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Das Karmagotchi

hier erhältlich:

Was sich liebt, das neckt sich.

Als Louisas Freund sie verlässt, wirbelt das ihre WG gehörig durcheinander. Gemeinsam mit ihren besten Freundinnen muss sie sich nun auf die Suche nach einem neuen Untermieter machen - und dabei alles vor der Hausverwaltung geheim halten. Zu allem Überfluss hat ihr Exfreund auch noch ihre kreativste Start-up-Idee, das Karmagotchi, geklaut, und der feindselige, aber irgendwie auch ganz süße Nachbar scheint ihr immer wieder Steine in den Weg zu legen. Dabei hat Louisa ihm nie etwas getan … oder?

Der große WG-Casting-Marathon kann beginnen!


  • Erscheinungstag: 15.07.2019
  • Seitenanzahl: 350
  • ISBN/Artikelnummer: 9783745750744
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Mit Dank an Jonas Hoppe, der mir bei der Entwicklung der Story geholfen hat.

KAPITEL 1

Als Erstes frage ich ihn nach dem Geräusch seiner Schritte.

„In unserer WG legen wir sehr viel Wert auf einen sanften Gang“, erkläre ich und schreite im Wohnzimmer auf und ab. „So in der Art, verstehst du?“

„W-wie bitte?“

Nicht nur der bleichgesichtige Mann vor mir starrt mich verwirrt an, sondern auch meine beiden Mitbewohnerinnen auf dem Sofa.

„Du musst es nicht vormachen“, flüstert Audrey ihm zu. Sie wird ganz rot unter ihrer Sonnenbrille.

Der Mann gegenüber schluckt und steht auf. „Kein Problem.“

Er schlurft mir hinterher durchs Zimmer, und zum Glück klingt sein Gang nicht wirklich nach Schritten.

Ich schließe die Augen, lausche auf das Geräusch seiner Schuhe auf dem Parkett. Könnte es uns verraten und preisgeben, dass eine vierte Person in diese WG einzieht? Oder klingt es mehr danach, als würden wir eine Leiche durch die Wohnung schleifen, in einen Teppich gerollt? Das wäre ja nicht so tragisch.

Ich öffne die Augen wieder und lächle. „Herzlich Willkommen, das Zimmer gehört dir!“

Erleichterung glättet das Gesicht unseres Bewerbers.

Ich strecke ihm die Hand hin. „Wie heißt du eigentlich?“

Seine Finger sind weich und feucht. Er räuspert sich, bevor er sagt: „Björn. Ich studiere Kommunikationswissenschaften im zehnten Semester.“ Er kann mir nicht in die Augen sehen, sein Blick huscht durch den ganzen Raum.

„Louisa, auf ein Wort?“

Kati erhebt sich vom Sofa und gestikuliert mit ihren bunt tätowierten Armen in Richtung meines Zimmers.

Ich seufze. „Du entschuldigst uns für einen Moment, ja?“

„Wenn du was klauen willst, nimm nicht die Mikrowelle, die funktioniert eh nicht mehr richtig“, wirft Audrey ein.

Björn starrt sie mit großen Augen an.

„War nur ein Witz“, flüstert Audrey und folgt uns beiden in mein Zimmer.

Kati schließt die Tür hinter uns.

„Was denkst du, was du gerade machst?“

Ich zucke die Achseln. „Was meinst du damit?“

„Er ist abscheulich!“, ruft Audrey aus und schwenkt ihren Zigarettenhalter. Audrey benutzt ihn immer zum Rauchen, es gehört zu dem Image, das sie für sich konstruiert hat.

„Nicht in meinem Zimmer, Audrey“, huste ich.

Sie lässt sich auf dem Fenstersims nieder und pafft durch die offene Scheibe nach draußen.

„Wir können ihn unmöglich hier einziehen lassen.“ Kati stemmt die Hände in die Hüfte.

„Da muss ich Kati leider recht geben“, sagt Audrey.

„Der Typ ist echt creepy“, bekräftigt Kati noch einmal.

Ich lasse mich auf mein Bett fallen. „Ach, Leute, ihr habt doch nur Vorurteile. Björn ist bestimmt ein anständiger junger Mann.“ Ich nicke Audrey zu. „Außerdem haben wir keine Alternativen. Bei allen anderen Bewerbern heute hat euch entweder die Nase nicht gepasst, oder die Person spielt jeden Tag fünf Stunden Schlagzeug. Oder denk doch nur an den Typen, der auf WG-Castings geht, damit er nicht so einsam ist.“ Ich schaudere. „Björn sieht sogar fast aus wie mein Ex und wird deswegen garantiert nicht auffallen!“

Audrey räuspert sich. „Naja.“

Ich mache eine wegwerfende Handbewegung. „Zumindest was Größe und Haarfarbe betrifft. Das konnten wir von den anderen Bewerbern nun wirklich nicht behaupten.“

Die beiden scheinen immer noch nicht überzeugt. Also fahre ich fort: „Ich meine, Björn ist so unauffällig, den würde die Vermieterin nicht einmal bemerken, wenn sie sein Zimmer betritt und er auf dem Bett masturbiert.“

„Louisa!“

„Tschuldigung, Audrey. Aber so ist es doch: Wir müssen das vierte Zimmer noch heute vermieten, weil morgen der neue Monat beginnt. Und die Vermieterin darf auf keinen Fall bemerken, dass hier jemand anderes wohnt, als es im Vertrag steht. Dafür ist Björn der perfekte Kandidat. Außerdem ist es schon fast zehn Uhr abends. Heute kommt garantiert keiner mehr.“

„Ja, oder wir teilen uns die Miete für das vierte Zimmer, bis wir jemand Besseren finden“, sagt Kati.

Audrey hüllt sich in eine Wolke aus Rauch und Schweigen.

Ich zögere. „Das kann ich mir gerade nicht leisten.“

Kati verdreht die Augen. „Dann eben Audrey und ich.“

Ich spüre, wie mir die Tränen in die Augen steigen, aber ich kämpfe sie mit aller Kraft zurück. „Ich wollte doch nicht, dass es so kommt.“

Sofort ist Audrey bei mir und nimmt mich in den Arm. Der Rauch bringt meine Augen noch mehr zum Tränen.

„Das weiß ich doch“, murmelt Kati und seufzt.

„Männer sind Arschlöcher“, haucht Audrey mir ins Ohr.

„Frauen auch“, murmele ich.

„Naja, aber jetzt habt ihr euch getrennt, er ist ausgezogen, und jetzt müssen wir sein Zimmer verscherbeln, ohne dass die Vermieterin Stress macht“, sagt Kati bestimmt. „Darauf müssen wir uns jetzt konzentrieren, Mädels, klar?“

Ich nicke. „Ich könnte die Miete für die ganze Wohnung bald locker bezahlen, wenn der Idiot nicht mein Karmagotchi mitgenommen hätte.“

„Dein was?“

„Na, den Prototypen.“

„Den für den Regenschirmschlauch?“, fragt Audrey.

„Nein, sie meint den für die Innere Äußere Uhr“, korrigiert Kati.

Ich schüttele den Kopf. „Das war doch … alles Schwachsinn, die Erfindungen hab ich doch längst verworfen. Aber das Karmagotchi, das war eine Idee, wie man sie nur einmal im Leben hat.“

Kati streicht mir übers Haar und löst sanft Audreys Arme von mir. „Das sagst du jedes Mal. Ich kapiere immer noch nicht so richtig, warum du so an diesem Ding hängst. Du könntest locker einen Laden wie Vintage Planet schmeißen oder so was.“

Ich zucke die Achseln. „Eigentlich ist die Arbeit im Vintage-Laden ziemlich ähnlich, wie an dem Karmagotchi zu arbeiten. Du suchst passende Teile zusammen, um deine Vision zu vervollständigen. Nur dass es beim Karmagotchi einfach eine viel größere Sache ist. Wirklich, diesmal −“

Es klopft an der Tür. „Entschuldigung, ich würde dann jetzt gehen, wenn ihr mich nicht wollt.“

„Warte!“, rufe ich.

