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Das kleine Weingut in der Toskana

Als Buch hier erhältlich:

Neuanfang auf Italienisch

Als Workaholic Sarah den kleinen Weinberg ihres entfremdeten Vaters in der Nähe von Montalcino in der Toskana erbt, ist sie entsetzt. Sie liebt ihr Leben in London - und hat eigentlich keine Zeit, eine toskanische Villa und ein Weingut auf Vordermann zu bringen, um beides gewinnbringend zu veräußern. In Italien angekommen, genießt sie dann doch das Dolce Vita, die malerische Landschaft und den köstlichen Wein. Bis sie erfährt, dass die Hälfte ihres Erbes ihrer Jugendliebe, dem eigenbrötlerischen Winzer Tommaso, gehört. Und der will auf keinen Fall verkaufen. Außerdem lässt er keine Gelegenheit aus, Sarah klarzumachen, dass er sie für eine hochnäsige Großstädterin hält. Trotzdem fühlt sie sich unwiderstehlich zu ihm hingezogen …

Vino, Villa - und Amore?


  • Erscheinungstag: 24.03.2020
  • Seitenanzahl: 384
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959674225

Leseprobe

Dieses Buch ist meiner Mutter gewidmet, die einen großen Beitrag zu diesem Roman geleistet hat, die meine Familie mit Essen versorgt und das Haus geputzt hat, und die mir bei der Recherche half, indem sie mir viele Flaschen Wein und Weinkisten mitgebracht hat.

Und meinen Töchtern, die mir Zeit und Raum zu schreiben gegeben und verstanden haben, wenn ich mürrisch war, weil ich nicht genug Schlaf bekommen hatte. Und weil sie mir gesagt haben: »Du sollst teinem Hertzen volgen.«

Schließlich widme ich dieses Buch all den Leuten, die ihr Leben der Herstellung von Wein verschreiben: Ihr macht das Leben oft erst lebenswert!

1. KAPITEL

Chi lascia la via vecchia per la nuova, sa quel che lascia ma non sa quel che trova.

Jene, die das Alte zurücklassen, wissen, was hinter ihnen liegt, nicht aber, was sie finden werden.

Ich schloss die Augen und atmete tief ein. Warme Luft füllte meine Lunge wie Balsam. Sie schmeckte nach Hochsommer, obwohl in England der Frühling gerade erst begonnen hatte. Nach der frischen Kühle von London wirkte diese aromatische Luft sonderbar einschläfernd.

»Soll ich nicht lieber die Klimaanlage einschalten?« Der beleidigte Tonfall des Taxifahrers machte mir deutlich, dass er die sterile Luft einer Klimaanlage der frischen Landluft vorzog.

Zögernd schlug ich die Augen wieder auf. Das Autofenster ließ ich jedoch offen. Da ich einen fürstlichen Preis für diese Fahrt quer durch die Toskana bezahlte, konnte ich ja wohl das Fenster auflassen, wenn mir danach war. Ich atmete erneut tief ein, diesmal aber nicht, um die sprichwörtlichen Rosen zu riechen, sondern um mich zu beruhigen.

Einatmen. Bis drei zählen. Ausatmen. Und entspannen.

Es war unglaublich, dass ich jetzt erst lernte, die Stresssignale meines Körpers zu erkennen und damit umzugehen. Ich hatte mich all die Jahre, viel zu viele Jahre, ständig zu Höchstleistungen angetrieben. Mir zu lange die Zeit versagt, auf meinen eigenen Körper zu hören. All diese Jahre hatte ich mich nur auf ein einziges Ziel fokussiert – und wohin hatte mich das gebracht? Ins Exil.

Wenn ich es doch ein bisschen ruhiger hätte angehen lassen! Wenn ich nur einmal im Jahr wie all die anderen Urlaub gemacht hätte, statt mir für meine Hingabe auch noch auf die Schulter zu klopfen! Hätte ich meine Priorität auf ein paar Stunden mehr Schlaf jede Nacht gelegt, wäre ich vielleicht jetzt nicht gezwungen gewesen, hier mitten im Nichts herumzuhängen.

Aber all diese »Hätte-wäre-wenns« langweilten mich schon jetzt. Ich nahm mein Handy aus meiner Handtasche und warf einen Blick auf das Display. Keine entgangenen Anrufe. Nicht mal eine SMS. Es musste doch mittlerweile bestimmt irgendjemand aus dem Büro versucht haben, mich zu erreichen? Heute Morgen hatte dieses wichtige Treffen mit dem Finanzvorstand der Delta Corporation stattgefunden. Würde Cleo mich nicht wenigstens darüber informieren, wie es gelaufen war?

Einatmen. Bis drei zählen. Ausatmen und entspannen.

Auf der Habenseite durfte ich verbuchen, nicht einfach gefeuert worden zu sein. Ich hatte einen derartig dummen Fehler gemacht! Einen dummen und vor allem kostspieligen Fehler, die Art Fehler, den man nur mit jeder Menge unterwürfiger Speichelleckerei ausbügeln konnte. Ich war zu Kreuze gekrochen, so gut ich es nur konnte, aber der Rest meines Teams war immer noch dabei, die Scherben zusammenzukehren.

Ich massierte meine Nasenwurzel. Ich konnte wirklich von Glück reden, immer noch einen Job, ein Haus und ein Leben zu haben, die in England auf mich warteten. Aber ein von oben angeordneter »Erholungsurlaub« fühlte sich nicht wie Glück an. Sondern wie eine Bestrafung.

Wenn sämtliche rechtlichen Formalitäten bezüglich Johns Anwesen erledigt waren und ich sein Eigentum auf den Immobilienmarkt geworfen hatte, was sollte ich dann die weiteren vier Monate mit mir selbst anfangen?

»Das ist keine Strafe«, hatte Kevin mir versichert. »Betrachte es einfach als all deine nie eingereichten Urlaube auf einmal.«

Dann hatte er mir wieder diesen Blick zugeworfen, diesen ganz besonderen Blick, der besagte: »Wenn du früher einmal Urlaub genommen hättest, wären wir vielleicht immer noch zusammen.« Als ob ich ihn vermisste und wiederhaben wollte. Gott bewahre!

Ich merkte erst, dass ich verächtlich geschnaubt hatte, als ich im Rückspiegel die erhobenen Augenbrauen des Taxifahrers sah.

Ich blickte wieder aus dem Seitenfenster. Wir fuhren gerade in einem weiten Bogen um Montalcino herum. In der Nachmittagssonne glänzte die mittelalterliche Bergstadt wie ein goldenes Juwel. Dann bog die breite Landstraße nach Süden ab und führte uns von der Stadt weg zwischen sanft geschwungene Hügel, die vom üppigen Grün des Frühsommers bedeckt waren.

Die Besprechung mit Delta musste längst vorbei sein. Ich konnte meine Finger einfach nicht mehr beherrschen und tippte Cleos Nummer in die Handytastatur.

»Hat Deltas Finanzvorstand die ganze Sache abgeblasen oder eingewilligt, den Kredit umzustrukturieren?«, fragte ich, noch bevor meine allerbeste Freundin ihre Begrüßung zu Ende gesprochen hatte.

Cleo seufzte. »Du hast Urlaub, Sarah. Du sollst doch nicht an die Arbeit denken. Eine Anweisung des Doktors, schon vergessen?«

Ich stieß verächtlich die Luft aus. »Ein Doktortitel in Versicherungsstatistik gibt Kevin noch lange nicht das Recht, mir vorzuschreiben, was ich tun soll.«

»Das nicht. Aber dass er dein Boss ist, gibt ihm das Recht.« Cleos Stimme wurde weicher. »Er macht sich Sorgen um dich, Sarah. Wir alle machen uns Sorgen. Du arbeitest dich noch zu Tode. Du musst wirklich endlich mal ausspannen.«

»Das mache ich ja! Ich spanne aus. Aber muss ich wirklich den ganzen Sommer ausspannen? Eine Woche reicht. Maximal zwei!«

Cleo seufzte schon wieder. »Du bist ausgebrannt. Du kannst vielleicht nicht richtig einschätzen, wie gefährlich so etwas ist, aber wir anderen, die dich lieben, wir können das. Du musst eine vernünftige Work-Life-Balance finden, und diesen Rhythmus schaffst du nicht in einer Woche. Lies ein Buch oder spiel Touristin oder such dir ein Hobby. Oder noch besser, stürz dich endlich wieder in den Dating-Zirkus.« Sie hustete vor Lachen. »Nicht, dass du jemals Teil dieses Zirkus gewesen wärst! Du bist schließlich nur aus dem Grund mit Kevin ausgegangen, weil du deinen Arbeitsplatz nicht verlassen musstest, um ihn zu sehen.«

»Ich brauche keinen Mann, um eine gesunde Work-Life-Balance hinzukriegen! Ich mache einfach Yoga. Verdammt, ich würde sogar mit Meditation anfangen, wenn ich dafür schneller wieder an die Arbeit zurückkehren könnte.«

Cleo lachte. Sie hatte ein schönes Lachen, fröhlich und überschäumend. Ich fragte mich, wie mein eigenes Lachen klang. Es war schon sehr lange her, seit ich über irgendetwas gelacht hatte.

»Weißt du, was viel schneller funktioniert als Meditation? Sich flachlegen zu lassen! Schnapp dir einen sexy italienischen Hengst und reite ihn bis zur Erschöpfung! Danach wirst du dich verdammt viel besser fühlen!«

Nie. Niemals!

Im Rückspiegel begegnete ich dem Blick des Taxifahrers. Eine seiner dichten Brauen zuckte, als er anzüglich grinste. Gott, er hatte das doch nicht gehört, oder doch?

Nicht mal in deinen Träumen, Kumpel! Ich starrte finster in den Rückspiegel, und er wandte den Blick hastig ab.

»Ich bin vielleicht ausgebrannt, aber nicht gehirntot!« Ich senkte die Stimme, damit der Fahrer nicht lauschen konnte. »Urlaubsaffären verursachen mehr Ärger, als sie wert sind!«

»Oh, das würde ich nicht sagen. Der Bursche, mit dem ich in Spanien zusammen war, war allen Ärger wert!« Cleos Stimme wurde rau bei dieser Anspielung.

