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Das Cottage in den Dünen

Als Buch hier erhältlich:

Willkommen in Chesapeake Bay

Trey liebt seine regeltreue Arbeit als Polizist der Hundestaffel. Doch er hat einen Fehler gemacht: Durch seine eigene Schuld wurde er im Einsatz verwundet und hat damit alles aufs Spiel gesetzt. Alles, was er jetzt will, ist gemeinsam mit seinem Schäferhund und ständigen treuen Begleiter King wieder in den Dienst zurückzukehren. Seine letzte Chance ist das „Healing Heros“-Programm, das ihm helfen soll, wieder fit zu werden. Doch Trey fühlt sich nicht wie ein Held und in dem kleinen Ort in Chesapeake Bay völlig fehl am Platz. Als er auch noch Erica und ihrem chaotischen Goldendoodle Ziggy begegnet, ist ihm klar, dass dieses Vorhaben nur in einer Katastrophe enden kann …


  • Erscheinungstag: 24.05.2022
  • Aus der Serie: Chesapeak Bay
  • Bandnummer: 1
  • Seitenanzahl: 384
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749950690
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. Kapitel

Trey Harrison rutschte auf dem Sitz seines 2009er-Chevy-Pick-ups weiter nach unten und starrte auf das blau-weiße Cottage am Ende der Straße. Dabei entspannte er bewusst seine Hände, die sich um das Lenkrad gekrampft hatten. »Das kann es nicht sein«, sagte er zu seinem Hund King.

Auf dem Rücksitz schlug Kings Schwanz rhythmisch gegen die Wand seines Käfigs. Er bellte einmal kurz.

Schuldgefühle plagten Treys bereits schmerzenden Kopf, weil er wusste, was dieses Bellen bedeutete. King wollte sich an die Arbeit machen.

Doch wegen Trey war das jetzt für beide vorbei. Keine Polizeiarbeit mehr. Für eine ganze Weile nicht, vielleicht auch nie mehr.

Seine eigene Dummheit und Rücksichtslosigkeit hatten nicht nur seine Karriere, sondern auch die von King zerstört. Er schob seinen Sitz zurück und öffnete die Tür von Kings Käfig. Der große Schäferhund sprang auf den Beifahrersitz und schmiegte sich an seinen Arm. Er bot Vertrauen und Vergebung an, die Trey nicht verdient hatte.

Trey blickte erneut auf das hübsche kleine Cottage, das mit der Vorderseite zur Straße, mit der Rückseite zur Chesapeake-Bucht stand. Er hatte etwas Anstaltsmäßiges, Unpersönliches erwartet. Es sollte ja kein Urlaub sein. Sicherheitshalber prüfte er noch mal die Adresse in seinem Handy und drehte dann vorsichtig den Kopf, um die kleinen, malerischen Häuser zu betrachten, die nebeneinander auf dieser Seite der Straße standen. Weiße Lattenzäune, Blumen in jedem Garten. Von jenseits der Häuser waren das Schreien der Möwen und die Wellen zu hören, die gegen die Felsen schlugen.

Vor einigen der Cottages, darunter auch das blau-weiße, hingen kleine Schilder an Torpfosten oder mit Weinreben überwucherten Lauben. Von seinem Parkplatz aus konnte er manche von ihnen lesen: Hawthorne Cottage, Escape on the Water, Bailey’s Hideaway.

Trey schielte auf das Schild, das an der mit Weinreben bedeckten Laube vor seiner Unterkunft hing. Healing Heroes.

Seine Hände krampften sich erneut um das Lenkrad. Wie ein Held fühlte er sich sicher nicht.

Am liebsten wäre er einfach wieder weggefahren.

Leider ging das nicht. Finanziell gesehen hatte er keine andere Möglichkeit, und aus irgendeinem Grund wollte sein Chef, dass er an diesem neuen Programm für arbeitsunfähige Polizeibeamte teilnahm. Er bestand sogar darauf. »Du hast es sowohl geistig als auch körperlich nötig«, hatte er gesagt und angedeutet, dass dies die einzige Möglichkeit sei, wie Trey seine alte Arbeitsstelle zurückbekommen könnte.

Es war Treys eigene Schuld. Selbst wenn er nicht verletzt worden wäre, hätte man ihm wegen seines impulsiven Verhaltens im Dienst über kurz oder lang einen Schreibtischjob gegeben.

Er stieg aus dem Wagen, ließ King raus und ging zur Tür des Cottages. Er bückte sich und versuchte den altmodischen Schlüssel, den sie ihm geschickt hatten, ins Schloss zu stecken. Dabei fuhr der Schmerz von seinem unteren Rücken in den Rest des Körpers und er zuckte zusammen.

Es wollte nicht klappen; der Schlüssel war rostig und ein wenig verbogen. Er passte nicht, genau wie Trey selbst nicht passte. Genau wie King nicht passte.

Sie sollten vermisste Personen ausfindig machen, nach Drogen fahnden, böse Jungs jagen. Oder zumindest ihre monatlichen Trainingseinheiten absolvieren, um ihre Fähigkeiten zu verbessern.

Stattdessen befanden sie sich in einer Zwangsreha in einer winzigen Stadt in der südlichen Küstenregion Marylands.

Trey wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. Eigentlich sollte es im April hier nicht so heiß sein. Warum war keine Brise vom Atlantik her zu spüren?

»Nur drei Monate, Kumpel«, sagte er zu King. »Vielleicht sogar weniger.«

King sah zu ihm auf und hechelte, auf seinem Hundegesicht war ein Lächeln zu erkennen. Trey straffte sich. Er musste aufhören, sich selbst zu bemitleiden und seine verdammte Physiotherapie durchziehen – auch wenn sie ihm bisher mehr wehzutun als zu helfen schien. Außerdem musste er seine ungute Einstellung verbergen. Nur so konnte er zu dem zurückkehren, was ihn bisher nie enttäuscht hatte: die Arbeit.

Das Aufheulen eines Staubsaugers im Inneren des Hauses erschreckte ihn. Er klopfte an, hämmerte schließlich an die Tür. Als niemand öffnete, hämmerte er erneut, so heftig, dass King bellte.

Beherrsch dich. Er musste sich in den Griff bekommen – und zwar dauerhaft.

Das Heulen des Staubsaugers verstummte, dann ging die Tür auf. Die Frau, die sie geöffnet hatte, war in ihren Fünfzigern und hatte Kurven, die eines alten Filmstars würdig waren. Er mochte kurvige Frauen, oder besser gesagt, er hatte sie gemocht, als er sich noch für die Liebe interessiert hatte.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte die Frau.

»Ähm, ja. Trey Harrison. Ich soll hier eine Weile wohnen.«

»Richtig.« Die Frau fuhr sich mit den Fingern durch ihr rötliches, grau gesträhntes Haar und schenkte ihm ein trauriges Lächeln. »Ich bin Julie White. Ich manage den Laden hier. Aber wir sind noch nicht ganz bereit für Sie.«

»Bis zur Check-in-Zeit werden wir’s sein.« Hinter der älteren Frau ertönte eine freundlich pragmatische Stimme. »Fünfzehn Uhr. Machen Sie einfach einen Spaziergang am Ufer entlang, oder essen Sie bei Goody’s zu Mittag, das ist nur eine Straße weiter. Sie können Ihre Sachen schon hierlassen.«

»Okay.« Er erhaschte einen Blick auf eine jüngere Version der Dame, die ihm aufgemacht hatte. Ein Bild von einer Frau, wie er mit einem alarmierenden Mangel an Interesse feststellte.

Als er sich umdrehte und dabei wegen des Schmerzes in seinem Rücken zusammenzuckte, hörte er die jüngere Frau sprechen. »Du darfst jetzt nicht schlappmachen, Mama. Wir sind fast fertig.«

»Warum denkst du immer, dass ich gleich zusammenbreche? Mir geht’s gut!«

Als er den Bürgersteig erreichte und die Straße hinaufschaute, war das Gespräch nicht mehr so leicht zu verstehen. Er fragte sich, ob er einen Strandspaziergang machen, zu Mittag essen oder dorthin zurückkehren sollte, wo er hergekommen war.

