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Das Kreuz des Pilgers

Als Buch hier erhältlich:

1379: Im Schutz einer Handelskarawane wollen Reinhild und ihr Gemahl in ihre Heimat Koblenz zurückkehren. Als sie von einer marodierenden Räuberbande überfallen werden, entgeht Reinhild nur knapp dem Tod, während für ihren Mann jede Hilfe zu spät kommt. Langsam erholt sie sich von den schrecklichen Ereignissen, doch sie weiß: Um ein Auskommen für sich und ihren Sohn zu haben, wird sie wieder heiraten müssen. Ein Gedanke, der ihr Angst macht. Trotzdem wird ihr immer klarer, dass es nur einen Mann gibt, der für sie in Frage kommt – auch wenn sie sicher ist, dass ihr Vater diese Verbindung niemals gutheißen wird.


  • Erscheinungstag: 24.08.2021
  • Aus der Serie: Pilger Reihe
  • Bandnummer: 1
  • Seitenanzahl: 528
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749901586

Leseprobe

Personenverzeichnis

Hauptfiguren und ihre Familien

Palmiro Bongert, genannt Don Palmiro

Pelz-, Leder- und Geschmeidehändler aus Koblenz

Anton Bongert, genannt Don Antonio

Luzias jüngerer Bruder, Palmiros Ziehvater, Tuchhändler in Koblenz

Enneleyn Bongert

Don Antonios Gemahlin, Johann von Mantens uneheliche Tochter

Valentin Bongert

Sohn von Enneleyn und Don Antonio

Conlin vom Langenreth

Jüngerer Sohn des verstorbenen Grafen Walther vom Langenreth, Oswalds Bruder

Adelheid vom Langenreth

Tochter von Amalia und Oswald

Amalia vom Langenreth, Christine vom Langenreth

Oswalds Gemahlin, Oswalds und Conlins Mutter

Cristof vom Langenreth

Sohn von Amalia und Oswald

Kunigunde vom Langenreth

Tochter von Amalia und Oswald

Oswald vom Langenreth

ältester Sohn Walther vom Langenreths, Conlins Bruder

Walther vom Langenreth (der Jüngere)

ältester Sohn von Amalia und Oswald

Walther vom Langenreth (der Ältere)

Oswalds und Conlins Vater, verstorben

Reinhild von Winneburg-Manten

Tochter von Johann und Elisabeth von Manten, Witwe des Gottfried von Winneburg

Gräfin Elisabeth von Manten

Reinhilds Mutter

Frieder von Manten

Reinhilds Bruder

Gottfried von Winneburg

Reinhilds Gemahl

Graf Johann von Manten

Reinhilds Vater, Graf, Bürgermeister

Johann von Winneburg, gen. Hannes

Reinhilds Sohn

Jutta von Heldweg

Johann von Mantens Stiefmutter

Mariana von Manten

Reinhilds jüngere Schwester

Notker von Manten

Johann von Mantens jüngerer Bruder, Verwalter der Mantenburg

Reinher von Heldweg

Juttas Gemahl

Richwin von Manten

Reinhilds ältester Bruder

Luzia Wied

Don Antonios ältere Schwester, gute Freundin von Elisabeth von Manten, Gewürzhändlerin in Koblenz

Martin Wied

Weinhändler in Koblenz, Bürgermeister

Bertholff Wied

Sohn von Luzia und Martin

Heinrich Wied

Sohn von Luzia und Martin

Jost Wied

Sohn von Luzia und Martin

Augusta Wied, genannt Gusti

Tochter von Luzia und Martin

Rigo de Beerte

Kauwerziner (Geldverleiher) in Koblenz, Martin Wieds Schwager

Arietta de Berge

Martin Wieds jüngste Schwester, Gemahlin von Wulfhart de Berge

Wulfhart de Berge

Gutsherr und Winzer in Wied, Gemahl von Arietta

Marie de Berge

Ariettas und Wulfharts Tochter

Mathys le Smithy

Handelsgeselle, Spion für den Inquisitor Erasmus von London

Gesinde

Anni

Reinhilds Magd, Hannes’ Kinderfrau

Asbald

Hausknecht auf Gut Langenreth

August

Palmiros Waffenknecht

Benno

Palmiros Waffenknecht

Bert

Junger Knecht in Aachen

Eggebrecht

Palmiros Knecht

Heide

Hausmagd auf Gut Langenreth

Martel

Knecht auf Gut Langenreth

Mats

Reinhilds Knecht, Wilberts Zwillingsbruder

Minta

Palmiros Küchenmagd

Nilda

Palmiros Haus- und Stallmagd, ehemalige Kindhure aus Aachen

Tilde

Reinhilds Köchin

Wilbert

Reinhilds Knecht, Mats’ Zwillingsbruder

Sonstige Personen

Albert Merten

Apotheker in Köln

Adelina Merten

Tochter des Apothekers Albert Merten in Köln

Bella

Hurenwirtin im Haus Zur Schlange in Koblenz

Benedikt vom Heidenstein

Söldner

Bertrade

Tochter eines pilgernden Kaufmanns-Ehepaares

Birgel

Waffenknecht

Carst van Thelen

Seidenhändler in Köln

Dietmar

pilgernder Kaufmann, Bertrades Vater

Else von Kempenich

Gemahlin von Heinrich von Kempenich

Erasmus von London

Dominikaner, Inquisitor in Rom

Pater Federicus

Gemeindepfarrer der St. Kastorkirche

Fiorina

Don Antonios erste Gemahlin, verstorben

Pater Fidelmus

ehemaliger Beichtvater auf Gut Langenreth, verstorben

Bruder Genericus

Mönch (und Priester) im Dominikanerkloster in Köln, Vetter von Oswald und Conlin

Bruder Georg

ehemaliger Beichtvater von Elisabeth von Manten, verstorben

Gerhardus Sack

Stadtwächter in Koblenz

Gertrud von Kempenich

Gemahlin von Johann II. von Kempenich

Heinrich von Kempenich

Burgherr auf Burg Kempenich (historisch belegt 1378)

Hilger Quattermart von der Stesse

Ratsherr in Köln (historisch belegt)

Meister Jacob

Geldwechsler in der Judengasse

Jan Overstolz

Kaufmann in Köln

Johann II. von Kempenich

Burgherr auf Burg Kempenich (historisch belegt 1378)

Klais Brauer

Gastwirt in der Braugasse in Koblenz

Klarissa

ehemalige Hurenwirtin im Haus Zur Schlange in Koblenz

Laurent de Thalon

französischer Ritter

Klausmann

Waffenknecht

Margarete

Pilgerin

Bruder Martinus

Dominikaner in Köln

Mechthild

Hebamme in Köln

Petermann

Pförtner am Löhrtor in Koblenz

Richmod Kleingedank

Gemahlin des Hilger Quattermart von der Stesse (historisch belegt)

Simon IV. von Kempenich

Burgherr auf Burg Kempenich (historisch belegt 1378)

Sieglinde Merten

Gemahlin des Apothekers Albert Merten in Köln

Theis Mött

Hurenwirt und Badestubenbetreiber in Aachen

Bruder Thomasius

Dominikaner in Köln

Vater Anselm aus Köln

Prior des Dominikanerklosters in Köln, Exorzist

Walter Nyvelonck

Zunftmeister der Kaufleute, Holzhändler

Willem

Stadtwächter in Koblenz

1. Kapitel

Eine Tagesreise vor Basel, 3. Juni, Anno Domini 1379

Die Nacht senkte sich allmählich über die Ebene, als Palmiro sich leise und vorsichtig erhob, um das Versteck zu verlassen. Dem Bündel aus mehreren Wolldecken, unter dem sich ein warmer, williger und anschmiegsamer Körper verbarg, warf er einen letzten, wehmütigen Blick zu. Es war verabredet, dass sie sich stets auf diese Weise trennten: heimlich, still, ohne Abschiedsgeste.

In Windeseile warf Palmiro sich seine Kleider über, ordnete sein schwarzes, bis an die Schultern reichendes Haar, achtete peinlich genau darauf, dass kein Strohhalm, keine Erdkrume, kein Knitter im Wams darauf schließen ließ, woher er kam, wenn er gleich das Lager betrat. Er wusste, wenn man sie erwischte, wäre ihrer beider Leben verwirkt, die Strafe entsetzlich, seine Ehre und die seiner Familie dahin.

Er war ein Ehebrecher vor dem Herrn und die Last, die diese Sünde ihm auferlegte, manchmal kaum zu ertragen. Was sein Vater, der ehrenwerte Anton Bongert, genannt Don Antonio, Tuchhändler aus Koblenz am Rhein, und dessen Gemahlin, die ebenso liebreizende wie kluge Enneleyn, von ihm halten würden, wenn sie wüssten, was er getan hatte, welche Dämonen ihn heimsuchten und welch schwere Prüfungen der Herr ihm auferlegt hatte, wagte er sich nicht einmal vorzustellen.

Doch wie sollte er sich befreien von der Sehnsucht nach Liebe, die sein Herz erfüllte und die, obgleich menschlich, doch ins Verderben führen würde?

Die ersten Sterne glommen am dunkler werdenden Abendhimmel und der Mond stand fast vollständig gerundet in ihrer Gesellschaft und schien sich die Geschicke der Menschen aufmerksam anzusehen. Fast zum Greifen nah konnte Palmiro die himmelstrebenden, teilweise schneebedeckten Gipfel der Alpen erkennen, die sie just überquert hatten. Noch ungefähr einen Tag würden sie unterwegs sein, bis sie Basel erreichten und von dort aus mit einem der Handelsschiffe rheinabwärts nach Koblenz reisen konnten.

Einen Moment lang blieb Palmiro ganz still stehen und blickte auf das mächtige Gebirge. Das erste Mal, dass er es überwunden hatte, war vor nunmehr siebzehn Jahren gewesen, zusammen mit dem Mann, der ihm seither ein Vater gewesen war und den er von ganzem Herzen liebte und verehrte. Seit jenen lang vergangenen Tagen war viel geschehen – viel Gutes. Sein Leben, das im Schmutz und Elend der Gassen im Armenviertel Mailands begonnen hatte, war eine ebenso abenteuerliche Reise geworden wie jener Weg damals aus seiner Geburtsstadt in die kleine Handelsstadt am Rhein, die ihm zur Heimat geworden war. Dort lebten die Menschen, die er liebte, dort befand sich sein Herz und dorthin verlangte es seine Seele zurückzukehren.

Er hatte nicht nur das Lesen und Schreiben gelernt, sondern war von seinem Ziehvater zu einem klugen, gewissenhaften und erfolgreichen Kaufmann ausgebildet und von seiner Mutter, Frau Enneleyn, zu einem ehrenhaften, gottesfürchtigen und gerechtigkeitsliebenden Menschen erzogen worden. Er hatte Reisen unternommen, sogar ein halbes Jahr lang als Matrose auf der Ludwina gedient, dem Rheinhandelsschiff des Gewürzhändlers Martin Wied, der ein guter Freund der Familie war.

In Koblenz hatte Palmiro zunächst in seines Vaters Tuch- und Eisenwarenhandel mitgearbeitet, doch nach der Rückkehr von seiner jetzigen Reise wollte er etwas Eigenes auf die Beine stellen. Ganz sicher würde Don Antonio ihm dabei unter die Arme greifen, auch wenn Palmiro vieles bereits selbst in die Wege geleitet hatte. Er musste nur noch ein Haus mit Platz für Kontor und Warenlager finden, das er sich leisten konnte. Doch auch da würde sein Vater ihm sicherlich mit Rat und Tat zur Seite stehen. Auch dass die Familie in Martin Wied und dem Grafen Johann von Manten zwei gewichtige Freunde hatte, die dem Koblenzer Rat angehörten, würde ihm sicher zugutekommen. Aus dieser Position heraus würden sie Palmiro ganz sicher unter die Arme greifen.