»Ja klar, so sehr, dass du dich nicht mal an seinen Namen erinnern kannst!«

Sie kicherte. »Es war nicht sein Name, der den größten Eindruck gemacht hat.«

Ich schüttelte den Kopf, obwohl sie es nicht sehen konnte. Niemand wusste besser als ich, wohin wilde und leichtsinnige Urlaubsaffären führen konnten – zu Beziehungen, die nicht hielten, zu unerwarteten und unerwünschten Schwangerschaften, zu einer Mutter, die ihrer verblassenden Jugend rund um die Welt hinterherjettete, und einem Vater, den ich kaum kennengelernt hatte. Nein danke. Als Produkt einer Urlaubsaffäre würde ich niemals so dumm sein, mich selbst auf eine einzulassen.

One-Night-Stands, Seitensprünge, leidenschaftliche Affären … Das war einfach nicht mein Ding.

Aber als mich plötzlich und unerwünscht die Erinnerung an ernsthaft dreinblickende graue Augen überkam, verkrampfte sich mein Bauch auf eine Art und Weise, die ich fast vergessen hatte. Ich unterdrückte die Erinnerung resolut. »Nie im Leben!«

»Ich weiß, was du von Urlaubsflirts hältst, aber du bist schließlich kein impulsiver Teenager mehr«, fuhr Cleo fort. »Du bist eine vernünftige Frau und kennst dich mit Verhütung aus! Du darfst nicht zulassen, dass das, was deine Mutter dir angetan hat …«

»Geraldine«, korrigierte ich sie automatisch. Meine »Mutter« hatte diesen Ehrentitel nicht verdient.

Cleo seufzte zum dritten Mal. »Also gut, keine Urlaubsaffäre. Aber wenn du zurückkommst, könntest du …«

»Wenn du mir jetzt wieder mit Onlinedating kommst, bring ich dich um! Die drei Tage, die ich an diese App verschwendet habe, waren einfach vollkommen niederschmetternd.«

»Willst du es vielleicht lieber mit Speeddating versuchen?«, fragte Cleo hoffnungsvoll. Sie machte mich fertig.

»Auf keinen Fall! Jede Art von Dating ist eine demoralisierende Erfahrung für alle Frauen über fünfunddreißig. Alle anständigen Single-Männer in unserem Alter sind entweder vergeben oder schwul. Nein danke! Wenn ich nicht auf natürliche Weise jemanden kennenlernen kann, bleibe ich lieber allein.«

Cleo seufzte. »Du bist nicht über fünfunddreißig, sondern du bist fünfunddreißig. Und das ist viel zu jung, um für immer auf Sex zu verzichten.«

Ich warf einen Blick auf den Taxifahrer, aber diesmal hielt er die Augen auf die Straße gerichtet. »Also hat Deltas Finanzvorstand dem Kompromissvorschlag zugestimmt?«

»Hat er. Die Firma stellt einen ihrer wichtigsten Finanzberater ab, um mit uns ihre Finanzlage neu zu analysieren und den Kredit umzustrukturieren. Kevin hat mich darauf angesetzt. Alles wird gut.«

Erst als ich ausatmete, merkte ich, dass ich die Luft angehalten hatte. »Ich kann dir gar nicht genug danken. Ich weiß, dass mein Fehler euch alle schrecklich unter Druck gesetzt hat.« Mein schlechtes Gewissen erzeugte einen bitteren Geschmack in meinem Mund. Wie hatte ich so etwas Offensichtliches wie den Kapitalfluss nicht mit einberechnen können? Meine falschen Kalkulationen hatten einen unserer wichtigsten Kunden an den Rand des Bankrotts gebracht. Hätte sich einer meiner Mitarbeiter einen solchen Fehler geleistet, hätte ich ihn auf der Stelle gefeuert. Und zwar ohne diese »Ein Jammer, aber du arbeitest einfach zu viel«-Samthandschuhe, mit denen mich alle anfassten. Ich hatte wirklich mehr Glück, als ich verdiente.

Cleos Stimme wurde weicher. »Das nehmen wir dir nicht übel. Uns liegt viel an dir, und wir wissen, dass Fehler passieren, vor allem wenn jemand so unter permanentem Schlafmangel leidet wie du. Versprich mir, dass du da unten Schlaf nachholst. Genieße die Sonne und komm ein bisschen zur Ruhe. Es ist noch genug Arbeit für dich da, wenn du zurückkommst.«

Ich seufzte. »Okay, ich verspreche es.«

»Und, hast du schon mit dem Anwalt deines Vaters gesprochen? Wie ist das Schloss denn so?«

Ich schaute wieder aus dem Fenster. Nach über einer Stunde desselben Ausblicks, endlose Reihen von Feldern mit Weinstöcken, die dunklen Wäldern wichen, die wiederum von Weinbergen abgelöst wurden, hatte die Schönheit der Landschaft sich ein wenig abgenutzt. Aber jetzt bog der Fahrer von der Landstraße auf einen holperigen, staubigen Feldweg ab, der wohl irgendwann einmal asphaltiert gewesen war. Es gab so viele Schlaglöcher, dass das Taxi langsamer fahren musste, um die schlimmsten Unebenheiten zu vermeiden. »Noch nicht, aber wir sind fast da.«

»Tut mir leid, dass ich nicht bei dir sein kann. Schaffst du das wirklich, ganz allein den Nachlass deines Vaters durchzusehen?«

»Natürlich schaffe ich das.« Es wäre heuchlerisch gewesen, wegen einer Person Beklemmungen zu empfinden, die ich schon seit Jahren nicht mehr gesehen und mit der ich kaum geredet hatte. Es war schließlich nicht so, als hätte ich einen »richtigen« Vater verloren. Abgesehen von ein paar gemeinsamen Sommern in meiner Kindheit hatte er sich nie um mich gekümmert. Er war in keiner bedeutsamen Weise in mein Leben involviert, er hatte kein einziges meiner Schulkonzerte oder meiner Basketballspiele besucht und war nicht einmal bei meinem Abschluss dabei gewesen. Seine ganze Liebe hatte seinen Weinen gegolten – für Menschen war da nichts mehr übrig geblieben.

Trotzdem, immer wenn ich an ihn dachte, hatte ich noch den Geruch von Rotwein, Zitronen und Sonnenschein in der Nase. Er hatte mich gelehrt, wie man Wein genoss – und zum Glück hatte er nicht gewusst, wie viele Tetra Paks mit billigem Fusel Cleo und ich schon hinuntergekippt hatten.

Ich verabschiedete mich von Cleo und beendete das Gespräch. Dann schob ich mein Handy wieder in die Tasche und widmete mich der Szenerie.

Die Straße schlängelte sich jetzt zwischen den geschwungenen Hügeln hinauf, und ich erkannte einige Punkte am Wegesrand wieder – die winzige Kapelle aus Stein in dem Tal auf der linken Seite, die lange, niedrige Mauer um den Besitz eines Nachbarn, dann der kleine Schrein an der Kreuzung, mit dem verwitterten Gemälde eines Engels. Hinter der nächsten Kurve würden die Tore des Castellos auftauchen. Aufgeregt beugte ich mich auf meinem Sitz vor.

Früher einmal, in einem anderen Leben, hatte ich diesen Ort geliebt. Damals in jenen unschuldigen Tagen, als das Weingut mir nicht wie ein Rivale vorgekommen war, sondern wie ein Abenteuer. Und jetzt war ich die stolze Besitzerin von sechzig Hektar toskanischen Rebstöcken und meinem eigenen Kastell. Das war das einzig Große, was John jemals für mich getan hatte – abgesehen von dem Moment, als er mich aus Versehen gezeugt hatte.

Meine Erinnerungen an diesen Ort waren im Laufe der Jahre verblasst, aber ich erinnerte mich an das Castello als ein magisches Bauwerk, mit seinen Türmchen und Fresken, den Räumen voller Schätze. Drinnen war es immer kühl gewesen, selbst an den heißesten Sommertagen, und der Garten war das reinste Paradies. Beete voller Lavendel und süß duftenden Rosen, gesäumt von sauber gestutzten Buchsbaumhecken.

Der Fahrer bog in die Zufahrt zwischen zwei hohen, prunkvoll verzierten schmiedeeisernen Toren ein, über denen ein Schild hing. Castel Sant’Angelo. Kastell des Heiligen Engels. Die Tore zeigten Rostflecken, und das Schild knarrte bedrohlich, aber der Eingang war immer noch so beeindruckend wie beim ersten Mal, als meine Mutter mit mir durch diese Tore gefahren war. Damals war ich fünf.

Die lange Auffahrt war noch löchriger und wies noch tiefere Furchen auf als der Feldweg, und die Reifen des Taxis wirbelten hinter uns eine riesige Wolke weißen Staubs auf. Hohe Zypressen säumten den Weg und warfen lange, dunkelblaue Streifen auf den Erdboden. Sie blockierten die Sicht auf das Haus.

Schließlich wichen die Bäume zurück und erlaubten einen Blick auf die vordere Zufahrt zum Castello. Das Gebäude erhob sich vor uns, und seine so vertraute Fassade schimmerte warm in der tief stehenden Nachmittagssonne. Die Pinien auf dem Hang über dem Castello waren auf der Vorderseite des Hauses zurückgeschnitten worden. Das Gebäude schien in der Sonne förmlich zu leuchten. Einen Moment lang schien es in allen Farben zu erstrahlen: angefangen von dem mit roten Ziegeln gedeckten Dach, über die samtig apricotfarbenen Mauern bis hin zu den taubenblauen Fensterläden.

Am Ende der Auffahrt teilte sich die Straße. Die linke Gabelung führte hinter das Haus zum rückwärtigen Garten und von dort weiter zur Weinkellerei, während die rechte in einem rechteckigen Platz vor dem Haupteingang endete. Johns Notar war bereits da.

Diese Seite des Hauses lag nach Westen, in Richtung Montalcino, und die späte Nachmittagssonne tauchte die Mauern in warmes goldenes Licht. Aber als das Taxi vor dem Eingang hielt und ich die Tür öffnete, wurde mir klar, dass das Sonnenlicht täuschte. Das Haus wirkte heruntergekommen.

Ach, da machen wir einfach ein bisschen Farbe drauf, dann ist das Problem gelöst.