Das ist keine Option, erinnerst du dich? Das Haus, das er und seine Ex-Frau vor fünf Jahren gekauft hatten, als Trey von einer Norman-Rockwell-Bilderbuchfamilie geträumt hatte, war gerade verkauft worden. Irgendwann, wahrscheinlich morgen, musste er dorthin zurückkehren, um es für die neuen Besitzer zu säubern – nicht, um dort zu übernachten.

Er sollte tun, was die Frau vorgeschlagen hatte, und an den Strand gehen. Wegen seiner Verletzung waren ihm leichte Spaziergänge empfohlen worden, und vielleicht würde der Rundgang bewirken, dass sich etwas von der grauen Wolke, die sich immer wieder über ihm zusammenbraute, auflöste. Auch King konnte ein bisschen Auslauf gebrauchen. Er ging in Richtung des Küstenpfads, den er zuvor gesehen hatte, und stieß fast mit einem kleinen Polizisten zusammen, der rund wie ein Fass und ebenfalls über fünfzig war. »Entschuldigung«, sagte Trey und wollte an ihm vorbei auf den Pfad treten.

Der Mann streckte eine Hand aus. »Sie müssen der Teilnehmer unseres neuen Programms sein. Willkommen. Ich bin Earl Greene.«

War es so offensichtlich, dass er ein sogenannter healing hero, »ein heilender Held«, war, oder war das einfach nur eine sehr kleine Stadt? Trey zwang seine Lippen zu einem höflichen Lächeln. »Schön, Sie kennenzulernen«, log er. Dieser Typ würde den Bericht schreiben, der seinen Chef überzeugen könnte, ihm seinen alten Job zurückzugeben. Wie deprimierend, der Gnade eines Kleinstadtpolizisten ausgeliefert zu sein, der seine besten Jahre schon hinter sich hatte. Er starrte die Polizeimarke des Kerls an.

Officer Greene schaute an ihm vorbei in Richtung des blau-weißen Cottages und hob eine Hand zum Gruß. »Hallo, Julie. Hey, Ria.«

Der Gesichtsausdruck des Mannes sah genauso aus wie der von Kindern, wenn sie ein Spielzeug sehen, das sie unbedingt haben wollen, was Trey dazu brachte, ebenfalls in Richtung Cottage zu schauen. Es gab nichts zu sehen, nur die Tür seines neuen Zuhauses, die sich schloss.

Officer Greene hob das Kinn und blickte Trey an. »Ihr Auftritt als Ehrenamtler ist in Vorbereitung«, sagte er. »Wenn Sie sich eingerichtet haben, kommen Sie mal aufs Revier, dann besprechen wir das.«

»Ehrenamtler? Ah ja, richtig.« Trey erinnerte sich daran, in den Unterlagen über das Healing-Heroes-Programm etwas darüber gelesen zu haben, aber er hatte nicht wirklich darauf geachtet. Am meisten hatte er sich für die Gelegenheit interessiert, die Stadt verlassen zu können, sich auszukurieren und dabei noch nicht mal Miete zahlen zu müssen. Er schnippte imaginären Schmutz von Kings Kopf, um seine Unwissenheit zu verbergen. »Ich freue mich schon darauf, mit Ihnen darüber zu reden, Sir.«

Officer Greenes Augen verengten sich, nur ein wenig, doch Trey merkte, dass er nicht überzeugend geklungen hatte. »Ich hoffe, Sie arbeiten gerne mit gefährdeten Jugendlichen, denn das ist ein großer Teil des Programms«, sagte der Mann. »Sie werden ab Montag bei einem Förderprogramm aushelfen, das sich um solche Jungen und Mädchen kümmert.« Er nickte Trey zu und ging dann weiter die Straße entlang.

Trey schaute ihm nach und dachte darüber nach, was ihn mehr schockierte: die Tatsache, dass in diesem malerischen Städtchen tatsächlich ein Polizist auf Patrouille war, oder die Vorstellung, dass Trey in Schwierigkeiten geratenen Jugendlichen weiterhelfen sollte. Ja, er war selbst mal einer gewesen, aber das bedeutete nicht, dass er auch nur die leiseste Ahnung hatte, wie er ihnen anders denn als Polizist begegnen konnte.

»Komm schon, Ziggy! Na los!« Erica Rowe klatschte in die Hände, während sie die Treppe hinunterlief, die von dem kleinen Haus, in dem sie zur Miete wohnte, zum Wasser führte. Ihr Goldendoodle sprang hysterisch im Kreis um sie herum. Es war kurz nach Mittag an einem Dienstag; sie war ungewöhnlich früh von ihrer Arbeit als Lehrerin nach Hause gekommen.

Der schmale kleine Strand war leer. Gut. Mit elf Monaten war Ziggy noch ein Welpe, aber aufgrund seiner Größe – er wog bereits fünfundsiebzig Pfund – erwarteten die Menschen verständlicherweise, dass er sich gut benahm. Das war wahrscheinlicher, wenn man ihm die Chance gab, etwas Energie abzulassen.

Sie joggte neben dem Hund her, beobachtete ihn, wie er auf die Wellen zusprang, einen Satz zurück machte und dann im Zickzack davonlief, um eine Möwe zu jagen.

Sie müsse auch ihren eigenen Stress wegjoggen, hatte ihre Schwester gemeint; offenbar hatte sie Falten zwischen den Augenbrauen und war zu dünn geworden.

Das sagte gerade die Richtige: Amber hatte überhaupt keine Augenbrauen, war abgemagert und von Ängsten geplagt. Bei dem Gedanken daran tat ihr das Herz weh. Ihr Umzug in diesen Ort an der Küste sollte Amber helfen, sich von ihrer letzten Chemo zu erholen. Oder ihr zumindest dabei helfen, sich einen Traum zu erfüllen.

Nach drei Monaten schien das mit der Traumerfüllung wahrscheinlicher als die Genesung.

Um ihrer Schwester weiterhin ihren Traum vom Leben am Meer zu erfüllen, hatte Erica dafür zu sorgen, dass das Verhaltensunterstützungsprogramm der Schule ein Erfolg wurde. Es war der einzige Job, der genug Geld einbrachte, damit Amber, Ambers Tochter und sie selbst hier in der kleinen Stadt leben konnten, in der sie die Sommer ihrer Kindheit verbracht hatten.

Erica musste sich bei dem frauenfeindlichen Schulleiter einschleimen, der sie eingestellt hatte, und ihn davon überzeugen, dass das Förderprogramm für gefährdete Jugendliche fortgesetzt und nicht auf Wunsch einiger der neueren Bewohner von Pleasant Shores am Ende des Schuljahres beendet wurde.

Kein Wunder, dass sie gestresst war.

Ziggy begann schneller und entschlossener zu laufen, und in der Ferne konnte Erica zwei Gestalten ausmachen: einen Mann und einen Hund.

Großartig. Sie sprintete ihrem außer Kontrolle geratenen Vierbeiner hinterher. »Ziggy! Komm zurück!«

Als sie bei dem Typen und seinem wild aussehenden Schäferhund angekommen war, war Ziggy bereits im vollen Angriffsmodus, was bedeutete, dass er dem Schäferhund eins auf die Nase gab und dann rückwärtstänzelte und sich spielerisch duckte. Sein großer buschiger Schwanz wedelte.

Der Schäferhund saß stoisch neben seinem Herrchen, das … wow.

War er irgendein Filmstar, den sie nicht kannte? Der Typ war muskulös, hatte blaue Augen, Fältchen in den Augenwinkeln und einen quadratischen Kiefer, der von einem dichten Dreitagebart bedeckt war.

Erica wollte keine Beziehung, ja nicht mal eine heiße Nacht, aber sie war auch nicht tot. Sie atmete tief ein und konzentrierte sich dann darauf, Ziggy am Halsband zu packen. »Entschuldigung!«, sagte sie. »Er ist noch jung. Hör auf, Zig«, fügte sie hinzu, als ihr Hund sich noch einmal spielerisch auf den Schäferhund stürzen wollte.

Der Schäferhund zog die Lippen zurück und fletschte die Zähne.

Der Filmstar grunzte einen Befehl, was den Schäferhund dazu veranlasste, damit aufzuhören und zu ihm aufzuschauen. Auf einen weiteren von Ziggys Sprüngen reagierte er mit einem tiefen Knurren, das Ziggy dazu brachte, wegzuspringen und sich winselnd hinter Erica zu verstecken.