Die Zukunft lag somit in den angenehmsten Farben vor Palmiros innerem Auge. Das Heimweh, das ihn schon seit Längerem geplagt hatte, war einer erwartungsvollen Vorfreude gewichen, die sogar all jene Zweifel zu übertrumpfen vermochte, die ihn stets befielen, wenn er an die Geheimnisse dachte, die er nicht nur vor seiner Familie hüten musste, sondern vor jedem Menschen, dem er begegnete.

Unwillkürlich hob er die Hand an seine Brust, tastete nach dem silbernen, an den Rändern kunstvoll ziselierten, knapp handtellergroßen Kruzifix, das er dort nah an seinem Herzen unter dem Wams verborgen trug. Es fühlte sich warm an, fast heiß, und es schien zu vibrieren, so als hätte es einen eigenen Herzschlag. In der Dunkelheit der Nacht vermeinte Palmiro sogar, ein hohles, zorniges Sirren zu vernehmen, und als er einen kurzen Blick unter das Wams warf, konnte er einen bläulichen Schimmer um das Schmuckstück erkennen.

Es warnte ihn vor dem Verderben, dessen war er sich sicher. Diese machtvolle Reliquie, denn um nichts anderes handelte es sich bei dem Kruzifix, wusste um seine Verfehlungen. Sie schien ihm klarmachen zu wollen, dass er sich in Acht nehmen musste – vor sich selbst und seinen unbändigen Gefühlen ebenso wie vor den Konsequenzen, die ihm drohten, wenn er je entdeckt würde. Lange Zeit hatte er mit sich gehadert und dem Allmächtigen gezürnt, weil dieser ihn mit der Bürde eines liebenden Herzens ausgestattet hatte – und mit der Gabe, das Gute in den Menschen ebenso zu erkennen wie das Böse, die Missgunst, den Hass. Diese Eigenschaften manifestierten sich für ihn in Form eines Lichts, des Seelenlichts, wie er es bei sich nannte, und das wohl nur er allein zu sehen und zu deuten vermochte. Manchmal sogar konnte er an der Form des Lichts das Schicksal des Menschen erahnen. Seine Gabe hob ihn von seinen Mitmenschen ab, auch wenn diese zumeist gar nichts davon bemerkten. Schon als Kind hatte er gewusst, dass er anders war als die meisten anderen Menschen, denn bereits damals war diese Eigenschaft an ihm zutage getreten und hatte sich seither verfestigt und verstärkt. Manchmal machte sie ihm Angst, doch er hatte gelernt, sie zu kontrollieren.

An sich wäre diese besondere Fähigkeit ein Grund gewesen, dem Herrn zu danken, konnte Palmiro auf diese Weise doch stets sehr schnell einschätzen, ob ihm ein Mensch, auch ein möglicher Handelspartner, wohlgesinnt war oder nicht.

Doch der allmächtige Gott verteilte solche Gaben niemals, ohne den Menschen, der sie empfing, vor Prüfungen zu stellen. Zumindest interpretierte Palmiro das, was ihm – oder vielmehr seinem Herzen – gerade widerfuhr, als eine solche Prüfung. Denn wenn es keine göttliche Fügung war, dann musste der Gottseibeiuns seine Hand im Spiel haben, und in diesem Fall wäre er wohl verloren und seine Seele auf ewig verdammt, etwas, das er sich nicht vorzustellen wagte.

Der Gedanke, dass er ein Ketzer war, oder vielleicht sogar Schlimmeres, hatte ihn in eine Glaubenskrise versetzt. Er verbot sich nachgerade, die Konsequenzen zu bedenken, die ihn ereilen würden, erführe jemand von all jenen Gefühlen und Gedanken, die ihn umtrieben, die sein Herz verführten und seinen Leib in Flammen setzten, wenn er sich erlaubte zu lieben. Denn wohin es führte, wenn er sein Herz öffnete, erlebte er gerade am eigenen Leib. Er litt, nicht nur um seines eigenen gepeinigten Herzens willen, sondern auch, weil er anderen Menschen damit Schmerz zufügte und ein nicht wiedergutzumachendes Unrecht antat. Und dennoch konnte er nicht anders.

Ein lauer Wind strich über die Ebene zu ihm herauf und zauste sein Haar erneut. Er stand auf einem Hügel, der die Höhle verbarg, die als vorzügliches Versteck für heimlich Liebende diente. Nur wenige Schritte talwärts hatte die Reisegruppe aus Kaufleuten und Pilgern, mit der er seit Genua reiste, ihr Lager aufgeschlagen.

Vor knapp anderthalb Jahren hatte er sich auf den Weg ins Heilige Land begeben, um seinen Glauben und sein Gottvertrauen zu stärken und natürlich auch, um die Welt zu sehen. Jetzt war er auf dem Weg zurück in seine Heimat.

Gemessenen Schrittes, die Hand immer noch auf die Stelle an seiner Brust und das Kreuz gelegt, ging er auf das Lager zu, aus dem Rauch von mehreren kleinen Feuerstellen in die warme Juninacht aufstieg. Er hatte heute Wachdienst, wollte zuvor aber noch einen Happen essen und nach den Pferden sehen. Morgen wollten sie bei Anbruch des Tages aufbrechen, um gegen Abend endlich Basel zu erreichen. Dort würde er sich dann vom einfachen Pilger wieder in den Kaufmann zurückverwandeln, der er bis vor anderthalb Jahren gewesen war. Und heimkehren.

Als das Kruzifix immer heißer pulsierte und immer zorniger summte, begann er zu argwöhnen, dass es ihn tatsächlich warnen wollte – jedoch nicht vor dem Verlust seines Seelenheils, sondern vielmehr vor einer akuten Gefahr.

2. Kapitel

Leise ging Reinhild die wenigen Schritte bis zum Rand des Lagers und von dort aus zu dem lustig glucksenden Bach, der die Ebene durchzog und sich weiter im Norden zwischen zwei Hügeln hindurch in die Ferne schlängelte. Es war bereits weit nach Mitternacht, doch sie konnte einfach nicht einschlafen. Deshalb hatte sie sich eine Leinenhaube über ihr geflochtenes blondes Haar gezogen, ein leichtes Wolltuch um die Schultern geschlungen und ihre Schlafstätte verlassen.

Seit sie vor zwei Tagen mit ihrem Gemahl und der bewaffneten Handelskarawane von Zürich herübergekommen und zu der Gruppe aus Pilgern und Kaufleuten gestoßen war, die kürzlich erst den Alpenpass überquert hatte, fühlte sie sich zerrissen.

Glücklich einerseits, denn der Reisegruppe hatte, wie erhofft, auch Palmiro angehört, den sie so schrecklich lange nicht gesehen hatte. Vor anderthalb Jahren war er auf eine Pilgerreise ins Heilige Land aufgebrochen und hatte zwar hin und wieder Briefe in die Heimat geschickt, dennoch war Reinhild in beständiger Sorge um sein Wohlergehen gewesen, ebenso wie ihre Familie und Freunde.

Sie kannte Palmiro schon ihr gesamtes Leben – oder doch zumindest fast. Als sie gerade vier Jahre alt gewesen war, hatte Don Antonio, der spätere Gemahl ihrer Schwester Enneleyn, den damals nicht einmal zehnjährigen Knaben von einer Handelsreise aus Mailand mitgebracht. Palmiro hatte kaum die deutsche Sprache über die Zunge gebracht und alle waren verblüfft gewesen, als Don Antonio verkündet hatte, der ehemalige Gassenbengel sei nun sein Ziehsohn und ihm so lieb und wichtig wie sein eigen Fleisch und Blut. Heute, siebzehn Jahre später, verstand Reinhild natürlich besser, was damals geschehen war und welch schreckliches Schicksal nicht nur Palmiro, sondern auch Don Antonio selbst widerfahren war.

Bereits ein oder zwei Jahre zuvor hatte Palmiro seine Eltern und Geschwister an die Schwarzen Blattern verloren und sich seither mehr schlecht als recht in den Gassen Mailands allein durchgeschlagen, hauptsächlich mit Botendiensten und Handreichungen für Handwerker und Kaufleute. So war er auch Don Antonio begegnet, der damals in Mailand ein Haus und Kontor geführt hatte, eine von mehreren Fernhandelsniederlassungen der Familie Wied. Als Don Antonio beschloss, zusammen mit seiner jungen Gemahlin Fiorina in seine Heimat am Rhein zurückzukehren, war Palmiro ihm heimlich gefolgt, in der Hoffnung eine Anstellung als Knecht ergattern zu können. Als Don Palmiro ihn entdeckte, hatte er ihn nicht zuletzt auf Fiorinas Bitten hin tatsächlich bei sich aufgenommen.

Wegelagerer hatten jene Handelskarawane überfallen, mit der sie von Mailand gen Koblenz gereist waren, und ein schreckliches Blutbad angerichtet, dem auch Fiorina zum Opfer gefallen war. Palmiro war so schwer verletzt worden, dass man um sein Leben hatte bangen müssen.

Don Antonio hatte den schwer verletzten Jungen gesund gepflegt und zwischen den beiden war eine tiefe Verbindung entstanden wie die zwischen Vater und Sohn.

Ein Akt der Rache eines Trupps Galgenschwengel war jener Überfall gewesen, hatte Don Antonio später zugegeben. Bei einem räuberischen Vorfall in einer Taverne durch ebendiese düsteren Gesellen hatte Antonio das Pferd von deren Anführer entwendet, nachdem er einige der Räuber ums Leben gebracht hatte und fliehen musste. Der Rappe, ein stolzes, wunderschönes Tier, stand noch heute in Don Antonios Stall und tat sich am Gras der Weiden gütlich, die zum Anwesen des Kaufmanns gehörten. Das Tier mochte bereits an die zwanzig Jahre alt sein und genoss nun sein Gnadenbrot, nachdem es Don Antonio viele Jahre lang treu als Reittier gedient hatte. Etwa ein Jahr nach seiner Rückkehr nach Koblenz hatte Don Antonio Enneleyn geehelicht, die Bastardtochter des Grafen Johann von Manten, die dieser nach seiner Hochzeit mit Elisabeth von Küneburg in seinen Haushalt aufgenommen und liebevoll aufgezogen hatte. Für Palmiro war Enneleyn rasch zur geliebten Mutter geworden. Reinhild wiederum, damals ja noch ein kleines Kind, war der ehemalige Gassenjunge sehr bald wie ein Familienmitglied lieb geworden, ebenso wie ihren Brüdern und Schwestern und den Söhnen und Töchtern der reichen Gewürz- und Weinhändlerfamilie Wied, die der ihren eng verbunden war. Als sie alle noch Kinder gewesen waren, hatten sie viel Zeit miteinander verbracht und jede Menge Unsinn angestellt. Oder vielmehr hatten zumeist die anderen den Schabernack getrieben und Reinhild hatte Schmiere gestanden oder sich eine Ausrede einfallen lassen müssen, um die Missetäter vor Strafe zu schützen. Sie war nie sehr abenteuerlustig gewesen – im Gegensatz zu ihrer jüngeren Schwester Mariana, die Unbill geradezu anzuziehen schien. Doch im diplomatischen Umgang mit ihrem Vater hatte Reinhild stets ein besonderes Talent besessen, das sie vermutlich von ihrer Mutter geerbt hatte und ihr natürlich die Aufgabe der Vermittlerin und Schlichterin einbrachte.

Mit einem amüsierten Lächeln dachte Reinhild an jene Kindertage zurück, in denen auch ihr Gemahl Gottfried bereits ein fester Bestandteil ihres Lebens gewesen war. Als Sohn einer angesehenen Koblenzer Händlerfamilie gehörte er jener Gruppe von Kindern und Heranwachsenden ebenso an wie viele weitere Knaben und Mädchen der wohlhabenden Kaufleute und Handwerker. Koblenz war zwar keine kleine Stadt, dennoch aber so überschaubar, dass die Einwohner einander gut kannten.