Ein Mann wartete auf der Treppe des Hauses unter dem Türbogen. Dann trat er ins Licht, und mir schlug das Herz plötzlich bis in den Hals. Nicht auf diese panische Art und Weise, die ich in letzter Zeit häufiger erlebt hatte, sondern auf eine gute Art.

Dieser Notar war genau die Art Mann, die den Italienern ihren legendären Ruf als Liebhaber eingebracht hatten. Etwa Mitte dreißig, mit einem Gesicht, das aus honigbraunen Flächen und klaren Zügen bestand. Er trug ein lässiges Polohemd und Jeans, die beide so eng an seinem schlanken Körper anlagen, dass ich den Anblick der Muskeln unter dem Stoff genießen konnte.

Meine Güte! Das war der Notar und Anwalt meines Vaters?

Er stieg die kurze Treppe hinab und näherte sich mir mit einem einladenden Lächeln. Mein Herz schlug plötzlich in einem albernen, unregelmäßigen Rhythmus, was ich schon seit Jahren nicht mehr erlebt hatte. Kevin hatte mein Herz jedenfalls niemals so pochen lassen.

Die Augen des Mannes waren dunkel, schokoladenbraun und genauso verführerisch wie der Rest von ihm. Und er lächelte. Ich konnte nicht anders. Ich seufzte.

»Signor Fioravanti?« Ich klang atemlos. Oh bitte! Reiß dich zusammen, Sarah!

»Benvenuta in Toscana, Signora Wells. Bitte nennen Sie mich Luca.« Seine Stimme passte zu seinem Gesicht. Sie war tief, warm, und er hatte einen wundervollen Akzent. Dann lächelte er, und in seinen Wangen bildeten sich Grübchen. Grübchen! Soweit ich mich erinnern konnte, hatte ich noch nie weiche Knie wegen eines Mannes bekommen. Bis jetzt. Vielleicht hatten Kevin und Cleo recht: Ich musste wirklich ausgebrannt sein.

Ich streckte ihm zögernd die Hand hin, und Luca nahm sie zwischen seine beiden Hände. »Mein tiefes Mitgefühl wegen Ihres Verlustes.«

»Danke. Und danke auch dafür, dass Sie die Einäscherung und alles andere organisiert haben.«

»Das war doch selbstverständlich. John Langdon wurde in unserer kleinen Gemeinschaft sehr respektiert. Er war ein guter Mensch.«

Ich blinzelte ein paar unerwartete Tränen aus meinen Augen und konzentrierte mich auf den Mann, der immer noch meine Hand hielt. Ein derartig heißer Typ musste verheiratet sein. Ich riskierte einen verstohlenen Blick auf seine linke Hand. Kein Ehering. Okay, also war er wahrscheinlich schwul.

Ich zog meine Hand zurück und drehte mich um, um den Taxifahrer zu bezahlen. Während Luca mein Gepäck aus dem Kofferraum holte und die Treppe hinauftrug, schlenderte ich um das Gebäude herum und blickte an der langen Frontseite des Hauses entlang, die nach Süden in Richtung des Tales lag.

Es war mehr als abblätternde Farbe, die das Haus so heruntergekommen aussehen ließ. Der Putz bröckelte bereits in großen Stücken ab und enthüllte die schlierigen Travertin-Quader darunter. Einige Fensterläden hingen schief in ihren rostigen Angeln.

Rasch revidierte ich meine wohl doch etwas zu optimistische Preisvorstellung um etwa eine halbe Million Euro nach unten. Der Käufer würde eine Menge Schönheitsreparaturen einkalkulieren müssen.

Das Haus wirkte auch kleiner und weniger beeindruckend als in meiner Erinnerung. Es wurde immer noch von den Türmen auf beiden Seiten flankiert, auf denen sich mit Zinnen versehene Bastionen erhoben. Aber jetzt sah ich, dass sie nur Dekoration waren, ein etwas angeberisches Accessoire, um ein gewöhnliches Herrenhaus wie eine Burg aussehen zu lassen.

Seufzend wandte ich mich ab. Das Taxi war bereits halb die Auffahrt hinabgefahren und nahm all meine Kindheitsillusionen mit. Ich war in der kalten, harten Realität gelandet. Aber wenigstens hatte ich einen echt heißen Anwalt, der diesen harschen Übergang ein wenig abfederte.

Ich ging zu Luca zurück, der auf der Treppe wartete. Er hatte einen großen Ring mit uralt aussehenden Schlüsseln in der Hand und steckte den größten in das Schloss. Er drehte ihn um und drückte dann die große Messingklinke herunter. Die Tür klemmte. Ich musste mich gemeinsam mit ihm dagegenstemmen, um sie aufzuschieben, und als sie schließlich unter protestierendem Quietschen der alten Angeln aufschwang, stolperten wir beide ins Innere.

Na großartig! Natürlich musste ich mich ausgerechnet dann so ungeschickt und dusselig anstellen, wenn ich nur einen Atemhauch von dem hinreißendsten Mann entfernt war, der mir je unter die Augen gekommen war.

»Das Holz ist ein wenig aufgequollen«, bemerkte Luca. Er klang außerordentlich gut gelaunt, angesichts dieses eher grimmigen Willkommens.

Die Diele war düster und muffig, ein Effekt, der zweifellos all den geschlossenen Fensterläden geschuldet war. Luca stellte meine Koffer auf die unterste Stufe der Steintreppe, über die man ins Obergeschoss gelangte, und folgte mir, als ich durch die Räume im Parterre schlenderte.

Tücher zum Schutz gegen den Staub bedeckten die Möbel, die wie Ungetüme in der Dämmerung herumstanden und fast die gesamte Bodenfläche in Beschlag nahmen. Als Kind hatte ich in diesen Räumen Verstecken gespielt und nach Schätzen gesucht, aber jetzt, mit den Augen einer Erwachsenen wirkte es hier einfach vollgestellt, als hätten Bewohner über etliche Jahrhunderte lang Möbel als Hobby gesammelt – und sich niemals auch nur von einem einzigen Gegenstand getrennt.

»Die Wohnfläche des Hauses beträgt etwa eintausend Quadratmeter«, erklärte Luca, während er mit mir durch die Räume ging. Als ich mich verblüfft zu ihm herumdrehte, lachte er. »Das sind über zehntausend englische Quadratfüße.« Er rümpfte die Nase. »Füße! Euer Englisch ist keine besonders attraktive Sprache«, lachte er. »Aber der eigentliche Schatz ist natürlich das Land. Mehr als zwei Drittel des Geländes sind landwirtschaftlich nutzbar. Es gibt einen Obstgarten, Olivenbäume und fast die Hälfte des Bodens ist mit Weinstöcken bepflanzt. Hauptsächlich Sangiovese, aber auch Malvasia- und Vernaccia-Trauben.«

»Verstehen Sie viel von Wein?«

»Alle Bewohner dieser Region verstehen zumindest ein bisschen etwas von Wein.« Er lächelte, und seine dunklen Augen leuchteten. »Und Sie?«

»Ich verstehe absolut nichts von Wein, außer wie man ihn trinkt.«

»Das ist immerhin ein sehr guter Anfang.«

Ich plante nur nicht, damit anzufangen. Ich hatte nicht das geringste Interesse daran, irgendetwas über Weinanbau zu lernen, und ich trank genauso gerne Wein aus einem Tetra Pak wie aus einer Flasche mit einem richtigen Korken. Ich vermutete, wenn ich so etwas hier in der Toskana öffentlich zugab, würde man mich sofort des Landes verweisen, Erbin hin oder her.

Im Wohnzimmer, einem langen Raum, der zum anderen Tal hin lag, öffnete ich die Fenster und die Läden. Das Licht der Nachmittagssonne vertrieb die düstere Atmosphäre jedoch trotzdem nicht, denn jetzt sah ich die Staubschicht und den Schmutz, der alles überzog, den verschlissenen Teppich, die burgunderfarbene Tapete, die bereits an vielen Stellen abblätterte, und den Staub, der in dem Strom aus frischer, warmer Luft tanzte.

»Wann ist mein Vater gestorben?«

»Vor etwas über zwei Wochen.«

Das Haus war also schon lange vor diesen zwei Wochen vernachlässigt worden, sonst würde es jetzt nicht so aussehen.

»War er sehr lange krank?« Eigentlich wollte ich die Antwort gar nicht wissen. Ich hatte auch so schon ein schlechtes Gewissen. Ich hätte es mitbekommen sollen. Ich hätte anrufen müssen. Ich hätte mir mehr Mühe geben sollen, mit meinem Vater in Kontakt zu bleiben, obwohl er sich kaum angestrengt hatte, Kontakt zu mir zu halten.

»Nein. Er ist sehr plötzlich gestorben. Er war in der Weinkellerei, als er einen Herzinfarkt bekam. Tommaso hat ihn dort gefunden.«

Er betonte den Namen, als müsste er mir etwas bedeuten, aber ich zuckte nur mit den Schultern und wandte mich ab. Ich war seit zwei Jahrzehnten nicht mehr hier gewesen. Man konnte kaum von mir erwarten, dass ich mich an all die Namen und Gesichter der Angestellten meines Vaters erinnerte.

Die einzige Person, die ich noch vor Augen hatte, war Elisa, Johns Haushälterin. Nonna, hatte ich sie immer genannt, Großmutter. Obwohl sie keine Blutsverwandte war. Aber Elisa war vor ein paar Jahren gestorben. Das hatte mein Vater mir während eines unserer seltenen Telefonate erzählt.

»Hatte er nach Elisa keine andere Haushaltshilfe?«, fragte ich.

Luca zuckte mit den Schultern. »Nach Elisas Tod hat Ihr Vater sie nicht ersetzt. Er war ein alter Mann, dem zu viel Veränderung nicht besonders gefiel, und Fremde mochte er schon gar nicht. Er hat in den letzten Jahren nur wenige Räume dieses Hauses bewohnt.«

Das erklärte den Schmutz und den generell heruntergekommenen Zustand. Glücklicherweise gehörten zu dem Besitz all die vielen Hektar mit Weinstöcken, die zweifellos Käufer anlocken würden. Sonst hätte ich ganz schön dumm aus der Wäsche geguckt.

»Ich würde diesen Besitz gerne so schnell wie möglich auf dem Immobilienmarkt anbieten. Können Sie das für mich organisieren?«

»Sì.« Er antwortete gedehnt, als hätte er Zweifel.