Ich blicke einmal in die Runde. Audrey zieht die Mundwinkel nach oben, Kati nickt mit zusammengepressten Lippen. Ich höre, wie Björn die Wohnungstür öffnet.

„Warte!“, rufe ich noch einmal und laufe ihm hinterher.

Für seinen Leichenschleifschritt ist er ganz schön weit unten im Treppenhaus, als ich ihn erreiche.

„Wir würden uns sehr freuen, wenn du bei uns einziehst.“

Er bleibt stehen und dreht sich um. Aus dieser Perspektive sieht er richtig klein aus. Ich kann schon jetzt eine kahle Stelle oben auf seinem Kopf ausmachen, obwohl er kaum älter scheint als ich selbst, Anfang-Mitte zwanzig.

„Das klang gerade aber anders“, sagt er leise.

„Ach, Quatsch, du bist genau der Richtige für uns“, erwidere ich.

Er atmet auf. „Puh, dann bin ich ja froh. Ich habe meine ganzen Sachen nämlich schon in einem Transporter um die Ecke stehen, seit ich aus meiner alten Wohnung rausgeflogen bin. Ihr kommt mir gerade recht. Morgen früh bin ich da.“

Er schlurft die Treppen runter, dann höre ich die Haustür schlagen. Ich bleibe regungslos stehen, bis das Licht im Treppenhaus automatisch ausgeht.

Oh, Scheiße.

Ich denke es nicht nur, ich sage es auch. Ich lasse mich im Dunkeln auf die Treppenstufen sinken.

„Oh, Scheiße.“

Ich ziehe die Knie nah an meine Brust und bette den Kopf darauf. Im Treppenhaus riecht es nach Staub und Putzmittel zugleich, aber ich schmecke nur Salz auf meiner Zunge.

Was für ein Tag. Was für eine Woche. Was für ein Monat!

Mir fällt auf, dass das hier der erste Moment ist, in dem ich einmal innehalte, seit ich übers Wochenende zu diesem Festival gefahren bin.

Sag doch, wie’s ist, Louisa. Du Angsthase.

Ich atme tief durch.

Als ich zurückkam, hatte er bereits sein Zimmer leergeräumt (und ein gutes Stück von meinem auch, wie ich später bemerkte). Er saß auf der letzten übrig gebliebenen Umzugskiste in seinem Zimmer und sah mich mitleidsvoll an, als ich, Federn im Haar und den Kopf voller Musik, nach Hause kam.

Danach sagte er: „Ich wollte das persönlich machen“, aber er machte zu dem Zeitpunkt gar nichts. Er sah mich einfach nur an, mit diesem mitleidsvollen Blick, aus dem ich alles lesen sollte, was er zu feige war, auszusprechen.

„Du … du machst Schluss?“

Dann schulterte er seine letzte Kiste – und ging. Ach ja, eine Sache sagte er noch, er klingelte sogar noch einmal an der Wohnungstür dafür.

Ich machte ihm schon nicht mehr auf, aber durch den Spion konnte ich ihn ganz genau sehen. So traurig sah er gar nicht mehr aus, wenn er es nicht darauf anlegte.

„Eine Sache noch, Lou. Es tut mir leid, dass ich dich dazu ermutigt habe, dein Jura-Studium zu schmeißen, das war definitiv die falsche Entscheidung.“

Er wartete nicht ab, ob ich noch etwas sagen würde. Mein Mund war ganz trocken. Ich hätte gar nichts erwidern können, selbst wenn ich es gewollt hätte. Ich fühlte … nichts. Ich lud meine Taschen in meinem Zimmer ab und ging duschen. Mein Kopf war alles andere als leer, er sang die Lieder vom Wochenende. Erst als ich herausfand, dass er meine Liste mit allen Projektideen und meinen Karmagotchi-Prototypen mitgenommen hatte, fing ich an zu weinen.

Etwas stößt mich in den Rücken, direkt zwischen die Schulterblätter.

„Was zur Hölle“, höre ich eine Männerstimme im Dunkeln fluchen.

Ich springe auf. „Wer ist da?“

Im Dunkeln berühren wir uns, eine Schulter an meiner. Durch unser gemeinsames Gewicht verlieren wir die Balance und klammern uns aneinander fest.

„Was soll das denn?“, ruft die unbekannte Stimme, und er lässt mich los.

Es dauert einen Moment, in dem ich mich nicht vom Fleck rühre. Dann flammt das Licht im Treppenhaus auf: Er hat den Schalter erreicht. Vor mir steht ein junger Mann, schlank, groß, bärtig. Sein halbes Gesicht wird von einer überdimensionalen Virtual Reality-Brille verdeckt. Trotzdem erkenne ich ihn als einen unserer Nachbarn wieder. Wir sind uns hin und wieder begegnet, er wohnt mit seiner Freundin auf unserem Stockwerk in der Wohnung gegenüber.

„Wer bist du?“, fragt er mich.

Es dauert einen Moment, bis mir einfällt, dass er mit der Brille wahrscheinlich in irgendeiner Fantasy-Welt unterwegs ist und mich gar nicht sieht.

„Louisa“, sage ich, „vierter Stock, rechte Wohnung.“

„Hast du auf mich gewartet?“, fährt er mich an.

Wir kennen uns definitiv nicht genug, dass ich auf ihn warten würde. Kaum mehr als ein paar Worte haben wir bisher miteinander gewechselt. Einmal war er mit seiner Freundin auf einer unserer WG-Partys, ich glaube, Hannes hatte ihn eingeladen.

Umständlich zieht er die Brille vom Kopf. Die Augen darunter sind gerötet.

„Hey, hör auf mit dem Scheiß, klar?“

„Ich soll aufhören? Du rennst hier mit einer VR-Brille durchs Haus und wunderst dich, dass du gegen Dinge läufst?“

„Ich muss testen, was mit der virtuellen Küchenzeile passiert, wenn man die Treppe runtergeht“, sagt er.

Ich starre ihn an. „Na, das klingt ja spannend.“

„Ja, genau dafür bin ich Journalist geworden“, schnaubt er. „Um virtuelle Küchenzeilen zu testen.“

„Darf ich das mal ausprobieren?“

Er runzelt die Stirn. „Ganz bestimmt nicht, du sollst mich in Ruhe lassen.“

„Okay, was auch immer.“

Ich wundere mich über seine gereizte Reaktion.

Er jedoch starrt mich an, als würde er sich über meine wundern.

„Ich gehe dann mal“, stoße ich hervor, stehe auf und steige die Treppe nach oben.

„Mach, was du willst“, knurrt er und springt so schnell die Treppe runter, dass er aus dem Haus ist, noch bevor ich den Treppenabsatz erreicht habe.

Als ich in die Wohnung zurückkomme, rührt Kati in einem Topf auf dem Herd.

Audrey hat sich auf dem nächsten Fensterbrett platziert und starrt in die Ferne – beziehungsweise zum Nachbarhaus. „Die Jungs da drüben machen mal wieder Party“, sagt sie sehnsuchtsvoll.