Nach kurzem Zögern setzte Reinhild sich auf einen Stein am Ufer des Bachs, streifte ihre Schuhe ab und tauchte ihre Füße in das kühle Nass. Sie hatte sich ein gutes Stück weiter vom Lager entfernt, als sie eigentlich vorgehabt hatte, doch dieser Stein hier war einfach perfekt und die Nacht wunderbar lau und friedlich. Gottfried, ihr Gemahl, lag unter seinen Decken vergraben und schlief tief und fest. Zunächst hatte sie noch versucht, sich zu beruhigen, indem sie sich fest an ihn gekuschelt hatte. Doch jene Zerrissenheit, die ihr das Herz schwer machte, hatte sich einfach nicht abschütteln lassen.

Das Zusammentreffen mit Palmiro hatte nicht nur die Freude des Wiedersehens in ihr geweckt, sondern auch all jene anderen Gefühle, die sie schon so lange tief in ihrem Herzen verbarg und über die sie mit keiner Menschenseele reden konnte. Liebe war eines davon. Tiefe, unverbrüchliche Liebe, doch zugleich auch das Wissen, dass sie, Gottfried und Palmiro ein Geheimnis teilten, das, sollte es je ans Tageslicht kommen, entsetzliche Schande über sie bringen würde. Und vielleicht sogar Schlimmeres.

Reinhild hatte Gottfried vor fünf Jahren aus Liebe – einer echten, ganz und gar besonderen Liebe, wie sie vielleicht niemand sonst auf dieser Erde begreifen würde – und Dankbarkeit geheiratet. Er hatte sie mit dieser Ehe aus einer schrecklichen, von ihr selbst verschuldeten Situation errettet.

Schon als Kinder waren auch sie ein Herz und eine Seele gewesen und das hatte sich bis zum heutigen Tage nicht geändert. Niemand anderer als Gottfried hätte ihr die Sünde verziehen, die sie begangen hatte, da war sie sich sicher. Eine Sünde, die sie außer ihm niemandem anvertraut hatte. Er besaß ein so reines und gütiges Herz! Und dennoch stand etwas zwischen ihnen. Eine andere Liebe, wild, ungebändigt, gegen jeden Brauch und jede Sitte, fern von Anstand und dem, was die Heilige Mutter Kirche durch ihre Priester beharrlich und mit Vehemenz als rechtens verkündete.

Ehebruch. Allein das Wort zu denken, führte schon dazu, dass man sich mit einem Bein ins höllische Fegefeuer begab. Doch Reinhild war sehenden Auges in dieses Netz aus Heimlichkeiten und drohender Schmach getreten und machtlos gegen die tiefen Gefühle, die es gewoben hatten.

Seufzend legte sie den Kopf in den Nacken und blickte zu den Sternen empor. Ihre Mutter, eine sehr gebildete Frau, hatte ihr einst die verschiedenen Sternbilder und deren Bedeutung erklärt und dass es Männer gab, die aus dem Lauf der Gestirne die Zukunft vorauszusagen in der Lage waren. Manchmal wünschte Reinhild sich, einen solchen Mann kennenzulernen, damit er ihr vielleicht einen Hinweis darauf geben konnte, wie ihr eigenes Geschick sich entwickeln würde. Andererseits fürchtete sie sich auch davor.

Frau Luzia, die engste Freundin ihrer Mutter und die Ehefrau des hochangesehenen Martin Wied, der Kaufmann, für den Gottfried im Augenblick arbeitete, hatte hin und wieder im Traum Gesichte, die die Zukunft voraussagten. Meist ging es dabei nur um Begegnungen oder kleine Missgeschicke, die sich trotz der Vorhersagen nicht verhindern ließen. Reinhild fand es dennoch beunruhigend. Um wie viel beängstigender wäre es wohl, einen echten Blick in die Zukunft tun zu dürfen? Verführerisch und erschreckend zugleich mutete der Gedanke an, und sie konnte sich nicht entscheiden, welche der beiden Empfindungen in ihr überwogen.

Als es im nahe gelegenen Gebüsch raschelte, zuckte Reinhild zusammen. Abrupt aus ihren Gedanken gerissen wagte sie nicht mehr, sich zu bewegen. Ihr Herzschlag beschleunigte sich und sie lauschte angestrengt. Als jedoch ein helles Quietschen, gefolgt vom Schrei einer Eule verriet, dass ein nächtlicher, geflügelter Jäger seine Beute entdeckt und geschlagen hatte, musste sie fast über sich lachen. Es folgte noch mehr Geraschel und Gefiepe während des kurzen Kampfes der Kontrahenten, bevor Reinhild den erhabenen Schatten der Eule vom Boden abheben und davonfliegen sah.

Sie zog das Wolltuch etwas fester um die Schultern und die Füße aus dem Wasser und entspannte sich wieder. Allmählich wurde es doch etwas zu kalt. Wahrscheinlich war es ohnehin besser, wenn sie ins Lager zurückkehrte und noch einmal versuchte, Schlaf zu finden. Am Morgen wollten sie sehr früh aufbrechen und der Weg bis Basel würde anstrengend werden.

Reinhild war das Reisen allmählich leid. Die pure Neugier hatte sie dazu getrieben, Gottfried auf seiner Handelsreise bis nach Zürich zu begleiten. So weit von zu Hause weg war sie noch nie gewesen und die meiste Zeit hatte sie die neuen Eindrücke sehr genossen, auch wenn so mancher Tag beschwerlich gewesen war. Normalerweise wurden beinahe alle Waren, die die Koblenzer Kaufleute vertrieben, über Rhein und Mosel angeliefert, manche auch mit Karawanen auf dem Landweg. Die großen Wasserstraßen hatten der Stadt zu nicht unbeträchtlichem Wohlstand verholfen. Doch ein- bis zweimal im Jahr standen trotzdem auch Besuche bei den wichtigsten Handelspartnern außerhalb an, um neue Geschäfte und Konditionen zu besprechen und zu verhandeln.

Gottfried war nun schon seit einigen Jahren die rechte Hand von Martin Wied und dessen Gemahlin, die sich höchst erfolgreich im Gewürz- und Weinhandel hervortaten. Bis vor drei Jahren war Martin selbst regelmäßig zu seinen Geschäftspartnern gereist, manchmal auch in Begleitung seiner Gemahlin. Doch inzwischen widmete er sich mehr und mehr seinen städtischen Ämtern und überließ Gottfried die Besuche bei auswärtigen Kunden.

Bald schon, so nahm Reinhild an, würden Martins Söhne das Kontor übernehmen, was bedeutete, dass Gottfried, wenn er nicht wieder zum Handelsgehilfen degradiert werden wollte, sich etwas Eigenes aufbauen musste. Selbstverständlich würde sie ihn darin unterstützen, so gut sie konnte. Sie brauchte eine Beschäftigung, schließlich war ihr Sohn Hannes nun schon bald fünf Jahre alt. In wenigen Jahren würde er entweder als Page in einen befreundeten Adelshaushalt aufgenommen oder bei Martin oder einem anderen befreundeten Kaufmann in die Lehre geschickt werden. Selbst wenn er dann nur wenige Schritte von ihnen entfernt wohnen würde, hätte sie niemanden mehr, um den es sich zu kümmern galt. Hannes war ihr einziges Kind und daran würde sich wohl auch nichts mehr ändern. Vielleicht konnte sie also ihre Fertigkeiten einbringen, wenn Gottfried ein eigenes Kontor eröffnete.

Ihre Gedanken schweiften zu Palmiro, der endlich nach Koblenz zurückkehrte und vorhatte, diesmal auf Dauer zu bleiben. Mit Gottfried hatte er sogar schon darüber gesprochen, sich zusammenzutun und die Geschäfte gemeinsam anzugehen. Doch so wunderbar diese Nachricht auch sein mochte – Reinhild freute sich wirklich von Herzen –, würde ihr Leben dadurch fortan noch viel schwieriger werden, als es ohnehin bereits gewesen war. Täglich würde sie um Kraft beten müssen und um den Mut, die Geheimnisse, die sie zu hüten hatte, weiterhin tapfer zu bewahren.

Entschlossen wandte sich Reinhild wieder dem Lager zu und wollte gerade den ersten Schritt setzen, als irgendwo in der Nähe ein Pferd wieherte, dann ein zweites. Erschrocken hielt sie inne. Im nächsten Moment brach ein wildes Gebrüll und Geschrei im Lager aus. Männer mit Fackeln drangen aus dem Hinterhalt ein, offenbar Räuber, die auf die teuren Handelswaren aus waren, die die Karawane mit sich führte. Entsetzt starrte Reinhild für einen langen Moment auf das wilde Durcheinander, das sich im Schein der Feuer entspann. Die Wachleute hatten ihre Waffen gezogen und verteidigten das Hab und Gut ihrer Dienstherren. Zwei Frauen kreischten, ein Hund kläffte wütend.

Hastig blickte Reinhild sich um. Sie musste sich irgendwo in Sicherheit bringen. Mit solchen Wegelagerern war nicht zu spaßen. Von vielen Gräueltaten hatte man ihr schon erzählt und sie stets gewarnt, auf der Hut zu sein und sich nicht zu weit vom Lager zu entfernen! Schon gar nicht mitten in der Nacht und ganz allein. Sie hatte nicht einmal jemandem gesagt, wohin sie gehen wollte. Wozu auch? Sie hatte überhaupt nicht damit gerechnet, dass in dieser stillen Nacht etwas Ungewöhnliches passieren könnte.

Mit wild pochendem Herzen drehte Reinhild sich auf der Suche nach einem Versteck um die eigene Achse, doch hier in der Ebene gab es außer ein paar niedrigen Sträuchern nichts, was ihr hätte Deckung bieten können. Flüche, Geschrei und das Klirren von Stahl auf Stahl verrieten, dass die Wachleute die Eindringlinge mit ihren Schwertern zurückzudrängen versuchten. Eine Vielzahl von Pechfackeln erhellte inzwischen das Lager und Reinhild musste mit Schrecken erkennen, dass die Räuber in der Überzahl zu sein schienen. Oder wirkte es nur so, weil sie sich so flink bewegten? Wieder wieherten die Pferde, diesmal lauter und im nächsten Moment galoppierten zwei von ihnen davon.

Reinhild duckte sich, als sie einen der Eindringlinge hinter den Pferden herlaufen sah. Vermutlich hatte er die Tiere befreit, um sie zu stehlen. Hoffentlich entdeckte er sie nicht!

Noch einmal wog sie ihre Möglichkeiten ab und entschied, dass es am sichersten war, zum Lager zurückzukehren. So schnell sie konnte, huschte sie geduckt zu einem der Reisewagen, die sie einem Burgwall ähnlich um das Lager aufgestellt hatten. Leider schützten sie die Reisenden nur von einer Seite, da nicht genügend Wagen vorhanden waren, um den Kreis zu schließen und eine echte Wagenburg zu stellen.

Wieder hörte sie Frauen kreischen. Es waren nur eine Handvoll außer ihr unter den Reisenden, davon zwei Jungfern von vierzehn und zwölf Jahren, die ihre Eltern auf einer Pilgerreise begleitet hatten. Schwer atmend und eiskalt vor Angst drückte Reinhild sich gegen das vordere Wagenrad und versuchte, sich unsichtbar zu machen. Wohin sollte sie bloß gehen? Wo war Gottfried? Wo waren Palmiro und dessen Freund und Wegbegleiter Conlin, den sie selbst ebenfalls schon seit ihrer Kindheit kannte? Sie konnte keinen von ihnen in dem wilden Durcheinander ausmachen, das inzwischen um das Feuer herum herrschte. Also kroch sie schließlich unter den Wagen.

Das Gebrüll der Männer und das Gekläff des Hundes mischten sich zu einem merkwürdigen Dröhnen in ihren Ohren, das immer wieder vom Klirren der Schwertklingen durchschnitten wurde.

»Bitte, lieber, guter, allmächtiger Gott, mach, dass das wieder aufhört«, betete sie halblaut und kniff die Augen zusammen, nur um sie im nächsten Moment wieder weit aufzureißen, als ein dumpfer Schlag das Gefährt über ihr erzittern ließ.