»Ihr Hund macht einem ja Angst«, platzte sie heraus und kniete sich hin, um Ziggy zu beruhigen. »Ist schon gut, Kumpel. Mami lässt nicht zu, dass er dir wehtut.«

Der Mann blaffte dem Hund einen weiteren Befehl zu, worauf dieser sich hinlegte und beschämt die Nase auf die Pfoten legte. »Sie sollten mit Ihrem Hund nicht in Babysprache sprechen«, sagte der Mann zu Erica. »Er wird sich nur noch schlechter benehmen.«

Sie hob eine Augenbraue. »Wie bitte?«

Er deutete auf Ziggy; ein leichtes Stirnrunzeln verunzierte sein wunderschönes Gesicht. »Sie machen ihn nur ängstlicher, wenn Sie so tun, als gäbe es Grund für seine Angst. Sie sollten ihn auch nicht am Strand von der Leine lassen, wenn Sie ihn nicht unter Kontrolle haben.«

Sie bekam vom Schulleiter ihrer Schule schon genug Herrklärungen vorgesetzt, jeden Tag, da brauchte sie in ihrer Freizeit nicht noch mehr davon. »Dieser Küstenabschnitt ist Privatbesitz«, erwiderte sie. »Gibt es einen Grund, warum Sie mit Ihrem, äh, top trainierten Hund hier spazieren gehen?«

»Ich wohne da oben.« Er wies in Richtung der Reihe von Cottages hinter ihm.

Sie bezweifelte das. »Wo genau?«

Er warf ihr einen Blick zu, der ausdrücken sollte, dass sie etwas Unhöfliches gefragt hatte.

»Sehen Sie«, sagte sie, »ich möchte ja niemanden diskriminieren, aber Ihr Hund sieht aus, als ob er bereit wäre, jemanden zu töten, und Sie selbst scheinen auch nicht viel freundlicher zu sein. Hier in Pleasant Shores gibt es viele kleine Hunde und kleine Kinder, die wir schützen müssen. Deshalb …« Sie zog ihr Handy heraus. »… haben sich alle hier bereit erklärt, die Polizei anzurufen, wenn sie jemanden Verdächtigen sehen.«

»Warten Sie.« Er hielt eine Hand hoch und zog die Augenbrauen zusammen. »Tun Sie das nicht. Mein Name ist Trey Harrison, und die Adresse des Hauses, in dem ich zurzeit wohne, ist …« Er scrollte in seinem Handy und schaute dann hoch. »Fifteen Shoreline Way, das Häuschen am Ende der Straße. Julie White verwaltet es. Sie ist diejenige, die mir gesagt hat, ich solle zum Strand runtergehen, bis sie mit der Reinigung fertig sind.«

Währenddessen hatten sich Ziggy und der Schäferhund hingesetzt und einander in respektvoller Hundemanier begrüßt. Beide wedelten nun mit dem Schwanz.

»Sie wohnen bei Julie?«

»Mhm-hm.«

Erica wusste nicht viel über Julie. Sie hatte die Frau nur kurz kennengelernt, als sie und Amber vor drei Monaten ins Nachbarhaus eingezogen waren, und den Eindruck gehabt, dass sie ganz nett war. Dann hatten sie ein paar Tage lang viel Geschrei aus Julies Haus gehört, und danach war es leer und still geworden. Gerüchten zufolge war das Haus verkauft worden, obwohl Erica nie ein Verkaufsschild gesehen hatte.

Wenn sie es sich recht überlegte, war in dieser Woche dort aber einiges los gewesen. Womöglich sagte der Filmstar also die Wahrheit. Dann wäre er tatsächlich ihr neuer Nachbar.

Sie war vielleicht ein wenig schroff gewesen. »Es tut mir leid, dass Ziggy Ihren Hund angesprungen hat«, sagte sie, »und dass ich Sie so angefahren habe.« Sie streckte eine Hand aus. »Willkommen in Pleasant Shores.«

»Danke.« Er schüttelte ihre Hand mit seiner eigenen großen, schwieligen Pranke und hob seine Augenbrauen, nur ein wenig, während sein Blick auf ihrem Gesicht verweilte.

Sie atmete tief ein. Nein, tot war sie definitiv nicht. Also gut. »Haben Sie vor, eine Weile zu bleiben, oder machen Sie nur Urlaub?«

»Wie es aussieht, werde ich ein paar Monate hier sein.« Er blickte auf Ziggy hinunter, der wieder dabei war, seinem Hund Pfotenhiebe auf die Nase zu verpassen. »Wenn Sie also am selben Strandabschnitt wohnen, wäre es gut, wenn unsere Hunde sich vertragen würden.«

»Wäre gut, ja.« Sie drehte sich um, um den Weg zurückzugehen, den sie gekommen war. »Komm, Zig.«

Zu ihrer Überraschung war Mister Hübsch-aber-griesgrämig plötzlich neben ihr. Sein Hund trottete neben ihm her.

Ziggy sprang und zerrte, bis sie ihn wieder von der Leine ließ, sodass er Vögel jagen und an Austernschalen schnuppern konnte.

Irgendwann wurde die Stille unangenehm. Erica blickte zu ihrem neuen Nachbarn hinüber. »Darf Ihr Hund auch mal spielen?«

»Er ist ein Arbeitshund«, sagte Trey.

»Oh!« Sie blickte wieder auf den Schäferhund. »Sollte er dann nicht eine Schutzhundweste oder so was tragen?«

»Er ist kein Schutzhund. Er ist ein Polizeihund.«

»Oh! Dann sind Sie also Polizist.« Und trotzdem wollte er ein paar Monate hierbleiben?

Plötzlich überkam sie die Erkenntnis. »Moment mal. Sie sind doch nicht etwa der Freiwillige für das Förderprogramm, oder?« Sie wusste, dass sie einen Ehrenamtler von der Polizei bekommen sollte, aber nicht, wer es war oder wo er leben würde.

Er nickte verdrießlich.

»Sie fangen Montag an, nicht wahr?«

Er nickte erneut. »Ja. Ich hab’s gerade erst erfahren. Nicht gerade mein Ding, aber es war eine Bedingung dafür, dass ich in dem Haus wohnen kann, bis ich meine Invalidenrente bekomme.«

»Sie haben also keinerlei Erfahrung mit Teenagern?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Großartig.« Sie fragte sich, ob es zu spät war, um einen anderen Freiwilligen für den Job zu finden.

»Ich meine«, fuhr er fort, »ich hab schon mit kleinen Kindern gearbeitet und ihnen was über Polizeiarbeit erzählt. Aber Teenager habe ich meistens nur verhaftet. Bin aus Philadelphia«, stellte er klar, wahrscheinlich als Reaktion auf Ericas Stirnrunzeln.

Sie schaute zu ihm hinüber, ohne ein Wort zu sagen, während ihre Gedanken und Gefühle ganz durcheinander gerieten. Die Operation, die ihren Traum von eigenen Kindern zerstört hatte, lag noch nicht lang zurück. Seitdem hatte sie sich ihren Schülern noch mehr gewidmet, besonders jetzt, wo sie eingestellt worden war, um das Schuljahr im Verhaltensunterstützungsprogramm hier in Pleasant Shores zu beenden.

Einen ehrenamtlichen Assistenten zu haben, der Teenager als Kriminelle betrachtete, war nicht gerade ideal.

Er – Trey war sein Name, hatte er gesagt – schaute zu ihr rüber, und ihr Gesicht musste irgendetwas verraten haben. »Warum interessiert Sie dieses Programm?«

»Ich bin die zuständige Lehrerin«, sagte sie langsam. »Ich werde eng mit Ihnen zusammenarbeiten … mit demjenigen, den Officer Greene als meinen Assistenten für das Programm ausgewählt hat.« Sie würde mit Officer Greene reden, sobald sie wieder zu Hause war. Vielleicht war noch Zeit, den Filmstar durch jemanden zu ersetzen, der tatsächlich mit Kindern arbeiten wollte.