Ich verdrehe die Augen und schließe die Tür hinter mir. „Sie haben dich schon so oft eingeladen, und du bist nie gegangen.“

Sie zuckt mit den Achseln und steckt sich eine Zigarette in den Mundwinkel. „Ich mag Partys ja nicht mal. Die Idee davon klingt immer so aufregend, die Realität ist klebrig und hat Mundgeruch. Nein, ich werde einfach weiter hier am Fenster sitzen und zuschauen.“

Das Dröhnen der Bässe kriecht durch den Asphalt in die Knochen unseres Hauses.

„Soll ich dir deine kleine Gitarre bringen?“, frage ich und kann ein Schmunzeln kaum unterdrücken.

„Ukulele, Lou, Ukulele“, flüstert Audrey und starrt weiter zum Nachbarhaus hinüber.

„Zieht der Typ jetzt ein oder nicht?“, fragt Kati und kippt Tomatensoße in den Nudeltopf.

„Björn. Ja, zum Glück.“ Seufzend lasse ich mich aufs Sofa fallen. Kati trägt die Spaghetti aus der Küche herüber, stellt ihn auf dem Couchtisch ab und setzt sich neben mich. „Das mit dem Glück werden wir ja dann noch sehen.“

Sie drückt mir eine Gabel in die Hand.

„Ach, ich bin einfach so erleichtert, dass dieser Monat für mich nicht den finanziellen Ruin bedeutet.“

„Audrey, willst du auch was?“ Kati streckt ihr eine Gabel entgegen.

„Ich komme gleich“, sagt Audrey abwesend.

Kati beginnt, die Nudeln direkt aus dem Topf zu essen. Sie sitzt breitbeinig auf dem Sofa und beugt sich so weit vor, dass die Muskeln auf ihrem Rücken sich unter dem durchsichtigen Top abzeichnen. Kati trägt gerne durchsichtige Sachen. Damit man ihre Tattoos auch sieht, wenn sie in der Öffentlichkeit dazu gezwungen wird, sich zu bedecken.

„So schlimm ist es doch noch nicht bei dir, oder?“, fragt sie mich. „Oder hast du deinen Eltern immer noch nicht gesagt, dass du das Studium geschmissen hast?“

Schnell stopfe ich mir so viele Spaghetti in den Mund, dass ich erst einmal nicht sprechen kann. Natürlich habe ich es meinen Eltern nicht gesagt. Meine Eltern, die mich immer in allem unterstützen – zumindest in dem, was sie als sinnvoll erachten. Das Studium abzubrechen, um in einem Second-Hand-Laden zu arbeiten und mit dem dort verdienten Geld verrückte Ideen zu entwickeln – das ist in ihren Augen alles andere als sinnvoll. So sehr mein Vater mich und meine Projektideen gefördert hat, das ist ein Punkt, in dem wir uns unterscheiden: Für ihn ist das ein Hobby, ein Weg, mit seiner Tochter Kontakt zu halten, für mich ist es mehr als das. Ich möchte nicht immer nur Spielzeugautos bauen, die am Ende doch nicht fahren, oder ein Baumhaus, das mich nicht trägt. Meine Eltern wollen, dass ich erst mal auf Nummer sicher gehe: Bachelor, Master, Staatsexamen – und am besten noch ein Doktor, das hält doppelt. Das weiß ich auch, deswegen habe ich mich bemüht, in den letzten Wochen seltener mit ihnen zu telefonieren und wenn es dann doch dazu kommt, das Studium möglichst nicht zu erwähnen. Nach dem Ende meiner Beziehung wäre ich so gerne nach Hause gefahren, ich hätte mich so gerne noch einmal in meinem Kinderzimmer verkrochen. Aber die Gefahr, dass ich mich verplappern würde, wäre einfach zu groß.

Kati sieht mich mit zusammengezogenen Augenbrauen an, auch Audrey hat sich mir jetzt zugewandt.

„Louisa?“

„Wisst ihr eigentlich, was mit unserem Nachbar los ist?“, wechsle ich schnell das Thema.

„Du meinst Niklas?“, fragt Audrey. Sie steht vom Fensterbrett auf und setzt sich zu uns aufs Sofa.

„Was soll mit ihm sein?“, fragt Kati.

Ich zucke mit den Achseln. „Ich bin ihm gerade im Treppenhaus begegnet, und er war total unfreundlich zu mir.“

Ich stochere im Nudeltopf herum und bemerke deswegen nur für den Bruchteil einer Sekunde, wie Kati und Audrey Blicke tauschen, so kurz, dass es vielleicht auch nur eine zufällige Begegnung war.

„Der hat sich vor ein paar Wochen von seiner Freundin getrennt“, sagt Audrey und beginnt, ebenfalls Nudeln aufzuspießen. „Beziehungsweise sie sich von ihm, glaube ich.“

„Ehrlich? Aber ich habe sie gestern noch dort gesehen, es wirkte nicht so, als sei sie ausgezogen.“

„Soweit ich weiß, wohnt sie auch noch da. Du weißt doch, wie unmöglich es ist, in Mainz schnell eine annehmbare Wohnung zu finden.“

Kati schüttelt langsam den Kopf. „Du erstaunst mich immer wieder, Audrey. Woher weißt du das alles?“

„Seine Freundin redet manchmal mit mir.“

„Wie hieß die doch gleich?“, frage ich.

„Franziska“, sagt Audrey wie aus der Pistole geschossen.

„Franziska.“ Kati lehnt sich zurück und schnaubt. „Ja, genau so sieht sie aus. Genau so, als würden ihre Eltern allen erzählen, dass ihre Tochter Medizin studiert, aber eigentlich ist sie Krankenschwester.“

Ich kichere, aber Audrey schaut Kati pikiert an. Auch nach über einem Jahr in dieser Wohnung kann sich Audrey einfach nicht an Katis rabiate Art gewöhnen.

In diesem Moment klingelt Katis Handy. Sie schaut aufs Display und drückt den Anruf dann weg.

„Oh, wieder der mysteriöse Unbekannte?“, säuselt Audrey und lehnt sich interessiert vor.

Kati schiebt ihr Smartphone zurück in die Hosentasche. „Es ist Finns Vater. Ich ruf gleich zurück.“

Ich sehe schon, dass Audrey den Mund öffnet, um zum tausendsten Mal nach dem Namen des Vaters zu fragen, deswegen sage ich schnell: „Hast du ihn morgen wieder?“

Sie nickt. „Ich soll ihn eigentlich von der Kita abholen, aber er kränkelt schon eine ganze Weile.“

„Willst du uns nicht endlich verraten, wer der Vater ist?“

Mist. Für einen Moment nicht aufgepasst. Audrey löchert Kati mit dieser Frage schon seit dem Moment, da der kleine Finn zum ersten Mal morgens früh in Audreys Zimmer schlich und sie an den Zehen kitzelte. Ich weiß nicht, warum Kati Audrey gegenüber zuvor nicht mal erwähnt hatte, dass sie ein Kind hat. Ich weiß auch nicht, warum sie so ein Geheimnis daraus macht, mit wem sie sich das Sorgerecht teilt, aber irgendwann bin ich der Fragerei müde geworden. Audrey dagegen ...

„Kennen wir ihn?“

Kati steht auf. „Ich erledige den Anruf lieber gleich.“ Sie verschwindet in ihrem Zimmer.

