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Das Leuchten der Erinnerung

Ella macht sich nichts vor. Ihre eigenen Tage sind gezählt, und ihr Mann John ist zu senil, um gestern noch von heute und morgen zu unterscheiden. Ob es da eine gute Idee ist, sich mit über achtzig einfach in ein Wohnmobil zu setzen und über die Route 66 nach Disneyland zu türmen? Natürlich nicht. Doch Ella ist die Hüterin der Straßenkarten und die Wächterin der Käse- und Tablettenrationen. Und sie wird sich dieser Reise stellen - auch wenn sie fürchtet, dass auch Liebe sich vergessen lässt.

"Ein Buch, das einen über die schwierigsten Zeiten lachen lässt."
Los Angeles Times

"Ergreifend … Eine authentische und witzige Liebesgeschichte"
Publishers Weekly

"Ella ist eine bemerkenswerte Figur. "The Leisure Seeker" ist ein Buch wie das Leben selbst: humorvoll, schmerzhaft, ergreifend, tragisch, rätselhaft - und man will es auf keinen Fall missen."
Booklist

"Eine bittersüße Geschichte über die besten Jahre des Lebens - und ein Trostpflaster für alle, die einen betagten Menschen kennen oder vorhaben, selbst alt zu werden." Kirkus Reviews

"Leidenschaftlich und voller Klarheit zeigt Michael Zadoorian ein Paar vom Pech verfolgter Senioren, die sich auf ihre eigene Art von der Welt verabschieden möchten."
BookPage

"Eine rührende Geschichte, die deutlich macht, dass Alter und Krankheit noch lange kein Grund sind, (lebens-) wichtige Entscheidungen anderen Menschen zu überlassen."
SüdhessenWoche


  • Erscheinungstag: 20.12.2017
  • Seitenanzahl: 304
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959676786
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Norm und Rose

Was ist heller,

Der Stern des Morgens oder der Abendstern?

Der Sonnenaufgang oder der Sonnenuntergang des Herzens?

Die Stunde, in der wir nach vorn in die Fremde schauen,

Und der kommende Tag die Schatten verzehrt,

Oder jene, in der alle Landschaften unseres Lebens

Hinter uns ausgebreitet liegen und vertraute Orte

In der Ferne schimmern und süße Erinnerungen

Wie zarter Nebel aufsteigen und all das,

Was wir erblicken, noch einmal groß werden lassen,

bevor es weichen muss.

Henry Wadsworth Longfellow aus Michelangelo

Die Welt ist voller Orte, an die ich zurückkehren möchte.

Ford Madox Ford

EINS

MICHIGAN

Wir sind Touristen.

Damit habe ich mich neuerdings abgefunden. Mein Ehemann und ich gehörten nie zu den Reisenden, die ihren geistigen Horizont erweitern wollten. Wir reisten, um Spaß zu haben – Weeki Wachee, Gatlinburg, South of The Border, Lake George, Rock City, Wall Drug. Wir haben schwimmende Schweine und Pferde gesehen, einen mit Mais verkleideten russischen Palast, junge Mädchen, die unter Wasser aus kleinen Cola-Flaschen tranken, die London Bridge inmitten einer Wüste, einen Kakadu, der auf einem Hochseil Fahrrad fuhr.

Gewusst haben wir es vermutlich schon immer.

Diese unsere letzte Reise haben wir passenderweise auch in allerletzter Minute geplant, ein Luxus, den Rentner sich leisten können. Und ich bin froh über meinen Entschluss, sie anzutreten, obwohl alle (Ärzte, Kinder) dagegen waren. »Ich rate Ihnen nachdrücklich davon ab, eine wie auch immer geartete Reise zu unternehmen, Ella«, sagte Dr. Tomaszewski, einer von gefühlt hundert Ärzten, die sich derzeit um mich kümmern, als ich andeutete, mein Ehemann und ich würden vielleicht fortfahren. Als ich meiner Tochter gegenüber ganz beiläufig erwähnte, mit dem Gedanken an einen Wochenendausflug zu spielen, schlug sie einen Ton an, den sonst nur ungezogene Hundewelpen zu hören bekommen. (»Nein!«)

Aber John und ich hatten einen Urlaub so nötig wie noch keinen zuvor. Außerdem wollen mich die Ärzte doch ohnehin nur hierbehalten, damit sie ihre Tests an mir durchführen, mich mit ihren eiskalten Instrumenten piesacken und Schatten in mir aufspüren können, was sie schon zur Genüge getan haben. Und auch wenn die Kinder nur unser Bestes im Sinn haben, so geht es sie dennoch nichts an. Eine dauerhafte Vollmacht heißt noch lange nicht, dass man den ganzen Laden schmeißt.

Sie fragen sich vielleicht: Ist das wirklich eine gute Idee? Zwei vom Glück verlassene Oldies – eine mit mehr Gesundheitsproblemen als ein Dritte-Welt-Land, der andere so senil, dass er nicht mal weiß, welchen Tag wir haben – auf einer Autoreise quer durchs Land?

Machen Sie sich nicht lächerlich. Natürlich ist das keine gute Idee.

Es gibt dazu eine Episode aus dem Leben von Ambrose Bierce, dessen Gruselgeschichten ich als junges Mädchen gerne gelesen habe, und der in seinen Siebzigern einfach beschlossen hatte, nach Mexiko abzuhauen. Er schrieb: »Natürlich ist es möglich, sogar wahrscheinlich, dass ich nicht zurückkommen werde. Das sind fremdartige Länder, in denen unverhoffte Dinge passieren können.« Er schrieb außerdem: »Und diese Dinge sind besser als Alter, Krankheit oder ein Sturz auf der Kellertreppe.« Als jemand, der mit all diesen drei Dingen vertraut ist, kann ich dem alten Ambrose nur von ganzem Herzen zustimmen.

Auf einen einfachen Nenner gebracht: Wir hatten nichts zu verlieren. Also beschloss ich, zur Tat zur schreiten. Unser kleiner Oldtimer-Wohnwagen, der Leisure Seeker, war gepackt und startklar. Das hatten wir erledigt, sobald wir in den Ruhestand eingetreten waren. Und nachdem ich den Kindern versichert hatte, dass ein Urlaub nun wirklich außer Frage stand, habe ich meinen Ehemann John gekidnappt, damit wir uns mit dem Ziel Disneyland an der Westküste davonstehlen können. Dort waren wir immer mit unseren Kindern gewesen, weshalb es uns besser gefällt als der andere Park. Schließlich waren wir an diesem Punkt unseres Lebens mehr Kinder denn je. Vor allem John.