»Welchen Preis kann ich Ihrer Meinung nach erzielen?«

Er betrachtete die abblätternde Tapete, als würde sie ihn faszinieren. Also hatte ich mir sein Zögern nicht nur eingebildet. »Es ist ein bisschen … kompliziert«, antwortete er schließlich. »Ihr Vater hat so lange hier gelebt, dass er sein Testament nach italienischem Recht verfasst hat, deshalb greift hier auch der Grundsatz der Legittima. Es wird eine Weile dauern, um das abzuwickeln.«

Was musste da abgewickelt werden? Ich war Johns einzige, noch lebende Verwandte. »Wie lange?«

»Das hängt von der Festlegung der Successione necessaria, eben des Pflichtteils, ab.«

Ich hatte genug Erfahrung mit Konzernslang, um zu erkennen, wann jemand absichtlich etwas verklausulierte, um auszuweichen.

»Ich brauche eine Tasse Tee.« Ich verließ den staubigen Raum und ging durch den mit Terrakottafliesen ausgelegten Flur in die Küche.

Lucas leises Lachen folgte mir. »Sie ähneln Ihrem Vater wirklich sehr. Der Tee war das Einzige, was ihm an seiner englischen Herkunft wichtig war.«

Die Küche lag im hinteren Teil des Hauses. Sie hatte eine hohe Decke und lag zum hinteren Garten hinaus, der fast aus dem Hügel hinausgeschnitten zu sein schien. Die Küche hatte dieselben Terrakottafliesen wie die anderen Räume im Erdgeschoss, und auch hier reichten die hohen Fenster bis zum Boden. Staubige Delfter Teller schmückten eine Wand. Wenigstens sah dieser Raum sauberer und bewohnter aus als die anderen Zimmer, obwohl er sich mehr wie ein Museum als ein Zuhause anfühlte. In den zwei Jahrzehnten, die ich nicht mehr hier gewesen war, hatte als einzige neue Errungenschaft ein elektrischer Wasserkocher seinen Weg hierher gefunden. Dafür dankte ich Gott.

Missbilligend beäugte ich den uralten Holzofen mit seinen rußigen Kochplatten und der schmutzigen Porzellanfront. Es war schon immer mein Traum gewesen, ein Haus mit einem großen, altmodischen Aga-Herd mit großen Kochplatten und mehreren Backröhren zu besitzen. Aber dieser uralte Ofen ähnelte so gar nicht dem Herd aus meinen Träumen. Das konnte doch nicht derselbe Ofen sein, an dem Nonna mir das Backen beigebracht hatte?

Neben dem Kessel stand eine Dose mit losen Teeblättern, die immer noch frisch rochen. Daneben eine Teekanne aus chinesischem Porzellan mit zarten, pinken Rosen. Ich füllte den Wasserkocher, schaltete ihn ein und wusch die Teekanne an dem riesigen Waschbecken aus. Dabei bemerkte ich an einer Seite einen tiefen Riss im Marmor. Dann brühte ich einen kräftigen Tee auf. Der tröstliche, vertraute Geruch dieses uralten Ortes beruhigte mich. Ich hatte zwar damit gerechnet, den Tee schwarz trinken zu müssen, entdeckte jedoch frische Milch im Kühlschrank. Irgendjemand hatte mich erwartet. Luca?

Ich goss den dampfenden Tee in zwei Tassen und setzte mich dann Luca gegenüber an den großen Küchentisch aus Holz. »Okay. Ich bin bereit, es mir anzuhören. Was haben Sie mir nicht erzählt?«

Er wirkte sichtlich befangen. »Nach englischem Gesetz gilt, dass jeder, der ein Testament aufsetzt, ›testamentarische Freiheit‹ genießt, die ihm erlaubt, jeden Beliebigen auswählen zu können, dem er gerne seinen Besitz vermachen möchte.«

Ich nickte. Bis jetzt konnte ich problemlos folgen.

»Hier in Italien jedoch haben wir das Gesetz der Legittima, der erzwungenen Erbschaft. Das bedeutet, dass in Italien die Person, die das Testament aufsetzt, nicht völlig frei entscheiden kann, wer was bekommt. Das italienische Gesetz wurde verabschiedet, um den Erbteil von Familienmitgliedern zu schützen, die möglicherweise … übersehen worden waren.« Er lächelte spöttisch. »Hier in Italien können wir einem Familienmitglied, das uns missfällt, nicht einfach mit Enterbung drohen. Denn jeder weiß, dass das Gesetz entscheidet, wer etwas erbt und wer nicht, um dafür zu sorgen, dass alle Erben einen fairen Anteil erhalten.«

Ich trank einen Schluck Tee. Konnte er vielleicht einfach mal zum Punkt kommen? Ich verstand nicht, inwiefern irgendetwas davon für mich relevant sein sollte, da ich Johns einziges Kind war.

Lucas Miene wurde ernst. »Verstehen Sie, nach italienischem Recht ist es obligatorisch, dass gewisse Familienmitglieder einen Teil des Besitzes erben, ganz gleich, was im Testament steht.«

Jetzt endlich dämmerte mir allmählich, in welche Richtung dieses Gespräch führte. »Sie wollen sagen, es gibt einen anderen Erben? Jemand anderen mit einem Anspruch, der möglicherweise das Testament anfechten könnte?«

Er nickte, erleichtert, dass ich ihn nicht nur verstand, sondern ihm sogar einen Schritt voraus war. »Und dieser Jemand sind Sie

Es dauerte einen Moment, bis ich seine Worte kapierte. Und noch länger dauerte es, bis ich den Mund wieder zubekam.

Langsam trank ich den Rest Tee aus meiner Tasse, füllte sie neu und achtete darauf, dass meine Hände nicht zitterten. Erst als ich Milch hinzugefügt hatte und umrührte, riskierte ich es, Luca wieder anzusehen. Jetzt hatte ich meine Gefühle wieder unter Kontrolle.

»Sie wollen mir sagen, dass mein Vater mir nichts von seinem Besitz hinterlassen hat? Er hat ihn jemand anderem hinterlassen. Und nur wegen dieses Gesetzes der Legittima habe ich überhaupt einen Anspruch auf irgendetwas davon?«

»

»Wem hat er es vermacht?« Meine Stimme klang erstaunlich ruhig, angesichts dessen, dass mir gerade der Boden unter den Füßen weggezogen worden war.

Sicher, wir hatten uns nie nahegestanden, aber wessen Fehler war es denn, dass mein Vater und ich nur Fremde füreinander gewesen waren? Ich war das einzige Kind, das er je gehabt hatte, und so verdammt wenig lag ihm an mir?

»Er hat es Tommaso hinterlassen.«

Schon wieder dieser Name.

Auf meinen verständnislosen Blick hin fügte Luca hinzu: »Johns Geschäftspartner.«

Ich wusste nicht einmal, dass mein Vater überhaupt einen Geschäftspartner gehabt hatte. Als wir uns das letzte Mal unterhalten hatten, zu Weihnachten, bei einem unserer halbjährlichen Telefonate, hatten wir über nichts Bedeutungsvolles geredet. Ich hatte mich nach dem Weingut erkundigt, und John hatte mir erzählt, dass einer seiner Weine irgendeinen Preis gewonnen hatte. Er hatte mich nach meiner Arbeit gefragt, und ich hatte erwidert, dass alles in Ordnung sei. Das sagte ich immer.

Ich räusperte mich. »Wie groß sind meine Chancen, dass ich überhaupt irgendetwas erbe?«

»Die Chancen, dass Sie zumindest die Hälfte des Wertes dieses Besitzes erben, sind ziemlich hoch. Die Gerichte sind in dieser Hinsicht sehr gerecht. Aber italienische Zivilprozesse können sich über Jahre hinziehen, also sollten wir versuchen, die Sache ohne Gericht zu regeln. Tommaso ist ein sehr vernünftiger Mann. Wir werden mit ihm reden. Wenn wir ihn überzeugen können, Ihnen Ihren Anteil auszuzahlen, kann alles in freundschaftlicher Atmosphäre geregelt werden. Die Alternative wäre, den ganzen Besitz zu verkaufen, sodass Sie und Tommaso den Gewinn zwischen sich aufteilen könnten, sobald die Schulden beglichen sind.«

Natürlich gab es Schulden. Die gab es immer. Niemand wusste besser als ich, wie man sie finanzierte, umschichtete und sie effektiv nutzte. »Wie hoch sind die Schulden?«

»Es sind etliche Kredite fällig, und Ihr Vater hat vor ein paar Jahren eine Hypothek aufgenommen, um neue Geräte und Ausrüstung für das Weingut anzuschaffen. Die Schulden belaufen sich alles in allem auf fast drei Millionen Euro.«

Ich pfiff unwillkürlich. Laut meiner Recherchen wurden Immobilien von dieser Größe für etwa drei bis fünf Millionen Euro angeboten. Allerdings handelte es sich dann auch um perfekt renovierte Villen. Also musste ich nicht nur den Gewinn aus dem Verkauf von Johns Besitz teilen, sondern ich konnte von Glück reden, wenn am Ende überhaupt so etwas wie ein Gewinn übrig blieb.

Ich trank einen Schluck Tee. Er schmeckte plötzlich bitter. Vielleicht lag das aber auch nur an dem schlechten Geschmack in meinem Mund. So viele Jahre lang hatte ich dieses Stückchen Land gehasst, weil es das Einzige war, was John jemals geliebt hatte. Dass es jetzt zu allem Überfluss auch noch so wenig wert war, machte alles nur noch schlimmer. Er hatte mich so wenig geschätzt, dass er mir noch nicht einmal ein verfallenes Bauwerk mit großen Ambitionen und ein mit hohen Hypotheken belastetes Weingut hinterlassen wollte.

»Ich denke, ich sollte das Taxi zurückrufen. Wenn dieser Besitz mir gar nicht gehört, kann ich wohl kaum hierbleiben.«

»Tommaso würde sich freuen, wenn Sie das Castello als Ihr Heim betrachten, bis diese Angelegenheit geregelt ist.«

Wie überaus großzügig. »Und was machen wir jetzt?«

»Sie klingen wie Ihr Vater. Immer so pragmatisch.«

Was blieb mir unter diesen Umständen schon anders übrig als Pragmatismus?

