auto ging.

Prinzessin. Was für eine treffende Beschreibung. Meredith war das verwöhnte Kind lächerlich reicher Eltern. Selbst so tropfnass, wie sie jetzt war, schritt sie auf eine derart geschmeidige, anmutige Weise dahin, als würde sie einen Stapel Bücher auf dem Kopf balancieren.

»Meine Cousine, niemand von Bedeutung«, antwortete Tori kurz angebunden.

Sie ging zu dem leeren Sitzabteil in der Ecke zurück, das sie als behelfsmäßiges Büro nutzte, wenn sie neben ihren anderen Aufgaben Papierkram zu erledigen hatte.

Aber sosehr sie sich auch bemühte, sie konnte sich nicht konzentrieren. Immer wieder sah sie Meredith vor sich, dünn, fast zerbrechlich, in einer Jacke, die ihr eine Nummer zu groß schien.

Warum nur hatte sie nach Cape Sanctuary zurückkommen müssen?

Nach allem, was in den letzten Jahren – gut, eher den letzten fünfzehn – passiert war, konnte sie doch nicht ernsthaft erwarten, dass Tori sich freuen würde, sie zu sehen.

War sie so eingebildet oder begriffsstutzig zu glauben, dass sie einfach hier hereinspazieren und ihren Willen kundtun konnte und Tori daraufhin nur lächeln und ihr eine Schürze reichen würde?

Ja, wahrscheinlich hatte sie genau das erwartet.

Dank Frances gehörte Meredith die Hälfte des Cafés und eines der Cottages. Ihre Großmutter hatte Meredith bis zum Schluss geliebt, trotz allem.

»Nichts von dem, was passiert ist, ist Meris Schuld, Schatz«, hatte Frances mit ihrer sanften, brüchigen Stimme gesagt, atemlos, nachdem ihr Herz begonnen hatte schwächer zu werden. »Wie könnte ich ihr die Fehler ihres Mannes anlasten?«

»Sie muss davon gewusst haben«, hatte Tori beharrt. »Meredith ist nicht dumm. Als wäre es ihr entgangen, dass Carter seine Kunden bestohlen hat, um seinen eigenen Lebensstil zu finanzieren.«

»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Wir wissen nicht, wie es bei den beiden lief. Auf jeden Fall hat sie eine schwere Zeit hinter sich und braucht unser Verständnis.«

»Meines kriegt sie nicht«, hatte Tori geblafft.

»Weißt du, ich möchte ganz bestimmt nicht für alles geradestehen, was dein Großvater angestellt hat, bevor er starb. Wenn ich für seine Sünden mitverantwortlich wäre, würde die halbe Stadt sich weigern, ins Café zu kommen.«

Tori hatte versucht, damit zu argumentieren, dass Meredith an Carter Rowlands Schneeballsystem beteiligt gewesen sein musste. Zumindest hatte es ihr einen verschwenderischen Lebensstil ermöglicht.

Frances jedoch hatte nicht zuhören wollen. Dann war sie zu krank geworden, um noch mehr mit ihr zu streiten.

Möglich, dass Frances bereit gewesen war, nur das Gute zu sehen, aber Tori war anders als ihre Großmutter. Sie konnte Meredith und ihrem diebischen Bastard von Ehemann nicht einfach das Leid vergeben, das sie über das Leben ihrer Familie gebracht hatten.

Sie wünschte ihre Cousine zum Teufel. Sam Ayala, ihr Schwager, arbeitete für die Polizei von Cape Sanctuary. Bestimmt fand er einen Grund, um Meredith auffordern zu können, die Stadt vor Sonnenuntergang zu verlassen, so wie in einem alten Western.

Meredith hier im Beach End Café arbeiten zu lassen, war jedenfalls das Letzte, was Tori wollte.

Nur, wie hätte sie Nein sagen können? Ob es ihr gefiel oder nicht, die Frau hatte jedes Recht, in Cape Sanctuary zu sein, und ebenso hatte sie das Recht, im Café zu arbeiten, wenn sie es wollte.

»Ty sagt, die hübsche Lady mit der schicken Handtasche, die vorhin hier war, ist deine Cousine«, kam es von der immer fröhlichen und etwas molligen Denise Arnold. Während sie gerade ein Sandwich mit Bacon, Salat und Tomate belegte und noch Pommes auf einem Teller verteilte, warf sie ihr einen fragenden Blick zu.

Wenn es nach Tori gegangen wäre, hätte sie gern jede Verbindung zu Meredith abgestritten.

»Ja, ihr Vater und meine Mutter waren Geschwister.«

»Das ist also Meredith. Nach all der Zeit. Ich hatte mich schon gefragt, ob sie wirklich existiert. Frances hat von ihr gesprochen, als wäre sie eine Königin oder so was.«

»Von wegen.« Obwohl … Merediths verstorbener Ehemann galt immerhin als König der Schwindler, dachte Tori bitter bei sich.

Denise wandte den Kopf, um sicherzugehen, dass sich keiner der anderen Mitarbeiter in Hörweite befand. Da inzwischen nicht mehr viel los war, hatte Ty sich nach draußen verzogen, wahrscheinlich um eine E-Zigarette zu dampfen, obwohl er es sich eigentlich gerade abgewöhnte.