Aus der Gegend um Detroit, in der wir unser ganzes Leben verbracht haben, starten wir in westlicher Richtung quer durch den Bundesstaat. Bisher verläuft die Reise friedlich, und wir kommen gut voran. Der leichte Luftzug, der durch mein Ausstellfenster weht, lässt ein geschmeidiges vollendetes Rauschen entstehen, das uns begleitet, während wir uns Kilometer um Kilometer von unseren alten Ichs entfernen. Der Kopf wird klar, die Schmerzen lassen nach, die Sorgen lösen sich auf, und sei es auch nur für ein paar Stunden. John schweigt, macht hinterm Steuer aber einen zufriedenen Eindruck. Er hat einen seiner ruhigen Tage.

Nach etwa drei Stunden halten wir für unsere erste Nacht in einem Ferienstädtchen, das sich damit schmückt, eine Künstlerkolonie zu sein. Wenn man in den Ort hineinfährt, kommt man an einer von immergrünen Gewächsen umwucherten Malerpalette von der Größe eines Kinderplanschbeckens vorbei, auf deren Farbklecksen jeweils eine leuchtende Glühbirne im passenden Farbton sitzt. Daneben ein Schild:

SAUGATUCK

Hier haben wir vor fast sechzig Jahren unsere Flitterwochen verbracht (Mrs. Millers Pension, längst niedergebrannt). Wir sind damals mit dem Fernbus der Greyhound-Lines gefahren. Das waren im Grunde dann auch schon die Flitterwochen: eine Busreise ins westliche Michigan. Mehr konnten wir uns nicht leisten, aber es war auch so aufregend genug. (Ach ja, es ist gut, sich so leicht begeistern zu können.)

Nachdem wir uns im Trailerpark eingemietet haben, bummeln wir beide – im Rahmen meiner Möglichkeiten – ein wenig durch die Stadt, um den Rest des Nachmittags zu genießen. Es gibt mir ein gutes Gefühl, nach so vielen Jahren wieder hier zu sein. Unser letzter Besuch liegt dreißig Jahre zurück. Zu meiner Überraschung hat die Stadt sich nicht sehr verändert – jede Menge Konditoreien, Kunstgalerien, Eisdielen und Trödelläden. Der Park ist noch da, wo ich ihn in Erinnerung hatte. Viele der alten Gebäude stehen noch und sind in gutem Zustand. Es erstaunt mich, dass die Stadtväter keine Notwendigkeit sahen, alles abzureißen und neu aufzubauen. Offenbar haben sie begriffen, dass Menschen, die Ferien machen, einfach an einen Ort zurückkehren möchten, der sich vertraut anfühlt, sich anfühlt, als wäre es der ihre, und sei es auch nur für kurze Zeit.

John und ich setzen uns auf eine Bank auf der Main Street, wo sich der Duft von warmem Buttertoffee in die Herbstluft mischt. Wir beobachten die in Shorts und Sweatshirts vorbeiflanierenden Familien, die ihr Eis essen, miteinander schwatzen und tief und halbherzig lachen, entspannte Stimmen von Menschen auf Urlaub.

»Das ist schön«, sagt John, seine ersten Worte, seit wir angekommen sind. »Sind wir hier zu Hause?«

»Nein, aber es ist schön.«

John fragt ständig, ob irgendwo zu Hause ist. Zumal seit dem letzten Jahr, als sein Zustand sich zunehmend verschlechterte. Die ersten Gedächtnisprobleme tauchten etwa vor vier Jahren auf, obwohl es auch davor bereits Anzeichen gab. Bei ihm ist es ein allmählicher Prozess. (Meine Probleme sind erst in jüngster Zeit aufgetaucht.) Man hat mir gesagt, wir könnten uns noch glücklich schätzen, aber es fühlt sich nicht so an. Erst verschwanden die Ecken von der Tafel seines Gedächtnisses, dann die Ränder gefolgt von den Rändern der Ränder, bis ein Kreis entstand, der immer kleiner und kleiner wird, bevor er schließlich in sich selbst verschwindet. Übrig geblieben sind nur noch ein paar Kleckse hier und da, Stellen, an denen der Schwamm nicht richtig gewischt hat, Erinnerungen, die ich in ständiger Wiederholung höre. Immer mal wieder dämmert ihm die Erkenntnis, dass er viel von unserem gemeinsamen Leben vergessen hat, aber diese Momente werden in letzter Zeit immer seltener. Die raren Augenblicke, in denen er sich über seine Vergesslichkeit ärgert, bauen mich auf, weil sie mir zeigen, dass er noch immer auf dieser Seite steht, hier bei mir. Die meiste Zeit ist er das nicht. Es ist in Ordnung. Die Wächterin der Erinnerungen bin ich.

Nachts schläft John erstaunlich gut, ich hingegen kriege kaum ein Auge zu. Ich bleibe wach und lese und schaue mir auf unserem winzigen batteriebetriebenen Fernseher irgendwelche schwachsinnigen Talkshows an. Meine Perücke auf ihrem Styroporkopf leistet mir Gesellschaft. Wir beide sitzen hier im blauen Dämmerlicht und lauschen Jay Leno, dessen Stimme von John und seinen rasselnden Rachenmandeln übertönt wird. Das macht aber nichts. Ich kann ohnehin nicht mehr als ein paar Stunden vor mich hin dösen, und es stört mich nur selten. Heutzutage empfinde ich Schlaf als einen Luxus, den ich mir kaum erlauben kann.

John hat seine Brieftasche, seine Münzen und Schlüssel auf dem Tisch abgelegt, wie er das auch zu Hause macht. Ich greife nach dem dicken, von Schweiß gegerbten ledernen Ziegelstein von einer Brieftasche und öffne sie. Ein moosiger Geruch entsteigt ihr, und die klebrigen Kartenfächer schmatzen, als ich sie durchblättere. Das Durcheinander in seiner Geldbörse wird wohl dem in seinem Kopf entsprechen, alles ist vermengt und haftet aneinander und bildet einen Wust wie den, den ich in den Broschüren der Arztpraxen gesehen habe. Ich finde Zettel mit unleserlichem Gekrakel, Visitenkarten von Menschen, die längst tot sind, einen Ersatzschlüssel für ein Auto, das schon vor Jahren verkauft wurde, abgelaufene Versicherungskarten von Aetna und Medicare neben neuen. Ich wette, dass er sie schon länger als ein Jahrzehnt nicht mehr geordnet hat. Mir ist schleierhaft, wie er auf diesem Ding sitzen kann. Kein Wunder, dass ihm sein Rücken ständig wehtut.