Sie hatte Officer Greene bei der Organisation des Programms geholfen, das einigen verhaltensauffälligen Teenagern, die in ihrem Klassenzimmer saßen, die dringend benötigte Hilfe bieten sollte. Das sollte die Sorgen, die Pleasant Shores’ wohlhabendste Bewohner bezüglich ihrer privaten Highschool hatten – der einzigen Schule der Stadt –, größtenteils zerstreuen: ein Programm für gefährdete Teenies. Es gefiel ihnen nicht, aber sie wollten ihre Kinder auch nicht mit dem Bus in weiter entfernte öffentliche Schulen die Küste hochkarren lassen.

Sie musste alles in ihrer Macht Stehende tun, damit das Programm ein Erfolg wurde. Für die Kinder natürlich. Für ihre Nichte Hannah, die Stabilität und eine gute Schule brauchte. Und vor allem für ihre Schwester Amber, die es verdient hatte, dass sich zumindest einer ihrer Träume erfüllte.

Wenn das bedeutete, dass sie den hübschen Filmstar den Wölfen zum Fraß vorwerfen musste, nun, dann musste sie das eben tun.

2. Kapitel

»Ich kann nicht glauben, dass du den armen Kerl verraten hast!« Amber johlte vor Lachen und schüttelte gleichzeitig den Kopf.

»Seine Einstellung ist schlimmer als die der Kinder«, sagte Erica, während sie sich ein zweites Stück Pizza aus der Schachtel nahm und auf ihren Teller legte. »Ich meine«, sie wandte sich an ihre siebzehnjährige Nichte Hannah, »du würdest doch nicht wollen, dass ein riesenhafter, mürrischer Polizist in deiner Klasse hospitiert, oder?«

Hannah hob eine Augenbraue. »Kommt drauf an, wie er aussieht.«

»Das ist Teil des Problems!«, sagte Erica. »Er sieht aus wie ein Filmstar. Wie dieser Typ, der Thor gespielt hat.«

»Chris Hemsworth?« Hannah lachte. »Also der könnte jederzeit in meiner Klasse hospitieren.«

»Auf keinen Fall. Sein Aussehen sorgt dafür, dass man seine Einstellung nur noch schwerer ertragen kann.«

»Warum?«, fragte Amber. »Gegen einen Augenschmaus im Klassenzimmer ist doch nichts einzuwenden, auch wenn er nicht viel tut.«

Erica stand auf, um noch mehr mit Mineralien angereichertes Wasser in Ambers Glas zu gießen, dann in Hannahs. Es war ein Balanceakt, zwei wählerische Esserinnen zufriedenzustellen und gleichzeitig die Mahlzeiten so nahrhaft wie möglich zu gestalten. »Ich kann mir direkt vorstellen, wie er dahinten im Raum sitzt, in seiner ganzen Schönheit und Griesgrämigkeit. Es ist schon schwer genug, die Kinder zu motivieren, ohne dass ein männliches ›Vorbild‹ sich da hinfläzt und so tut, als sei alles, was wir machen, dumm.«

»Vielleicht kannst du ihn dazu bringen, dass er seine Einstellung ändert«, sagte Amber und wackelte mit ihren aufgemalten Augenbrauen. »Oder es zumindest versuchen. Das macht bestimmt Spaß. Du musst mehr aus dir rauskommen.«

»Und Direktor O’Neil vor den Kopf stoßen? Erinnere dich, er mag es nicht, wenn seine Lehrerschaft miteinander ausgeht. Er hat Angst, dass es irgendwie dem Ruf der Schule schaden könnte.«

»Das ist nicht in Ordnung!« Hannah riss den Rand von ihrem Pizzastück ab. »Ist das nicht eine Verletzung der Privatsphäre?«

»Ja, ist es. Und obendrein flippt er jedes Mal aus, wenn eine seiner Lehrerinnen schwanger wird.« Erica blickte aus dem Fenster in Richtung Bucht, und sofort senkte sich ihr hoher Blutdruck ein wenig. Die goldene Sonne stand tief; sie ließ die vereinzelten Wolken rosa und violett schimmern und verwandelte die Bucht in einen leuchtenden Spiegel. Dadurch, dass sich Pleasant Shores an der Spitze einer Halbinsel in Maryland befand, waren sowohl die Sonnenauf- als auch die Sonnenuntergänge spektakulär.

»Hat O’Neil nicht selbst gerade Nachwuchs bekommen?«, fragte Amber. »Dass seine eigene Frau schwanger wurde, hat ihm also offensichtlich nichts ausgemacht.«

»Sie arbeitet nicht, soweit ich gehört habe, und so meint er, solle es auch in Familien zugehen. Er sei noch von der alten Schule, sagt er immer.«

Amber schnaubte. »Realitätsfremd, das ist er.«

Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und steckte Ziggy heimlich ein Stück Pizzarand zu.

»Scheint ’n komischer Typ zu sein«, sagte Hannah im abschätzigen Ton eines Teenagers.

Erica lehnte sich ebenfalls zurück. »Im Nachhinein kann ich gar nicht fassen, dass er mich eingestellt hat, aber seinerzeit hat er verzweifelt nach jemandem gesucht, der bereit war, den Unterricht für die letzten paar Monate des Schuljahrs zu übernehmen.«

»Und jemanden, den er glaubte, herumschubsen zu können«, sagte Amber.

»Genau. Aber das Verhaltensunterstützungsprogramm der Schule ist superwichtig, und die Kinder sind toll. Wenn ich weiter hart arbeite, hoffe ich, dass ich O’Neil – und den Vorstand – davon überzeugen kann, es weiterhin zu finanzieren.«

»Ich denke, du solltest dem heißen Typen noch eine Chance geben. Flirte mit ihm«, sagte Amber.

»Nein. Auf keinen Fall. Officer Greene wird versuchen, jemand anderen zu finden.« Immer sagte ihre Schwester, sie müsse sich verabreden, Spaß haben, Männer kennenlernen … Erica wollte das nicht hören. Das stand nicht auf ihrer Agenda, und sie wollte mit ihrer großen Schwester nicht über die Gründe diskutieren. »Hannah, wie ist deine Mathearbeit gelaufen?«

Sie sprachen eine Weile über die Schule und aßen nur wenig Pizza. Hannah machte sich ständig Sorgen zuzunehmen, während Amber, die tatsächlich zunehmen sollte, oft behauptete, dass das Essen nicht ganz so schmecke, wie es schmecken sollte. Erica war schon immer jemand gewesen, deren Appetit von ihren Emotionen beeinflusst wurde, und die kochten heute Abend ein bisschen über.

Nach ein paar Minuten nahm Hannah den Teller ihrer Mutter und ihren eigenen und trug sie in die Küche. Das Mädchen ließ die Schultern hängen.

Erica schaute schnell zu Amber hinüber, um zu sehen, ob sie es bemerkt hatte.

Hatte sie. Sie schaute ihrer Tochter nach und biss sich auf die Lippe.

Das Klappern von Geschirr verriet ihnen, dass Hannah die Spülmaschine belud. Erica hob eine Augenbraue und sah Amber an. »Sie erledigt die Hausarbeit viel verantwortungsbewusster, als wir es je getan haben«, sagte sie.

»Sie hatte nie groß eine Wahl.« Amber klang entmutigt, und wer konnte es ihr verdenken? Ihr erster Kampf mit dem Brustkrebs – da war Hannah gerade zehn Jahre alt –, war schwierig gewesen, aber Erica und ein paar Freunde hatten sich zusammengetan und für die Familie gekocht, sich um Hannah gekümmert und eine Party geschmissen, als Amber offiziell krebsfrei war.

Nun, da er wiedergekommen war und gestreut hatte, nun, da Hannah alt genug war, um ihrer Mutter zu helfen – und auch, um die Folgen eines Krebsrezidivs zu verstehen –, lagen die Dinge anders. Es war eine größere Herausforderung. Die Wahrscheinlichkeit, dass das Ganze gut ausging, war geringer.

Ein Blick auf Amber ließ vermuten, dass ihre Gedankengänge ähnlich waren. Zeit für einen weiteren Themenwechsel. »Wir sollten mal über die Vorhänge und Volants reden, die wir machen wollten.«

»Ach, ich weiß nicht.«

»Wenn du zu müde bist …«

»Mir geht es gut! Nicht jedes Mal, wenn ich etwas nicht tun will, liegt es daran, dass ich …« Als Hannah den Raum betrat, verstummte sie. »Es liegt nicht daran, dass ich krank bin. Und natürlich helfe ich bei den Vorhängen, nur verstehe ich nicht ganz, warum wir sie für ein Haus nähen, in dem wir nur zur Miete wohnen.«

Weil es ein Projekt ist, etwas, das uns beschäftigt hält. »Weil wir hier langfristig bleiben werden«, erwiderte Erica.