Audrey wartet, bis sie die Tür hinter sich geschlossen hat, und flüstert mir dann zu: „Ich glaube, es könnte dieser Typ sein, den sie immer zum Kaffeetrinken trifft. Malte. Ich habe die beiden jetzt schon mehrfach miteinander gesehen.“

Ich schüttele den Kopf. „Wenn sie mit dem Vater ein Kaffeetrinken-Verhältnis hätte, hätten wir ihn ja wohl schon einmal zu Gesicht bekommen.“

Audrey lässt enttäuscht den Kopf sinken. „Das war meine einzige heiße Spur.“

Ich tätschele ihr Knie. „Audrey, mein Schatz, du vergisst manchmal, dass Kati bestimmt schon mit tausend Männern was hatte. Sie ist immerhin knapp zehn Jahre älter als wir.“

„Nicht nur ich vergesse das“, gibt Audrey mit einem Grinsen zurück. Erst gestern hat Kati die Einladungsmail zu ihrem „vierundzwanzigsten“ Geburtstag herumgeschickt. Wir müssen beide grinsen. Audrey steckt sich eine neue Zigarette an.

„Aber bitte lass den armen Björn in Frieden. Er wirkt nicht so, als hätte er schon einmal mit drei Frauen zusammengewohnt“, sage ich.

„Der kann sich auf was gefasst machen.“

Audrey drückt mir ihren Zigarettenhalter in die Hand und huscht den Flur entlang zu Katis Zimmer, um zu lauschen.

Ich strecke mich auf dem Sofa aus und ziehe einmal an ihrer Zigarette. Während der Rauch sich in meinem Körper ausdehnt wünsche ich mir, er würde mich einhüllen wie einen Tintenfisch, unsichtbar und geheimnisvoll.

Tintenfisch-Rauch, der perfekte Alltagsbegleiter. Ich muss husten, setze mich auf und zücke mein Notizbuch. Unsichtbarkeit für Jedermann. Das wäre eigentlich gar keine schlechte Idee für eine neue Erfindung.

KAPITEL 2

In der Morgendämmerung des nächsten Tages klingelt es an der Tür. Ich springe mit klopfendem Herzen aus dem Bett. Das muss die Vermieterin sein! Wer sollte sonst um diese Uhrzeit bei uns sturmklingeln?

Wir sind aufgeflogen, noch bevor unser neuer Mitbewohner eingezogen ist.

Na super!

Ich haste durch die Wohnung, reiße den Hörer von der Fernsprechanlage und keuche: „Wer ist da?“

Ein Räuspern, ein Hüsteln, an dem ich es eigentlich schon erkennen könnte, wäre ich nicht so nervös.

„Hier ist Björn?“, murmelt es aus dem Lautsprecher. Er formuliert es wie eine Frage, als sei er sich dessen selbst nicht so sicher.

„Björn!“, ächze ich. „Du bist … so früh dran!“

Er senkt seine Stimme noch weiter, sodass ich den Hörer gegen meine Ohrmuschel pressen muss, um überhaupt etwas zu verstehen. „Ich hab dir doch gesagt, dass ich in meinem Transporter übernachten musste. Hab kein Auge zubekommen.“ Irre ich mich, oder klingt er sogar etwas vorwurfsvoll?

Bei dem Gedanken, Björn auf unserer Couch – auf unserem wunderschönen petrolfarbenen Samtsofa! − übernachten zu lassen, schaudert es mich.

Das ist ja super, entgegnet eine Stimme in meinem Inneren um einiges wacher, als ich mich gerade fühle, wenn du so über jemanden denkst, der gerade bei euch einzieht.

„Was ist los?“ Kati kommt aus ihrem Zimmer gewankt, Audrey hat sich bereits unbemerkt neben mich geschlichen und tastet hektisch nach ihrer Zigarettendose.

„Das ist die Vermieterin, nicht wahr?“, fragt Audrey mit ihrer Grabesstimme, die sie für große Dramen reserviert hat.

Ich schüttele den Kopf und versuche, mein schummriges Gefühl zu überspielen. „Das ist Björn, er steht mit seinen Sachen unten.“

Audrey und Kati, plötzlich hellwach, rutschen auf ihren Socken zum Fenster.

„Überhaupt nicht auffällig“, merke ich an, wobei meine Stimme einen ungewollten Ausschlag nach oben macht.

„Verdammte Scheiße, was hat der denn alles dabei?“, murmelt Kati. „Stecken in dem Riesentransporter all die Frauenleichen, die er hinter sich hergezogen hat?“

„Vielleicht hat er aus ihren Knochen Möbel gebaut“, fügt Audrey mit einer Ernsthaftigkeit hinzu, die Kati eine Augenbraue hochziehen lässt. „Das war ein Witz, Audrey.“

„Ich weiß!“, sagt die schnell und hastet ins Badezimmer, um sich ihre Zigarette dort an der offenen Gastherme anzuzünden.

Kati sieht mich kopfschüttelnd an. „Bist du sicher, dass Audrey mit dieser Veränderung klarkommt?“

Ich zucke mit den Achseln. „Das kann ich nie so recht sagen.“

Kati gluckst. „Irgendwie seltsam. Hannes hat dich sitzengelassen, und wir reden darüber, ob Audrey klarkommt.“

„Wenigstens hältst du mich für normaler“, wende ich ein und grinse zurück.

„Ist das ein Kompliment?“, fragt Kati zurück.

In diesem Moment fährt uns das klirrende Geräusch der Klingel erneut durch die Knochen.

„Menschenskinder, was ist der denn so penetrant?“, murmelt Kati.

Ich grinse.

Auf einmal sieht sie mich ernst an. „Dir ist schon klar, dass er jetzt nicht einziehen kann. Der schreckt noch das ganze Haus auf. Unbemerkt, lautet hier die Devise. Heimlich. Wenn einer um sechs Uhr morgens seine Pornosammlung die alten Stufen hochhievt, können wir höchstens behaupten, wir hätten das ganze Zeug bestellt.“

Ich zucke die Achseln. „Er stand schon gestern Abend mit seinem ganzen Zeug da, wenn ich ihn jetzt noch mal wegschicke, haut der uns ganz bestimmt ab.“

„Sieht der mit seinem ganzen Krempel da unten so aus, als hätte er eine Alternative?“

In unserer Wohnung ist es morgens so kalt, dass sogar Audrey unter ihrem sommerlichen Spitzennachthemd Wollsocken trägt – aber mir bricht der Angstschweiß aus. In solchen Momenten merke ich immer wieder, wie sehr ich mich für eine Abenteurerin halte, aber von Natur aus ein Kontrollfreak bin. Wobei: Wenn ich nicht als Abenteurerin mein Studium geschmissen habe, dann als Idiotin. Also halte ich mich doch lieber für eine Abenteurerin.

Ich knirsche mit den Zähnen. „Schon gut, ich halte ihn noch ein bisschen auf.“

Kati zieht eine gepiercte Augenbraue hoch.

„Ich werde ihm einen Kaffee kochen, den er so schnell nicht vergessen wird! Wenn ich eine Sache von Hannes gelernt habe, dann ist es, wie man unbemerkt Alkohol in ein Heißgetränk schmuggelt.“

Kati seufzt. „Das klingt so, so falsch.“

Ich verdrehe die Augen und rausche in unsere Küche, wo die Alkoholvorräte in einem Hängeschrank fein säuberlich aufgereiht sind.

„Ha, hier ist das gute Stück. Ich wusste doch, dass Hannes ihn hier vergisst. Jetzt ist der Trottel doch noch zu was nütze. “

„Du bist die Einzige, die den Alkohol in Getränken wirklich nicht schmeckt, Lou. Björn wird niemals darauf reinfallen.“

Wieder klingelt es, jetzt drei Mal hintereinander. Ich schalte den Wasserkocher an und hebe noch einmal den Hörer ab. „Ich komme gleich runter. Kleinen Moment noch, Björn.“ Und dann füge ich mit verzogenem Gesicht noch hinzu: „Wie schön, dass du da bist!“

Das Wasser kocht. Lösliches Kaffeepulver, einen guten Schuss Alkohol, noch mehr Pulver, noch ein, zwei, drei Schuss – und dann warten, umrühren, warten. Unsere Kaffeemaschine in Gang zu setzen, will ich heute nicht einmal versuchen.