Ich schiebe die Finger in eins der Fächer und finde ein Stück Papier, das doppelt zusammengefaltet ist. Anders als der Rest sieht es nicht so aus, als wäre es schon immer dort gewesen. Ich entfalte es und sehe, dass es ein Foto ist, das er irgendwo herausgerissen hat. Auf den ersten Blick scheint es ein Familienfoto zu sein – Leute, die sich vor einem Gebäude versammelt haben, aber niemand auf dem Foto kommt mir bekannt vor. Als ich den zerfledderten unteren Rand glatt streiche, sehe ich eine Bildunterschrift:

VON IHREN FREUNDEN DES PUBLISHERS CLEARING HOUSE!

Ich sollte an dieser Stelle erläutern, dass wir von diesem Unternehmen jede Menge Post bekommen. Irgendwann in der Anfangszeit seiner Erkrankung hatte John sich auf dieses Verlagshaus eingeschossen. Er nahm bei allen Gewinnspielen teil und gab versehentlich Bestellungen für Zeitschriften auf, die wir gar nicht brauchen konnten – Teen People, Off-Roader, Das moderne Frettchen. Schon bald schickten uns diese Hurensöhne drei Briefe pro Woche. Später fiel es John immer schwerer, die Teilnahmebedingungen zu erfassen, und so stapelten sich die Briefe, geöffnet und halb verstanden.

Es dauert etwas, bis mir endlich einleuchtet, warum John dieses Foto in seiner Brieftasche hat. Er hält es für ein Foto seiner eigenen Familie! Plötzlich muss ich loslachen. Ich lache so laut, dass ich befürchte, ihn aufzuwecken. Ich lache, bis mir die Tränen kommen. Dann zerreiße ich das Foto in hundert winzige Stücke.

ZWEI

INDIANA

Ein früher Aufbruch durch die Dunkelheit auf der Indiana-Interstate mit Ziel Chicago, wo wir die Route 66 von ihrem offiziellen Startpunkt aus einschlagen wollen. Normalerweise würden wir um große Städte immer einen Bogen machen. Denn es sind gefährliche Orte für alte Menschen. Da kann man nicht mithalten und wird sofort niedergewalzt. (Merken Sie sich das.) Aber es ist Sonntagmorgen und so wenig Verkehr wie selten. Und trotzdem brettern und schnaufen riesige laute Sattelschlepper mit einhundertzwanzig, einhundertdreißig Stundenkilometern und mehr an uns vorbei. Doch John lässt sich nicht aus der Ruhe bringen.

Auch wenn sein Geist sich langsam verabschiedet, ist er nach wie vor ein ausgezeichneter Fahrer. Ich muss an Dustin Hoffman im Film Rain Man denken. Vielleicht liegt es an den vielen Autoreisen, die wir in der Vergangenheit gemacht haben, oder daran, dass er fährt, seit er dreizehn war, jedenfalls gehe ich nicht davon aus, dass er jemals vergessen wird, wie es geht. Wenn man erst mal im Rhythmus einer Langstreckenfahrt angekommen ist, geht es ohnehin nur noch darum, Richtungsanweisungen zu geben (meine Aufgabe als Herrin der Straßenkarten), unerwartete abrupte Ausfahrten zu vermeiden und im Rückspiegel auf mögliche sich rasch nähernde Gefahren zu achten.

Unbemerkt wird die Luft grau und kontrastlos. Unter einem trüben Nebelschleier schimmern Gießereien und Fabriken am Horizont.

John runzelt die Stirn und wendet sich mir zu. »Hast du gefurzt?«

»Nein«, sage ich. »Wir fahren bloß durch Gary.«

DREI

ILLINOIS

Auf der Dan-Ryan-Schnellstraße hinter Chicago ist zwar nicht viel los, dafür fahren alle verdammt noch mal viel zu schnell. John versucht, die richtige Spur zu halten, aber ständig kommen neue Spuren dazu oder verschwinden wieder. Inzwischen bereue ich es, dass wir nicht einfach erst bei Joliet auf die Route 66 aufgefahren sind, wie ich das ursprünglich geplant hatte. Aber irgendwas in mir wollte diese Reise unbedingt ganz von Anfang bis zum letzten, letzten Ende machen.

Inoffiziell beginnt die Route 66 direkt am Lake Michigan, am Jackson und Lake Shore Drive, den wir ohne große Probleme finden. Schwieriger ist es, den offiziellen Startpunkt der Route 66 an der Kreuzung von Adams Street und Michigan Avenue ausfindig zu machen. Als wir endlich das Straßenschild entdecken, lasse ich John anhalten. An einem Arbeitstag wäre das unmöglich, aber heute ist diese Straße leer.

BEGINN DER HISTORISCHEN ILLINOIS U.S. 66 ROUTE

Ich lehne mich aus dem Fenster, um mir die Straße genauer anzusehen, steige aber nicht aus dem Wohnmobil. Diesem Wind würde die Perücke nicht standhalten und binnen Sekunden wie ein Steppenläufer die Adams Street hinunterfegen.

»Das ist sie«, sage ich zu John.

»Jawohl«, sagt er mit großer Begeisterung. Ich bin mir nicht sicher, ob er begreift, was wir tun.

Ich dirigiere uns die Adams Street entlang. Wir fahren durch eine Häuserschlucht, die kein Sonnenlicht durchscheinen lässt. Doch ich fühle mich seltsam sicher in diesem Hochhäuserzwielicht. Als wir auf die Ogden Avenue auffahren, sehe ich die ersten Schilder der Route 66.

In Berwyn hängen Banner von den Laternenpfählen, und ich entdecke einen Laden, der sich Route 66 Immobilien nennt. In Cicero, Al Capones altem Revier, scheinen alle gerade erst wach zu werden. Die Leute fahren durch die Gegend, haben aber keine Eile, lassen es ruhig angehen am Sonntagmorgen.