»Ich wollte ja nicht lauschen, aber habe ich das richtig mitbekommen, dass ihr die Hälfte vom Beach End gehört?«

Tori konnte es nicht leugnen. Was hätte es auch gebracht? »Leider ja. Du weißt, wie Frances war. Großzügig bis ins Mark, aber nicht mit der besten Menschenkenntnis gesegnet. Sie hat immer nur das Gute in jedem gesehen, den sie liebte.«

Ob verdient oder nicht.

Tori tendierte eher in die andere Richtung. Frances hatte ihr immer gesagt, sie sei viel zu jung für einen derartigen Zynismus. Ob es daran lag, dass ihre Mutter ständig aus ihrem Leben verschwunden und dann wieder aufgetaucht war, wenn es ihr gerade in den Kram passte, oder daran, dass sie ihren Mann auf tragische Weise verloren hatte, als sie erst fünfundzwanzig gewesen war, wusste Tori nicht.

»Na, das kann ja heiter werden«, sagte Denise und schüttelte den Kopf. »Ich hoffe nur, sie will hier nicht gleich alles verändern.«

Tori holte ein großes Paket Servietten unter einem der Tresen hervor und ging damit zur Schwingtür der Küche.

»Pech für sie, wenn sie das vorhat. Das Café ist absolut in Ordnung, so wie es ist, und unsere Kunden mögen es auch so. Bodenständiges, traditionelles Essen, anständige Preise, guter Service. Sie wissen genau, was sie erwartet, wenn sie hierher zum Essen kommen. Wenn Meredith denkt, dass sie hier reinmarschieren und alles ändern kann, gibt es ein böses Erwachen für sie.«

»Erwachen oder nicht, das wird Ärger geben, denk an meine Worte«, warnte Denise.

Leider hatte Tori weder Denise’ Worte noch ihren ungewöhnlich düsteren Tonfall nötig, um zur selben Überzeugung zu gelangen. In dem Moment, als Meredith durch die Tür gekommen war, hatte sie eine Welle der Vorahnung mit der Wucht eines Tsunamis überrollt.

Tori konnte Meredith nicht auszahlen. Sie hatte einfach keine liquiden Mittel, und sie konnte nicht riskieren, einen Kredit aufzunehmen, den sie vielleicht nie würde zurückzahlen können.

In den letzten sieben Jahren seit Javiers Tod hatte sie sich als alleinerziehende Mutter gerade so durchgeschlagen, denn das Gehalt, das sie mit der Leitung des Cafés für Frances verdient hatte, war eher gering ausgefallen.

Von Javiers kleiner Lebensversicherung hatte sie ihre Hypothek an Frances abbezahlt, obwohl ihre Großmutter das nicht gewollt hatte.

Frances wiederum hatte mit diesem Geld einen Kredit zurückgezahlt, den sie aufgenommen hatte, als es vor einigen Jahren eng geworden und das Café in die roten Zahlen gerutscht war.

Im Grunde besaß Meredith also neunundvierzig Prozent eines Unternehmens, das kaum Gewinn abwarf. Wenn ihre Cousine glaubte, dass sie hier in Cape Sanctuary ihr Vermögen wieder aufbauen konnte, hatte sie sich gewaltig geirrt.

So gesehen stellte sich eigentlich die Frage, warum Merediths Mutter nicht für sie gebürgt hatte, als Carters Rechtsstreitigkeiten begannen. Die Familie schwamm doch in Geld.

Wobei, eigentlich kannte sie die Antwort. Denn Cilla Collins musste den Skandal um ihren Schwiegersohn zutiefst verabscheut haben, und sicher hatte sie alles darangesetzt, um sich davon zu distanzieren – und damit ebenso von ihrer eigenen Tochter. Cilla war der Inbegriff des Narzissmus.

Sie war nicht mal zu Merediths Schulabschlussfeier gekommen, weil sie sich damals von einem schlimmen Facelifting erholte und nicht wollte, dass jemand die Narben sah.

Das Läuten der Tür lenkte sie von ihren Gedanken ab, und auch von der banalen Arbeit, die für den Betrieb eines Cafés so wichtig war.

Sie schaute auf und war sofort beunruhigt, als sie ihre Tochter Emilia und deren Cousine Cristina lachend den gemeinsam genutzten Regenschirm ausschütteln sah.

Die beiden hübschen braunäugigen Mädchen, die Schwestern hätten sein können, schienen ein wenig Licht in ihren trüben Tag zu bringen, auch wenn Tori misstrauisch blieb.

»Em! Was ist los? Die Schule ist erst in einer Stunde um!«

Ihre Tochter warf ihr einen unschuldigen Blick zu, der Tori nicht eine Sekunde lang täuschte. »In der letzten Stunde gab es eine Motivationsrede für das Baseballteam, das zum Bundesturnier fährt. Coach Jordan meinte, wir müssten nicht bleiben.«

Ungläubig runzelte Tori die Stirn. Hielt Emilia sie wirklich für so leichtgläubig? Anscheinend.

»Taylor und Josh sind im Team. Ihr wolltet nicht bleiben, um eure Freunde anzufeuern?«

Beide Mädchen zuckten mit den Schultern. »Sie wissen, dass wir sie lieben, auch wenn wir nicht zu irgendeinem lahmen Aufmunterungstreffen kommen«, sagte Cristina.