„Wenn der heute nüchtern hier einzieht, wird der sofort merken, dass etwas faul ist“, erkläre ich Kati. „Deswegen ist das eine sehr gute Idee.“

„Das ist keine gute Idee“, entgegnet Kati. Meistens hat sie recht, wenn sie das sagt, aber diesmal …

„Okay, ich packe noch ein bisschen Kaffeepulver oben drauf, dann schmeckt er das nicht durch.“

„Man merkt einfach immer wieder, dass du Alkohol nicht verträgst und keine Erfahrungen damit hast, wie lang es dauert, bis jemand betrunken wird. Der Plan wird nicht funktionieren, Louisa, halte ihn lieber mit einem Gespräch auf … oder zeig deine Brüste, wenn es sein muss.“

Ich rümpfe die Nase. „Das ist wirklich der allerletzte Ausweg, okay?“

„Ah, ich habe noch eine Idee!“, ruft Kati aus. „Roy hat mir ein paar von seinen kleinen Pillen mitgegeben. Davon merkst du nichts und bist erst mal einen ganzen Tag durch.“

„Der hat dir K.O.-Tropfen gegeben?“, frage ich und halte inne. Kati schüttelt den Kopf. „Quatsch. Die nehme ich nur auf der Arbeit, wenn es ganz stressig ist. Und dann auch nur eine halbe.“

Ich schüttelte den Kopf. „Kommt nicht in Frage!“ Ich fülle mir eine zweite Tasse, gieße

Lösliches Kaffeepulver, Wasser drauf, fertig.

Auf dem Weg zur Tür hält Kati mich an: „Moment.“ Sie geht in ihr Zimmer und bringt einen Poncho mit, den sie mir über den Kopf zieht, sodass ich die Tassen abstellen muss. Ich kämpfe eine Ewigkeit mit dem Strick-Ungetüm, und als ich wieder das Tageslicht erblicke, hält Kati mir mit einem riesigen Lächeln die beiden Tassen hin.

„Was ist los?“, frage ich misstrauisch.

Wieder klingelt es an der Tür.

„Was stehst du hier noch rum?“, fragt Kati und schiebt mich aus der Wohnung. Ich laufe so schnell die Treppen runter, dass der heiße Kaffee mir fast über die Hände schwappt.

Zum Glück begegne ich keinem Hausbewohner; das penetrante Klingeln hat offenbar niemanden geweckt.

Unten vor der Tür steht, an seinen Transporter gelehnt, die Arme vor der Brust verschränkt, die Augen rot unterlaufen: Björn. Im dämmernden Morgenlicht sieht er noch hässlicher aus als gestern Abend, und ich schäme mich ein bisschen dafür, ihn deswegen gleich noch etwas unsympathischer zu finden. Er zieht die Nase hoch.

„Da bist du ja endlich“, näselt er.

Okay, ich revidiere, mehr oder weniger erleichtert: Sein Aussehen ist nicht der Grund, warum ich ihn nicht mag.

„Freut mich so, dass es geklappt hat“, sage ich, strahle ihn an, und halte die Kaffeetassen wie eine Schutzmauer zwischen uns.

„Die Mädels und ich helfen dir gleich beim Tragen.“

„Alles klar, das ist nett“, sagt er. „Ich fange direkt an.“

Ich mache einen Schritt auf ihn zu. „Halt, wie wäre es, wenn wir beide erst einmal einen Kaffee trinken?“

„Wollen wir das nicht lieber nach getaner Arbeit tun?“

Ich lächle. „Dann ist der Kaffee sicher kalt, wenn ich mir die Größe deines Transporters angucke.“

„Ach, da ist nicht viel drin. Eigentlich nur ein Bett, ein Schrank und meine historische Tellersammlung.“

Ich gebe mir Mühe, weiterzulächeln. „Okay, das klingt, als würden wir es locker schaffen. Trotzdem müssen wir noch etwas warten mit dem Ausladen.“

Er sieht mich fragend an. Warum ist ihm dieser wunderbar verführerische Kaffee denn nicht genug?

„Weil …“, ich stocke, dann bricht es einfach aus mir heraus: „Meine Mitbewohnerin Audrey übt oben eine Nackt-Performance.“

Seine Augen werden groß. Ich sehe, wie er rot anläuft. „Ich wusste nicht, dass ...“

Ich presse die Zähne zusammen. „Ja, das muss sie für ihre Schauspielausbildung machen. Aber sie ist noch nicht in einem Stadium, dass sie gesehen werden will.“

„Um sechs Uhr morgens?“, fragt er langsam.

„Ja, wir haben ja keine Gardinen im Wohnzimmer, und sie braucht viel Platz … bevor die Nachbarn wach sind.“

„Schon klar“, sagt er langsam. Sein Blick ist wie weggetreten. „Dann warten wir eben.“

Ich grinse noch einmal gezwungen, langsam werde ich richtig gut darin. „Kaffee?“

Er wartet nicht, bis ich ihm eine Tasse hinhalte, sondern nimmt sie sich einfach und lässt sich auf den Stufen vor dem Haus nieder.

Ich setze mich widerwillig zu ihm. Die Stufen sind nicht so breit, wie ich es mir wünschen würde.

Er nippt an seinem Kaffee. Ich kann nicht schnell genug darauf warten, dass der Alkohol bei ihm einsetzt. „Mainz ist bei Sonnenaufgang doch wunderschön, oder?“

Er ist einer von der sentimentalen Sorte, ich weiß es genau. Der Alkohol wird seine tiefsten Seelenabgründe an die Oberfläche bringen, und ich werde nach diesem Gespräch viel zu viel über ihn wissen.

Ich nehme einen großen Schluck aus meinem Kaffee, versenke mein ganzes Gesicht in der Tasse.

„Mhm.“

Wir trinken stumm weiter; er sagt nichts mehr – und zeigt keinerlei Anzeichen von Betrunkenheit.

Ich jedoch spüre, wie mir warm wird, mein Magen wohlig brennt.

Oh, Scheiße.

Björn hat sich die falsche Tasse genommen.

Jetzt ist es schon zu spät.

Hannes’ hochdosiertes Gemisch steigt mir zu Kopfe.

„Ja, besonders der Rhein ist traumhaft“, seufze ich und spüre auf einmal, wie mir Tränen in die Augen steigen.

KAPITEL 3

„Louisa? Louisa?“

Durch den Tränenschleier blinzele ich nach oben, direkt in Katis Gesicht. Sie zieht mich hoch, weg von einer warmen weichen Schulter, an der ich mein ganzes Herz ausgeschüttet habe.

Ich sinke direkt weiter in Katis Arme.

„Na, das hat ja super geklappt“, flüstert sie mir ins Ohr und tätschelt meine Wange, bis ich wieder ganz zu mir komme. Ich versuche, gerade zu stehen.

Wir befinden uns immer noch vor unserem Haus, aber mir ist ganz schummrig.

„Ich wusste ja, dass ich wenig Alkohol vertrage, aber so wenig, dass ich direkt ein Blackout habe? Mir ist ganz schlecht.“

Kati streicht mir über die Haare, aber sie weicht meinem Blick aus und wendet das Gesicht ab. Nur unscharf und aus den Augenwinkeln kann ich sehen, wie sie sich auf die Lippe beißt. Inzwischen ist es helllichter Tag, Björn sitzt immer noch auf den Treppenstufen. Auf seinem T-Shirt, genau da, wo mein Kopf gelegen haben muss, ist ein nasser Fleck.