Mir wird klar, dass John und ich uns, wenn wir diese Reise überleben wollen, genauso verhalten müssen. Keine Eile, kein Druck, keine vierspurigen Schnellstraßen, wenn es sich vermeiden lässt. Mit den Kindern gab es zu viele Ferien, die genau nach diesem Muster abliefen. In zwei Tagen nach Florida touren, in drei Tagen nach Kalifornien – wir haben doch nur zwei Wochen –, schnell, schnell, schnell. Jetzt haben wir alle Zeit der Welt. Nur dass ich aus dem letzten Loch pfeife und John sich kaum noch an seinen Namen erinnern kann. Aber das macht nichts. Ich kenne ihn ja. Unter uns sind wir vollständig.

Entlang der Straße laufen zwei kleine Kinder, die gerade aus der Kirche kommen, und winken uns zu. John hupt. Ich halte die Hand hoch und grüße, als wäre ich Königin Elizabeth.

Dann fahren wir an der Statue eines riesigen weißen Huhns vorbei.

Wussten Sie, dass Teile der Route 66 direkt unter der Autobahn begraben sind? Das ist wahr. Diese herzlosen Mistkerle haben sie einfach zugemacht. Deshalb ist die Route 66 heute auch eine tote Straße, außer Dienst gestellt wie ein Soldat, dem sämtliche Abzeichen von den Schultern gerissen wurden, weil er in Ungnade gefallen ist.

Als wir eine dieser Autobahnstrecken erreichen, folgt John seinem im Bleifuß eines jeden Detroiter Jungen steckenden Instinkts und beschleunigt.

»Gib Gas, John!«, sage ich und fühle mich so frei wie seit Jahren nicht mehr.

Von den hohen Sitzen unseres Wohnmobils aus betrachtet, fliegt die begrabene Route 66 mit einem dröhnenden Rauschen unter uns hinweg. Da ich plötzlich einen Anflug von Schläfrigkeit verspüre, öffne ich das Fenster einen Spalt weit, sodass milde Luft hereinströmt und wie ein frisch gewaschenes Bettlaken knattert. Ich möchte den Wind im Gesicht spüren. Im Handschuhfach finde ich eine zusammengefaltete Regenhaube, ein uraltes Werbegeschenk der Reinigung in unserem alten Viertel in Detroit. Ich drapiere sie über meiner Perücke, binde sie unter dem Kinn zu und kurbele dann das Fenster herunter. Die Haube bläht sich auf, als würde sie jeden Moment samt Kopf und Perücke abheben wollen, also kurbele ich das Fenster wieder hoch und belasse es beim kleinen Spalt.

Der Morgen ist nun erwacht, das Wetter könnte nicht besser sein. Ein strahlender Septembertag mit einer kitschigen Sonne, als hätte ein Kind sie mit Wachsmalkreide in die äußerste Ecke gezeichnet. Und dennoch hängt schon ein Hauch von Herbst in der Luft, leicht feucht und ein wenig muffig. Früher hätte ein solcher Herbsttag mir das Gefühl unbegrenzter Möglichkeiten gegeben. Ich erinnere mich an eine Reise vor vielen Jahren, als die Kinder noch mitfuhren und ich an einem Tag wie diesem beim Blick auf die Ebenen von Missouri einen Moment lang glaubte, das Leben könnte ewig so weitergehen und würde niemals enden.

Schon seltsam, was ein wenig Sonnenschein bewirken kann.

Heutzutage kann ich den Herbst nicht mehr als meine liebste Jahreszeit bezeichnen. Tote, verwelkte Blätter üben nicht mehr den gleichen Reiz auf mich aus. Ich weiß auch nicht, warum.

Das Ende der Schichttorte, die diese Autobahn darstellt, geht wieder auf die Route 66 über. Das erkenne ich an dem riesigen grün gekleideten Astronauten, der neben der Straße steht.

»Sieh nur, John!«, sage ich, als wir uns dem smaragdgrünen Koloss mit dem gewaltigen Kopf in einem Fischglashelm nähern.

»Was soll das sein?«, erwidert John und hebt seinen Blick kaum von der Straße. Sein Interesse könnte nicht geringer sein.

Als wir am Launching Pad Drive-in vorbeifahren, ist mir wieder danach, das Fenster ganz weit zu öffnen. Und da kommt mir die Idee, dass eigentlich nichts dagegen spricht, wenn ich den Wind und die Sonne auf meinem Gesicht spüren möchte. Ich reiße mir die Regenhaube vom Kopf und löse den Helm aus synthetischer naturgetreuer Faser (die Eva Gabor Milady II der Farbe Nachtschatten – fünfundsiebzig Prozent weiß; fünfundzwanzig Prozent schwarz) im Nacken, wo er lose an den mir noch verbliebenen einigermaßen kräftigen Haaren befestigt ist. Ich greife darunter, ziehe die Perücke zurück und nach oben und lege den Schädel frei.

Ich kurbele das Fenster nach unten und werfe das verdammte Ding hinaus, wo es sich flatternd neben der Straße überschlägt wie ein eben angefahrenes Tier. Was für eine Erleichterung. Ich kann mich nicht erinnern, wann meine Kopfhaut zum letzten Mal direktem Sonnenlicht ausgesetzt war. Mein spärliches eigenes Haar ist dünn und fein wie der erste zarte Flaum eines Babys. In der wunderbaren Brise wirbeln und tanzen die langen Strähnen um meinen Kopf, ein trauriger verschlungener Turban, aber das kümmert mich heute nicht. Wie es mich deprimiert hat, als sich meine Haare nach der Menopause gelichtet hatten. Ich schämte mich, als hätte ich was falsch gemacht, hatte Angst vor den Reaktionen der Leute. Da bringt man sein Leben damit zu, sich Sorgen darüber zu machen, was die anderen denken, dabei denken die meisten Leute doch in Wirklichkeit gar nicht. Und wenn sie es, selten genug, dann doch tun, kommt dabei meist nichts Gutes heraus, aber selbst dann sollte man wenigstens anerkennen, dass sie überhaupt denken.

Ich blicke nach hinten auf den Perückenständer. Der noch immer an der Theke festgeklebte Styroporkopf ist nicht mehr mein Gefährte, sondern starrt mich urteilend und verwundert an: »Was zum Teufel hast du gerade getan?« Ich betrachte mich nicht im Spiegel, denn ich weiß auch so, dass ich aussehe wie eine wandelnde Leiche. Aber es macht mir nichts aus, weil ich mich leichter fühle.