»Hoffen wir es.« Sie blickte zu Hannah auf und fügte schnell hinzu: »Ich meine nur, dass wir uns dieses Haus in der Hochsaison vielleicht nicht mehr leisten können.«

»Es wird schon alles gut gehen, Mom.« Hannahs Lächeln wirkte gezwungen.

»Willst du mithelfen?«, fragte Erica ihre Nichte. »Du bist doch so geschickt.«

»Ähm, nein danke. Ich hab noch Hausaufgaben.« Ihr Handy klingelte; sie schaute aufs Display und eilte dann aus dem Raum.

Damit Amber nicht mehr so besorgt dreinsah, holte Erica den mit kleinen blauen und grünen Muscheln bestickten Ballen aus hauchdünnem Stoff und begann ihn auf dem Tisch auszurollen. »Ich messe, du schneidest«, sagte sie.

»Gut.« Amber hievte sich aus dem Stuhl hoch und ging langsam in die Küche. »Wo hast du die Schere hingetan?«, rief sie.

Erica krampfte die Hände um eine Stuhllehne, um sich daran zu hindern, ihrer Schwester zu Hilfe zu eilen und die Schere selbst zu holen. »In die Schublade neben dem Ofen, glaub ich. Siehst du dadrin ein Maßband liegen?«

»Ja.« Amber kam zurück in den Raum, in der Hand eine Schere schwenkend, die sie zusammen mit dem Maßband Erica gab, und ließ sich dann wieder auf einem Stuhl nieder. Sie fragte: »Was war da wirklich mit dem Polizisten, den du gemeldet hast?« Sie klang etwas außer Atem.

Erica maß die Breite des Esszimmerfensters und notierte sie auf einem Zettel. »Ich will einfach unbedingt, dass das Förderprogramm weitergeführt wird, damit ich noch mehr Kindern helfen kann.«

»Weil du keine haben kannst«, sagte Amber rundheraus.

»Es ist nicht nur deswegen, aber auch … ja.« Erica seufzte. Sie wollte nicht über ihre eigenen Probleme sprechen, weil die von Amber doch viel ernster waren. »Ich schätze, das ist ein Teil des Grundes.«

»Du machst dich ganz schön von diesen Problemkindern abhängig, wenn du versuchst, mit ihnen deine enttäuschten Träume zu kompensieren«, sagte Amber.

»Sie haben in ihrem Leben so viel verloren. Ich möchte ihnen wirklich helfen.«

»Du hast viel verloren. Und war dieser Typ möglicherweise zu gut aussehend?«

»Hör auf.« Sie wollte nicht über ihre Entscheidung diskutieren, um jede Art von echter Beziehung zu ihrer Schwester zu vermeiden – sie würden sich nur streiten. Es war ein alter Streitpunkt, älter als der Krebs und ihr kürzlicher Entschluss. Amber war als Teenager verrückt nach Jungs gewesen und hatte ein ziemlich wildes Leben geführt. Sie hatte versucht, Erica dazu zu bringen, die Tatsache auszunutzen, dass ihre Mutter normalerweise zu viel arbeitete, um sie genau im Blick zu haben. Aber Erica war die Verantwortungsbewusste gewesen, die versucht hatte, Amber im Zaum zu halten, und sich selten auf irgendetwas eingelassen hatte, nicht mal auf eine einfache Verabredung.

Jetzt, da sie wusste, welche Zukunft ihr bevorstand, wünschte sie sich irgendwie, sie hätte es Amber gleichgetan.

Von oben dröhnte laute Musik herunter. Erica rümpfte die Nase. »Oh Gott«, sagte sie.

»Ja. Die ›Ich hasse Frauen‹-Musik.«

»Na ja, fairerweise muss man sagen, dass das alle Kinder hören.«

»Versprich mir, ihr zu sagen, dass sie nicht so von sich selbst denken soll, wenn ich mal …« Das letzte Wort blieb Amber im Hals stecken.

Ericas Kehle schnürte sich zu. »Natürlich, aber du wirst auch hier sein und ihr das selbst sagen können.«

»Ja.« Amber räusperte sich. »Ich glaube, ich bin heute ein bisschen zu müde, um dir zu helfen. Ein andermal?« Sie schob ihren Stuhl zurück, während sie sprach, und stand gebückt da, wie eine ausgehöhlte Muschel.

Erica wollte sie umarmen und ihr versichern, dass alles gut werden würde. Aber wie konnte sie das wissen? Als sie sah, wie Amber die Treppe zu ihrem Schlafzimmer im ersten Stock hinaufstarrte, wurde ihr bewusst, dass sie sich nicht einmal richtig vorstellen konnte, was ihre Schwester fühlte.

Die stampfenden Rhythmen von Metallica und das Pulsieren seiner Muskeln beim Schrubben der Böden und Tragen der Kisten hielten Trey davon ab, darüber nachzudenken, wie deprimierend das war, was er gerade tat: das Haus, das er mit seiner Frau geteilt hatte, zu räumen und zu putzen.

Morgen würde er dafür bezahlen. Er sollte eigentlich nicht schwerer als zehn Pfund heben. Aber wie konnte er das, was von seiner Ehe übrig geblieben war, aus dem Haus schaffen, ohne ein paar Kisten zu heben? Außerdem hatte sich sein Freund Denny von der Polizei bereit erklärt, ihm zu helfen, da konnte er doch nicht einfach herumsitzen und den Mann allein arbeiten lassen, oder?

Der Geruch des Reinigungsmittels stieg ihm in den Kopf, also ließ er Denny den Küchenboden fertig machen und ging nach oben, langsam eine Stufe nach der anderen. Dabei presste er die Zähne gegen den Schmerz zusammen, der von seinem unteren Rücken in seine Hüfte und sein Bein ausstrahlte. King, der neben der Haustür lag, erhob sich und folgte ihm pflichtbewusst.

Als er mit dem Staubsauger über den Teppich im Schlafzimmer fuhr und versuchte, seinen Oberkörper nicht zu drehen oder plötzliche Bewegungen zu machen, sah Trey die hellen Quadrate an den Wänden, an denen ihre Fotos gehangen hatten. In einer Ecke hing noch eines, das sie vergessen hatten abzunehmen. Eine gerahmte Karikatur von ihm und Michelle, die sie auf irgendeinem Straßenfest hatten machen lassen: Er sah aus wie ein riesiger Polizist aus einem Cartoon, Michelle wie eine winzige, süße Schurkin, die um Gnade bettelte.

Sie hatte während ihrer Ehe viel gebettelt, darum, dass er seine Vorstellungen von einer Bilderbuchfamilie aufgab und mit ihr feiern ging – bis das Betteln in Schreien umgeschlagen war und sie irgendwann ganz aufgehört hatte zu reden. In der Zwischenzeit hatte seine Polizistenkarriere immer mehr Raum eingenommen, bis sie ihre Ehe völlig überschattet hatte. Es war die Sache mit der Henne und dem Ei: Er wusste nicht wirklich, wer sich zuerst zurückgezogen hatte, Michelle oder er.

Die Wahrheit war, dass sie von Anfang an nicht gut zueinandergepasst hatten. Sein wachsender Wunsch, eine Familie zu gründen, und Michelles nachlassendes Bedürfnis danach hatten ihr Schicksal nur besiegelt.

Er stopfte die Karikatur in den Müllsack, den er von Zimmer zu Zimmer geschleppt hatte, und ging durch den Flur, um die anderen beiden Zimmer zu überprüfen. Eines war rosa und eines blau gestrichen, ein Relikt der früheren Bewohner, die einen Sohn und eine Tochter gehabt hatten und dem kleinen Haus dann entwachsen waren.

Er hatte sich einen Jungen gewünscht, wegen der etwas antiquierten Vorstellung, dass man die Familienlinie weiterführen müsse. Aber ein Mädchen wäre auch in Ordnung gewesen. Oder noch besser, einen Jungen und ein Mädchen. Er überprüfte die beiden Zimmer kurz und fand einen von Michelles Strings und einen BH hinten im Schrank des blau gestrichenen Zimmers. Seltsam, wenn man bedachte, dass keiner von ihnen beiden viel Zeit in diesem Zimmer verbracht hatte, es sei denn, sie hatten Gäste gehabt, was seit ein paar Jahren nicht mehr vorgekommen war.