»Wir wollen nur bei uns zu Hause Hausaufgaben machen. Ob wir vielleicht einen Teller Pommes oder so bekommen können?«, fragte Em. »Wir haben beide heute noch nicht zu Mittag gegessen und sind am Verhungern.«

»Warum?«

»Weil wir Mädchen im Wachstum sind?«

»Ich meine, warum ihr nicht zu Mittag gegessen habt.«

Emilia zuckte wieder mit den Schultern. Ihre Lieblingsgeste. »Mittags hatten wir keinen Hunger. Außerdem gab es in der Cafeteria fast nur Spaghetti, und die sind in der Schule einfach ekelhaft!«

»Wirklich eklig«, bestätigte Cristina, »als würde man tote Würmer essen.«

»Alle hassen die, und deswegen war die Schlange für die alternativen Gerichte endlos, und wir wollten nicht so lange warten.«

Natürlich. Warum sollten sie eklige Spaghetti essen, wenn sie wussten, dass sie nach der Schule – oder offensichtlich auch während – im Café eine anständige Mahlzeit zubereitet bekämen?

»Wir finden bestimmt was für euch. Wollt ihr gegrillten Käse zu den Pommes?«

»Das wäre mega, Tante Tori.« Cristina strahlte sie an.

»Können wir auch ein paar Cola light haben?«

»Sicher. Ich schreibe sie auf deine Liste. Du kannst sie am Samstag abarbeiten, wenn du mir beim Organisieren der Lieferungen hilfst.«

Bei der Erinnerung daran, dass sie am Samstagmorgen arbeiten musste, sah Em nicht gerade begeistert aus, aber Cristina zog sie zu einem Tisch in der Ecke, und schon bald steckten sie die Köpfe zusammen und lachten über irgendetwas.

Wahrscheinlich über Toris wenig überzeugende Bemühungen, Em zum Helfen im Café zu verdonnern, im Austausch gegen Pommes und Cola.

Sie wischte den Gedanken beiseite. Emilia und sie waren immer beste Freundinnen gewesen. Seit Javis Tod – damals war ihre Tochter gerade sechs Jahre alt gewesen – waren sie ein Team. Sie beide gegen den Rest der Welt.

Dann hatten bei Frances die Probleme mit dem Herzen begonnen, und Tori hatte immer mehr Verantwortung für das Café übernommen. In der Folge war Emilia damit aufgewachsen, dass sie entweder am Tisch in der Ecke des Cafés mit Puppen spielte oder ihrer Großmutter in deren Zuhause Gesellschaft leistete, während Frances im Garten arbeitete, Strandgut sammelte oder auf ihrer Veranda mit Blick auf den Ozean strickte.

Zu Beginn des Schuljahres, in dem Em dreizehn wurde, hatte sich dann alles geändert.

Tori war vor der Teenagerzeit gewarnt worden. Manche Kinder würden anfangen, ihre Grenzen auszutesten und zu überschreiten, hatte es geheißen, aber sie war überzeugt gewesen, dass es bei ihr und Emilia anders wäre und nichts ihre enge Bindung beeinträchtigen könnte.

Sie hatte sich jedoch geirrt.

Schon bevor Cristina zusammen mit ihrem Vater Sam, Javiers Bruder, nach Cape Sanctuary zurückgezogen war, hatte Em angefangen, sich zu verändern. Sie war nicht mehr das süße, unkomplizierte Kind, das es allen recht machen wollte. Stattdessen wurde sie trotziger und widerspenstiger, je mehr sie ihre eigene Meinung entwickelte.

Tori hatte das Gefühl, momentan nichts richtig machen zu können. Schmerzlich sehnte sie sich nach den früheren Zeiten zurück, als Em nach der Schule gar nicht schnell genug ins Café hatte kommen können, um ihr alles über ihren Tag zu erzählen. Heute konnte sie froh sein, wenn Em ihr überhaupt noch etwas anvertraute.

Aber jetzt hatte sie keinen Kopf dafür. Auch wenn ihre Tochter für sie immer an erster Stelle stehen würde, musste sie sich heute um dringendere Angelegenheiten kümmern, zum Beispiel, wie sie damit umgehen sollte, dass die verdammte Meredith Rowland wieder über Cape Sanctuary hereingebrochen war wie ein menschlicher Wirbelsturm.

Sie ging in die Küche, um die Bestellung bei Denise aufzugeben.

»Die Mädchen sind früh dran, oder?« Die Köchin schnitt gerade Tomaten und wies kurz mit dem Kopf in Richtung Tür zu Emilia und Cristina. »Sie müssten doch noch Schule haben, es sei denn, meine Enkelkinder haben vergessen, mir von irgendeinem Feiertag zu erzählen.«

»Kein Feiertag, nur eine Versammlung zum Anfeuern, die sie schwänzen. Sie haben Hunger. Kannst du ihnen ein paar Käsesandwiches und Pommes machen?«

»Können sie haben. Aspen ist übrigens gegangen. Sie sagte, sie fühle sich nicht wohl.«

Das bedeutete, dass Tori nun allein im Service arbeiten musste. Wo war Meredith, wenn man sie brauchte? Wenigstens befanden sie sich gerade in der ruhigen Phase zwischen Mittag- und Abendessen.

Als sie aber aus der Küche trat, fand sie eine große Gruppe vor, die an der Tür wartete, um einen Tisch zugewiesen zu bekommen, und ein paar Stammgäste kamen auch dazu.