Einer der Wachmänner war rücklings gegen den Wagen gestolpert und verlor dabei sein Schwert. Nur Augenblicke später wurde er von der Klinge seines Gegners durchbohrt und sackte in sich zusammen. Als er zu Boden ging, drehte er sich im Todeskampf auf den Rücken, rang verzweifelt die Hände, dann bemerkte er Reinhild und starrte sie aus weit aufgerissenen Augen an. Er bewegte die Lippen, wollte wohl etwas sagen, doch nur ein Gurgeln entwich seiner Kehle. Ein Schwall Blut quoll ihm aus dem Mund, sein Blick brach.

Der Räuber zog sein Schwert mit einem Ruck zurück, stieß einen Triumphschrei aus und sah noch einmal hinab auf sein Opfer. In diesem Moment entdeckte er Reinhild. Ein Augenblick, in dem sich beide stumm anstarrten, bevor er einen Ausfallschritt nach vorne tat und nach ihrem Arm griff.

***

Flink wich Palmiro dem Angriff eines Räubers aus, fluchte gleichzeitig aber, weil er dabei fast in eine der Feuerstellen getreten wäre. Sein leichtes Straucheln nutzte der Gegner sogleich aus, um mit Wucht sein Schwert zu schwingen. Stahlklinge traf auf Stahlklinge; beinahe hätte Palmiro seine Waffe fallen gelassen. Er wirbelte zur Seite, griff seinerseits an – und dankte innerlich seinem Vater dafür, dass dieser ihn ausgiebig im Gebrauch diverser Waffen ausgebildet hatte. Einigen der anderen Kaufleute erging es gerade schlecht, weil sie diese Fertigkeit nicht besaßen und sich weitgehend auf den Schutz ihrer Wachleute verließen. Schon sah er zwei, drei Männer leblos am Boden liegen.

Die Brutalität, mit der die Wegelagerer sie überfielen, erstaunte ihn. Zwar waren dergleichen Angriffe nicht ungewöhnlich, doch die Männer, mit denen sie es hier zu tun hatten, waren nicht nur überaus entschlossene, sondern auch ausgesprochen gut ausgebildete Kämpfer. Eine marodierende Söldnertruppe vermutlich. Mit ihnen war nicht zu spaßen, denn sie stahlen nicht nur alles, was nicht niet- und nagelfest war, sondern hinterließen zumeist auch keinen lebenden Zeugen, es sei denn …

Das Kreischen einer Frau lenkte Palmiro ab. Sein Blick zuckte in die Richtung, aus der der Schrei gekommen war, und reines Entsetzen packte ihn. Einer der Räuber hatte Reinhild in seine Gewalt gebracht und zerrte sie an Haaren und Armen mit sich durch das Kampfgetümmel. Heiß und eiskalt zugleich rann Palmiro ein Schauder das Rückgrat hinab, als er sah, wie der Söldner die junge Frau grob mit sich zog und wie sie sich verzweifelt zu wehren versuchte.

»Reinhild! Nein!«, schallte Gottfrieds Stimme vom anderen Ende des Lagers herüber. Auch er versuchte mit aller Macht, sich gegen einen der Angreifer zur Wehr zu setzen, war jedoch gegen einen Reisewagen gedrängt worden und hatte keine Möglichkeit, seiner Gemahlin zu Hilfe zu eilen. Verbissen hieb er auf den Söldner ein, der ihn jedoch weiterhin in Schach hielt.

Palmiros Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Er musste Reinhild retten! Und Gottfried helfen. Doch beides war ihm im Augenblick nicht möglich, denn sein Kampfgegner bemerkte seine Verunsicherung und versuchte erneut, ihn zu entwaffnen.

»Verfluchte Scheiße, Palmiro!« Auch sein Freund Conlin hieb gekonnt, doch ohne viel Erfolg auf einen der Räuber ein. »Der Kerl da hinten hat Reinhild!«

Entschlossen parierte Palmiro zwei weitere Schwerthiebe und stieß dann wenig elegant, dafür aber umso kraftvoller zu und erwischte seinen Gegner an der Seite. Der Kerl schrie vor Schmerz auf, taumelte, fiel und landete rücklings in der lodernden Feuerstelle. Schrill kreischend wand er sich, doch Palmiro achtete schon nicht mehr auf ihn, sondern rannte auf den Mann zu, der offenbar vorhatte, Reinhild zu entführen.

Das war der einzige Grund für solche Räuberbanden, jemanden am Leben zu lassen: Frauen und manchmal auch Kinder zu rauben, um später Lösegeld zu erpressen. Auch reiche Kaufleute wurden hin und wieder Opfer solcher Entführungen.

Reinhild zappelte und trat wild um sich und versuchte sogar, den schmutzigen Kerl zu beißen, doch er war ein Hüne und viel kräftiger als sie, sodass sie keinerlei Erfolg verzeichnen konnte. Als er Palmiro auf sich zulaufen sah, blieb er stehen und grinste bösartig. Dabei hielt er Reinhild die Klinge seines Kurzschwerts an die Kehle. Er rief Palmiro etwas zu, das er zwar nicht verstand, weil der Kerl einen Dialekt aus der Alpenregion sprach, der sich fast wie Hundegebell anhörte. Sein Tonfall aber verriet dennoch genau, was der Kerl meinte: »Ein Schritt weiter und die Frau ist tot.«

Reinhilds Augen weiteten sich vor Entsetzen und quollen fast aus den Höhlen. Ihr Mund öffnete sich, ihre Lippen bewegten sich, doch kein Ton war zu vernehmen.

Palmiro blieb ruckartig stehen. Eiskaltes Grauen packte ihn, als sich für einen Moment ein anderes Frauengesicht über das von Reinhild schob: Monna Fiorina. Jene freundliche und liebenswürdige Frau, die seine Ziehmutter geworden wäre, wenn ihr nicht bei jenem Überfall vor siebzehn Jahren der Räuberhauptmann, dem Don Antonio das Pferd gestohlen hatte, die Kehle durchgeschnitten hätte. Noch heute verfolgten Palmiro manchmal die Erinnerungen, suchten ihn in bösen Albträumen heim und quälten ihn. Er war damals ein Kind gewesen, noch dazu schwer verwundet und unfähig, Monna Fiorina zu helfen.

Doch nicht heute. Die Geschichte würde sich nicht wiederholen! Er musste Reinhild retten. Vorsichtig machte er einen Schritt auf die beiden zu. »Gib sie frei!« Er suchte den Blick des Söldners. »Oder du bist des Todes!«

Der Kerl gab sein schmutziges Grinsen auf, drückte seine Klinge jedoch fester gegen Reinhilds Kehle. Seine Antwort war wieder nicht zu verstehen. Irgendwo hinter Palmiro krachte etwas, Pferde wieherten panisch, wüste Flüche wurden laut. Reinhilds Blick richtete sich auf einen Punkt hinter ihm und ein neues Entsetzen zeichnete sich auf ihrer Miene ab. Sie stieß einen verzweifelten Laut aus, wagte es aber weder zu schreien noch sich zu rühren.

Palmiro wusste, hinter ihm war etwas Entsetzliches geschehen, doch er drehte sich nicht um, sondern machte einen weiteren Schritt auf den Söldner zu. »Gib die Frau frei, du Drecksvieh!« Er hob ein wenig die Schwertklinge. Im gleichen Moment sah er, wie Conlin herbeigerannt kam. Nur einen Wimpernschlag später warf er sich seitlich gegen den Söldner und brachte ihn damit ins Straucheln. Der Kerl brüllte vor Zorn, wirbelte herum und stieß dabei Reinhild grob zu Boden. Sie schaffte es, sich von ihm loszumachen, und kroch zur Seite. Palmiro nutzte die Gelegenheit und sprang auf den Mann zu, der sich nun gegen Conlin zur Wehr setzte und ihm dabei eine Schnittwunde am Arm zufügte. Als Conlin daraufhin zurückwich, machte Palmiro einen Satz nach vorne und stieß dem Söldner mit aller Kraft das Schwert zwischen die Rippen.

***

Reinhild schlug hart auf dem Boden auf und kroch, so schnell sie konnte, zur Seite, um nicht erneut von dem Räuber gefasst zu werden. Ihr Herz raste, sie bekam kaum Luft angesichts des Knotens, der sich in ihrer Kehle gebildet hatte. Ihre Glieder fühlten sich kalt und taub an, so entsetzlich hatte das Grauen sie gepackt, als der Kerl ihr die Klinge an die Kehle gehalten hatte. Obwohl Palmiro es bis zu ihr geschafft hatte, hatte sie sich bereits des Todes gewähnt.

Als der leblose Körper des Räubers neben ihr aufschlug, stieß sie ein Keuchen aus – dann schrie sie – endlich! – ihre Angst heraus. Schluchzend krümmte sie sich zusammen, musste aber dennoch gleich wieder den Kopf heben und hinüber zu dem Reisewagen blicken, in dem sie von Zürich herübergekommen waren. Er war umgestürzt, die Ladung wild auf dem Boden verteilt. Einer der Tuchballen hatte Feuer gefangen.

Palmiro fiel neben ihr auf die Knie und zog sie an sich. »Reinhild, geht es dir gut?«

Sie nickte nur, dann schüttelte sie den Kopf, wollte die Hand heben, um auf den Wagen zu zeigen, doch sie schluchzte nur laut und unkontrolliert. Ihr Herz verkrampfte sich immer wieder, ebenso ihr Magen. Übelkeit stieg in ihr auf. »Palmiro … Ich … Wir … Bitte … Gottfried …« Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen und immer noch tobte ringsum ein wilder Kampf zwischen einigen Räubern und Wachleuten.

»Komm weg hier.« Entschlossen zog Palmiro sie auf die Füße und drängte sie an den Rand des Lagers zu dem Wagen, unter dem sie sich vorhin schon versteckt hatte. »Bleib hier.« Er deutete hinter eines der Wagenräder und zerrte gleichzeitig die Abdeckplane herab. »Zieh die über dich und rühr dich nicht vom Fleck.« Schon war er wieder fort.

Weinend kroch Reinhild hinter das Wagenrad und versuchte, die Plane so über sich zu drapieren, dass man nicht erkennen konnte, dass sich eine Frau darunter verbarg. Dann rollte sie sich fest zusammen, umschlang ihre angewinkelten Beine mit den Armen und presste ihr Gesicht fest auf ihre Knie. Die Geräusche des Kampfes drangen weiterhin zu ihr durch und schürten ihre Angst. Zugleich stand ihr immer noch der Anblick des umgestürzten Reisewagens vor Augen. Sie glaubte, darunter einen Körper gesehen zu haben. Einen Rock. War eine Frau unter dem riesigen Wagen begraben worden? Allein die Vorstellung bereitete ihr geradezu körperliche Schmerzen. Was, wenn die Frau noch lebte und Hilfe brauchte?

Immer noch weinend und innerlich vollkommen taub rutschte Reinhild unter der Plane bis an das Rad heran und lugte ins Lager.

Mit vereinten Kräften setzten sich die verbliebenen Wachleute sowie Palmiro und Conlin gegen einige letzte Angreifer zur Wehr; etliche lagen bereits tot am Boden. Doch wo war Gottfried?

Vorsichtig kroch sie weiter, bis sie einen Blick auf den umgestürzten Reisewagen erhaschen konnte. Der Tuchballen kokelte vor sich hin, weitere Waren und Gegenstände lagen in einem kruden Durcheinander am Boden.

Als Reinhild sich ein wenig aufrichtete, konnte sie unter dem Wagen einen Fuß und ein Stück Rocksaum erkennen. Ihr Herz machte einen schmerzhaften Satz, als sie sah, wie der Fuß sich bewegte. Der Farbe des Rocks nach musste es sich um die kleine Bertrade handeln, die zwölfjährige Tochter des pilgernden Kaufmannspaares. Panik stieg in Reinhild auf. Wenn die Kleine noch länger unter dem Wagen ausharren musste, würde sie sicher sterben. Aus dieser Entfernung konnte sie nicht sagen, wie schwer sie verletzt war. Doch der Reisewagen war massiv gebaut und hoch beladen gewesen und konnte einen Menschen mit seinem Gewicht zu Tode quetschen – erst recht ein zartes zwölfjähriges Mädchen.