King vergrub seine Nase in Treys Hand, was diesen davon abhielt, weiter darüber nachzudenken, was die Dessous zu bedeuten hatten. Er stopfte sie in den Müllbeutel und schleppte ihn die Treppe runter, wobei er sich fest an das Geländer lehnte, King an seiner Seite. Unten angekommen, sah er auf die Uhr, überlegte sich, ob er nicht doch schon eine Schmerztablette nehmen solle, und schob den Gedanken dann beiseite.

In der Küche wusch Denny gerade den Mopp aus und stellte ihn neben die Hintertür. Er schaute auf sein Handy.

»Danke, Mann«, sagte Trey. »Mach ’ne Pause. Es ist kaltes Bier im Kühlschrank, und ich bestelle uns gleich Pizza.«

»Ich hole mir ein Bier, aber dann muss ich gehen. Milo hat gerade mit dem Tee-Ball-Training angefangen. Normalerweise würde Laura ihn hinfahren, aber sie verlässt sich da in letzter Zeit ein wenig mehr auf mich.« Denny sah überhaupt nicht verärgert aus.

»Hast du Stress mit ihr?« Denny war ein großer Frauenheld gewesen, bevor er sich in Laura verliebt und gelernt hatte, sich zusammenzureißen.

»Nein, aber … Sie ist wieder schwanger«, platzte Denny heraus und kniete sich hin, um King zu streicheln.

Trey, der gerade dabei war, zwei Bierflaschen aus dem Kühlschrank zu holen, hielt inne und starrte seinen Freund an. Er ignorierte das Ziehen in seinem Bauch. »Das ist großartig, Mann. Wann ist sie so weit?«

»In sechs Monaten, also Ende Oktober.« Denny wischte sich mit einem Ärmel über die Stirn. »Ich hab ein paar Extraschichten übernommen, damit ein bisschen mehr Geld reinkommt. Wenn ich freihabe, versuche ich bei ihr zu sein und mich um Milo zu kümmern, damit sie sich etwas ausruhen kann.«

»Ja, das solltest du. Ich weiß es zu schätzen, dass du heute hergekommen bist. Ich hätte gern eine Reinigungsfirma engagiert, aber das Geld ist knapp.«

»Kein Problem. Du würdest dasselbe für mich tun.«

Das stimmte. Schon bevor Trey ein K-9-Officer geworden war, waren sie Kollegen gewesen, hatten zusammen einige brenzlige Situationen überlebt, hatten bei Bier über die Vorgänge im Revier, Frauen und das Leben geschimpft. Aber ihre Verbindung ging viel weiter zurück. Da sie in derselben Pflegefamilie gewohnt hatten, waren sie praktisch Brüder. »Gib Laura einen Kuss von mir und sag ihr, dass es mir leidtut, dass ich dich für heute entführt habe.«

»Mach ich. Ich soll dir von ihr sagen, dass sie bereits damit rechnet, dass du für uns den Babysitter spielst.«

»Jederzeit.« Obwohl Denny das sonnigere Gemüt hatte und in der Pflegefamilie beliebter gewesen war, war es Trey gewesen, der mit den Babys geholfen hatte, der dafür sorgen konnte, dass sie mit dem Weinen aufhörten, der geschickt Windeln wechseln und Flaschen erwärmen konnte. Denny hatte ihm Milo bereits so oft anvertraut, dass dieser ihn mittlerweile Onkel Trey nannte.

Trey vermutete, dass er vielleicht auch deshalb Babys mochte und Vater sein wollte, um der Welt zu zeigen, dass er nicht die gleiche Art von Taugenichts war wie sein eigener Vater.

»Hast wohl ziemlich schnell ein Angebot für das Haus bekommen, was?«

Denny machte sich ein kaltes Bier auf und kippte die Hälfte davon in einem Zug runter.

»Morgen ist die Besichtigung. Sollte gut laufen. Nächste Woche wird der Vertrag unterzeichnet.« Und das war’s dann.

»Junge Familie, nehme ich an.«

»Ja.« Der kleine zweistöckige Backsteinbau war perfekt für Kinder, mit dem eingezäunten Vorgarten, in dem eine Reifenschaukel und ein Picknicktisch standen, und dem Basketballkorb über der Garage. Deshalb hatte auch ihm das Haus so gefallen.

»Eigentlich hätte Michelle doch mithelfen sollen. Ihr gehört doch die Hälfte, oder?« Denny winkte Trey mit seinem Handy zu. »Nach dem, was sie so postet, sieht es aus, als würde sie stattdessen Party machen.«

Trey hatte seine Ex-Frau in allen sozialen Medien geblockt, aber er wusste trotzdem, wo sie sich aufhielt. »Sie macht einen Mädelsurlaub am Strand. In Florida. Hat sie zumindest behauptet.« Er schluckte den sauren Geschmack im Mund hinunter.

»Du bist über sie hinweg, stimmt’s?«

Trey dachte nach. Es war anderthalb Jahre her, seit sie sich getrennt hatten, und ihre Scheidung war seit sechs Monaten durch. Das Gefühl des Versagens nagte immer noch an ihm, und er bedauerte, dass er seinen Traum von einer Familie hatte aufgeben müssen. Aber Michelle?

Wenn er daran dachte, wie sie in Florida Party machte und wahrscheinlich Männer traf, verspürte er keine Eifersucht. Er fühlte sich nur wie ein Trottel, weil er sich bereit erklärt hatte, die Reinigung allein zu übernehmen. »Ja, ich bin über sie hinweg.« Dann ergriff er, von innerer Unruhe getrieben, zwei der Müllsäcke und begann sie zur Tür zu schleifen, wobei er den stechenden Schmerz in seinem Rücken ignorierte.

»Woah, Mann, lass mich das machen.«

»Mir geht’s gut.«

»Dir geht’s nicht gut.« Denny versuchte sich die Müllsäcke zu schnappen.

Trey hielt sie fest. »Ich kann sie schon rausbringen.«

»Du bist ein Idiot.« Denny folgte ihm mit dem Bier in der Hand nach draußen und sah zu, wie Trey die Säcke die Treppe runterschleifte. »Du kannst dich bei der Polizei nicht mehr beweisen, also versuchst du’s jetzt beim Müllraustragen? Das wird deine Rückenschmerzen nur schlimmer machen.«

Was spielt das für eine Rolle? Trey öffnete den Mund, um es auszusprechen, aber er schloss ihn wieder, weil er erkannte, dass er nicht mehr dieser Ansicht war, zumindest nicht mehr genau der Ansicht. Das Training war immer noch unfassbar anstrengend, aber er hatte bei seiner letzten Einheit eine leichte Verbesserung bemerkt. Vielleicht – nur vielleicht – half es ihm ja doch. Und er wollte definitiv nicht, dass sich sein Zustand verschlechterte, denn wenn er noch mehr an Beweglichkeit einbüßte, wenn er irgendwann nicht mehr einkaufen oder seine Wäsche selbst waschen könnte, was sollte dann aus ihm werden?

Ein silberner Camaro fuhr vor und parkte am Bordstein. Er und Denny blieben mitten in der Einfahrt stehen. Was tat der Chief denn hier?

Chief Lincoln, den sie privat alle »Abe« nannten, weil er so groß und dünn wie Präsident Lincoln war, kam her und begrüßte die beiden, fragte nach ihren Fortschritten mit dem Haus, nach Milo, nach Treys Rücken. Das war zwar ganz nett von ihm, aber Trey bekam ein unbehagliches Gefühl.

»Ich muss gehen«, sagte Denny und winkte mit seinem Handy. »Meine Frau macht mir sonst die Hölle heiß.«

Als Denny weggefahren war, lud Trey den Chief auf ein Bier auf die Veranda ein.

Er war jedoch ziemlich verblüfft, als dieser die Einladung tatsächlich annahm. Lincoln war für ihn und Denny, als sie gerade bei der Polizei anfingen, ein Mentor gewesen, doch er neigte dazu, sich im Privaten zurückzuhalten.