Sie schob zwei Vierertische zusammen, ließ beide Gruppen Platz nehmen, verteilte die Speisekarten und ging dann zum Tisch von Em und Cristina.

»Wir sind unterbesetzt, Em. Könnt ihr euch die Getränke selbst holen?«

Emilia atmete tief ein und stieß die Luft aus. »Gern«, sagte sie dann in einem Ton, der das genaue Gegenteil des knapp hervorgestoßenen Wortes vermittelte.

Tori runzelte die Stirn, aber sie hatte gerade nicht die Zeit, ihre Tochter wegen ihres Verhaltens zurechtzuweisen.

Und während sie die anderen Gäste bediente, kam Tori nicht wirklich dazu, nach den Mädchen zu sehen, außer als sie ihnen die Sandwiches brachte, sobald sie fertig waren. Dann bekam sie noch einen Anruf eines anderen Vorstandsmitglieds der Handelskammer, bei dem es um die Tagesordnung einer anstehenden Sitzung ging.

Nach dem Telefonat sah sie gerade noch, dass die Mädchen mit dem Essen fertig waren und aus dem Abteil rutschten.

Bevor sie jedoch hinausgehen konnten, holte sie sie ein.

»Wo wollt ihr beide denn jetzt hin?«, fragte sie in einem Tonfall, von dem sie hoffte, dass er höchstens leicht neugierig klang und nicht nach einem Verhör.

»Wir wollen ein bisschen bei uns zu Hause chillen«, sagte Emilia. »Wir, ähm, haben ein paar Hausaufgaben zu machen.«

Wahrscheinlich würden sie eher ein paar Tanzschritte für ihre bevorzugte Social-Media-App üben.

»Ich bin in circa einer Stunde zu Hause«, erklärte Tori. »Sag mir Bescheid, wenn ihr etwas braucht. Ich kann auf dem Heimweg am Laden anhalten.«

»Schon okay.«

Als sie nach draußen gingen, machten sie sich nicht die Mühe, den Regenschirm aufzuspannen, und Tori sah, dass es aufgehört hatte zu regnen. Die Sonne lugte sogar zwischen den Wolken hervor.

Der Mai an der nordkalifornischen Küste konnte wirklich unbeständig sein. Manche Tage fühlten sich wie Sommer an, andere eher wie Januar. Und dann gab es die gar nicht so seltenen Tage, die irgendwie beides hinbekamen.

Aus einem Impuls heraus folgte Tori den Mädchen hinaus in den Nachmittag und stellte sich vor das Café, um den sauberen, frischen Duft von Blumen, Meer und Frühling einzuatmen. Nur einen Moment, sagte sie sich und hob das Gesicht in die Sonne. Nach all dem, was dieser Tag ihr schon beschert hatte, brauchte sie ein wenig Selbstfürsorge.

Mit geschlossenen Augen sonnte sie sich in der Wärme, bis sie hörte, wie ein Auto vorfuhr und auf einem der wenigen Plätze vor dem Café einparkte. Sie öffnete ein Auge und setzte ein Lächeln für die potenzielle Kundschaft auf.

Dann erstarrte sie, als sie sah, wie Sam Ayala aus einem kleinen SUV ausstieg, auf dessen Seite das Logo des Cape Sanctuary Police Department prangte.

Sie öffnete beide Augen und machte sich auf die merkwürdige Spannung gefasst, die sie in Sams Nähe verspürte, seit er und Cristina wieder hier wohnten.

»Du hast die Mädchen knapp verpasst. Sie sind vor etwa zehn Minuten in Richtung Starfish Beach los.«

Er schaute auf seine Uhr. »Das ging aber schnell. Die Schule ist erst seit fünf Minuten aus.«

»Anscheinend gab es in der Mittelstufe eine Motivationsrede, zu der sie nicht gegangen sind.«

Es sah nicht so aus, als würde er der Ausrede mehr Glauben schenken als sie selbst. »Da das Schuljahr nur noch drei Wochen dauert, denken die meisten Schüler, sie wären mit Lernen durch.«

»Ja, leider.«

Er hielt eine große Thermosflasche hoch. »Ich wollte fragen, ob ich bei dir meinen Kaffee auffüllen kann. Ich habe heute eine Doppelschicht und könnte etwas mehr Raketentreibstoff gebrauchen.«

Sie war sehr stolz darauf, dass das Café den besten Kaffee der Stadt servierte und unter den Einheimischen als Geheimtipp galt.

»Klar. Komm rein.«

Sam ging zur Theke und unterhielt sich mit ein paar ortsansässigen Gästen, während Tori den Rest aus der Thermoskanne schüttete, sie ausspülte und mit frischem Kaffee auffüllte.

Sam gehörte schon lange zu ihrem Leben, zumindest peripher, seit sie mit siebzehn mit seinem jüngeren Bruder zusammengekommen war. Dennoch war er immer eine entfernte Größe gewesen, weil er bereits mit Joni verheiratet gewesen war und im Los Angeles County gelebt hatte.

Nach ihrer Heirat mit Javier hatten sie sich gegenseitig während der Familienurlaube besucht. Sie waren immer auf freundlicher und höflicher Basis miteinander umgegangen.