Vor uns entdecke ich ein Gebäude, das mir irgendwie bekannt vorkommt. Es ist niedrig und in die Breite gezogen, sein spitzes türkisfarbenes Dach von der jahrzehntelangen Sonneneinstrahlung ausgebleicht. An der Seitenmauer des Gebäudes erkennt man ein verblasstes Pferd mit Kutsche. Und dann sehe ich das Schild.

STUCKEY’S

In den Ferien mit den Kindern, Kevin und Cindy, kehrten wir oft in diesen Raststätten ein, wo es Pekannuss-Riegel und bitteren Kaffee gab. Die entsprechenden Hinweisschilder tauchten manchmal schon mehr als hundert Kilometer zuvor auf. Und dann kam alle fünfzehn, zwanzig Kilometer ein neues. Die Kinder wären jetzt auf einmal wie aufgescheucht und würden unbedingt dort Pause machen wollen, und John würde Nein sagen und dass wir erst noch ein paar Kilometer zurücklegen müssten. Sie würden betteln, und kurz vorher würde John dann doch einknicken, woraufhin sie losjubeln und John und ich uns anlächeln würden wie Eltern, die das richtige Maß gefunden hatten, ihre Kinder zu verwöhnen.

Ein Sattelschlepper donnert an uns vorbei. Gleich darauf ist es bis auf den Wind wieder still. »Ich habe schon seit Jahren keine dieser Raststätten mehr gesehen«, werfe ich ein. »Erinnerst du dich an Stuckey’s, John?«

»Oh ja«, antwortet er in einem Ton, der bewirkt, dass ich es ihm fast abnehme.

»Also dann«, sage ich. »Lass uns reingehen. Wir müssen ohnehin tanken.«

Nickend hält John neben den Zapfsäulen an. Kaum bin ich aus dem Wagen gestiegen, nähert sich uns schon ein ordentlich gekleideter Mann im beigen Sporthemd mit kupferfarbener Hose.

»Wir verkaufen kein Benzin mehr, aber ein Stück weiter gibt es eine BP-Tankstelle«, sagt er mit Reibeisenstimme, aber nicht unfreundlich. Er schiebt sich seine bauschige weiße Kappe mit dem Daumen aus der Stirn.

»Das macht nichts«, sage ich. »Wir wollten eigentlich nur einen Pekannuss-Riegel.«

Er schüttelt den Kopf. »Die haben wir auch nicht mehr. Wir haben das Geschäft aufgegeben.«

»Oh, tut mir leid, das zu hören.« Ich klammere mich an die Armlehne. »Wir waren immer gern mit unseren Kindern hier.«

Er zuckt verloren mit den Schultern. »Da waren Sie nicht die Einzigen.«

Als er sich entfernt, kämpfe ich mich zurück in den Wohnwagen. Bis ich mich angeschnallt habe und bereit bin, John das Zeichen zur Abfahrt zu geben, ist der Mann wieder zurück und steht neben meiner Tür.

»Ich hab einen gefunden«, verkündet er und reicht mir einen Pekannuss-Riegel.

Und bevor ich mich bedanken kann, ist er schon wieder weg.

Mir fällt erst jetzt auf, dass die Route 66 bereits im Verfall begriffen war, als wir sie in den Sechzigern bereisten. Ein Großteil der alten Straße ist jetzt gesperrt, begraben oder niedergewalzt und schon vor langer Zeit von den Highways 55 und 44 und 40 ersetzt worden. An einigen Stellen ist der originäre Portland-Beton so brüchig, dass man nicht mehr darauf fahren kann. Dafür gibt es jetzt Karten und Bücher mit dem Verlauf der alten Straße, detaillierten Wegbeschreibungen und Wegweisern zu den Wohnwagenplätzen. Das sauge ich mir nicht aus den Fingern. Diese Informationen fand ich in unserer Bibliothek im World Wide Web. Allem Anschein nach wollten die Leute an der alten Straße festhalten, und viele der nach dem Krieg geborenen Kinder, die sie mit ihren Eltern befahren hatten, haben offenbar den Wunsch, sich auf Spurensuche in die Vergangenheit zu begeben. Wie es scheint, wird alles Alte wieder neu.

Bis auf uns.

»Ich habe Hunger«, meldet sich John. »Lass uns zu McDonald’s gehen.«

»Immer willst du zu McDonald’s«, frotzele ich und stupse ihn mit dem Nussriegel an. »Hier. Iss das.«

Er wirft einen misstrauischen Blick darauf. »Ich will einen Hamburger.«

Ich verstaue den Riegel in unserem Sack mit dem Knabberzeug. »Dann werden wir wohl zur Abwechslung irgendwo einen Hamburger für dich finden.«

John liebt McDonald’s. Ich bin nicht so versessen darauf, aber er könnte dort jeden Tag essen. Das hat er auch eine ganze Weile getan. Seit seinem Ruhestand war McDonald’s für viele Jahre sein Stammlokal, in dem er jeden Tag herumhing, von Montag bis Freitag, immer um die Mittagszeit. Irgendwann fragte ich mich, was er daran eigentlich findet, und begleitete ihn. Da hockten einfach nur ein paar alte Säcke herum, die quatschten, Kaffee mit Seniorenrabatt tranken, Zeitung lasen und sich über den Zustand der Welt auskotzten. Dann ließen sie sich kostenlos nachschenken und begannen von vorn, wenn neue alte Säcke dazukamen. Ich konnte gar nicht schnell genug weg von dort. Mein erster Besuch sollte auch mein letzter sein, was John offenbar nur recht war. Offen gestanden denke ich, dass er im Ruhestand einfach einen Ort brauchte, wo er mir aus dem Weg gehen konnte. Und ganz ehrlich, ich war froh, dass er mir nicht auf der Pelle saß.