»Es gibt einen Grund, warum ich vorbeigekommen bin«, sagte Chief Lincoln, nachdem er die Flasche geöffnet hatte. Er stellte sie ab, ohne einen Schluck zu trinken. »Hab ’n paar Dinge von Earl Greene gehört, dem Verantwortlichen für das Programm für körperlich beeinträchtigte Polizisten in Pleasant Shores.«

»Ja? Welche denn?« Treys Herz stolperte ein wenig, nicht nur, weil er es hasste, als körperlich beeinträchtigter Polizist bezeichnet zu werden, sondern auch wegen des Tadels, den er in der Stimme des Chiefs hörte. Er setzte sich vorsichtig auf die Verandaschaukel und zuckte zusammen.

»Er scheint eine negative Einstellung an dir bemerkt zu haben.«

»Ich hab doch kaum mit ihm …«

Der Chief hob die Hand und schnitt ihm das Wort ab. »Offenbar hat sich die zuständige Lehrerin beschwert. Hat gefragt, ob es noch jemand anderen gäbe, der kurzfristig bereit wäre, mit den Kindern zu arbeiten.«

Trey schaute auf seine Knie und ballte die Fäuste. War er wirklich so unausstehlich rübergekommen, als er mit Greene gesprochen hatte und mit dieser langbeinigen Schönheit am Strand, deren Namen er immer noch nicht wusste?

Du hättest sie nach ihrem Namen fragen sollen, dich bemühen sollen. »Du wirst ihnen also jemand anderen schicken«, sagte er; düstere Gewissheit bedrückte ihn. Es kam nicht häufig vor, dass jemand bei der Reha scheiterte. Echt spitzenmäßig, was er da geschafft hatte.

»Ich habe im Moment sonst niemanden, den ich ihnen vorschlagen könnte. Und die beiden anderen Abteilungen, mit denen sie zusammenarbeiten, warten noch auf ihre Genehmigung, sodass sie auch keinen vorschlagen können.« Der Chief seufzte. »Ich will, dass du die Stelle kriegst, aber du solltest dich besser am Riemen reißen. Sonst fällt das auf mich zurück, weil ich dich empfohlen habe.«

In einem Winkel seines Bewusstseins erkannte Trey die Chance, dass der Chief noch mal nachsichtig mit ihm sein wollte, und ergriff sie. »Wird gemacht, Sir. Ich werde mit einer besseren Einstellung an die Sache herangehen.«

Der Chief starrte Trey an, bis dieser den Blick abwandte. »Mit einer viel besseren. Denn deine Einstellung ist mit dafür verantwortlich, dass du überhaupt in die Situation gekommen bist, in der du dich jetzt befindest. Dieser Vorfall hätte nicht passieren dürfen. Du bist seit Monaten nicht richtig bei der Sache. Wärst du nicht verletzt worden, hätte ich dir einen Schreibtischjob gegeben.«

Die Worte des Chiefs lasteten schwer auf ihm. Er hatte gewusst, dass er nicht in Form war, aber er hatte nicht bemerkt, dass es auch den anderen auffiel. Reflexartig streckte er die Hand nach King aus und legte sie auf seinen felligen Rücken.

»Wenn du es nicht schaffst oder mir nicht beweisen kannst, dass du dich geändert hast, werde ich dich nicht für die Wiederaufnahme in die Hundestaffel empfehlen, selbst wenn dein Rücken heilt«, sagte Lincoln und stand auf. »Betrachte es als eine Art Test.« Er drehte sich um und schritt zu seinem Auto zurück.

Trey fragte sich, wie er in etwas gut sein sollte, das er gar nicht tun wollte, und wie er mit Menschen zusammenarbeiten sollte, die ihn bereits jetzt hassten.

3. Kapitel

Gerade als ihre Enkelinnen aus der Schule kamen, zog Julie White das Backblech mit den Schokokeksen aus dem Ofen. Sie gratulierte sich selbst zu ihrem perfekten Timing. »Wer will Kekse?«, flötete sie.

Ihre jüngere Enkelin, Kaitlyn, sah sie mit unverhohlenem Spott an. Na super. Sie hatte es mit der guten Laune übertrieben. Es würde einige Zeit dauern, bis sie sich in ihrem neuen Zuhause zurechtfand – sie wohnte in einer Suite im Motel ihrer Tochter und kümmerte sich ab und zu um ihre Enkelinnen, die im Haus nebenan wohnten.

Ihre ältere Enkelin, Sophia, war mit Telefonieren beschäftigt, winkte ihr aber kurz zu und schnappte sich auf dem Weg durch die Küche einen Keks. Sie war sechzehn, lernte gerade Autofahren, war gut in der Schule und hatte anscheinend Dutzende von Freunden, darunter einen festen Freund, was sie Gott sei Dank nicht so ernst nahm. Ihr sonniges Gemüt erinnerte Julie an ihre Tochter, die Mutter der beiden. Wenig bis gar keine pubertären Ängste, nur die Selbstbezogenheit, die man von einem Teenager ohnehin erwartete.

Kaitlyn, die Dreizehnjährige, ließ sich mit einem lauten Seufzer auf einen Stuhl am Küchentisch fallen. Sie befand sich in einer seltsamen Phase, die durch die Scheidung ihrer Eltern und wahrscheinlich auch durch den Umstand, dass ihre Großeltern sich kurz darauf ebenfalls hatten scheiden lassen, noch verschlimmert wurde. Dass sie so eine beliebte, hübsche Schwester wie Sophia hatte, machte die Sache nicht gerade besser, obwohl Sophia eigentlich sehr nett zu Kaitlyn war. Doch Julie verstand, warum Sophias Nettigkeit ihrer jüngeren Schwester nicht gefiel; sie hatte zu sehr den Anschein von Mildtätigkeit oder Mitleid.

Julie schob die Kekse vom Backpapier auf einen Teller und stellte den Teller auf den Tisch. Sie fragte »Milch?«, ging automatisch zum Kühlschrank und öffnete die Tür.

»Ich trink keine Milch«, nuschelte Kaitlyn, den Mund voller Kekskrümel.

Das war Julie neu, aber sie wusste, dass es besser war, keine Fragen zu stellen. Sie schenkte ihr einfach ein Glas Wasser mit Eis ein und stellte es auf den Tisch. »Möchten du und deine Schwester in ein paar Minuten vielleicht mit mir zum großen Strand spazieren?« Der große Strand befand sich auf der Seite von Pleasant Shores, wo die wohlhabenderen Leute wohnten. Im Gegensatz zu den schmalen, felsigen Stränden, die am häufigsten an der Chesapeake Bay zu finden waren, bestand er aus einem breiten Streifen weißen Sandes.

»Warum?« Kaitlyn fuhr sich mit einer Serviette über den Mund und nahm sich einen weiteren Keks. »Es ist erst April.«

»Und es sind einundzwanzig Grad. Die Hitzewelle wird bald vorbei sein, aber man könnte noch ein wenig Sonne tanken.«

Das schien Kaitlyns Interesse zu wecken; ihre Mutter erlaubte es nämlich nicht, dass sie ins Sonnenstudio gingen … Obwohl Julie vermutete, dass Sophia die Vorschrift, dass Kinder unter achtzehn dort nur mit elterlicher Erlaubnis Zutritt hatten, irgendwie umging, da sie durchgehend gesund und goldgebräunt aussah.

»Hey, Soph«, schrie Kaitlyn. »Oma will zum Strand runtergehen.«

Das war nicht ganz wahr; Julie wäre lieber zu Hause geblieben, in ihrer niedlichen kleinen Suite am anderen Ende des Motels, und hätte in ihrem Krimi gelesen. Aber sie rechtfertigte ihre Anwesenheit, zumindest vorübergehend, damit, dass sie während der berüchtigten »gefährlichen« Zeit nach Schulschluss ein Auge auf ihre Enkeltöchter hatte: Sie machte ihnen nach der Schule einen Snack, bereitete das Abendessen vor und schlug gesunde Aktivitäten vor.

Außerdem musste sie, wie ihre Freundin Mary sagte, mal aus dem Haus. Um ihre Trübsal durch den Sonnenschein vertreiben zu lassen und neue Leute kennenzulernen.