Doch nun fragte sie sich, was seit seiner Scheidung vor drei Jahren anders geworden war, vor allem, seit er und Cristina wieder hierher zurückgekommen waren. In Sams Nähe fühlte sie sich immer … unsicher.

»Was haben die Mädchen denn jetzt vor?«, fragte er, als sie ihm die Flasche zurückgab. »Sie wollten zum Starfish Beach?«

»Das haben sie gesagt. Angeblich, um Hausaufgaben zu machen. Ich fahre aber gleich heim und behalte sie im Auge. Wenn du nicht willst, dass sie allein sind, bis ich da bin, kann ich sie auch zu ihren Großeltern schicken.«

Das Haus von Sams Eltern Pablo und Teresa, die seit Ems Geburt ein fester Bestandteil in ihrem Leben waren, lag nur ein paar Straßen landeinwärts von ihrem Cottage entfernt.

»Die kommen schon klar. Was können sie schon anrichten?«

»Ich glaube nicht, dass wir die Antwort darauf wirklich wissen wollen«, antwortete Tori.

Sams Lächeln machte sie so nervös und unruhig, als hätte sie gerade seine ganze Thermoskanne leer getrunken.

»Danke dafür«, sagte er und legte viel zu viel Geld auf den Tresen.

»Sam, du musst mir doch den Kaffee nicht bezahlen. Das hab ich dir schon zigmal gesagt. Das Mindeste, was ich für die Polizei von Cape Sanctuary tun kann, ist, sie mit Kaffee zu versorgen. Außerdem gehörst du zur Familie. Ich decke dich sehr gern damit ein.«

»Ich weiß das wirklich zu schätzen, aber in der Abteilung, aus der ich hierhergewechselt bin, war Bestechung an der Tagesordnung. Ich versuche, auch den leisesten Anschein von Fehlverhalten zu vermeiden, also werde ich weiterhin für meinen Kaffee bezahlen.«

Sie wollte etwas einwenden, aber seit seiner Rückkehr nach Cape Sanctuary wusste sie, dass Sam genauso stur sein konnte wie sein Bruder.

Also nickte sie nur und beschloss, ihm und Cristina in den nächsten Tagen einen Kuchen vorbeizubringen, als Zeichen ihrer Wertschätzung. Zu Kuchen würde er doch nicht Nein sagen, oder?

»Das hätte ich fast vergessen«, sagte Sam auf dem Weg zur Tür. »Vor etwa einer Stunde habe ich ein fremdes Auto vor dem Spindrift Cottage vorfahren sehen. Hast du es jemandem überlassen?«

An Meredith erinnert zu werden, war mehr als ausreichend, um ihre Stimmung wieder zu trüben. »Nicht aus freien Stücken«, murmelte sie.

»Soll ich dir helfen, einen Hausbesetzer zu vertreiben?«, fragte er nur halb im Scherz.

»Ich wünschte, das ginge, aber leider gehört ihr das Haus. Da kann ich nichts machen. Es handelt sich um meine Cousine Meredith.«

»Diejenige, welche …?«

»Ja, genau die.«

Anders als Sam, der aus einer turbulenten Großfamilie stammte, hatte Tori nur eine Cousine, zumindest soweit sie wusste. Sie hatte keine Ahnung, wer ihr Vater war, und ihre Mutter hatte nur den einen Bruder gehabt, Merediths Vater.

Da ihre Eltern und nun auch Frances nicht mehr lebten, waren Tori und Meredith – und natürlich Emilia – die Einzigen, die von ihrer Linie übrig waren.

Eigentlich hätte sie gern eine große Familie mit vielen Cousins und Cousinen gehabt. Stattdessen musste sie mit dieser einen klarkommen, die sie nicht ausstehen konnte.

»Ich habe keine Ahnung, warum sie wirklich hier in der Stadt ist. Ich vermute, dass sie das Cottage zu Geld machen will.«

»Was hältst du davon?«

»Es gehört ihr. Frances hat es ihr hinterlassen. Sie kann damit machen, was sie will.«

Sie zögerte, entschied sich dann aber, ihm auch den Rest zu erzählen. »Frances hat ihr auch die Hälfte des Cafés vermacht. Also fast die Hälfte. Mir gehören einundfünfzig Prozent, Meredith neunundvierzig.«

Er hob eine Augenbraue. »Will sie denn Partnerin werden?«

Es war irgendwie tröstlich, Sam ins Vertrauen zu ziehen. Jetzt, wo Frances nicht mehr da war, blieben Tori nicht viele Vertraute. Sie hatte ein paar enge Freundschaften und noch weitere Freunde, aber sie war nicht der Typ Mensch, der sich stundenlang über die eigenen Probleme ausließ.

»Wer weiß schon, was Meredith wirklich will? Ich habe keine Ahnung. Ich weiß nur, dass sie morgen anfangen will, hier zu arbeiten. Sie wird die Tische abräumen.«

»Das kann lustig werden.«

»Ja, könnte man so sagen.« Ihr gingen noch etwa ein Dutzend andere Formulierungen durch den Kopf, von denen sie die meisten nicht hätte wiederholen können.