Ich spüre, wie ich rot anlaufe, aber er sieht mich gar nicht richtig an. Er hat Audrey erspäht, die gerade den Flur entlang zur Haustür kommt, einen fliederfarbenen Morgenmantel über dem Nachthemd und Samtpantoffeln an den Füßen. Er verrenkt sich den Kopf nach ihr. In diesem Moment bin ich froh darüber, wenigstens sieht er mich nicht an.

„Naja, zumindest hast du ihn erfolgreich aufgehalten.“

Ich lege mir eine Hand auf die Stirn, um meinen schweren Kopf zu kühlen und ziehe Kati ein paar Schritte beiseite. „Was hab ich ihm erzählt?“, murmele ich.

Sie zuckt mit den Achseln. „Hoffentlich nichts über die Wohnung.“

„Oh meine Güte, wie soll ich das jetzt noch rausfinden?“

Kati nickt in Richtung Hauseingang. „Vielleicht kann Audrey für dich fragen.“

„Scheiße, Scheiße, Scheiße“, murmele ich. „Ich vertrag wirklich null Alkohol, am wenigsten morgens.“

„Immerhin wissen wir jetzt, dass Hannes wirklich ein begnadeter Schnapshersteller ist. Das Zeug ist ja wirklich so hochdosiert, wie er immer behauptet hat.“

Sie schaut mir immer noch nicht in die Augen.

Mein Gehirn funktioniert noch nicht richtig. „Du hast ja keine Ahnung, was ich Björn über Audrey erzählt habe.“

„Wenn es eine Lüge ist, die sie ein bisschen mehr zur Legende macht, hat sie sicher nichts dagegen.“

„Sie übt morgens, bevor die Nachbarn sie sehen, Nacktinszenierungen im Wohnzimmer, klar?“

Kati kann nicht anders, sie prustet: „Nicht übel.“

Audrey sieht zu uns herüber. Wir winken ihr zu.

„Ja, dann mal an die Arbeit“, ruft Kati, immer noch grinsend, und dann zu mir, leiser: „Es ist jetzt kurz vor halb acht, so früh ist eigentlich keiner der Nachbarn unterwegs, aber wenn wir jemanden aufwecken, kommt auch keiner mehr raus, um sich zu beschweren.“

„Und dann wieder ins Bett!“, seufze ich.

„Ach, übrigens, Lou, deine Chefin hat angerufen, du sollst heute doch zur Arbeit kommen“, fällt Audrey in diesem Moment ein. „Hab vergessen, dir das auszurichten. Ich verstehe immer noch nicht, wie dieses Wärmetelefon eigentlich funktioniert, und hab erst gerade kapiert, was die Nachricht eigentlich sollte.“

Ich stöhne auf – aber wirklich böse sein kann ich Audrey gerade nicht. „Das ist ein Thermograf, Audrey“, berichtige ich sie dennoch. „Durch Wärmeimpulse in der Badewannenwand kann man so Nachrichten empfangen, ohne ans Telefon zu gehen.“ Ich habe mit meinem Vater den Sommer letzten Jahres daran gearbeitet. Ich habe Konzepte erstellt und ihm gesagt, wie ich mir den Apparat vorstelle, und er hat daran gebastelt. So richtig geklappt zu haben scheint das aber nicht.

„Dass wir ein altes Schnurtelefon haben, ist eigentlich schon seltsam genug“, wirft Kati ein. „Ich hab mir in der Badewanne zwar fast mein Gesäß verbrannt, aber immerhin: Nachricht empfangen und ausgerichtet.“

„Danke“, presse ich durch meine Zähne hervor.

Björn öffnet die Türen seines Lieferwagens. „Ich nehme den Kaktus!“, rufe ich sofort. Mehr traue ich mir gerade definitiv nicht zu. Es ist das leichteste Stück von Björns Einrichtung – und kommt trotzdem als letztes in der Wohnung an.

Kati und ich müssen zur Arbeit, Audrey in die Schauspielschule. Deswegen sind wir sehr beruhigt, dass Björn mit seinem ganzen Hab und Gut in seinem Zimmer verschwindet, nicht zu laut rumort und kurz darauf ein Schild an die Tür hängt: „Bitte nicht stören.“

„Was er darin wohl macht?“, fragt Audrey und setzt sich ihren schwarzen Hut mit der breiten Krempe auf. Kati tritt neben uns, gemeinsam starren wir auf die geschlossene Tür. „Willst du’s wirklich wissen?“, fragt Kati.

Audrey sieht sie mit großen Augen an.

„Also ich hab in einer Kiste ein Poster mit diesem Ed Gein drauf gesehen“, raunt Kati verschwörerisch.

„Ist das nicht dieser schreckliche Massenmörder?“, fragt Audrey entsetzt.

Kati nickt langsam. „Vielleicht huldigt Björn bösen Geistern.“

Audrey starrt Kati weiterhin an, ohne etwas zu verstehen.

„Ach Quatsch!“, fahre ich dazwischen und zerstöre das kleine Spiel, das Kati gerne mit Audrey spielt. „Das glaub ich erst, wenn ich es sehe.“

Kati seufzt und steigt in ihre Pumps. „Sitzt alles?“, fragt sie mich und dreht sich einmal im Kreis.

„Tattoos erfolgreich versteckt.“

„Warum machst du das eigentlich?“, fragt Audrey langsam. Nur widerstrebend löst sie ihren Blick von der Zimmertür, die früher die meines Freundes war und jetzt einem seltsamen Typen mit Serienkillerpostern gehört. „Willst du nicht, dass deine Arbeitskollegen dich so kennen, wie du bist?“

Kati sieht Audrey irritiert an. „Äh, nein?“

Audrey setzt ihre große schwarze Sonnenbrille auf.

Ich will diese Unterhaltung beenden. Es gibt Dinge, über die in dieser WG einfach nicht gesprochen werden sollte, um den Seelenfrieden aller zu bewahren. Ein solches Thema ist zum Beispiel, dass Audrey eigentlich Beate Bauer heißt. Das haben wir erst beim Unterzeichnen des Mietvertrags erfahren, was fast dazu geführt hätte, dass es diese Wohngemeinschaft nie gegeben hätte.

Die Ereignisse der letzten Wochen hatten so große Veränderungen herbeigeführt, dass die Grundfesten unserer Dreisamkeit zu wackeln begannen. Erst Hannes’ Auszug, das neue Geheimnis vor der Vermieterin, und jetzt Björn.

„Ich muss los!“, rufe ich durch die Wohnung, sodass es auch Björn hört.

Over and out.

Ich bin raus für heute.