Luca schob seine kaum angerührte Tasse Tee zurück. »Wir müssen die Dokumente ausfüllen, um Ihre Identität zu bestätigen, und Ihre Absicht festhalten, das Testament anzufechten. Aber da es jetzt schon fast siebzehn Uhr am Freitagnachmittag ist, können wir heute nicht mehr allzu viel ausrichten. Morgen früh um zehn können Tommaso und Sie in mein Büro kommen, dann besprechen wir, wie wir weitermachen.«

Ich brachte Luca zur Haustür, wo er mir den großen Schlüsselring in die Hand drückte. Ich nahm ihn und kam mir wie eine Betrügerin vor. Das war nicht mein Haus. Mein Vater hatte sich entschlossen, all das jemand anderem zu hinterlassen, jemandem, den er mehr geschätzt hatte als seine eigene Tochter.

Luca musste mir helfen, die Haustür zu schließen. Er zog, und ich drückte. Es war nicht gerade eine besonders würdevolle Verabschiedung, und als die Tür zwischen uns geschlossen war, konnte ich nicht einmal richtig auf Wiedersehen sagen. Als der Motor seines kleinen Sportwagens aufheulte, und er die Auffahrt hinabbrauste, lehnte ich mich gegen die große, verzogene Tür. Ich war vollkommen erledigt.

Vielleicht war ich einfach nur erschöpfter, als ich gedacht hatte. Jedenfalls war ich froh, dass ich dem geheimnisvollen Geschäftspartner meines Vaters erst morgen gegenübertreten musste. Denn jetzt wollte ich mich nur noch zusammenrollen, mir eine Decke über den Kopf ziehen und mich vor der Welt verstecken.

2. KAPITEL

Chi cerca, trova, e talor quel che non vorrebbe

Wer sucht, der findet, manchmal auch, was er lieber nicht gefunden hätte

Ich schleppte meine Koffer nach oben. Die Stufen der Treppe bestanden aus Stein und wirkten durchaus solide, aber das schmiedeeiserne Geländer wackelte bedenklich, als ich mich daran festhalten wollte. Die Renovierung des Hauses würde viel Arbeit erfordern. Vielleicht war dieser Tommaso ja genauso froh wie ich bei dem Gedanken, das alles loszuwerden?

Ich wusste nicht mehr, wie viele Schlafzimmer das Haus hatte. Als Kind war es mir wie eine unvorstellbare Menge erschienen. Aber angesichts dessen, wie beeindruckt ich damals von ein paar hübschen Zinnen gewesen war, waren es vielleicht doch nicht so viele, wie ich gedacht hatte. Ich fing mit dem alten Schlafzimmer meines Vaters an. Ich warf einen Blick hinein und schloss die Tür rasch wieder. Ich war noch nicht bereit, mich den Gefühlen zu stellen, die seine private Umgebung in mir auslösten.

Stattdessen entschied ich mich für ein Gästezimmer am anderen Ende des langen Ganges. Es war dasselbe Zimmer, das ich als Kind benutzt hatte. Sowohl die Fensterläden als auch die Vorhänge waren geschlossen. Ich stellte meine Reisetasche auf die Bank am Fußende des hölzernen Himmelbetts, schob den großen Rollkoffer in die Mitte des Zimmers und zog vorsichtig die Vorhänge zur Seite, bevor ich hastig die Fenster aufriss. Staubflocken tanzten im Licht, aber das Zimmer sah einigermaßen sauber aus. Das Bett war frisch gemacht. Graue Kissen- und Deckenbezüge verströmten eine eher maskuline Aura.

Ich streifte mir die Schuhe ab, schlüpfte unter die Decke und zog sie mir über den Kopf. Dann schlief ich ein. Ich ließ mich vom Schlaf von der Fremdheit Italiens entführen, von diesem stummen Haus und seinen Erinnerungen, zurück an den einzigen Ort, an dem ich mich jemals wirklich zu Hause gefühlt hatte: in das Eckbüro im fünften Stock in Cheapside, aus dem ich für vier unendliche Monate verbannt worden war.

Als ich aufwachte, war ich einen Moment orientierungslos. Als sich mein leerer Magen lautstark beschwerte, fiel mir wieder ein, dass ich seit dem Schokoladenpanini und dem Cappuccino am Flughafen heute Morgen nichts mehr gegessen hatte. Es war noch stockfinster. Die Stille hallte förmlich in meinen Ohren. Kein fernes Brummen vom Verkehr, keine dumpfen Stimmen aus dem Fernseher des Nachbarn, nichts von den kleinen, beruhigenden Geräuschen meiner Mitbewohner, die sich im Haus bewegten. Ich wusste nicht, wann ich mich das letzte Mal so allein gefühlt hatte. Wahrscheinlich nicht mehr, seit ich das letzte Mal hier gewesen war.

Plötzlich knackte etwas im Haus, und ich richtete mich ruckartig im Bett auf.

Das Castello fühlte sich plötzlich sehr groß und sehr leer an. Wie weit befand es sich vom nächsten Nachbarn entfernt? War noch jemand anders in der Nacht auf dem Gelände? Arbeiter oder ein Wachmann? Würde mich jemand hören, wenn ich um Hilfe schrie? Ich hatte nicht daran gedacht, Luca danach zu fragen.

Ich stand auf und huschte barfuß zur Schlafzimmertür und legte das Ohr an das Holz. Aber es waren keine weiteren Geräusche zu hören. Die Tür knarrte, als ich sie öffnete, und ich fuhr heftig zusammen.

Das ist albern! Du bist eine erwachsene Frau. Du bist eine kompetente, erfolgreiche Frau des einundzwanzigsten Jahrhunderts, die auf sich aufpassen kann.

Außerdem war ich hungrig.

Die Küche hatte sich irgendwie näher an meinem Zimmer befunden, als ich noch ein Kind gewesen war. Ich schlich durch das dunkle Haus und verzichtete darauf, Licht zu machen. Selbst wenn ich mich daran hätte erinnern können, wo die Lichtschalter waren, wollte ich mich nicht zum Ziel machen, für den unwahrscheinlichen Fall, dass sich tatsächlich ein Einbrecher im Haus befand.

Die riesige Küche mit ihrer hohen Decke war unheimlich und voller Schatten, und das gelbliche Licht der einzigen Lampe hoch oben an der Decke konnte nur sehr wenig gegen die Dunkelheit ausrichten. Ich füllte den Wasserkocher, und wusch die Teekanne aus, um mir frischen Tee aufzusetzen. Aber Tee reichte nicht, um meinen knurrenden Bauch zum Schweigen zu bringen. Hatte die umsichtige Person, die Milch im Kühlschrank deponiert und mein Bett frisch bezogen hatte, vielleicht auch etwas zu Essen dagelassen?

In der Küche selbst fand ich nichts, aber John hatte gerne einen Keks zu seinem Tee gegessen. Das war zumindest besser als nichts. Also ging ich in die Speisekammer und tastete nach dem Lichtschalter, als ein Geräusch mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Ich erstarrte. Die Außentür der Küche öffnete sich knarrend.

War das der Wind, der eine unverschlossene Tür aufdrückte? Geister?

Nein, das hier war schlimmer als Geister. Das laute Quietschen endete mit einem bedrohlichen Knall, als die Tür sich schloss. Dann ertönten schwere Schritte von Stiefeln auf dem Küchenboden.

Das Herz schlug mir bis zum Hals. Es schlug so schnell, dass ich sicher war, gleich einen Herzinfarkt zu bekommen! Ein Job in einem Konzern macht Stress? Vergesst es! Dass hier war eine Million Mal schlimmer!

Das Herz schlug mir so laut gegen die Rippen, dass der Einbrecher es bestimmt auf der anderen Seite der Speisekammertür hören konnte. Ich umklammerte Halt suchend den Türgriff und war erleichtert, dass ich in der pechschwarzen Speisekammer versteckt war. Mit der freien Hand tastete ich hinter mich, und meine Finger berührten kaltes Eisen. Sie schlossen sich um einen festen, massiven Griff.

Der Türknauf unter meinen Fingern drehte sich unerwartet, und ich schrie, lauter als das rostige Eisen. Erwischt!

Die Speisekammertür schwang auf, und ich erstarrte.

»Sarah?« Der Mann war groß, breitschultrig und gebaut wie ein Türsteher.

Er beugte sich vor, und ich zuckte zurück, schlug mit aller Kraft zu, im selben Moment, in dem die winzige Speisekammer von kaltem, weißem Licht durchflutet wurde.

Unmittelbar bevor meine Waffe auf festes Fleisch traf, erhaschte ich einen Blick auf den Bösewicht. Er war dunkelhaarig, bärtig und furchteinflößend. Er stolperte mit einem Aufschrei zurück und hielt sich den Kopf.

»Was zum Teufel soll das?« Sein Akzent war sehr stark, und ich konnte ihn nicht sofort einordnen, aber er hatte instinktiv Englisch gesprochen. Das zumindest registrierte ich, während ich mir den schweren Metallgegenstand an die Brust drückte.

Und er kannte meinen Namen! Ach du liebe Güte!

Wahrscheinlich war er gar kein Einbrecher.

Der Mann sah mich finster an und hielt sich immer noch den Kopf. »Warum versteckst du dich hier drin?«

»Ich habe mich nicht versteckt. Ich habe nach Keksen gesucht.«

»Im Dunkeln?« Er nahm die Hand von der Stirn und seine Finger waren blutig. Noch mehr Blut sickerte aus einer großen Platzwunde auf seiner Stirn.

»Sie bluten!«

Er starrte mich finster an. »Natürlich blute ich. Du kannst von Glück reden, dass ich nicht bewusstlos bin oder noch Schlimmeres!«

Ich warf einen Blick auf die Waffe in meiner Hand. Ich hatte ein altmodisches Bügeleisen erwischt, eines dieser uralten antiken schmiedeeisernen Geräte, die man aufklappen konnte, um glühende Kohlen hineinzulegen. Eine wahrhaft gefährliche Waffe. »Es tut mir so leid! Ich dachte, Sie wären ein Einbrecher.«

Er lehnte sich gegen den Tresen mit der zerkratzten Resopalplatte, als könnte er nicht ohne Hilfe stehen. Ich eilte zu ihm, um ihn zu stützen, obwohl ich mich so zittrig fühlte wie ein Blatt im Wind.