Der Teil mit dem »neue Leute kennenlernen« übte auf sie überhaupt keine Anziehungskraft aus, doch heute würde das ohnehin nicht passieren. Die Tatsache, dass Kaitlyn mürrisch neben ihr hertrabte, würde alle außer vielleicht die unerschrockensten Extrovertierten der Stadt von ihr fernhalten. Die Leute hatten Angst vor pubertierenden Mädchen.

Bald schon gingen sie die drei Querstraßen durch das kleine Zentrum von Pleasant Shores Richtung Strand, Strandtücher und – in Julies Fall – einen klappbaren Liegestuhl unterm Arm. Beide Mädchen hatten darauf bestanden, trotz ihres Protests Bikinis und darüber Jeansshorts und T-Shirts zu tragen. Es war eine optimistische Kleiderwahl, da trotz der ungewöhnlich warmen Temperaturen die Brise am Strand kühl und das Wasser in der Bucht eiskalt sein würde.

Julie erhaschte, als sie an einem Schaufenster vorbeigingen, einen Blick auf sich selbst und zuckte zusammen. Capris und ein alter Kapuzenpullover von Ria: Sie hatte sich seit der Scheidung gehen lassen, die achte Todsünde laut ihrem Ex-Mann Melvin. Nicht dass es irgendwas genützt hatte, sich für ihn in Form zu halten.

Er liebte sie nicht mehr. Er wollte nicht mehr mit ihr verheiratet sein. Obwohl es schon vor sieben Monaten geschehen war, hatte sie immer noch Schwierigkeiten zu glauben, dass ihre fünfunddreißig Jahre Ehe einfach so vorbei waren. Dass Melvin nach Saint Michaels gezogen war und jetzt in einem Businesshotel in der Nähe seiner Arbeitsstelle wohnte.

Sie blickte die ruhige Hauptstraße der Stadt entlang, hoffend, dass sie niemandem begegnen würde, den sie kannte – aber andererseits, wen kümmerte das schon? Es war ja nicht so, dass sie jemanden beeindrucken wollte.

Dennoch sollte sie sich mit ihrem Äußeren mehr Mühe geben. Wer gut aussieht, fühlt sich auch gut, hatte ihre selbstbewusste, elegante Mutter immer gesagt. »Was haltet ihr von diesem Oberteil?«, fragte sie ihre Enkelinnen und blieb stehen, um durch das Fenster des einzigen »feineren« Damenbekleidungsgeschäfts von Pleasant Shores zu spähen. Fein, das hieß: teure Mode für Frauen mittleren Alters. Vorerst, während sie noch Unterhaltszahlungen erhielt, konnte sie es sich noch leisten, dort einzukaufen. Das Oberteil war altrosa und hatte den großzügigen Schnitt, den sie brauchte.

»Es ist süß«, sagte Sophia, blickte von ihrem Handy auf und schenkte Julie ein ermutigendes Lächeln. Natürlich hatte sie das Oberteil kaum angesehen.

Julie drehte sich zu Kaitlyn um und zog eine Augenbraue hoch. »Wie findest du es?« Einerseits fragte sie Kaitlyn, um sie dazu zu ermuntern, ihre Meinung zu äußern, zu zeigen, dass sie diese schätzte, andererseits erwartete sie von ihr auch mehr Ehrlichkeit.

Kaitlyn zuckte die Achseln und runzelte die Stirn. »Es ist ganz nett. Es sieht genauso aus wie alles andere, was du trägst.«

Mit anderen Worten: Es spielte keine Rolle, was Julie anhatte. Sie war alt, eine Großmutter.

»Du solltest dir das da kaufen«, murmelte Kaitlyn und wies mit dem Kopf auf eine lila-türkisfarbene Batiktunika.

»Wirklich? Die ist so knallig.«

Kaitlyn zuckte die Achseln und sie gingen weiter, doch Julie warf einen Blick zurück auf die Tunika, die Kaitlyn gemeint hatte. Sie wäre definitiv mal was anderes.

Wie sich herausstellte, traf Julie doch auf Leute, die sie kannte: eine Freundin aus dem Buchladen und jemanden, den sie kürzlich in der Kirche kennengelernt hatte. Sie wohnte schon seit zehn Jahren hier, aber für die Einheimischen war das nichts; erst jetzt begann sie sich in deren Augen langsam von den Sommergästen zu unterscheiden.

Sophia sah einige Mädchen, die sie kannte, lief schreiend auf sie zu, um sie zu umarmen, und vertiefte sich dann in eine intensive Unterhaltung. Kaitlyn und Julie gingen langsamer. »Weißt du, wer die sind? Alte Freundinnen?«, fragte Julie. »Scheint so, als hätte sie sie eine Weile nicht mehr gesehen.«

»Sie gehen auf unsere Schule. Sie hat sie vor einer Stunde erst gesehen.« Kaitlyns Lippe kräuselte sich. »Die sind immer so.«

Julie erinnerte sich auf einmal an die ohrenbetäubenden Schreie, die Ria jedes Mal losgelassen hatte, wenn sie ein Mädchen gesehen hatte, das sie kannte. »Sollen wir weitergehen?«, fragte sie Kaitlyn. »Sie kann ja nachkommen. Oder wir können bei den Bänken auf sie warten.« Die Bänke am Rand des Strandes waren ein beliebter Treffpunkt für Touristen; während der Saison traten dort Musikgruppen auf.

»Egal.« Sie trotteten weiter, und Julie war ganz froh, dass sie die Mädchen nach draußen gescheucht hatte. Sie sorgte sich vor allem um Kaitlyns psychische Verfassung.

Die Sonne wärmte ihr Gesicht, die Brise wehte nicht zu stark, und als sie sich dem Wasser näherten, stieg der typische Geruch des Meeres von der Buch her auf. Julie liebte die Ostküste, schon seit sie denken konnte; es war ihre Idee gewesen, sich vom Erbe ihres Großvaters, hier dieses Sommerhaus zu kaufen.

Sie kamen zu den Bänken und setzten sich; einige Augenblicke später gesellte sich Sophia atemlos zu ihnen. »Sorry! Lasst uns zum Strand runtergehen.«

Sie gingen durch den aufgeschütteten Sand und diskutierten darüber, wo sie sitzen sollten. Als sie einen geeigneten Platz fanden, wo sie den Stuhl aufstellen und die Handtücher hinlegen konnten, legte Sophia einen Arm um Julie. »Das war eine gute Idee, Oma.«

Julie wurde warm ums Herz. »Es macht Spaß, Zeit mit euch Mädchen zu verbringen. Vergesst mir nicht, euch mit Sonnencreme einzuschmieren.«

Am Strand tummelten sich mehrere Grüppchen, obwohl es zum Schwimmen viel zu kalt war. Lagerkoller, vermutete sie.

Kaitlyn grunzte und stieß ihre Schwester an, und beide schauten zu einer Gruppe von Jungs hinüber, die vom Alter her näher an Kaitlyn als an Sophia dran waren.

Kaitlyn kämmte ihr Haar mit den Fingern durch und überprüfte ihr Aussehen mithilfe ihrer Handykamera. »Ich sehe blöd aus«, sagte sie und warf das Handy in den Sand.

»Du solltest unbedingt rübergehen und mit ihnen quatschen«, ermunterte Sophia sie.

»Auf keinen Fall!«

»Na ja, dann … geh einfach an ihnen vorbei. Gib ihnen die Chance, mit dir ins Gespräch zu kommen.«

»Kommst du mit?«

»Okay, klar.« Sophia stand auf, schnappte sich ihr Handy und schlüpfte wieder in ihre Jeansshorts. Kaitlyn hatte ihre noch gar nicht ausgezogen. Die beiden begannen in Richtung der Jungen zu spazieren, die mit Frisbees warfen. Sophia drehte sich um. »Geht das klar, Oma?«

»Jaja, geht schon. Habt Spaß.« Sie fühlte sich, als hätte sie etwas geschafft, als hätte sie einen guten Einfluss auf ihre Enkelinnen gehabt, indem sie sie dazu gebracht hatte, nach draußen zu gehen. Sie holte ihren Krimi hervor und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Dann schaute sie aufs Wasser hinaus und beobachtete, wie die Mädchen weiter weggingen. Ein Summen verriet ihr, dass Kaitlyn ihr Handy vergessen hatte. Träge hob sie es auf.

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