Nur für einen kurzen Moment rang Reinhild mit sich, dann rappelte sie sich auf und schlich vorsichtig zum nächsten Wagen, duckte sich, lugte ins Lager, dann rannte sie los.

Erst jetzt bemerkte sie, dass die Flüche und Schreie der Kämpfenden verstummt waren. Ein verbissenes Schweigen hatte sich über das Lager gelegt, wohl weil die Erschöpfung die Männer allmählich erlahmen ließ, doch Reinhild achtete nicht weiter darauf. Sie musste sich jetzt auf ihr Vorhaben konzentrieren.

Als sie ihren Reisewagen erreichte, sah sie den Mädchenfuß erneut zucken, vernahm ein hilfloses Wimmern.

»Bertrade!« Hastig kniete Reinhild sich neben den Wagen … und erstarrte. Der Anblick, der sich ihr bot, wollte für einen langen Moment ihren Verstand nicht erreichen. Und doch wusste sie, dass sie sich nicht irrte. Dort unter dem Wagen lag nicht nur das Mädchen.

Schon als der Räuber sie in seiner Gewalt gehabt hatte, war sie für einen kurzen Moment sicher gewesen, ihren Gemahl beim Reisewagen zu sehen, just, bevor dieser von den Räubern umgeworfen worden war. Doch sie hatte sich sofort eingeredet, dass sie sich geirrt haben musste. Gottfried war doch zuvor noch ganz woanders gewesen. Nun blickte sie vollkommen gelähmt auf den Arm, der unter dem Wagen hervorlugte. Auf Gottfrieds Hemd. Es war seines, ganz ohne Zweifel, sie erkannte es.

Ein Schrei stieg in ihr auf, blieb ihr jedoch in der Kehle stecken und würgte sie. Die Panik kehrte zurück, diesmal noch viel mächtiger als zuvor. Alle Gedanken schwanden aus ihrem Kopf bis auf einen: Sie musste diesen verdammten Reisewagen aufrichten.

Verzweifelt stand sie auf und begann, an einem der Räder zu ziehen und zu zerren, doch sie schaffte es kaum, das Ungetüm von Gefährt ein wenig ins Schwanken zu bringen. Bertrades Wimmern wurde lauter, dann schrie sie auf. Sofort ließ Reinhild das Rad wieder los, zog an der Abdeckplane, wich zurück, als ihr zwei Kämpfende zu nah kamen.

Es handelte sich um Conlin und einen der Söldner. Conlin blutete am Arm und auch seitlich am Kopf hatte er eine böse Schramme, aus der Blut rann und sein blondes Haar rot färbte. Er konnte seinem Gegner jedoch einen Hieb gegen die Schulter versetzen. Der Kerl brüllte auf, verlor sein Schwert. Im nächsten Moment drehte er sich um und rannte davon. Seine Flucht schien ein Signal für den Rest der Bande zu sein, denn nach und nach suchten auch sie das Weite, bis schließlich keiner der Übeltäter mehr zu sehen war – bis auf diejenigen, die im Kampf den Tod gefunden hatten.

Einer der Söldner lag mitten in einer Feuerstelle; die Flammen hatten seine Kleidung ergriffen, sein Gesicht war in einer widerlichen Fratze erstarrt. Der Geruch nach verbranntem Fleisch stieg Reinhild in die Nase und drehte ihr den Magen um. Fast hätte sie sich übergeben, doch die Angst um Gottfried und Bertrade überlagerte alles andere.

»Hilfe!« Ihre Stimme versagte, sie schluckte und versuchte es erneut. »So helft mir doch. Bitte! Bitte helft mir.« Wieder zerrte sie an der Plane, bis diese sich löste.

Conlin, der den flüchtenden Räubern nachgesehen hatte, schob sein Schwert, so blutig es war, zurück in die Scheide und kam näher. »Das geht so nicht«, beschied er Reinhild, nachdem er sich das Unglück genauer angesehen hatte. »Wir brauchen mehrere Männer, um den Wagen anzuheben.«

»Was ist hier los?« Auch Palmiro war inzwischen näher gekommen. Als er den zappelnden Fuß des Mädchens sah, war er mit einem Schritt am Wagen und suchte nach einer Möglichkeit, ihn zu bewegen. Dabei fiel sein Blick auf den Arm, der in Gottfrieds Hemdsärmel steckte. Er prallte zurück, griff sich in sein schwarzes kragenlanges Haar. Dann fiel er mit einem Schrei auf die Knie. »Gottfried! Santa madre di Dio!« Fahrig sah er sich um, das Gesicht angstverzerrt. »Dio onnipotente in cielo«, murmelte er und winkte zugleich die verbliebenen Wachleute herbei. »Helft uns! Hier liegen zwei Menschen unter dem Reisewagen begraben.« Seine Stimme brach. Er griff nach Gottfrieds Hand, schrie erneut etwas in seiner Muttersprache, das niemand außer ihm verstand. Zumindest nicht den Worten nach.

Reinhilds Herz krampfte sich erneut zusammen, denn mit Palmiros Verzweiflung sickerte auch in ihr die Erkenntnis der Realität ein. Die Wachleute kamen herbeigerannt und berieten sich hektisch über das nächste Vorgehen. Sie mussten den Wagen anheben, ohne noch mehr Schaden anzurichten. Nach und nach wagten sich weitere Männer aus der Pilgergruppe sowie Bertrades Mutter und Schwester aus ihren Verstecken. Die Mutter stieß einen schrillen Schrei aus, als sie begriff, dass ihre Tochter unter dem schweren Gefährt begraben lag. Schon wollte sie, wie Reinhild zuvor, an einem der Räder ziehen. Doch Reinhild hielt sie gerade noch zurück.

»Wir müssen mit vereinten Kräften gleichzeitig anheben und schieben.« Conlin deutete links und rechts auf den Wagen. »Reinhild, Birgel, Klausmann, räumt das Zeug hier weg, damit wir Platz haben.« Er deutete auf die am Boden liegenden Waren und die zerwühlten Decken des Schlaflagers.

Reinhild raffte sie sogleich zusammen, während die beiden Wachmänner die Tuchballen zur Seite schoben und die herumliegenden Gegenstände einsammelten. Derweil knieten Bertrades Mutter und Schwester neben dem Reisewagen und redeten weinend auf Bertrade ein. Hinter ihnen schleppte sich der Vater des Mädchens herbei. Er zog das rechte Bein nach und hielt sich die blutende Seite. Offenbar hatten seine Gemahlin und Tochter ihn irgendwo in Sicherheit gebracht, doch die Sorge um sein Kind hatte ihn dazu veranlasst, sich trotz seiner offensichtlich schweren Verletzungen an der Rettung zu beteiligen.

Als Conlin den Mann sah, packte er ihn sogleich am Arm und drängte ihn zur Seite. »Wartet hier, guter Mann.« Er deutete neben Reinhild. »Kümmere dich um ihn, damit er uns nicht im Weg steht.«

»Nein, nicht. Mein Kind. Meine Bertrade! Ich muss …«

»Ihr müsst die Männer machen lassen«, unterbrach Reinhild ihn und schob ihn ein weiteres Stückchen zur Seite, obwohl sie selbst am liebsten mit angepackt hätte. Eisige Kälte hatte sich in ihr breitgemacht, ihr Herz schlug schnell und sie bekam immer noch kaum Luft. »Bleibt zurück, Herr Dietmar. In Eurem Zustand könnt Ihr nicht helfen.«

Mit vereinten Kräften hoben die Männer nun den Wagen an, zunächst nur ein kleines Stück, doch schließlich schafften sie es, das schwere Gefährt wieder auf seine Räder zu kippen.

Sofort drängte Reinhild sich an ihnen vorbei und warf sich neben ihrem Gemahl auf die Knie. »Gottfried!«

»Bertrade! Oh, Bertrade, mein liebes, armes Kind!« Mit schrillem Schrei kroch die Mutter zu dem Mädchen, das nicht neben, sondern unter Gottfried lag. Offenbar hatte er versucht, Bertrade zu schützen, und war dabei mit ihr gemeinsam unter das Gefährt geraten. »Kannst du dich bewegen, Kind? Kannst du aufstehen? Geht es dir gut? Oh, danke, Gott, sie lebt noch. Dietmar, sie lebt!« Tränen rannen der Mutter in Strömen über die Wangen.

Dietmar humpelte ebenfalls näher, stützte sich schwer auf die Schulter seiner Frau und beugte sich zu seiner Tochter hinab. »Bertrade, Kind! Sag etwas! Geht es dir gut?« Seine Stimme schwankte vor Schmerz und Hoffnung.

»Mutter, Vater …« Bertrades Stimme klang dumpf.

»Hebt ihn von ihr runter!«, befahl Conlin und fasste selbst mit an. Er und Palmiro sowie einer der Wachmänner hoben Gottfried vorsichtig hoch und legten ihn ein paar Schritte weiter wieder ab. Palmiro stieß einen gequälten Laut aus und drehte den von Schnittwunden übersäten, leblosen Körper auf den Rücken. Gottfrieds Kopf rollte dabei unnatürlich zur Seite. Seine Augen waren geschlossen, er atmete nicht mehr.

Für einen langen Moment herrschte Stille, dann brüllte Palmiro wie ein waidwundes Tier auf. »Da tutti i santi e martiri! Das darf nicht wahr sein. Dio, dio, lass es nicht wahr sein. Gottfried!« Ohne noch weiter auf Bertrade oder irgendjemanden sonst zu achten, setzte er sich in den Schmutz und zog Reinhilds toten Gemahl schluchzend auf seinen Schoß. Wie ein Kind wiegte er ihn weinend hin und her.

Reinhild sah ihm stumm dabei zu, im Herzen einen mindestens ebenso großen Schmerz wie er ihn verspürte. Gottfried war tot. Für immer fort. Für immer …

»Reinhild, geht es dir gut?« Conlin legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Willst du dich setzen?« Er hüstelte, offenbar unsicher, wie er sich verhalten sollte. »Es tut mir so leid. Es tut mir wirklich …«

»Ja.« Sie schluckte gegen die erneut aufsteigende Übelkeit an. »Ich weiß.« Dann stürzte sie ein paar Schritte zur Seite und übergab sich.

***

Ratlos und zutiefst bestürzt blickte Conlin zwischen dem weinenden Palmiro und Reinhild hin und her. Für einen Moment war er nicht sicher, um wen er sich zuerst kümmern sollte, doch dann trat er neben Reinhild und stützte sie mit der einen Hand, während er mit der anderen einige Strähnen ihres langen Haares, die sich aus dem Zopf unter der Haube gelöst hatten, festhielt, damit sie ihr beim Erbrechen nicht ins Gesicht fielen.

Er verspürte selbst das Bedürfnis, es ihr gleichzutun, unterdrückte es jedoch, so gut es ging. Dass Gottfried tot war, begriff er nur allmählich. Er kannte ihn wie auch Palmiro und Reinhild schon, seit er denken konnte. Sie stammten allesamt aus Koblenz und waren einander vom Alter her relativ nahe, wobei er selbst mit seinen siebenundzwanzig Jahren der Älteste war, wenn auch nur ganz knapp vor Palmiro. Deshalb waren sie mehr oder weniger zusammen aufgewachsen. Ihre Heimatstadt war nicht so groß, dass man sich fremd blieb oder aus dem Weg gehen konnte.

Reinhild war jedoch immer viel zu brav und wohlerzogen gewesen, um Conlins Interesse zu wecken. Zumindest hatte er sich das stets eingeredet, sobald ihm doch einmal aufgefallen war, wie hübsch sie mit ihrem seidigen Blondhaar und den eindringlichen blauen Augen war oder wie klug und redegewandt, tugendhaft und liebenswürdig.