Er schob mich verärgert von sich. »Wie kann ich ein Einbrecher sein, wenn ich hier lebe?«

»Sie leben hier?« Oh. Luca hatte nicht erwähnt, dass jemand hier wohnte. Ich riet einfach drauflos. »Sie sind Tommaso?«

»Natürlich. Wer soll ich sonst sein?«, herrschte er mich an. Ich konnte ihm seine Gereiztheit schwerlich verübeln. Das Blut lief ihm jetzt über die Schläfe, und sein Gesicht schien erheblich blasser zu sein als in dem Moment, als er in der Speisekammertür vor mir gestanden hatte.

Ich fühlte mich auch ein bisschen blass um die Nase. Das Bettzeug oben war eindeutig männlich. Hatte ich einfach im Bett des Bären vor mir geschlafen? Obwohl man diesen Mann unmöglich mit einem kleinen Bären verwechseln konnte. Er ähnelte eher einem großen, wütenden Grizzly.

Bis er plötzlich schwankte.

»Sie müssen sich setzen.« Ich legte das alte Bügeleisen weg und zog einen Stuhl vom Küchentisch heran. Tommaso warf mir einen weiteren verärgerten Blick zu, während er sich darauf fallen ließ. Zufrieden, dass er nicht gleich auf dem Boden zusammenbrechen würde, eilte ich zu der riesigen Spüle, befeuchtete ein Küchentuch und tupfte ihm damit die Stirn ab, bis die Blutung gestillt war und die Wunde einigermaßen sauber aussah. Glücklicherweise war es nur eine einfache Platzwunde und brauchte nicht genäht zu werden. Ich hoffte nur, dass das Bügeleisen nicht rostig gewesen war und die Wunde sich entzündete. »Sie brauchen ein Antiseptikum und ein Pflaster, damit der Schnitt sich nicht infiziert. Wo finde ich das?«

»Unter dem Spülbecken.«

Unter der Spüle war ein Erste-Hilfe-Kasten, den ich auf den Tisch stellte und seinen unordentlichen Inhalt nach Pflaster und einem Desinfektionsmittel durchsuchte. Er zuckte zusammen, als ich Jod auf die Wunde tupfte, gab aber keinen Mucks von sich. Als ich fertig war, ging ich wieder zum Wasserkocher und schaltete ihn an. Ich brauchte den Tee jetzt dringender als je zuvor. Ich hätte auch nichts gegen einen Schluck Brandy gehabt, aber ich war nicht tapfer – oder dumm – genug, um meinen Gastgeber zu fragen, wo sich seine Bar befand.

»Tee?« Ich trug die volle Teekanne und zwei nicht passende Tassen zum Tisch.

»Ja, bitte.«

Während ich den Tee einschenkte, beobachtete ich ihn verstohlen. Er war nicht so alt, wie der Bart ihn zuerst hatte erscheinen lassen, und auch nicht ganz so rau und bedrohlich, wie es zuerst den Eindruck gemacht hatte. Sein dichtes Haar war ziemlich lang und reichte ihm fast bis zu den Schultern, aber es war keineswegs ungepflegt, wie ich im ersten Moment angenommen hatte.

Aber auch wenn er kein bedrohlicher Einbrecher war, war er keineswegs harmlos. Er war der rechtmäßige Besitzer dieses Castellos, und ich war sein Gast, und darüber hinaus wahrscheinlich ein höchst unwillkommener – jetzt noch mehr als vorher.

»Wollen wir noch mal von vorne anfangen?« Ich verlieh meiner Stimme so viel Fröhlichkeit, wie das meine immer noch etwas angespannten Nerven bewerkstelligen konnten. »Ich bin Sarah Wells, Johns Tochter, und ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie mich im Haus wohnen lassen.«

Er sagte nichts, sondern betrachtete mich mit einem kühlen Blick seiner grauen Augen, der mehr als nur ein bisschen feindselig wirkte. Also gut, er würde mir wohl nicht so bald den roten Teppich ausrollen.

Ich räusperte mich und versuchte es noch einmal. »Luca hat mir nicht gesagt, dass Sie im Haus wohnen.«

Er bedachte mich mit einem sonderbaren Blick. »Ich wohne auch nicht hier. Ich wohne im Cottage.«

Das Cottage stand auf der anderen Seite des Gartens. Es war ein ehemaliger Stall gewesen, der in den Fünfzigern zu einem Wohnhaus umgebaut worden war. Dort hatte Elisa, die Haushälterin, gelebt.

»Aha. Und was machen Sie dann hier in der Küche?«

»Ich habe gesehen, dass das Licht brannte und wollte Hallo sagen. Ich dachte, du würdest vielleicht gerne zu Abend essen.« Er wedelte mit der Hand, und ich drehte mich um. Er musste das Tablett auf den alten Holzofen abgestellt haben, bevor er mich in der Speisekammer gesucht hatte. Erst jetzt nahm ich den aromatischen Duft in der Küche wahr. Mein Magen krampfte sich zusammen, und nicht nur vor Hunger.

Er war nur auf einen freundlichen Nachbarschaftsbesuch vorbeigekommen, und ich hatte ihm mit der erstbesten Waffe, die ich in die Finger bekam, fast den Schädel eingeschlagen. Nicht gerade ein vielversprechender Weg, um eine Verhandlung zu eröffnen.

Ich zwang mich zu einem höflichen Lächeln, nach dem ich mich nicht gerade fühlte. »Danke. Das ist sehr freundlich.«

Er kniff die Augen zusammen. Ein unbehagliches Schweigen machte sich breit, aber ich weigerte mich, vor diesem einschüchternden Mann irgendwelche Schwächen zu zeigen, also ignorierte ich es und erwiderte seinen harten Blick.

Irgendetwas an seinen hellen, blaugrauen Augen, die eindeutig zum Grau neigten, kam mir sonderbar bekannt vor.

Dann dämmerte es mir plötzlich. »Tommy?«

Die Entdeckung, dass dieser große, breitschultrige und bärtige Mann mein alter Jugendfreund war, erschütterte mich noch mehr als die Angst, dass ein völlig Fremder in das Castello eingebrochen sein könnte. »Du bist der Geschäftspartner meines Vaters?«

Seine Augen wurden noch schmaler, obwohl ich das kaum für möglich gehalten hätte. »Seit meine Mutter gestorben ist, hat mich niemand mehr so genannt. Du wusstest das nicht?«

Um die Situation zu verarbeiten, brauchte ich eine Weile. Ich konnte nichts dagegen tun – ich starrte ihn jetzt ganz offen an. Wenn ich scharf genug hinsah und das lange Haar und den struppigen Bart ignorierte, dann konnte ich Elisas Enkel durchschimmern sehen, den Jungen, mit dem ich immer gespielt hatte, wenn er in diesen endlosen Sommern vor so langer Zeit zu Besuch gekommen war.

Ich kannte ihn immer nur als Tommy, das Englisch sprechende Kind aus Edinburgh, nicht als Tommaso, aber natürlich war er Halbitaliener, väterlicherseits. Sein Akzent war schon immer eine verschwurbelte Mischung aus Schottisch und Italienisch gewesen, wenngleich er jetzt eindeutig zu seiner italienischen Seite ausschlug. Wie lange lebte er schon hier?

»Es tut mir leid wegen deiner Mutter. Und wegen Nonna.«

Er zuckte mit der Schulter. Es war eine einfache Geste, die dennoch sehr viel mitteilte. Und es war eine einzigartig italienische Fähigkeit. Ich hatte noch nie einen Engländer getroffen, der so viel einfach nur mit seiner Körpersprache ausdrücken konnte.

»Meine Großmutter war alt, und ihr Tod kam nicht unerwartet. Aber meine Mutter … Es ist vor fast neun Jahren passiert. Sie hatte Krebs, und am Ende war ihr Tod eine Gnade.«

Ich hatte seine Eltern niemals kennengelernt, aber trotzdem durchfuhr mich ein schmerzlicher Stich wegen seines Verlustes. Wie mich hatte man auch Tommy als Kind allein nach Italien geschickt. In meinem Fall war Geraldine einfach nur scharf darauf gewesen, mich loszuwerden, aber bei Tommy war es eine Notwendigkeit gewesen. Seine Eltern hatten beide gearbeitet und einfach nicht die Zeit gehabt, einen energiegeladenen Jugendlichen den ganzen Sommer über zu beschäftigen. Und seine Großmutter war entzückt gewesen, wenn er sie besuchte. Er war erwünscht gewesen.

Seine Besuche bei seiner Nonna Elisa waren das Highlight meiner Sommer. Selbst in dem Alter, in dem die meisten Jungs entsetzt gewesen wären, wenn sie auf Schritt und Tritt ein junges Mädchen im Schlepptau gehabt hätten, waren wir Freunde. Wir hatten dieses große Haus zusammen erforscht, waren überall auf dem Gut herumgelaufen, hatten geangelt, nach Trüffeln gesucht und zusammen Brombeeren gepflückt. Und dann hatte es diesen einen letzten Sommer gegeben …

Unwillkürlich glitt mein Blick zu seinem Mund. Tommy hatte für einen Jungen den sinnlichsten Mund gehabt, mit weichen, vollen Lippen, und sie hatten so süß geschmeckt, nach … Ich errötete und riss den Blick von ihm los, aber er hatte es schon bemerkt.

Seine Augen verengten sich erneut, als er mich musterte. »Dein Haar ist gewachsen, seit ich dich das letzte Mal gesehen habe.«

»Na ja, das ist immerhin gut zwanzig Jahre her.« Ich berührte das Ende meines langen Zopfs. Ich hatte es schon seit Jahren einfach wachsen lassen, zumeist deshalb, weil ich nicht die Zeit hatte, dauernd zum Friseur zu rennen, sondern mir nur die kaputten Spitzen schneiden ließ.

»Fast zwanzig Jahre. Ich mag dein Haar länger.«

»Tja, und ich mag dein Haar kürzer.«

Das amüsierte Funkeln in seinen Augen erinnerte mich sehr an den jungen Mann, den ich aus diesem letzten Sommer vor Augen hatte. Immer neckte er mich übermütig, um mich zu provozieren.