»Ich habe in meinem Leben bisher noch nie jemanden gehasst. Das ist ein seltsames Gefühl«, sagte sie nachdenklich. »Aber nach dem, was sie und ihr Mann getan haben, kann ich eines mit Sicherheit sagen: Wenn Meredith von einer reißenden Strömung erfasst würde, würde ich ihr vom Ufer aus ›Gute Reise‹ zurufen.«

»Wow. Ich hätte nicht gedacht, dass du so rachsüchtig sein kannst.«

Sie seufzte und fühlte sich klein und gehässig. Dabei stimmte es ja gar nicht. Wenn Meredith zu ertrinken drohte, würde sie aller Wahrscheinlichkeit nach ins Wasser springen, um sie zu retten. Sie wäre zwar nicht glücklich darüber, aber sie würde es trotzdem tun, zumindest Frances zuliebe, wenn schon nicht für ihr eigenes Gewissen.

»Wenn schon keine reißende Strömung, dann verdient sie es zumindest, von hundert Quallen gestochen zu werden«, murmelte sie.

Sams Augenwinkel kräuselten sich von seinem Lächeln. Er nahm ihr offensichtlich nicht ab, dass sie es auch so meinte. »Vorsicht, ich bin immer noch Polizist. Du solltest hoffen, dass ihr nichts zustößt, während sie hier in Cape Sanctuary ist, sonst weiß ich genau, wo ich meine Hauptverdächtige finden kann.«

»Nicht, wenn ich es wie einen Unfall aussehen lasse«, sagte sie mit einem finsteren Blick, der ihn nur noch mehr erheiterte.

Das war das Problem mit Sam. Er kannte sie zu gut. Außerdem war er so ehrenhaft. Sie wusste, dass er keinen Moment zögern würde, sie festzunehmen, wenn er sie eines Verbrechens verdächtigte, auch wenn sie seine verwitwete Schwägerin war.

»Ich sollte dir besser sagen, dass nicht nur das Spindrift Cottage bewohnt ist. Ich habe auch Frances’ Haus für die nächsten Wochen vermietet. Wenn du dort einen Unbekannten siehst, brauchst du nicht gleich zu befürchten, dass er ein Einbrecher ist.«

»Gut zu wissen. Zieht eine Familie dort ein?«

»Nein, ein Schriftsteller, der ein wenig Einsamkeit sucht. Er hat sofort gebucht, als ich das Haus inseriert habe, und er bleibt den ganzen Juni über.«

»Hat er etwas geschrieben, was ich gelesen habe?«

»Wohl kaum. Er sagt, dass er sein erstes Buch fertigstellen will und dafür Einsamkeit braucht.«

»Dann werden es ja ein paar interessante Wochen an deinem kleinen Strand. Von heute auf morgen hast du ihn nicht mehr für dich allein, sondern musst ihn mit einem zurückgezogenen Schriftsteller und einer Cousine teilen, die du nicht leiden kannst.«

»Jippie«, murmelte Tori, und Sam grinste.

»Ich muss los. Danke noch mal für den Treibstoff. Wirf deine Cousine nicht in irgendwelche reißenden Fluten, okay?«

»Ich kann nichts versprechen«, antwortete sie.

Sams Lächeln begleitete sie noch den ganzen Nachmittag über.

3. KAPITEL

Meredith

Panik stieg in ihr auf, als sie sich im Spindrift Cottage umsah.

Tori hatte ihr zwar erzählt, dass der Vormieter das Haus ramponiert hinterlassen habe, aber das war eine glatte Untertreibung gewesen. Hier herrschte nicht einfach nur Chaos, sondern es war ein kompletter Super-GAU. Die Tapeten blätterten ab, an der Decke waren Wasserschäden sichtbar, und zwei kaputte Fenster mussten ersetzt werden, bevor noch Vögel ins Haus einzogen, um hier ihr Nest zu bauen.

Es roch so muffig, dass sie Schimmelbefall an Stellen befürchtete, wo man es nicht sehen konnte.

Wenigstens hatte Tori mit den Möbeln recht behalten. In dem Zimmer, in dem sie stand, gab es ein durchgesessenes, zerschlissenes Sofa, einen wackeligen Stuhl sowie einen Tisch. In einem der anderen Zimmer befand sich noch eine schmuddelige Matratze, die sie sich gar nicht anzufassen traute.

Hier konnte sie unmöglich leben. In ihrem Auto zu schlafen, wäre wahrscheinlich die bessere Option.

Sie straffte die Schultern, was ihr in letzter Zeit zur Gewohnheit wurde. Doch, konnte sie. In dieses Haus musste sie nur ein bisschen Kraft und etwas Farbe investieren. Sie konnte es schaffen.

Für jemanden, der verzweifelt und obdachlos war, stellte das Spindrift Cottage einen Palast dar. Es hatte vier stabile Außenwände, ein Dach, das repariert worden war und nun den Regen abhalten würde, und das Beste war, dass es ihr Eigentum war. Keiner konnte es ihr wegnehmen.

Was würden nur ihre Freunde dazu sagen, wie tief sie gefallen war? Einen Moment lang wünschte sie sich inständig, mit Isabel Johnson und Diego Muñoz sprechen zu können, ihren Assistenten in der Galerie und gleichzeitig zwei der wenigen Freunde, die zu ihr gehalten hatten.

Wie sehr sie doch beides vermisste, ihre Freunde und die Galerie, die sie so leidenschaftlich geliebt hatte.