Mit Palmiro wiederum hatte er sich von klein auf gut verstanden und das, obwohl sein Vater nicht allzu begeistert von dieser Freundschaft gewesen war. Dass Palmiro als Sohn eines Tagelöhners in den Gassen Mailands geboren worden war, hatte sich nach Don Antonios Rückkehr damals schnell herumgesprochen.

Man munkelte sogar, dass Don Antonio selbst und seine Schwester Luzia mindestens ebenso niedrig geboren waren. Gerüchte sprachen davon, dass ihre Wiege einst in einem Eifler Bauernhaus gestanden hatte. Ob das wirklich stimmte, wusste Conlin nicht, wohl aber, dass an solchen Gerüchten meistens ein Funken Wahrheit zu finden war.

Er selbst war von Adel, sein Vater hatte dafür gesorgt, dass seine beiden Söhne eine ritterliche Ausbildung erhielten, obgleich er Conlin für eine geistliche Laufbahn vorgesehen hatte. Diese hätte er nach seiner Knappenzeit mit dem Eintritt in ein Augustinerkloster beginnen sollen. Doch Conlin hatte sich gesträubt und seinen Vater damit mehrfach an den Rand der Raserei getrieben. Schwerste Strafen waren ihm angedroht und einige davon auch vollzogen worden. Am Ende hatte er zwei Jahre als Novize in dem Kloster verbracht, es dann aber zum Ärger seines Vaters wieder verlassen.

Gottfried war ebenfalls von Adel, wenn auch nur von der väterlichen Seite her, und noch dazu der jüngste Sohn von dreien. Mit ihm hatte Conlin sich nie viel abgegeben, denn als Junge war Reinhilds Gemahl stets ein wenig seltsam gewesen. Weich und zurückhaltend, ein bisschen wie ein Mädchen. Verzärtelt hatte Conlins Vater es mit unverhohlenem Spott genannt. Palmiro hatte das nie gestört, ebenso wenig wie Reinhild. Beide hatten seit jeher eine tiefe Freundschaft zu Gottfried gepflegt, die bei Reinhild schließlich sogar in eine Ehe gemündet hatte. Und nun war Gottfried tot und hinterließ eine kotzende Witwe und einen Freund, der sich vor Trauer kaum zu halten wusste.

Prüfend blickte Conlin über die Schulter auf Palmiro. Zwei Wachleute versuchten gerade, ihn zum Aufstehen zu bewegen, doch er weigerte sich beharrlich, Gottfrieds Leichnam loszulassen. Um Himmels willen, eigentlich sollte Reinhild an Palmiros Stelle im Dreck hocken und Tränen über den Tod ihres Gemahls vergießen. Stattdessen würgte sie immer noch, brachte aber nur noch ein wenig gelben Schleim hervor.

»Geht es wieder?« Er fluchte innerlich, weil ihm nichts Besseres und schon gar nichts Tröstendes einfiel. Er spürte, dass Reinhild zu zittern begonnen hatte, und sah sich suchend um.

»Eine Decke!«, rief er niemand Bestimmtem zu, woraufhin eine matronenhafte Pilgerin von irgendwo herbeigeeilt kam. Wo sie sich während des Angriffs versteckt gehalten haben mochte, wusste er nicht, doch auch ihr Gemahl war nun zu sehen, wie er half, Bertrade von der Unglücksstelle wegzutragen. Das Mädchen schien vergleichsweise wenige Verletzungen erlitten zu haben. Ihrem Wimmern und Schreien nach zu urteilen, waren ein paar Rippen gebrochen. Das konnte mit etwas Glück wieder gut verheilen. Gottfried hatte ihr nicht nur das Leben gerettet, sondern mit seinem Körper auch verhindert, dass die stabilen Holzverstrebungen des Wagens die Knochen ihrer Gliedmaßen brechen konnten.

»Hier, bitte sehr, Herr Conlin.« Während sie sprach, legte die Frau Reinhild bereits die Decke um die Schultern. »Es ist ja so entsetzlich, Frau Reinhild! Es tut mir so leid. Wie konnte das alles nur geschehen?« Sie half Conlin, Reinhild ein wenig in Richtung der Wagen zu schieben. »Hier, setzt Euch auf den Eimer.« Rasch drehte sie einen im Weg liegenden Holzeimer um, sodass dessen Boden zu einer Sitzfläche wurde. »Ich fache gleich ein neues Feuer an. Wollt Ihr etwas trinken? Einen Kräutersud oder einen Würzwein? Ich will nachsehen, ob ich noch irgendwo etwas finde. Einen Augenblick nur.« Schon hastete sie los.

»Nun setz dich schon, Reinhild, bevor du umkippst.« Conlin ärgerte sich, weil seine Stimme so ungeduldig klang, doch er war im Augenblick mit der Situation überfordert. Nur wenige Schritte weiter hörte er Palmiro immer noch leise schluchzen.

»Ich kippe nicht um.« Reinhilds Stimme klang hohl und zitterte ein wenig, doch sie straffte die Schultern und setzte sich tatsächlich hin. Rasch zog Conlin sich eine Reisetruhe heran, die die Räuber umgeworfen und ausgeleert hatten, schloss den Deckel und ließ sich darauf neben Reinhild nieder. »Es tut mir unsagbar leid, Reinhild.«

»Das hast du schon einmal gesagt.« Sie rieb sich übers Gesicht und fuhr sich mit dem Ärmel ihres einfachen braunen Reisekleids über den Mund. Dann atmete sie tief durch. »Ich muss zu Gottfried und … irgendetwas tun.« Für einen kurzen Moment blickte sie in Richtung der Unglücksstelle, dann jedoch gleich wieder auf ihre Hände, die sie im Schoß verschränkt hatte – so fest, dass die Fingerknöchel weiß hervortraten.

»Irgendetwas muss ich doch tun, nicht wahr? Ein Priester. Wir brauchen einen Priester, gibt es hier irgendwo einen? Ich muss mich um Gottfried kümmern. Um Palmiro …« Mit leerem Blick hob sie den Kopf und sah Conlin ins Gesicht. »Was mache ich denn jetzt, Conlin? Könnt Ihr mir das sagen?«

Das konnte er nicht. Er war selbst wie gelähmt und der Schmerz in ihren Augen ging ihm durch Mark und Bein. Doch dass sie zu der würdevollen, leicht distanzierten und förmlichen Ansprache wechselte, zeigte ihm, dass sie begann, sich zu fassen. Seit ihrer Kinderzeit redeten sie einander kaum noch mit dem intimen Du an, zumindest nicht im Beisein Fremder.

Frau Elisabeth, Reinhilds Mutter, hatte ihren Kindern ein gerütteltes Maß an Ehrsamkeit und höfischem Gebaren beigebracht und strikt darauf geachtet, dass die Grenzen von Würde und Schicklichkeit stets eingehalten wurden, zumindest weitgehend. In trautem Freundeskreis wechselte man dann doch hin und wieder zu traulicheren Umgangsformen, doch nicht heute, nicht jetzt.

Conlin sah Reinhild an, dass sie immer noch um Fassung rang und versuchte, sich tapfer aufrecht zu halten. Deshalb wechselte auch er zum förmlicheren Umgangston und hoffte, ihr damit einen Gefallen zu tun.

»Ihr braucht erst einmal nichts zu tun, außer den Schreck zu verkraften. Wir schicken jemanden los, der in der nächsten Ortschaft einen Priester holen soll.« Mit bitterer Miene blickte er auf die Leichen, die im Lager verteilt lagen wie gefällte Bäume. Vier Wachleute hatte es erwischt, wenn er richtig sah, sowie zwei Pilger und einen Kaufmann. Etliche waren verletzt, doch wie schwer, das musste sich erst noch herausstellen. Von den Söldnern hatten sie sechs oder sieben darniedergestreckt. Eine traurige Bilanz für einen missglückten Überfall. Waren hatten die Räuber wohl keine oder nur wenige ergattert, dafür aber mehrere Pferde. »Ruht Euch ein wenig aus und …«

»Nein.« Vehement schüttelte sie den Kopf. »Ich kann jetzt nicht einfach hier herumsitzen und so tun, als wäre nichts.« Als sie ihn erneut ansah, weiteten sich ihre Augen. »Ihr blutet. Um Himmels willen, Ihr seid ja verletzt!« Sie sprang so rasch wieder auf, dass der Eimer umkippte. Hektisch sah sie sich um und entdeckte schließlich in ein paar Schritten Entfernung die Pilgerin Margarete, die dabei war, über einem frisch entfachten Feuer Wasser zu erhitzen. »Frau Margarete, habt Ihr noch mehr sauberes Wasser? Verbandszeug vielleicht?«

»Warte, Reinhild.« Auch Conlin erhob sich und wollte sie aufhalten, fluchte jedoch, als er den Arm hob und den beißenden Schmerz verspürte, der von der Wunde an Schulter und Oberarm ausstrahlte.

»Ja, selbstverständlich, Frau Reinhild.« Die Pilgerin stand auf und begann, in einem Durcheinander aus Decken, Kisten und Körben zu wühlen, das die anderen Lagerbewohner hinter ihr aufgeschichtet hatten. Überall waren sie dabei, das Chaos zu beseitigen. Die verbliebenen Wachmänner trugen die Leichen fort an eine Stelle hinter den Wagen, wo sie nicht mehr sofort sichtbar waren, während die Frauen sich um die Verwundeten kümmerten.

Mit zusammengebissenen Zähnen trat Conlin neben Reinhild. »Es ist schon gut. Das sind bloß Kratzer.«

»Bloß Kratzer?« In Reinhilds Augen flackerte Zorn auf. »Du … Ihr blutet stark.« Sie deutete auf seinen Arm und fasste mit der anderen Hand an sein Kinn, um sich die Schramme an seinem Kopf anzusehen.

»Hier sind Tücher, Frau Reinhild. Viele saubere habe ich leider nicht mehr.« Eilfertig hatte Frau Margarete einen Stapel Leinentücher herbeigebracht. »Das Wasser ist leider noch nicht sehr warm, aber wir können frisches kaltes aus dem Bach holen.«

»Ja.« Reinhild nickte. »Aber geht nicht allein.« Sie wirkte jetzt sehr ruhig, seltsam distanziert und entschlossen. »Setzt Euch, Conlin, und lasst mich Eure Wunden reinigen und versorgen.«

Da sie nicht wirkte, als ob sie Protest akzeptieren würde, und weil sein Arm inzwischen verteufelt wehtat, gehorchte Conlin und ließ sich erneut auf einer der Kisten nieder.

***

Mit schmerzverzerrtem Gesicht knöpfte Conlin sein Wams auf und zog es aus, dann versuchte er, sich aus seinem Hemd zu schälen. Der weiße Leinenstoff war blutgetränkt und klebte an der Wunde, sodass Reinhild rasch zu ihm trat und ihm dabei zur Hand ging. Sie warf das Hemd achtlos beiseite und begann sogleich vorsichtig, doch beherzt mit einem angefeuchteten Tuch das Blut zu entfernen. Dabei vermied sie es standhaft, irgendwo anders hinzusehen und auch nicht auf die Geräusche ringsum zu lauschen. Wenn sie sich voll und ganz darauf konzentrierte, die Wunden zu versorgen, konnte sie die Übelkeit und ihre Gefühle in Schach halten.