»Das Letzte, was ich von dir gehört hatte, war, dass du immer noch in Edinburgh lebst«, sagte ich, um das plötzliche, verlegene Schweigen zu brechen.

»Das ist schon lange her. Ich bin kurz nach dem Tod meiner Mutter hierhergezogen. Nonna wurde alt, und ich wollte nicht, dass sie allein war.«

Fast neun Jahre. »Mein Vater hat mir nie etwas davon gesagt.« Ich biss mir auf die Unterlippe, eine alte Gewohnheit, die ich eigentlich überwunden hatte. Es gab so viele Dinge, die John und ich niemals besprochen hatten, und jetzt würden wir das auch nie mehr tun können.

»Wir haben morgen früh ein Treffen mit Luca, um zehn.« Tommaso nahm die Teekanne und bot mir an, meine Tasse nachzufüllen. Ich schüttelte den Kopf. »Wir fahren zusammen dorthin. Wir sollten hier etwa um halb zehn aufbrechen.«

Ich nickte, obwohl der Gedanke, eine halbe Stunde mit diesem Mann in einem Auto zu verbringen, den ich einst so gut gekannt hatte und der jetzt ein Fremder war, mich noch unruhiger machte. Ich stand auf, um die Teekanne und die Tassen wegzuräumen. »Dann gehe ich wohl besser schlafen. Es war ein langer Tag.« Ein verheerender Tag. Noch vor einer halben Stunde hatte ich Angst gehabt, allein zu sein. Jetzt sehnte ich mich danach.

Tommaso stand auf. »Du kannst das Bügeleisen ruhig unten lassen, wenn du ins Bett gehst. Das hier ist eine ziemlich sichere Gegend. Du wirst friedlich schlafen.« Das amüsierte Funkeln war wieder in seinen Augen zu sehen.

»Danke für das Essen«, sagte ich, als er durch die Tür in den Hinterhof trat. Er nickte nur. Ich verzichtete darauf ihm nachzusehen, wie er über den Hof zum Cottage ging. Ich schloss die Tür, schob den Riegel vor und seufzte. Dann nahm ich das Tablett und hastete die Treppe hinauf, ohne vorher nachzusehen, was sich unter dem Küchenhandtuch befand. Ich machte nicht einmal eine Atempause, bis ich sicher in meinem Zimmer war, die Tür geschlossen und meinen Rollkoffer unter den Griff geschoben hatte. Als schützende Barriere zwischen mir und dem Rest des leeren, hallenden Hauses.

3. KAPITEL

Non tutto il male vien per nuocere

Nicht alles Schlechte, was passiert, ist umsonst

Ich schlief länger als ich … bestimmt seit meiner Studienzeit geschlafen hatte.

Ich hatte in der Nacht zuvor vermieden, die Vorhänge zuzuziehen, falls sie einen weiteren Staubtornado auslösten, aber obwohl die Sonne in das Zimmer schien, wachte ich erst auf, als sie das Bett erreichte. Ich musste wohl erledigter gewesen sein, als ich bemerkt hatte. Nicht, dass ich es irgendjemand gegenüber zugegeben hätte. Ich würde Cleo nicht die Chance geben zu krähen: »Ich habe es dir ja gesagt.«

Trotz des gleißenden Tageslichts wurde es im Haus kaum hell. Ich schlurfte zur Küche hinunter. Am Tage wirkte die Speisekammer größer, aber auch leerer. Und es gab tatsächlich Kekse, ein Paket Mürbeteig-Kekse aus dem Supermarkt. Aber weder Brot noch Müsli noch irgendetwas, das auch nur am entferntesten für ein Frühstück geeignet war. Und nur Instantkaffee. Ich stöhnte, weil ich nicht gerade scharf darauf war, Tommaso schon wieder mit leerem Magen zu begegnen.

Aber ich musste ihm lassen, dass dieser Rindereintopf, den er mir gestern Nacht gebracht hatte, wirklich gut gewesen war. So gut wie Nonnas Eintöpfe früher gewesen waren.

Nachdem ich mich mit Kaffee und Keksen gestärkt hatte, stand als Nächstes ein Anruf zu Hause auf meiner Agenda. Es war zwar Samstagmorgen, also hatte Cleo mir nichts Neues über die Arbeit zu berichten, aber ich wollte ihre stets optimistische Stimme hören, die mir sagte, dass nicht alles so schlecht war, wie es aussah.

Aber das Handysignal war so schwach, dass sich keine Verbindung herstellen ließ. Ich ging von Zimmer zu Zimmer und schwenkte mein Handy durch die Luft. Nichts. Nicht einmal auf der Terrasse oder dem vernachlässigten Hinterhof, und auch nicht auf der Auffahrt, obwohl ich bis zum Tor hinunterging. Verdammter Mist! Als ich die schmiedeeisernen Tore erreichte, fuhr ein kleiner, kanariengelber Fiat vorbei, in dem sich junge Männer drängten. Die Pfiffe aus dem kleinen Wagen, die langsam verklangen, machten mir plötzlich und äußerst unangenehm bewusst, dass ich nach wie vor nur Schlafshorts und ein Top anhatte.

Also ging ich die Auffahrt wieder hoch und blieb eine Weile an der Tür von Tommasos Cottage stehen, das sich in den Hügel hinter dem Castello schmiegte. Glücklicherweise schien alles verlassen zu sein, und als ich klopfte und fast Angst hatte, er würde öffnen, bekam ich keine Antwort.

Aber John musste irgendwie Zugang zur Außenwelt gehabt haben. Ich hatte ihn einige Male hier in der Villa angerufen, also musste es zumindest einen Festnetzanschluss geben. Das Castello war vielleicht noch nicht im einundzwanzigsten Jahrhundert angekommen, aber es war ganz sicher ein Teil des zwanzigsten Jahrhunderts.

Es hatte doch eine Bibliothek gegeben, oder nicht? Einer dieser Räume, in dem die Möbel schon in meiner weit zurückliegenden Jugend von Staublaken bedeckt gewesen waren. Also machte ich mich daran, Türen von Räumen zu öffnen, die schon seit Jahren kein Tageslicht mehr gesehen hatten. Ein Billardzimmer, das mittlerweile nur noch als Lagerraum genutzt wurde, und ein Wohnzimmer mit verblichenen Tapeten. Unter den Staublaken kamen wacklige Stühle, verrottende Polster und Gemälde zum Vorschein, die unter der Dreckschicht kaum noch zu erkennen waren. Schließlich erreichte ich ein Zimmer, dessen Wände mit Büchern bedeckt waren und in dem es roch, als wäre jemand gestorben. Die Bibliothek. An der Decke waren Wasserflecken, und der Parkettboden bog sich in der Folge von Wasserschäden. Jemand hätte den gesamten Inhalt dieses Raumes schon vor langer Zeit auf den Müll werfen sollen.

Aber dort war tatsächlich eine Telefondose an der Wand, und ein Kabel führte über den abblätternden Putz hinauf zum trockensten Teil der Decke, hindurch und … wohin?

Genervt ging ich wieder hinauf, und zählte meine Schritte. Ich war nicht sonderlich überrascht, als mir klar wurde, dass die Zimmer über der Bibliothek meinem Vater gehört hatten. Ich stieß die Tür auf und spähte in das dämmrige Innere.

Ich öffnete die Fensterläden und schob das Schiebefenster hoch, um ein bisschen Licht und frische Luft hereinzulassen. Das riesige Himmelbett mit der gehäkelten Tagesdecke hatte John schon benutzt, als ich noch jung gewesen war. Es gehörte zum Haus, hatte er mir einmal gesagt.

Wie kam es, dass im Gästezimmer das Bett frisch gemacht war, aber dieses Zimmer, in dem jemand gelebt hatte, in der Zeit erstarrt zu sein schien?

Das Telefon, nach dem ich gesucht hatte, stand auf dem Nachttisch. Es war ein schwarzer Apparat mit einer Drehscheibe, der eigentlich ins Museum gehört hätte. Funktionierten solche Geräte eigentlich heutzutage noch?

Ich nahm den Hörer ab und hörte das vertraute Freizeichen. Halleluja!

Cleo antwortete nach dem zweiten Klingeln. Sie klang verschlafen.

»Du scheinst ja gestern Nacht ein wirklich gutes Date gehabt zu haben«, begrüßte ich sie fröhlich.

Sie stöhnte. »Schön wär’s!« Ich hörte, wie sie sich reckte. »Ich glaube, jetzt bin ich endlich offiziell bereit, dieses Dating aufzugeben.«

Wow, das war eine Premiere! Im Wörterbuch findet man Cleos Namen unter »ewiger Optimist«. Sie war der »Das Glas ist halb voll«-Typ, vor allem, wenn es um Männer ging. Oder vielleicht sogar, wenn es um Männer ging. »So schlimm kann es doch nicht gewesen sein …«

»Es war das schlimmste Date aller Zeiten.« Cleos Dating-Geschichten hätten eine ganze Enzyklopädie füllen können. Sie hatte mehr Verabredungen als jede andere Person, die ich kannte. Ich hatte nach Kevin damit aufgehört, obwohl, wie Cleo so freundlich bemerkte, ich vor Kevin auch nicht besonders viele Dates gehabt hatte. Aber obwohl einige der Männer, mit denen sie sich verabredet hatte, Kevin wie einen echten Hauptgewinn aussehen ließen, hatte sie sich bislang geweigert, die Hoffnung aufzugeben, dass ihr »Richtiger« irgendwo da draußen war.

Sie stöhnte wieder. »Er war kahlköpfig. Und nicht auf diese sexy Vin-Diesel-Art. Sondern eher wie ein vierzigjähriger Buchhalter, der irgendwie sein ganzes Haar verloren hat. Die Haare in seinen Ohren waren länger als die wenigen auf seinem Kopf. Das Foto von seinem Dating-Profil muss mindestens zehn Jahre alt gewesen sein. Und das war noch nicht mal das Schlimmste. Ich hätte die Tatsache ja übersehen können, dass er wegen seines Aussehens gelogen hat. Aber er hat während des ganzen Essens nur über seine Ex geredet.«

Ich zuckte zusammen. Dating wurde mit jedem Jahr wirklich immer schwieriger. »Ich habe dir ja gesagt, dass Onlinedating die Seele zerstört. Vielleicht solltest du nach Italien kommen. Jedenfalls sehen die Männer hier eindeutig besser aus.« Und sie sind charmanter – mit einer mürrischen, bärtigen Ausnahme.