Alles andere, was nach Carters Verhaftung beschlagnahmt worden war, bedeutete ihr nichts. Das Penthouse mit den glänzenden Möbeln und wertvollen Antiquitäten hatte sich nie wie ein Zuhause angefühlt. Die meiste Zeit ihrer Ehe war sie sich dort eher wie im Gefängnis vorgekommen.

Alle Autos außer ihrem Mercedes-SUV hatten Carter gehört. Er hatte auch den gesamten Schmuck gekauft, der im Bankschließfach gelegen hatte, das meiste davon wahrscheinlich für seine Geliebten.

Ganz anders die Galerie. Ihr Verlust tat ihr immer noch in der Seele weh.

Fünf Jahre lang hatte sie ihr Herzblut in dieses Projekt fließen lassen und damit all ihren Kummer, Schmerz und Verlust verarbeitet. Sie hatte es geliebt, neue Künstlerinnen und Künstler zu fördern, den älteren, etablierten dabei zu helfen, neues Publikum zu finden, und sowohl Laien als auch erfahrene Kunstliebhaber mit Werken in Kontakt zu bringen, die sie ansprachen.

Die Galerie war ihre Zuflucht vor dem dunklen Schlund gewesen, zu dem ihre Ehe geworden war, und der einzige Ort, an dem sie wirklich sie selbst hatte sein können und nicht nur die Frau von Carter Rowland.

Am Ende war ihr sogar das weggenommen worden. Die Galerie und ihre kleine, aber wachsende persönliche Kunstsammlung waren verkauft worden und das Geld in den mageren Entschädigungsfonds für die Opfer geflossen.

Sie hatte alles verloren.

Das meiste war nur hohles Beiwerk eines Lebens gewesen, das sie sich nie gewünscht hatte. Der Galerie hingegen hatte ihr Herz gehört.

Sie verdrängte den vertrauten Schmerz der Verzweiflung. Wer hatte schon Zeit für so etwas? Sie musste sich jetzt aufs Überleben konzentrieren, darauf, dieses Desaster bewohnbar zu machen.

Es kam ihr immer noch wie ein Wunder vor, dass das Gericht das Haus nicht pfänden konnte, denn es war eine Erbschaft, die sie nach der Scheidung und Carters Tod im Gefängnis erhalten hatte.

Erneut schob sich eine Wolke vor die Sonne und warf neue Schatten in den Raum. Sie betätigte einen der Lichtschalter, und eine kleine Stehlampe leuchtete auf. Mit einem weiteren Schalter neben dem ersten knipste sie eine einzelne Glühbirne ohne Schirm in der Mitte der Wohnzimmerdecke ein.

Wenigstens musste sie nicht in völliger Dunkelheit schlafen, aber es galt, die Stromlieferung so schnell wie möglich auf ihren Namen umstellen zu lassen. Sie wollte Tori nichts schuldig bleiben.

Einen Teil ihres Notgroschens würde sie für Reinigungsmittel, ein paar Lebensmittel und einen Matratzenbezug ausgeben müssen.

Die Aussicht, die Nacht hier zu verbringen, bevor sie sich vergewissern konnte, dass sich nicht irgendwelche Nagetiere oder Spinnen mit ihr den Raum teilten, war alles andere als verlockend.

Sie machte eine schnelle Bestandsaufnahme vom Haus und hielt auf ihrem Handy fest, was sie in den ersten Tagen zum Überleben brauchen würde, bis sie mit der Arbeit im Café ein wenig Geld verdient hätte.

Es wurde eine lange, entmutigende Liste, und ihre Ersparnisse würden dafür draufgehen, aber darüber wollte sie sich jetzt keine Gedanken machen.

Das Wichtigste zuerst. Sie konnte versuchen, etwas gegen den Geruch zu unternehmen.

Also öffnete sie das Fenster, das auf die überdachte Veranda hinausführte. So konnte sie wenigstens frische Luft hereinlassen, ohne dass der Regen, der wieder eingesetzt hatte, alles nass machte.

Draußen ging eine kühle Brise, aber dafür roch es nach Meer und den Kletterblumen, die die Veranda überwucherten.

Noch am Fenster stehend, atmete sie die süße Luft ein, lauschte den Wellen, die über den Sand strichen, und den Regentropfen, die auf die Blätter fielen.

Die Anspannung, die zu einem Teil von ihr geworden war wie eine zweite Haut, löste sich Stück für Stück.

Sie schloss die Augen. Das hier war gar nicht so schlimm. Eher sogar beruhigend. Vielleicht konnte sie nach den stressigen, zermürbenden Monaten endlich nachts wieder schlafen, getröstet vom Wiegenlied des Meeres.

Das Ausmaß der Aufgabe, die vor ihr lag, drohte sie zu überwältigen, aber Meredith schaffte es, ihre Furcht zurückzudrängen. Sie musste nicht alles auf einmal in Angriff nehmen. Sie würde einen Schritt nach dem anderen machen.

Das Cottage war bewohnbar, gerade so. Der Rest ließe sich reparieren, mit ihrer eigenen Kraft, ein wenig Zeit und dem Geld, das sie im Café verdiente.

Mit einem gewissen Schrecken realisierte sie, dass sie noch nie ein eigenes Heim gehabt hatte. Etwas, das sie so einrichten konnte, wie sie wollte, ohne dass ein eingebildeter Designer ihr sagte, was nicht funktionieren würde. Sogar ihre Wohnung im College war damals von ihren Eltern gekauft und eingerichtet worden.