Als sie dem tiefen, von einem Schwerthieb verursachten Schnitt näher kam, sog Conlin scharf die Luft ein. Sogleich hielt sie inne. »Verzeihung. Bitte bewegt Euch nicht, bis ich eure Haut von dem trockenen Blut befreit habe. Wir dürfen nicht riskieren, dass die Wunde sich erneut vollständig öffnet und der Blutfluss wieder stärker wird. Ihr habt bereits eine Menge verloren.«

»Hier, Frau Reinhild, das habe ich drüben bei Eurem Wagen gefunden. Das scheint Wundsalbe zu sein.« Frau Margaretes Gemahl war neben sie getreten und hielt ihr einen Tiegel entgegen. Er gehörte ihr. Erst vor wenigen Tagen hatte Reinhild ihn in Zürich bei einem Apotheker auffüllen lassen. Gottfried hatte gelacht und gemeint, dass er froh sei, eine so vorausschauende Gemahlin an seiner Seite zu haben. Denn diese Salbe half gegen alles, von Sonnenbrand über wundgelaufene Füße und Blasen bis hin zu schmerzenden Stellen am Hinterteil nach ungewohnt langem Reiten – und jetzt hoffentlich auch bei der Heilung einer übel aussehenden Schnittwunde.

Gottfried. Ein unangenehmer Stich durchzuckte Reinhild bei dem Gedanken an ihren Ehemann. Ihre Kehle verengte sich, sie bekam für einen Moment wieder keine Luft. Ihre Hände begannen zu zittern.

»Stimmt etwas nicht?« Conlin blickte mit gerunzelter Stirn zu ihr auf.

»Ihr seid ganz blass.« Frau Margarete huschte an Reinhilds Seite und berührte sie an der Schulter und auch ihr Gemahl versuchte sogleich, sie zu stützen.

»Keine Sorge.« Reinhilds Stimme versagte. Etwas zu ruppig machte sie sich von den beiden los. »Danke, Herr Wilbert. Es geht mir gut. Ich muss … hier … weitermachen.« Sie fasste wieder nach Conlins Arm, der unterdrückt stöhnte, jedoch stillhielt. Sein Blick war unverwandt auf sie gerichtet – mitfühlend, beruhigend, tröstend. Ganz langsam löste sich die Enge in ihrer Kehle und Brust wieder und sie beeilte sich, etwas von der Salbe rund um die Wunde aufzubringen, bevor sie sie mit einem sauberen Tuch und zwei Lederschnüren verband.

Anschließend begutachtete sie Conlins Kopfwunde und beschloss, dass es reichen musste, sie zu säubern und mit der Salbe zu behandeln. »Es wird eine Narbe zurückbleiben.« Sehr vorsichtig tupfte sie die Salbe rund um die Schramme auf, die sich nach der Reinigung eher als Platz- denn als Schnittwunde entpuppt hatte. Ein Bader oder Medicus hätte sie vielleicht genäht, doch weder der eine noch der andere war verfügbar und es war fraglich, ob sich in den Dörfern ringsum einer finden würde.

»Ich hoffe, es fängt nicht wieder an zu bluten.« Rasch verschloss Reinhild den Tiegel wieder und schob ihn in die unauffällige Tasche an ihrem Rock. »Ihr müsst gut achtgeben und Euch möglichst ruhig verhalten.«

»Danke, Reinhild.« Conlin erhob sich und nickte ihr zu. »Ich sorge dafür, dass ein Priester geholt wird.« Suchend blickte er sich um und hielt ganz plötzlich inne.

Reinhild folgte seinem Blick und entdeckte Palmiro, der immer noch auf demselben Platz saß, auf dem er vorhin Gottfrieds Kopf in seinem Schoß gewiegt hatte. Der Tote war inzwischen mithilfe von zwei Kisten und einem Brett provisorisch aufgebahrt worden, sein Körper mit der Wolldecke verhüllt, die ihn noch kurz zuvor auf dem Schlaflager gewärmt hatte. Bei dem Anblick der beiden Männer begann Reinhilds Herz unnatürlich schnell zu pochen. Langsam, Schritt für Schritt, ging sie auf Gottfried und Palmiro zu.

»Reinhild, warte.« Conlin streckte die Hand nach ihr aus, ließ sie aber gleich wieder sinken und folgte ihr stattdessen.

Sie beachtete ihn gar nicht, sondern kniete sich neben die niedrige Bahre und schlug mit klammen Fingern die Decke vom Gesicht ihres geliebten Gemahls zurück. Der Anblick seines wächsernen, stillen Antlitzes versetzte ihr erneut einen schmerzhaften Stich. Sanft berührte sie ihn an der Wange, fühlte die Bartstoppeln und verspürte gleichzeitig ein Brennen in den Augen. Tränen stiegen empor, heiß und schmerzhaft. Sie hielt sie nicht zurück, merkte kaum, wie sie ihr über die Wangen rollten.

Gottfried war tot. Ihr geliebter Gottfried. Ihr guter, guter Freund. Ihr Gemahl. Umgekommen bei dem Versuch, ein junges Mädchen zu beschützen, das seinetwegen überlebt hatte. So etwas war mutig, ja, heldenhaft. Dabei hatte ihn zu Lebzeiten nie jemand als mutig bezeichnet. Als heldenhaft noch viel weniger. Er war liebenswürdig und sanftmütig gewesen, hatte ein gutes Herz besessen und viel mehr christliche Nächstenliebe als die meisten anderen Menschen. Doch jetzt war er tot. Einfach so.

Eben noch hatte sie mit sich gehadert und mit den Geheimnissen, die sie schon so lange hütete. Doch all das war jetzt vollkommen unwichtig geworden. Gottfried war fort und sie eine Witwe. Das Wort bereitete ihr regelrecht körperliche Schmerzen. Eine Witwe!

Vielleicht hätte eine andere Frau dieses Schicksal im Hinblick auf jene Geheimnisse vielleicht sogar mit Erleichterung angenommen. Doch eine andere Frau hätte Gottfried auch nicht so geliebt wie sie. Und das hatte sie, aus reinem Herzen. Ihn und auch Palmiro, der stumm und mit gesenktem Kopf im Staub saß und mit versteinerter Miene vor sich hin starrte.

Sie musste für Gottfried ein Gebet sprechen. Warum nur fiel ihr keines ein? Sie blickte in sein Gesicht, faltete die Hände, löste sie wieder voneinander und schlug die Decke weiter zurück, nahm seine rechte Hand zwischen die ihren, drückte einen Kuss darauf, hielt sie einfach fest.

***

Conlin, der kurz neben Reinhild stehen geblieben war, um sich im Angesicht des Toten zu bekreuzigen, umrundete nun die Bahre und setzte sich neben Palmiro in den Staub. Sein Freund war ohne größere Blessuren davongekommen, zumindest äußerlich. Wie es in seinem Inneren aussehen mochte, konnte Conlin sich kaum vorstellen. Die Tränen hatten deutliche Spuren auf Palmiros Wangen hinterlassen, seine Miene war wie versteinert und sein Blick waidwund, als er nun den Kopf hob.

»Ein Priester.« Palmiros Stimme klang rau. »Wir brauchen einen Priester und … wir müssen ihn begraben.« Er schluckte hart. »Hier in der Fremde.«

»Ich kümmere mich um den Priester«, versprach Conlin leise und in, wie er hoffte, beruhigendem Tonfall. »Es tut mir leid, mein Freund. Ich weiß nicht, was ich sonst sagen soll.«

»Er war ein guter Mann.« Palmiros Blick richtete sich auf Reinhild, die still die Hand ihres Gemahls hielt und zu beten schien. »Er war … er war …«

»Ich weiß.« Kurz berührte Conlin den Freund am Arm, zog die Hand jedoch wieder zurück, als er spürte, wie Palmiro sich versteifte. »Du hast ihn geliebt.« Eindringlich sah Conlin ihn von der Seite an, bis sein Freund den Kopf wieder hob. »Wie einen Bruder geliebt. Ich kann deinen Schmerz verstehen.«

»Nein, kannst du nicht.« Palmiro lächelte betrübt. »Trotzdem danke ich dir.«

»Reinhild muss unsere Fürsorge jetzt gelten«, versuchte Conlin, seinen Freund aus der Lethargie zu reißen. »Sie hat ihren Gemahl verloren.«

»Ich weiß.« Mit kantigen Bewegungen erhob Palmiro sich. »Kümmere dich um sie. Ich hole den Priester.«

»Aber …« Hastig stand auch Conlin wieder auf und folgte seinem Freund, der bereits auf dem Weg zu den verbliebenen Pferden war. »So warte doch. Was soll ich denn bei ihr ausrichten? Ich weiß nicht mal, was ich sagen soll. Sie braucht jetzt …« Er seufzte. »Sie braucht dich, Palmiro. Geh zu ihr. Rede mit ihr. Ich kann das nicht und sie wird von mir auch weder Trost noch Zuspruch annehmen. Ich reite los und suche einen Priester.«

»Du bist verletzt, Conlin.« Palmiro führte eines der Pferde auf den mondbeschienenen Weg, der ins nächstgelegene Dorf führte. »Kümmere dich um Reinhild. Bitte.« Damit schwang er sich ohne Sattel auf den Rücken des Tieres und trieb es an.

»Wohin will er denn jetzt ganz allein?« Frau Margarete war neben Conlin getreten und blickte dem davontrabenden Pferd nach. »Das ist doch viel zu gefährlich. Was, wenn diese Schurken noch irgendwo lauern?«

Das war zwar möglich, jedoch nicht sehr wahrscheinlich. »Er holt Hilfe und einen Priester.« Beklommen blickte Conlin über die Schulter ins Lager. Reinhild kniete immer noch in derselben Haltung neben ihrem toten Gemahl.

»Sie tut mir so leid, die gute Frau. Sie ist so liebenswürdig und stets zu allen freundlich und jetzt das.« Die Pilgerin bekreuzigte sich seufzend. »Welch trauriges Schicksal. Haben die beiden Kinder?«

»Einen Sohn.« Ratlos, was er als Nächstes tun sollte, fuhr Conlin sich durchs Haar. Der Lederriemen, mit dem er es im Nacken zu einem Zopf zusammenzubinden pflegte, war verrutscht, also zog er ihn heraus. »Der Junge ist noch keine fünf Jahre alt.«

»Wie traurig. Das arme Kind. Aber wenigstens hat Herr Gottfried einen Stammhalter, dann braucht seine Witwe sich nicht so schnell nach einem neuen Ehemann umzusehen.«

Verblüfft sah Conlin sie von der Seite an.

Die matronenhafte Pilgerin lächelte traurig. »So ist es doch, oder etwa nicht? Wenn kein Sohn da ist, wird eine Frau schnell gezwungen, sich nach dem Tod ihres Gemahls wieder zu verheiraten.«

So weit hatte Conlin noch gar nicht gedacht und merkwürdigerweise behagte ihm dieser Gedanke wenig. »Mag sein.«

»Als Witwe mit einem Sohn ist sie hoffentlich fein raus. Natürlich nur, wenn das Kind groß und stark wird. Ist der Junge kräftig und gesund?«

Conlin nickte knapp. »Ein aufgeweckter Bursche.«

»Das ist gut.« Die Miene der Frau hellte sich ein wenig auf, wurde jedoch gleich wieder betrübt. »Wie gut, dass sie ihn auf diese Reise nicht mitgenommen haben. Man stelle sich nur vor … Nein, nein, daran darf ich gar nicht denken. So viel Leid und nur wegen dieser entsetzlichen Wegelagerer. Der Schwarzhaarige tut mir ebenfalls sehr leid. Herr Palmiro, nicht wahr? Merkwürdiger Name. Aber er scheint ebenfalls ein guter Mann zu sein.«

»Das ist er.«

»So wie Ihr. Ich kann Euch gar nicht genug danken, dass Ihr uns bei diesem entsetzlichen Überfall beigestanden habt. Sagt, ist er verwandt mit Herrn Gottfried? Der Herr Palmiro, meine ich. Mir schien es so … Er trauert so sehr. Sind sie vielleicht gar Brüder? Ähnlich sehen sie sich zwar nicht, aber …«

Im ersten Moment wollte Conlin verneinen, besann sich dann aber, weil das Verhältnis der beiden Männer zueinander kaum besser hätte beschrieben werden können. »Ja, das waren sie. Brüder. Zumindest im Geiste. Wir sind alle zusammen aufgewachsen.«

»Ach, wie furchtbar. Furchtbar. Dann habt auch Ihr diesen Verlust zu verschmerzen.« Mütterlich legte Frau Margarete ihm eine Hand auf den Arm, drückte ihn leicht. »Kommt, kümmern wir uns um die anderen. Geht Ihr zu Frau Reinhild und sprecht ihr ein wenig Trost zu. Ich sehe nach Bertrade. Die Kleine hat unglaubliches Glück gehabt. Und alles nur, weil Herr Gottfried sie so heldenhaft beschützt hat.« Mit einem unterdrückten Schluchzen wandte sie sich ab und eilte ins Lager zurück.