Ich schnappe mir das Outfit des heutigen Tages – ein hellrotes Wickelkleid mit weißen Punkten, Halstuch, Baskenmütze, Korbtasche, geflochtene Schuhe – und werfe die Wohnungstür hinter mir zu. Hätte ich um all den Trubel gewusst, hätte ich mir für heute ein Kostüm ausgesucht, das weniger exzentrisch ist. Beim Weg durch die Neustadt werden mich einige Leute darauf ansprechen − genau das ist ja der Deal mit meiner Chefin. Ich stelle mir jeden Tag ein Outfit aus dem Sortiment des Vintage-Ladens zusammen – sie bekommt dafür eine wandelnde Werbefläche. Deswegen schlendere ich die erste Stunde meiner Arbeitszeit auch meistens durch Mainz, am Rhein entlang, durch die Altstadt, dann in einem Bogen in die Neustadt. Hin und wieder genehmige ich mir einen Kaffee auf Betriebskosten – aber heute nicht, heute ist mir einfach nur schlecht von dem Alkoholkaffee. Mein Kopf schwirrt, ich ziehe eine Sonnenbrille auf, die überhaupt nicht zum Outfit passt, aber noch in meiner Handtasche steckt. Immerhin verdiene ich heute ein bisschen Geld. Dann muss ich ja nur noch zwei Monate arbeiten, um es mir leisten zu können, einen neuen Karmagotchi-Prototypen zu bauen. Ich habe Hannes deswegen schon ein Dutzend Nachrichten hinterlassen, aber natürlich reagiert er nicht darauf. Er bestreitet immer noch, das Karmagotchi und meine Ideen geklaut zu haben. Aber wohin sollen sie denn so plötzlich verschwunden sein mit seinem Auszug?

Er lebt sein Life in vollen Zügen: Festivals, Partys, glücklich und unbeschwert. Ich weiß nicht einmal genau, wo er jetzt wohnt, sonst könnte ich mir das Karmagotchi auch einfach zurückholen.

Mit gesenktem Kopf haste ich am Rhein entlang, biege in die nächste Straße ein, auf die Christuskirche zu. Ich habe heute keinen Nerv für Umwege, obwohl es ein schöner Tag ist und ich ein paar Sonnenstrahlen gut gebrauchen könnte.

Deswegen übersehe ich auch den Fahrradfahrer, der vor mir um die Ecke fährt. Ich erschrecke über das laute Reifenquietschen, bleibe stehen und reiße den Kopf hoch.

Der Stahlrahmen kommt direkt vor mir zum Stehen.

„Was soll das denn?“ Er ist es schon wieder, mein Nachbar Niklas. Diesmal sitzt er in Hemd und Schottenrock auf dem Fahrrad und kann damit kaum lenken. Ich frage mich, in welcher Welt er ein solches Kostüm brauchen kann, wenn Fastnacht noch Monate entfernt ist.

Kann man denn nicht einfach mal in Ruhe fliehen, wenn einem danach ist?

„Spinnst du?“

„Ich ...“ Ich setze dazu an, mich zu entschuldigen, aber mir fällt nichts ein, und ich lasse es einfach sein. Ich schiebe die Sonnenbrille zurück auf die Nase, umrunde das Fahrrad und setze meinen Weg fort.

„He!“, ruft Niklas mir hinterher.

Einfach mal Audrey sein, fünf Minuten lang alles ausblenden, was einen stört. Ich laufe die Straßen entlang und schaue nach oben statt nach unten. Tauben gurren mir von den Hausdächern entgegen. Dort oben ist noch Hochsommer, während das Laub im Schatten der Bäume bereits zu modern beginnt.

Als ich beim Vintage Planet ankomme, hat meine Chefin bereits ein paar besondere Stücke draußen aufgehängt und schießt Fotos von ersten Kundinnen für ihren Instagram-Account. Es sind Semesterferien, das heißt, der Betrieb läuft den ganzen Tag.

Als meine Chefin mich sieht, lässt sie ihre Kamera sinken und ruft: „Ah, Lou, da bist du ja! Toll siehst du mal wieder aus!“ Und an die Kundinnen gewandt: „Kleid, Vierundvierzig Neunundneunzig, und wenn ihr die Schuhe auch noch nehmt, bekommt ihr das Halstuch gratis dazu!“

Die beiden jungen Frauen mit geblümten Blusen, Haarknoten auf dem Kopf und zerrissenen Shorts mustern mich von oben bis unten. Auf einen durchdringenden Blick meiner Chefin Marina nehme ich pflichtschuldig die Sonnenbrille ab.

Die Kundinnen nuscheln verlegen, dass sie es sich überlegen und später wiederkommen würden. Marina sieht mich vorwurfsvoll an. Sie denkt bestimmt, dass für diese Unentschlossenheit meine schlechte Präsentation der Ware verantwortlich ist. Sie führt mich ins Hinterzimmer, wo ihr MacBook aufgeklappt steht und ihre Kamera angeschlossen ist. „Die Konkurrenz schläft nie, das weißt du doch“, sagt sie und deutet auf die Fotos, die sie in anderen Vintage-Läden in Mainz heimlich geschossen hat.

Dass sie sich noch dorthin traut, bewundere ich in gewisser Weise. Nachdem sie einmal mit ihrer Kamera erwischt wurde und der Besitzer ihr mit einer Anzeige drohte, war ich mir sicher, dass sie damit aufhören würde. Aber falsch gedacht. In einem Laden wie Vintage Planet gibt es aber ja auch genug

Verkleidungen, die man wählen kann, um bei jedem Besuch für eine andere Person gehalten zu werden.

„Siehst du die Rüschen da? Und hier? Sie sind überall. Würdest du am besten gleich bitte alle Kisten durchgehen, ob wir davon noch was im Lager haben?“

„Natürlich“, sage ich mechanisch. Eigentlich macht mir die Arbeit im Lager besonders Spaß. Dort habe ich meine Ruhe und kann mich durch verschiedene Muster und Texturen wühlen, Outfits für die Schaufensterpuppen zusammenstellen und mir zu den einzelnen Stücken eine Geschichte ausdenken. Das Hinterzimmer ist meine Ruhe-Oase. Es erinnert mich ein bisschen daran, wie ich als Kind mit meinem Vater aus den Bruchstücken unserer alten Waschmaschine ein Raumschiff bastelte. Auch dabei ging es darum, die richtigen Formen zu fühlen; die Trommel war unsere Astronautenkapsel, das Abflussrohr die Antenne. Als wir die Rakete fertig gebaut hatten, war ich viel zu groß, um in die Trommel zu passen. Aber ein Teil von mir glaubt noch immer daran, dass es geflogen wäre. Ich und mein kleiner Computer aus Legosteinen auf dem Weg zu den Sternen. Jahre später ist das Karmagotchi zu meinem Raumschiff geworden: ich bin mir sicher, dass ich damit hoch hinausfliegen könnte. Heute würde ich mir gern ein Outfit zusammensuchen, das einer Astronautin würdig ist.

„Am besten du suchst dir für morgen ein Outfit mit Rüschen aus. Entweder um die Brust oder schräg über einen Rock. Oder am besten beides!“

„Alles klar“, sage ich. Dann wohl doch keine Astronautin.

„Alles okay bei dir?“ Marina tätschelt mir die Schulter, sie ist so klein, dass sie sich dafür strecken muss. „Denk einfach daran, dass wir hier was Gutes tun. Wir kämpfen mit Stil gegen die Gräueltaten der Fast Fashion-Industrie. Da kannst du schon mal ein bisschen stolz sein.“

Bei diesen Worten muss ich grinsen, wenn auch nicht aus den Gründen, die Marina sich wünscht.

„Du hast recht“, sage ich, aber da ist sie schon wieder davongewuselt, um die nächsten Kunden zu becircen.

Ich habe das Lager für mich alleine.

Es riecht nach Waschmittel und Patschuli, überall hängen Kleidungsstücke, sorgsam auf Bügel und Wäscheständer verteilt. Außerdem sind da Berge von frisch angekommener Kleidung. Dieser ganze Haufen muss sortiert werden in brauchbar und unbrauchbar, die zu verkaufenden Teile müssen sorgsam gewaschen, offene Nähte geflickt werden. Mir ist noch immer etwas übel und schwindelig, aber die Arbeit des Aussuchens, Sortierens und Stapelns der Kleidung beruhigt mich.