»Schön wär’s. Aber ich habe nicht etliche Jahre Urlaub angesammelt wie du. Moment mal – spielst du da auf jemand Besonderen an? Hast du jemanden kennengelernt?«

»Mein Notar sieht aus, als wäre er direkt der GQ entsprungen.« Ich hockte mich auf die Bettkante. »Gut aussehend, sexy und metrosexuell. Es ist auch ganz gut, dass es wenigstens einen Augenschmaus gibt, denn was er mir eröffnet hat, ist nicht gut.«

»Was ist passiert?« Cleo war jetzt hellwach. Sie hörte zu, als ich sie auf den neuesten Stand brachte, stöhnte an den richtigen Stellen und lachte, als ich ihr erzählte, dass ich Tommaso mit einem antiken Bügeleisen auf den Kopf geschlagen hatte.

»Lach nicht, das war überhaupt nicht komisch. Ich hätte ihn dabei umbringen können!«

»Sieh es doch positiv: Wenn du ihn getötet hättest, würdest du jetzt alles erben, stimmt’s?«

»Das schon, aber dann würde ich dich grade vermutlich aus dem Gefängnis anrufen.«

»Das ist schon okay. Du hast ja deinen sexy Anwalt, der dich wieder rausholt. Und dann könnt ihr beiden glücklich bis an euer seliges Ende in eurem Schloss leben und GQ-Babys zeugen.«

Ich sah mich in dem schäbigen Schlafzimmer meines Vaters um. Es gab eine Tür zum angrenzenden Badezimmer. Wie oft musste das Wasser im Bad übergelaufen sein, um einen so großen Schaden in der Bibliothek darunter anzurichten? »Es ist alles andere als ein Schloss, und diese Erbschaft bereitet vielleicht mehr Ärger, als es wert ist.«

»Unsinn. Ein halbes Weingut ist besser als gar keins.« Das war genau dieses Fünkchen von Optimismus, auf das ich gehofft hatte.

Cleo gähnte. »Außerdem bist du doch noch nie vor einer Herausforderung zurückgeschreckt. Du bist die nüchternste Analystin, die ich je kennengelernt habe. Wenn sich in dieser Situation irgendwo ein Vorteil verbirgt, wirst du ihn schon aufspüren.«

Sicher, aber das war noch gewesen, bevor ich die Rückzahlungsfähigkeiten eines der wichtigsten Kunden der Bank überschätzt und ihre größte Investition aufs Spiel gesetzt hatte. Ich rieb mir das Gesicht und war froh, dass Cleo mich jetzt nicht sehen konnte. Wenn es um meine Arbeit ging, zeigte ich nie Schwächen, nicht einmal meiner allerbesten Freundin gegenüber.

»Du wirst also nicht in das nächste Flugzeug hierher zurück steigen, ohne einen dicken, fetten Scheck in deiner Gesäßtasche zu haben, hast du mich verstanden?« Sie gähnte erneut.

»Ich hab’s kapiert.« Ich seufzte. »Außerdem weiß ich ohnehin nichts Besseres mit meiner Zeit anzufangen. Selbstverständlich kriege ich das hin. Das ist ein Kinderspiel.« Aber wenn diese Metapher wirklich zu meiner Lebenssituation passen sollte, dann war es ein ziemlich kompliziertes Spiel. Die Art von Kinderspiel, die die Kinder heute auf ihren Computern spielten.

*

»Ich verkaufe nicht.« Tommaso beugte sich über den kleinen Konferenztisch in Lucas Büro. Er hatte die Arme verschränkt und sein Gesicht war finster. »Dein Vater hat mir dieses Weingut hinterlassen, weil er wollte, dass ich es betreibe, nicht, um es an irgendwelche Fremden zu verschachern.«

Ich reagierte gereizt. Er war unnötig stur, weil Luca ihm bereits erklärt hatte, dass das Gericht die Erbschaft unausweichlich fünfzig zu fünfzig unter uns aufteilen würde – am Ende. »Es gibt andere Weingüter, die du kaufen kannst, wenn wir das hier verkauft und den Gewinn aufgeteilt haben. Warum muss es ausgerechnet dieses Weingut sein?«

Tommasos Blick wurde so hart wie Stein. »Wie kannst du diese Frage überhaupt stellen?«

Ich zuckte mit den Schultern. Was erwartete er von mir? Mich hielt hier nichts. Selbst mein Vater hatte hier keinerlei Verbindungen gehabt. Er war nur irgendein Fremder gewesen, der sich entschlossen hatte, ein Weingut in der Toskana zu kaufen, ähnlich wie ein etwas weniger glamouröser Sting. »Dann zahl mich eben aus, wenn du das Gut unbedingt behalten willst.«

Tommasos Miene verfinsterte sich noch mehr. Was war aus diesem unbeschwerten Jungen geworden, an den ich mich erinnerte? Und was hatte ihn in diesen mürrischen, säuerlichen Mann verwandelt, der auf der ganzen Fahrt hierher kaum ein Wort gesprochen hatte? Seine Sturheit war noch wie früher, aber was an einem Spielkameraden nur ein wenig ärgerlich gewesen war, war bei einem Mann, mit dem ich einen Kompromiss schließen musste, ausgesprochen nervig.

»Ich kann es mir im Moment nicht leisten, dich auszuzahlen. Mein ganzes Vermögen steckt in meinem Geschäft.«

»Dann hast du keine Wahl. Wenn das vor Gericht geht, dann musst du trotzdem verkaufen, um mir meinen Anteil auszahlen zu können.« Ich wollte die ganze Angelegenheit genauso wenig vor Gericht zerren wie er, aber das musste Tommaso ja nicht erfahren.

Wir gifteten uns über den Konferenztisch hinweg mit bösen Blicken an.

»Sie sollten vernünftig sein.« Luca spreizte die Hände, als wollte er uns umarmen. Dann drehte er sich zu Tommaso herum. »Sie hat recht. Wenn Sie es sich nicht leisten können, sie auszuzahlen, wird das Gericht einen Verkauf erzwingen.«

»Es kann Monate, wenn nicht sogar Jahre dauern, bis dieser Fall vor Gericht kommt, und mehr Zeit brauche ich nicht. Sobald die nächste Abfüllung auf den Markt kommt, bin ich in einer besseren finanziellen Situation und kann Miss Wells auszahlen.«

Ich beugte mich vor. »Großartig. Wann ist die nächste Abfüllung?«

»Nach der Lese.« Ich wusste zwar nicht viel über Weinanbau, aber das Wenige genügte. »Aber das dauert ja noch Monate!«

»Du kannst alles von Wert aus dem Castello verkaufen. Betrachte es als einen Vorschuss auf deinen Anteil an dem Besitz.« Tommaso machte eine wegwerfende Geste mit der Hand, als wollte er sagen: Friss oder stirb!

Ich sah ihn finster an, und er erwiderte den Blick ebenso böse. Er zuckte nicht mit der Wimper, und sein kalter Blick war wie eine Herausforderung. »Das ist mein letztes Angebot. Wenn es dir nicht gefällt, lassen wir das Gericht entscheiden.«

Er hatte offenbar vergessen, dass ich niemals vor einer Herausforderung zurückschreckte. Und jetzt würde ich ganz sicher nicht damit anfangen. »Du könntest einen Kredit aufnehmen, um mich auszuzahlen.«

Tommaso kniff die Augen zusammen. »Bevor du noch mehr Vorschläge machst, solltest du vielleicht irgendetwas über dieses Geschäft in Erfahrung bringen, das du so dringend loswerden willst. Der Besitz ist bis zum Anschlag mit Hypotheken belastet. Es erholt sich allmählich, aber so etwas passiert nicht über Nacht. Die nächste Abfüllung hätte eigentlich unsere Schulden spürbar senken sollen, aber nach Johns Tod …« Er zuckte mit den Schultern. »Sobald unsere nächste Abfüllung verkauft wird, sind wir in einer erheblich besseren finanziellen Lage. Aber man kann Wein nicht zur Eile antreiben.«

Das ging mir zwar gegen den Strich, aber ich weigerte mich, nach dem Köder zu schnappen. Immerhin war ich dafür bekannt, cool und sachlich zu bleiben. Allerdings fühlte ich mich im Moment nicht besonders cool. Aber wirklich, wessen Schuld war es denn, dass ich nichts vom Weingeschäft verstand? Und ganz sicher war ich nicht dafür verantwortlich, dass John sich entschieden hatte, den Enkel seiner Haushälterin zu seinem Partner und Erben zu machen. Und wenn John mich je gefragt hätte, ob ich in sein Geschäft einsteigen wollte … Hätte ich es getan? Ich biss mir auf die Unterlippe. Wer konnte schon sagen, wofür mein jüngeres Selbst sich entschieden hätte? Es hatte einmal eine Zeit gegeben, da hätte ich alles getan, um Johns Liebe und Anerkennung zu gewinnen. Aber er war tot. Mein Traum, dass wir uns eines Tages aussöhnen würden, war ausgeträumt.

»Ihr könntet den Besitz aufteilen«, schlug Luca vor. »Tommaso könnte das Weingut behalten und Sarah könnte das Castello verkaufen.«

Tommaso lächelte und lehnte sich mit immer noch verschränkten Armen auf seinem Stuhl zurück. Es war kein freundliches Lächeln. »Damit wäre ich einverstanden.«

Natürlich wäre er das. Wahrscheinlich konnte er es kaum erwarten, endlich diesen Mühlstein vom Hals zu bekommen. Und was wollte ich mit einem Gebäude anfangen, dass unbedingt renoviert werden musste? Man musste kein Genie sein, um zu begreifen, dass der Wert dieses Besitzes im Land und in den Weinstöcken lag und nicht in einem baufälligen Herrenhaus mit vornehmem Gehabe. Wer würde schon viel Geld für ein heruntergekommenes Castello ohne Land ausgeben? Und was ich dafür bekam, würde zweifellos von meinem Anteil an den geerbten Schulden aufgefressen werden.

Ich schüttelte langsam den Kopf, und Tommaso hob die Hände in einer verzweifelten Geste, die ganz und gar italienisch war.

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