Doch nachdem wir beide unseren Rhythmus gefunden hatten, konnten wir den Ruhestand genießen. Wir waren damals noch in recht guter Verfassung und haben viel unternommen. Wenn John von McDonald’s zurückkam, kümmerten wir uns um den Haushalt, erledigten Einkäufe, gingen auf Schnäppchenjagd in den Supermärkten oder Kaufhäusern, sahen uns eine Nachmittagsvorstellung an, aßen zeitig zu Abend. Wir tankten den Leisure Seeker voll und fuhren übers Wochenende mit Freunden weg oder machten uns auf den weiten Weg zur Outlet Mall in Birch Run. Es war eine gute Phase, die aber nicht lange genug anhielt. Bald schon verbrachten wir unsere Tage damit, von einer Arztpraxis in die nächste zu gehen. Wochenlang haben wir uns den Kopf um Tests zerbrochen, für deren Ergebnisse wir monatelange Behandlungen über uns ergehen lassen mussten. Irgendwann wurde es ein Vollzeitjob, allein am Leben zu bleiben. Kein Wunder, dass wir Urlaub nötig hatten.

Wir können McDonald’s lange genug widerstehen, um dann irgendwo außerhalb von Normal, Illinois zum Mittagessen anzuhalten. Ich greife nach der Vierfußgehstütze und steige aus dem Wohnmobil. John, der noch immer fit ist, ist bereits ausgestiegen und an meiner Seite, um mir zu helfen. »Ich hab dich«, sagt er.

»Danke, Schatz.«

Zusammen sind wir ein gutes Team.

Offensichtlich wollte man dem Lokal im Inneren den Anstrich der Fünfzigerjahre geben, was aber keinesfalls dem entspricht, wie ich sie in Erinnerung habe. Irgendwann hat sich bei den Leuten die Überzeugung festgesetzt, es sei eine Dekade voller Tanzveranstaltungen, weit schwingender Röcke mit Pudelemblem, Rock ’n’ Roll, glänzender roter T-Bird-Jacken, James Dean, Marilyn Monroe und Elvis gewesen. Schon komisch, wie ein ganzes Jahrzehnt auf ein paar anscheinend zufällige Bilder reduziert wird. Für mich bestand dieses Jahrzehnt aus Windeln und Lauflernrädern und Fehlgeburten und dem Bemühen, mit siebenundvierzig Dollar in der Woche über die Runden zu kommen und drei Leute mit einem Dach überm Kopf und Essen auf dem Tisch zu versorgen.

Nachdem John und ich Platz genommen haben, kommt ein Mädchen zu uns, das wie eine Kellnerin in einem Drive-in-Restaurant gekleidet ist. (Warum das denn? Wir sind doch drinnen, verdammt.) Sie hat lange gefärbte blonde Haare, einen Kussmund und Augen wie eine Kewpie-Puppe.

»Willkommen im Route 66 Diner«, sagt sie mit hauchender Stimme. »Ich bin Chantal. Ich werde Sie bedienen.«

Da ich nicht weiß, was ich darauf antworten soll, sage ich irgendwas. »Hallo, Chantal. Ich bin Ella, und das ist mein Ehemann John. Ich nehme an, wir sind Ihre Kunden.«

»Ich möchte einen Hamburger«, verkündet John schroff. Mit seinem Gedächtnis hat er auch ein paar seiner Umgangsformen verloren.

Ich versuche, es wegzulachen. »Wir nehmen beide einfache Hamburger und Kaffee«, sage ich.

Man sieht Chantal ihre Enttäuschung an. Vielleicht arbeitet sie auf Kommission. »Wie wär’s mit ein paar Fabian Fries? Einem Pelvis-Shake?«

»Was ist das denn?«

»Ein Schokoladenmilchshake.« Sie nickt mir aufmunternd zu. »Die sind gut.«

»Also gut. Dazu müssen Sie mich nicht lange überreden.«

»Pelvis-Shake, kommt gleich«, sagt sie, zufrieden, etwas verkauft zu haben.

Nachdem unsere neue Freundin Chantal gegangen ist, entschuldige ich mich kurz, um zu telefonieren.

»Wo zum Teufel seid ihr, Mom?«, kreischt meine Tochter durchs Telefon, und ihre Stimme schallt bis in den Empfangsbereich dieses Lokals.

Ich blicke mich um, fast ist es mir peinlich, ihr zuzuhören. Ich weiß nicht, woher sie dieses Mundwerk hat, von mir jedenfalls nicht, das versichere ich Ihnen.

»Cindy, Liebes, nicht in diesem Ton. Deinem Vater und mir geht es gut. Wir machen nur eine kleine Reise.«

»Ich fasse es nicht, dass du das durchgezogen hast. Wir haben uns alle darüber unterhalten und beschlossen, dass eine Reise für euch außer Frage steht.«

Ich höre die Erbitterung in ihrer Stimme. Ich mag es nicht, wenn Cindy sich in etwas hineinsteigert. Sie hatte in letzter Zeit Probleme mit ihrem Blutdruck, und sich derart aufzuregen, wird ihr mit Sicherheit nicht guttun.

»Cindy. Beruhige dich. Dein Vater und ich haben überhaupt nichts beschlossen. Du und Kevin und die Ärzte haben das für uns beschlossen. Und dann haben Dad und ich beschlossen, dass wir dennoch wegfahren.«

»Mom. Du bist krank.«

»Krank ist relativ, meine Liebe. Ich bin übers Kranksein schon hinaus.«

»Ich kann nicht glauben, dass du das tust«, sagt sie ungehalten. »Du kannst doch nicht einfach nicht mehr zum Arzt gehen.«

Ich vergewissere mich, dass auch keiner im Restaurant mithört, und ergänze dann mit gesenkter Stimme: »Ich möchte nicht mehr von ihnen behandelt werden, Cynthia.«

»Aber die Ärzte versuchen doch nur, deinen Zustand zu verbessern.«

»Und wie? Indem sie mich umbringen? Da mache ich lieber Urlaub mit deinem Vater.«

»Verdammt, Mom!«

»Ich mag es nicht, angeschrien zu werden, junge Dame.«

Es folgt eine lange Pause, in der Cindy sich sammeln will. Das hat sie auch getan, wenn sie sich über ihre Kinder geärgert hat, jetzt tut sie es bei John und mir.