Nach ein paar Stunden Arbeit erreiche ich einen Zustand der Ruhe und Gelassenheit, der es mir ermöglicht, über meine Ideen nachzudenken. Ich muss einen Weg finden, an mein Karmagotchi zu kommen, bevor Hannes damit zum Millionär wird. Diese Stunden im Hinterzimmer von Vintage Planet werden allein deswegen bedeutsam sein, weil ich irgendwann erzählen kann, wie ich hier Kleider von Hand wusch und an meinem Erfolg arbeitete. Kein Start-up ohne Gründungslegende.

Eigentlich sollte ich so etwas wie einen erfolgreichen Arbeitstag direkt meinem Karmagotchi füttern. Es ist der perfekte Kreis, Idee und Erfolg geben sich die Hände: Je mehr mir gelingt, desto mehr kann ich dem Karmagotchi füttern – was es einerseits am Leben hält, andererseits aber auch als Testphase dient. Es funktioniert ähnlich wie ein Tamagotchi, ein elektronisches Haustier, das man in der Tasche mit sich herumträgt und am Leben halten muss. Der Unterschied ist, dass man das Karmagotchi füttert, indem man selbst gesteckte Ziele erreicht.

Auf dem Nachhauseweg treffe ich – das Halstuch umgewickelt, die Baskenmütze auf dem Kopf, das neue Kostüm in meinem Rucksack – wieder auf einen Nachbarn. Ich bin noch kurz einkaufen gewesen, um ein paar gesunde Lebensmittel zu kaufen (Gemüse-Pizza anstatt Quattro Formaggi), und habe keine Hand frei, um meinen Schlüssel hervorzukramen.

Just in diesem Moment öffnet sich die Haustür und Niklas’ Ex-Freundin (die, die immer noch mit ihm zusammenwohnt, bis sie eine Wohnung gefunden hat, vielen Dank, Audrey) schiebt ihr Fahrrad die drei Treppenstufen nach unten. Als sie mich vor sich sieht, alle Hände vollgepackt, hält sie jedoch nicht in gutnachbarschaftlicher Manier die Tür auf, sondern knallt sie besonders schnell hinter sich zu.

Sie würdigt mich keines Blickes, schiebt ihr Fahrrad an mir vorbei und davon.

„Einen schönen Abend noch“, murmele ich, aber erst, als sie außer Hörweite ist.

Was ist denn los mit den Bewohnern dieses Hauses? Erst Niklas, dann Franziska – als sei ich das Böse persönlich.

Das hätte mal was. Etwas „persönlich“ zu sein. Das Einzige, was ich bin, ist ein wandelnder Kleiderständer, dem die Ideen geklaut werden – also per Definition auswechselbar.

Tief durchatmen, Lou.

Ich stelle meine Pizzakartons (und die eine oder andere Chipstüte, um ehrlich zu sein) auf den Stufen ab und suche nach meinem Schlüssel. Als käme ich nicht selbst klar: Hannes, Niklas, Franziska, die können mich alle mal, ich hab meinen eigenen Schlüssel.

Ich stampfe die Treppen nach oben, aber bevor ich die WG betrete, halte ich noch einmal inne. Das sind die einzigen Menschen, auf die ich angewiesen bin. Audrey, Kati und vor allem – Björn. In diesem Moment, da ich sinnierend vor der Tür stehe, klingelt mein Handy. Ich habe immer noch den Song eingestellt, den Hannes mir letztes Jahr gedichtet hat. Im Hintergrund der Gitarrenmusik hört man sogar noch das Knacken des Feuers auf unserem Campingplatz in Kroatien.

Ma & Pa leuchten auf dem Display auf. Meine Eltern machen alles gemeinsam. Sie essen von einem Teller, tauschen ihre Klamotten aus und benutzen ein gemeinsames Handy. Eine fast schon ekelhafte Zweisamkeit, Seelenverwandte.

Viel zu lange starre ich ihr Kontaktfoto an, auf dem sie tatsächlich den gleichen Pullover tragen, wie mir erst in diesem Moment auffällt. Ich will diesen Anruf definitiv nicht annehmen. Aber sie denken nicht daran, aufzulegen. Ganz so, als wüssten sie, dass ich da bin.

Einundzwanzig … Zweiundzwanzig …

Endlich legen sie auf.

Ich atme durch, stecke das Handy zurück in die Tasche und schließe die Wohnungstür auf.

„Pizza für alle!“, rufe ich durch die Wohnung, und es dauert nicht lange, bis sie aus ihren Zimmern kommen: erst Audrey, dann Kati („Ich kann nicht lang, ich muss noch Finn abholen“) und schließlich sogar Björn, an den diese Einladung eigentlich gerichtet war.

Ich muss herausfinden, was ich ihm heute Morgen alles verraten habe. Wir sitzen am großen Esstisch im Wohnbereich, jeder einen Pizzakarton vor sich.

Keiner sagt was, also ergreife ich das Wort: „Das war vielleicht ein Tag“, sage ich.

Die drei anderen essen stumm weiter.

„Was hast du so gemacht an deinem ersten Tag im Paradies?“, frage ich Björn, aber der scheint nicht zu merken, dass ich mit ihm rede.

Er schlürft weiter den Pizzakäse in sich hinein, was erst durch ein unschlürfbares Stück Brokkoli unterbrochen wird.

Er schaut etwas pikiert und entfernt den Brokkoli mit spitzen Fingern, legt ihn an den äußersten Rand seines Kartons.

„Björn?“

Er fährt zusammen. „Mhm?“

Ich lächle. „Ich sagte: Was für ein Tag, oder?“

Er nickt langsam, unsicher, wie er reagieren soll.

„Tut mir noch mal leid, dass ich heute Morgen so aufgelöst war.“

Er zuckt mit den Achseln. „Schon okay“, murmelt er, faltet das nächste Stück Pizza zusammen und steckt es sich mit einem Mal in den Mund.

Ich muss ihn kauen lassen, bevor ich sage: „Ich hoffe, ich war nicht zu peinlich.“

Er zuckt mit den Achseln.

Smooth.

Ich spüre, wie Kati neben mir durch das Gemüse grinst, Audrey ist ganz auf ihr Essen konzentriert und zersäbelt sorgfältig Pizzastück für Pizzastück.

„Ich meine, was hab ich dir denn alles so erzählt?“ Ich versuche, meine Stimme beiläufig klingen zu lassen, aber ich bin mir sicher, dass es nicht funktioniert. Zumindest nicht für meine zwei Mitbewohnerinnen. Jetzt hebt auch Audrey interessiert den Kopf.

Björns Ohren laufen ein bisschen rot an.

Kein gutes Zeichen.

„Ich meine, du hast viel Privates gequatscht“, murmelt er.

Für einen Studenten der Kommunikationswissenschaften fällt es ihm erstaunlich schwer, Sätze zu formulieren.

„Echt? Was denn so?“, hakt jetzt Kati ein.

„Na, also ...“ Björn weicht meinem Blick aus. „Du hast mir erzählt, dass du deinen Eltern nicht gesagt hast, dass du das Studium abgebrochen hast.“

Ein scharfer Seitenblick von Kati.

„Und dass dein Freund dich verlassen hat.“

Ich sage nichts, sondern presse die Lippen aufeinander.

„Außerdem hast du mich gefragt, warum irgendein Nachbar hier im Haus immer so fies zu dir ist, und dass du schon viel zu lang keinen Sex mehr hattest.“

„Okay, das reicht!“, fahre ich dazwischen. „Danke sehr, das reicht definitiv.“

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