Conlin blickte ihr nach, dann noch einmal den Weg hinaus in die Dunkelheit, in die Palmiro verschwunden war. Am liebsten wäre er ihm gefolgt. Hätte die Flucht ergriffen. Wie sollte ausgerechnet er der trauernden Witwe Trost zusprechen?

Kurz überlegte er, ob er sich stattdessen den Aufräumarbeiten anschließen sollte, doch das größte Durcheinander war inzwischen beseitigt und für ihn kaum noch etwas zu tun. Besser war es vermutlich, noch ein paar Stunden Schlaf zu finden, bevor der neue Tag anbrach. Lange würde es bis zum Sonnenaufgang nicht mehr dauern.

Unsicher trat er wieder neben Reinhild, die sich immer noch nicht vom Fleck gerührt hatte, und legte ihr vorsichtig eine Hand auf die Schulter.

Sie zuckte heftig zusammen und blickte mit schreckgeweiteten Augen zu ihm auf, bis sie ihn erkannte. Hastig erhob sie sich. »Ich habe gebetet – für seine Seele.« Sie schluckte hart. »Für seine liebe, gute Seele.« Ihre Augen waren gerötet und auf ihren Wangen waren Tränenspuren zu erkennen. »Wo ist Palmiro?«

»Er hat darauf bestanden, den Priester selbst zu holen.«

Erschrocken starrte sie ihn an. »Etwa ganz allein?«

»Er kommt schon zurecht, Reinhild. Sorgt Euch nicht um ihn.«

»Natürlich sorge ich mich um ihn! Irgendwo dort draußen lauern gefährliche Räuber! Warum habt Ihr ihn nicht begleitet?« Sie stockte, ihr Blick wanderte zu seinem verbundenen Arm. »Oder jemanden mitgeschickt?« Nun schwankte ihre Stimme. »Wenn ihm etwas zustößt … O mein Gott, wie soll ich das meiner Schwester erklären? Und meinem Schwager?«

»Ihm wird nichts zustoßen, Reinhild.«

»Woher willst du das wissen?« Wut schlich sich in ihre Stimme. »Er ist ganz allein unterwegs. Wenn sie ihn schnappen …«

»Diese Wegelagerer sind längst über alle Berge.« Vergeblich bemühte er sich um einen besänftigenden Ton. Er war selbst viel zu aufgewühlt, um seine Gefühle in Schach zu halten. »Außerdem sind sie in die entgegengesetzte Richtung verschwunden.« Zumindest glaubte er das. Ganz sicher war er sich nicht. »Solche Kerle halten sich nicht lange an einem Ort auf, Reinhild. Sie dachten, sie hätten mit uns eine leichte Beute. Handelswaren von jenseits der Alpen und vielleicht ein paar Geiseln, um Geld zu erpressen. Wahrscheinlich sind sie uns schon eine Weile in einigem Abstand gefolgt und haben dabei nicht mitbekommen, dass Ihr mit Euren Wachleuten vorgestern zu uns gestoßen seid.« Er hielt kurz inne. »Außerdem haben sie selbst hohe Verluste erlitten. Über die Hälfte der Kerle liegt hier tot im Lager. Die anderen lecken ihre Wunden und machen sich mit unseren Pferden aus dem Staub. Was sollten sie auch von Palmiro wollen?«

Reinhild dachte über seine Worte nach, dann entspannte sich ihre Miene ein wenig. »Und was jetzt?«

»Wir sollten versuchen, uns auszuruhen.« Er deutete auf die andere Seite des Lagers, wo seine und Palmiros Bettstatt gewesen war. Sie hatten das wenige, was sie auf ihrem Weg von Jerusalem mitgebracht hatten, in Satteltaschen und Bündeln verschnürt, die jetzt kunterbunt von den anderen Pilgern aufgestapelt worden waren. Das meiste schien noch vorhanden zu sein – bis auf ihre Reittiere.

Reinhild folgte seiner Geste mit Blicken, dann schüttelte sie den Kopf. »Ich lasse Gottfried nicht allein. Ich bleibe bei ihm. Außerdem wäre es unschicklich, bei Euch zu liegen, Conlin.«

Überrascht merkte er auf. »Ihr sollt nicht bei mir liegen, Reinhild, sondern unter meinem Schutz Schlaf finden.«

»Ich kann auch hier schlafen.« Da sie bereits anfing, aus den aufgestapelten Gegenständen eine Plane hervorzuzerren, half er ihr schweigend, diese nur wenige Schritte neben der provisorischen Totenbahre auf dem Boden auszubreiten. »Wartet.« Er eilte zu seiner eigenen Schlafstatt und raffte zusammen, was ihm sinnvoll erschien. Reinhild hatte sich einfach auf die Plane gesetzt, rückte nun aber beiseite, als Conlin weitere Decken ausrollte und eine davon so faltete, dass ein Kissen entstand. »So habt Ihr es bequemer.«

»Danke.« Umständlich kroch sie unter die Decken, wobei ihre Haube verrutschte. Sie zögerte, nahm sie dann aber ab und legte sie zur Seite. Mit gerunzelter Stirn warf sie ihm einen Blick zu. »Starrt mich nicht so an, Conlin. Das schickt sich nicht.«

»Ich starre nicht.« Zu seinem Ärger klang seine Stimme belegt und er räusperte sich unauffällig. Rasch schnallte er seinen Schwertgürtel ab und ließ sich neben ihr nieder. Natürlich hatte er gestarrt – auf ihr goldblondes Haar, das sich größtenteils aus dem kunstvoll geflochtenen Zopf gelöst hatte und wunderschön ihr Gesicht umspielte. Dafür gehörte er unverzüglich gezüchtigt und ins Fegefeuer verbannt.

»Was tut Ihr da?« Sie rutschte ein Stück beiseite, bis sie den Rand der Plane erreicht hatte.

»Ich lege mich schlafen. Ich dachte, das hätte ich eben deutlich gesagt.«

»Hier?« Sie zog ihre Decke bis zur Nasenspitze hoch.

»Es sei denn, Ihr fühlt Euch nach allem, was heute passiert ist, ganz allein am sichersten.«

Sie starrte ihn verblüfft an, dann rückte sie wieder eine Winzigkeit näher und entspannte sich.

»Dachte ich mir.« Er nickte ihr zu und streckte sich aus, das Schwert in Griffweite. Ringsum legten sich die Lagerbewohner ebenfalls nieder, um sich auszuruhen. Lediglich die Wachleute bezogen wieder ihre Posten und auch er hatte vor, Augen und Ohren offen zu halten, zumindest zeitweise. Sein Arm pochte schmerzhaft und auch die Wunde am Kopf fühlte sich alles andere als gut an, doch er ließ sich nichts anmerken, damit Reinhild keinen Grund hatte, sich erneut um ihn zu sorgen, anstatt selbst etwas Ruhe zu finden. Er hätte ihr sogar den Rücken zugedreht, wollte jedoch vermeiden, sich auf die Wunde an seinem Arm zu legen, um ihre Heilung nicht zu gefährden. Stattdessen starrte er jetzt schweigend zum nachtschwarzen Himmel empor. Die Sterne glommen nach wie vor am Firmament, so als wäre nichts geschehen – und doch hatte sich in weniger als einer Stunde ihrer aller Leben bedeutend verändert.

»Ich habe nicht gebetet.« Reinhild sprach so leise, dass er ihre Stimme beinahe überhört hätte. Sie schaute ebenfalls zu den Sternen empor. »Für Gottfrieds Seele, meine ich. Ich konnte es nicht. Mir sind keine Worte eingefallen. Mein Kopf ist vollkommen leer.«

Langsam wandte Conlin ihr das Gesicht zu. Sie wirkte zerbrechlich und sehr jung, wie sie da unter den Decken vergraben lag und es standhaft vermied, seinen Blick zu erwidern. Aus ihren Augenwinkeln rannen Tränen. Instinktiv wollte er die Hand nach ihr ausstrecken, unterdrückte einen Fluch, als ein beißender Schmerz seinen Arm durchschoss und zog sie wieder zurück. »Morgen ist auch noch ein Tag, um zu beten, Reinhild. Ich bin sicher, auf ein paar Stunden kommt es dabei nicht an.«

Anstelle einer Antwort drehte sie ihm einfach den Rücken zu und vergrub sich noch tiefer unter den Decken.

3. Kapitel

Koblenz, 15. Juni, Anno Domini 1379

Reinhild!« Die Frau, die den Ruf ausstieß, übertönte damit das Stimmengewirr und die quietschenden Lastkräne am Koblenzer Hafen. »Reinhild, mein liebes, liebes Kind!« Bevor Reinhild auch nur beide Füße auf heimischen Boden setzen konnte, riss ihre Mutter sie bereits regelrecht an sich und umarmte sie so fest, dass ihr beinahe die Luft wegblieb. Dabei lachte und weinte Elisabeth von Manten gleichzeitig und küsste ihre Tochter wieder und wieder auf beide Wangen, nur um sie gleich erneut an sich zu drücken. »Wie bin ich froh, dass du wieder zu Hause bist. Lass dich ansehen! Oh, du liebe Zeit, was bist du blass. Johann, seht her, Eure Tochter ist ganz blass und ich glaube, sie isst nicht genug.«

Hinter Elisabeth war Reinhilds Vater aufgetaucht. Graf Johann von Manten, Ratsherr zu Koblenz, war auch mit seinen achtundfünfzig Jahren immer noch eine imposante Erscheinung: von hochgewachsener Statur, breitschultrig und seine Miene düster-gewittrig wie eh und je. Der finstere Ausdruck wurde durch die lang gezogene Narbe auf seiner linken Wange noch verstärkt, doch seine blauen Augen waren milde und voller Liebe auf seine Tochter gerichtet.

»Reinhild, Kind.« Mit sanfter Bestimmtheit zog er Reinhild ebenfalls in seine Arme. Eine Geste, die für ihn – zumindest in aller Öffentlichkeit – sehr ungewöhnlich war. »Ich wünschte, ich könnte dich mit einem glücklichen Willkommen zurück begrüßen. Der berittene Bote, den ihr vorausgeschickt habt, hat uns vor drei Tagen erreicht. Ich kann dir gar nicht sagen, wie entsetzt wir waren, als er uns die Kunde von Gottfrieds Tod überbrachte – und wie leid es mir tut.« Vorsichtig schob er sie ein wenig von sich und blickte ihr prüfend ins Gesicht. »Du bist in der Tat sehr blass.«

»Mein liebes, liebes Kind.« Elisabeth ergriff Reinhilds Hände und drückte sie. »Ich kann immer noch nicht glauben, dass euch dieses Unglück widerfahren ist.« Sie blinzelte heftig, um die Tränen zurückzuhalten. »Lass uns wissen, wenn wir irgendetwas für dich tun können. Ganz gleich, was es auch sei.«

»Danke, Mutter.« Reinhild erwiderte den Händedruck und lehnte sich zugleich gegen die Brust ihres Vaters. »Und auch Euch, Vater.« Sie hatte mehr als eine Woche Zeit gehabt, sich mit Gottfrieds Tod abzufinden, doch erst jetzt, da sie wieder zu Hause war, fühlte sie so etwas wie Erleichterung und ein ganz klein wenig Zuversicht. Im Kreis ihrer Familie war sie nicht allein. Auf ihre Eltern und Geschwister konnte sie jederzeit zählen, ebenso wie auf ihre Freunde.

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