»Mutter«, sagt sie, gefasster jetzt. »Du weißt, dass Dad in seinem Zustand nicht Autofahren sollte.«

»Dein Vater fährt immer noch ausgezeichnet. Wenn ich nicht dieser Ansicht wäre, würde ich nicht mit ihm fahren.«

»Und was ist, wenn ihr beiden seinetwegen einen Unfall verursacht? Wenn er jemanden verletzt?«

Da hat sie nicht ganz unrecht, aber ich kenne John. »Er wird niemanden verletzen. Wenn man Sechzehnjährige auf die Straße loslässt, dann sollte das auch deinem Vater erlaubt sein, der ein hervorragender Fahrer ist.«

»O Gott. Mutter«, erwidert sie mit erhobener Stimme, die Kapitulation signalisiert, »wo bist du?«

»Das ist unwichtig. Wir haben gerade angehalten, um zu Mittag zu essen.«

»Wohin fahrt ihr denn?«

Ich schätze die »Wer bin ich?«-Fragen meiner Tochter nicht und bin mir auch nicht sicher, ob ich ihr antworten soll, tue es dann aber trotzdem. »Wir werden nach Disneyland fahren.«

»Disneyland? In Kalifornien? Das kann doch nicht dein Ernst sein?« Und da wird mir klar, dass meine Tochter noch immer den Hang zum Dramatischen hat, den sie als rotzfrecher Teenager entwickelt hat.

»Oh doch, wir meinen es ernst.« Ich glaube, ich setzte dem Telefonat bald ein Ende. Wer weiß? Womöglich verfolgen sie den Anruf zurück, wie im Fernsehen.

»O Gott. Ich fasse es nicht. Hast du wenigstens das Handy dabei, das wir dir gekauft haben?«

»Habe ich, aber ich mag dieses Ding nicht, meine Liebe. Aber für den Notfall habe ich es dabei.«

»Könntest du es nicht zumindest eingeschaltet lassen«, fleht sie mich an, »damit ich mit dir in Kontakt bleiben kann?«

»Wohl eher nicht. Mach dir nicht so viele Sorgen. Dein Vater und ich, wir kommen schon klar. Es ist nur ein kleiner Urlaub.«

»Mom …«

»Ich hab dich lieb, Schätzchen.« Es ist Zeit aufzulegen, also tue ich es. Sie wird sich schon beruhigen, aber wenn sie glaubt, ich werde dieses Handy einschalten, spinnt sie. Ich habe schon mehr Krebs als genug, besten Dank.

Wieder zurück an unserem Tisch, essen John und ich unsere Route-66-Burger. Das Schokoladen-Pelvis-Shake ist gar nicht so schlecht.

Als wir wieder auf der Straße sind, übermannt die Müdigkeit mich heftig und unvermittelt. Ich würde John gern sagen, dass wir für heute genug gefahren sind, aber wir sind gerade mal vier Stunden unterwegs. Ich versuche, es zu ignorieren. Nach dem Telefonat mit Cindy möchte ich mehr Abstand zwischen uns und zu Hause bringen. Gestern noch hatte ich aus naheliegenden Gründen Angst, unser Heim zu verlassen, aber nun, da wir unterwegs sind, möchte ich, dass wir auch wirklich weg sind.

John wendet sich mir mit besorgter Miene zu. »Geht es dir gut, Miss?«

»Ja, das tut es, John.« Er hat einen jener Momente, in denen er weiß, dass ich jemand bin, der ihm lieb und teuer ist, ohne sich ganz sicher zu sein, wer ich bin.

»John. Weißt du, wer ich bin?«

»Natürlich weiß ich das.«

»Und wer bin ich?«

»Ach, lass gut sein.«

Ich lege eine Hand auf seinen Arm. »John. Sag mir, wer ich bin.«

Er starrt auf die Straße, Verärgerung und Sorge im Blick. »Du bist meine Frau.«

»Gut. Wie heiße ich?«

»Um Himmels willen«, sagt er, überlegt aber. »Du bist Ella«, sagt er nach einer Weile.

»Das ist richtig.«

Er lächelt mich an. Ich lege die Hand auf sein Knie und drücke es. »Schau auf die Straße«, fordere ich ihn auf.

Ich kann nicht sagen, woran John sich erinnert und woran nicht. Die meiste Zeit weiß er, wer ich bin, aber wir sind ja auch schon so lange zusammen, dass, selbst wenn er sich in der Zeit langsam zurückbewegt und der Spur des Vergessens folgt, ich am Ende schon bei ihm gewesen bin. Ich frage mich: Täuschen sich die Augen zusammen mit dem Geist? Wenn es für ihn … sagen wir 1973 ist, sehe ich dann auch aus wie damals? Und wenn ich das nicht tue (wovon ich eigentlich ausgehe), wodurch weiß er dann, dass ich es bin? Ergibt das einen Sinn?

Auf diesem Abschnitt ist die Route 66 die Nebenfahrbahn der I-55. Links von uns verlaufen vom Alter und den Abgasen geschwärzte Telefonmasten, die von blau-grünen Glasisolatoren gekrönt werden (wie man sie manchmal in Trödelläden findet). Einige der Masten sind abgebrochen und zersplittert, an manchen Stellen umgeknickt oder schief, und die gekappten Kabel baumeln herunter. Doch viele der Leitungen sind noch erhalten und verbinden uns mit der Straße wie eine alte Straßenbahn, als wären wir an die Luft angebunden.

Auf der anderen Seite: die Autobahn und die Eisenbahngleise, die der Straße fast durchgängig bis nach Kalifornien folgen werden. Zwischen unserer Straße und der Autobahn sehe ich verbarrikadierte Stellen, bei denen es sich um sehr alte Anschlüsse der 66 handeln muss, ein schmaler rosafarbener Pfad, der kaum breit genug für einen Pkw zu sein scheint. Langsam holt die Natur ihn sich zurück. Von den Rändern her breitet sich die Vegetation aus, engt ihn ein wie eine Arterie. Unkraut sprießt in Abständen von etwa zwei Metern aus den Spalten, wo die Betonplatten aneinanderstoßen. Noch ein paar Jahre und man wird von dieser alten Autobahn gar nichts mehr sehen können.

Wenn wir uns nicht auf der Nebenfahrbahn befinden, fahren wir durch winzige trostlose Ortschaften. Wenn keiner mehr die Route 66 benutzte, gab es auch keinen Grund mehr, anzuhalten und an diesen Orten Geld auszugeben, also ging es bergab mit ihnen. In einem Städtchen namens Atlanta kommen wir an einem weiteren Kunststoffriesen vorbei (wie man sie in meinem Reiseführer nennt). Das hier ist Paul Bunyan, der sagenhafte Holzfäller, der eine riesige Bockwurst hält.