Nur wie sollte sie das Spindrift Cottage für die Zeit, die sie hier verbrachte, zu ihrem eigenen Heim machen, vor allem, da sie kein Geld hatte?

Hier war dann wohl Kreativität gefragt. Sie konnte sich vorstellen, Muscheln, Treibholz, vielleicht ein paar billige Zimmerpflanzen und Möbel vom Flohmarkt zu verwenden.

Einen Moment lang atmete sie einfach nur die frische Luft ein und grübelte darüber nach, wie sie das Häuschen gemütlicher machen könnte, als sie durch das offene Fenster jemanden flüstern hörte.

»Wir sollten meinen Vater anrufen, wenn niemand hier sein sollte. Er kann einen Polizisten herschicken.«

Das klang nach einem jungen Mädchen im Teenageralter.

»Noch nicht«, flüsterte ein anderes Mädchen. »Meinst du nicht, wir würden uns ziemlich blöd vorkommen, wenn wir deinen Dad umsonst alarmieren, Crissy? Wir sollten erst mal die Lage checken. Wer weiß, vielleicht ist ein Immobilienmakler da oder so. Oder meine Mom hat jemanden zum Aufräumen bestellt. Das Haus ist ein Schweinestall.«

Das musste wohl Toris Tochter Emilia sein. Frances hatte Bilder von ihr geschickt, einem Mädchen mit dunklen Locken und einem schelmischen Lächeln. Getroffen hatte Meredith sie noch nie, aber sie musste jetzt mindestens elf oder zwölf Jahre alt sein.

»Und wenn es ein Drogendealer ist, der sein Zeug abholt?«, fragte das andere Mädchen.

»Und der fährt so ein Schrottauto?«, hielt Emilia dagegen. »Drogendealer haben sehr viel coolere Autos.«

»Du kannst nicht einfach da reinplatzen und fragen, was die hier machen.«

»Entspann dich. Du kannst zurück zu mir nach Hause gehen, wenn du willst. Ich schaue nur kurz durchs Fenster. Niemand wird mich sehen. Und falls doch, habe ich Pfefferspray.«

Meredith hatte keine Lust, mit Pfefferspray besprüht zu werden. Das hätte ihr an diesem Tag gerade noch gefehlt. Also öffnete sie vorsichtig die Tür und verursachte damit ein wildes Gewusel, da die Mädchen in die Büsche vor dem Haus sprangen. Sie hoffte nur, dass sie klug genug waren, sich von den stacheligen Kletterrosen fernzuhalten.

»Ich weiß, dass ihr da seid, aber sprüht mich nicht mit Pfefferspray ein, ja? Ich bin unbewaffnet. Emilia, bist du das?«

Auf die Frage folgte zunächst Schweigen. »Ja«, sagte dann eines der Mädchen zögerlich. Emilia hob den Kopf aus dem Laub und sah Meredith mit großen Augen an. Sie hatte immer noch Locken, dick und dunkel und wunderschön.

Kurz darauf folgte ihr ein anderes Mädchen, das lange, aber glatte dunkle Haare hatte, die in der Mitte gescheitelt waren.

Also doch nicht elf, korrigierte sich Meredith. Diese beiden hübschen jungen Frauen mit den dunklen Augen mussten schon ein paar Jahre älter sein.

»Wer sind Sie, und woher wissen Sie, wie ich heiße?«, fragte Emilia misstrauisch.

»Ich bin die Cousine deiner Mutter. Mein Vater war der Sohn von Frances, deiner Urgroßmutter. Er hieß Michael. Ich begehe auch keinen Hausfriedensbruch. Da Frances mir das Spindrift Cottage in ihrem Testament vererbt hat, gehört das Haus mir, genau genommen seid ihr also diejenigen, die Hausfriedensbruch begehen.«

Die Augen des Mädchens wurden noch größer. »Du bist Meredith? Im Ernst?« Sie sah sie mit einem Blick an, als rechnete sie damit, dass Meredith vorhätte, ein Ziegenopfer auf der Veranda darzubringen.

»Absolut.«

»O Mann. Weiß meine Mom, dass du hier bist? Sie wird total ausrasten.«

»Ich habe zuerst beim Café angehalten, um die Schlüssel von ihr zu holen. Also ja, sie weiß es, und ja, sie ist nicht glücklich darüber.«

Sie wäre wahrscheinlich auch nicht glücklich darüber, dass du mit dem Feind redest.

Fast hätte sie ihre Gedanken laut ausgesprochen, aber sie entschied sich noch rechtzeitig dagegen. Nach dem ersten Schock schien Emilia ihre Anwesenheit mit viel mehr Gleichmut zu akzeptieren als ihre Mutter.

»Hallo«, sagte Meredith zu dem anderen Mädchen, da Emilia keine Anstalten machte, sie vorzustellen. »Ich bin Meredith Collins.«

Sie hatte ihren Geburtsnamen nach der Scheidung wieder angenommen und war ernsthaft versucht gewesen, ihren Namen komplett zu ändern. Alles wäre besser gewesen als ihr eigener Name.

Am Ende hatte sie aber wieder gekniffen, so wie sie es in ihrem Erwachsenenleben meist getan hatte.

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