»Nun sieh dir das an«, sagt John. Es ist das erste Mal, das er Interesse an so einer Skulptur zeigt.

»Den haben sie einfach von Chicago hierher verfrachtet.«

»Wozu?«

Ich lasse meinen Blick über die trostlose Straße schweifen, deren Gebäude mit Brettern zugenagelt wurden. »Das, mein Lieber, ist die Vierundsechzigtausend-Dollar-Frage.«

Wir halten an und kurbeln unsere Fenster herunter, um die gewaltigen Oberarmmuskeln des Riesen zu bestaunen. Dem Reiseführer zufolge hielt er ursprünglich einen Auspuff, weshalb die Bockwurst jetzt auf seiner klauenhaft geballten linken Faust sitzt. Es sieht aus, als würde Bob Dole einen Jumbo-Hotdog halten. Mich stimmt es traurig, dass die Leute hier alle ihre Hoffnungen an so ein Ding hängen, nur damit wieder etwas Leben in ihre kleine Geisterstadt kommt.

Hinter Springfield halten wir für die Nacht. Der Wohnmobilpark ist weniger ein Campingplatz als eine Siedlung mit ein paar Restplätzen für Leute, die mit dem Wohnmobil vorbeikommen. Im Grunde genommen kommt man sich vor, als würde man in einem schäbigen Wohnviertel campen. Aber wir sind müde, und außerdem war noch was frei.

Wir parken und schließen uns an Strom, Wasser und Abwasser an. (Mit dem Wissen, das John noch geblieben ist, und dem, was er mir beigebracht und an das ich mich erinnere, wursteln wir uns durch die diversen Anschlüsse und Verbindungen.) Wir essen Sandwiches und nehmen unsere Medikamente, dann legt John sich zum Schlafen hin. Ich lasse ihn schlafen, weil es mir guttut, ganz allein am Picknicktisch zu sitzen.

Nebenan kommen unsere Nachbarn zurück. Als Erster fährt der Mann des Hauses in einem verbeulten Oldsmobile vor, dessen Kühlerhaube und Dach von einer Landschaft aus Rost wie eine korrodierte Weltkarte überzogen ist. Als ich dem Mann zur Begrüßung zuwinke, starrt er durch mich hindurch und betritt seinen Trailer. Wenige Minuten später kommt die Frau zu Fuß an. Sie trägt noch ihren Walmart Kittel, ist gebräunt und spindeldürr – ein Erscheinungsbild, das mich an Trockenfleisch erinnert und das ich entweder mit zwei Packungen Zigaretten am Tag oder einem Langstreckenläufer verbinde. Als ich ihr zuwinke, kommt sie sofort anmarschiert.

»He, Nachbarin!«

Ich lächele sie an. »Leider nur für diesen Abend.«

»Ich bin Sandy«, sagt sie und streckt mir ihre Hand hin.

»Ella«, sage ich und schüttele sie.

Sie zündet sich eine Kippe an und legt dann sofort los. »Meine Güte, was war das heute für ein Tag. Mein Chef saß mir von dem Moment an, als ich eingestempelt hatte, bis zum Feierabend im Nacken. Hat mich während meiner Mittagspause aufgespürt, so wahr ich hier stehe! Ich saß ganz ruhig da und hab mein Salesbury Steak gegessen, da kommt er auf mich zu und fängt an, mir was über die anstehende Inventur vorzujammern. Schreit mich einfach während des Mittagessens an! Das ist doch nicht zu fassen. Ich bin einfach sitzen geblieben und hab mir vor seinen Augen das Essen in den Mund geschoben. Ohne ihn zuzumachen. Hab ihn weit offen gelassen und gekaut, während er vor sich hin gemotzt hat. Ich hab sogar einen kleinen Brocken auf meinen Teller gespuckt. Der hat es nicht mal bemerkt. Ich hab mir gesagt, verdammt, das ist meine Essenspause, und ich werde mir mein Mittagessen schmecken lassen, ob es ihm nun gefällt oder nicht …«

Das geht eine ganze Weile so weiter. Rauchen und reden. Reden und rauchen. Sie zündet sich eine nach der anderen an. Anfangs tut sie mir leid, dass sie das vor völlig Fremden tun muss, aber nach etwa zwanzig Minuten befürchte ich, die ganze Nacht draußen verbringen zu müssen. Armes Ding, ich weiß ja, dass sie sich nur Luft machen möchte, jemanden braucht, der ihr Aufmerksamkeit schenkt und bemerkt, dass sie überhaupt da ist. Sie begreift nicht, dass es gar nicht darauf ankommt, ob ich sie wahrnehme. Ich würde morgen wieder weg sein. Man braucht dazu Leute, auf die man zählen kann.

»Mein erster Ehemann schenkte mir zu unserem vierten Hochzeitstag die Gonorrhoe. Er war ein richtiger Mistkerl. Seine bescheuerten Witze haben mich nur angeödet …«

In dem Moment kommt ihr Ehemann heraus, packt sie wortlos am Arm und fängt an, sie zurück in ihr kleines Heim zu zerren.

»Aua! Donald! Was machst du da!«

Er sagte kein Wort, aber sie quasselte und rauchte unentwegt weiter. Auch als die Tür schon zu war, konnte ich sie noch reden hören.

Wie eine ängstliche Kreatur schleicht sich die Dämmerung heran. In der Wohnwagensiedlung gehen die Lichter an. Die Luft wird kühler. Ich nehme mir eine von Johns alten Jacken und lege sie mir über die Schultern. In einer Aufbewahrungskiste finde ich eine alte graue Wollmütze, die ich mir aufsetze, weil es mich ohne die gewohnten Haare am Kopf friert. Die Kälte und der muffige Geruch von Johns Jacke wecken Erinnerungen an eine Nacht im Winter 1950, als wir frisch verheiratet waren. Wir wohnten in der Twelfth Street gleich neben dem West Grand Boulevard. Es hatte die ganze Nacht geregnet, und die Temperatur war gefallen. Als der Regen gegen Mitternacht aufhörte, beschlossen John und ich, einen Spaziergang zu machen.

Es war kalt, aber wunderschön. Alles war von einer dicken glänzenden Eisschicht überzogen, als wäre die Welt unter Glas hermetisch eingeschlossen. Wir konnten uns nur tippelnd vorwärtsbewegen, um nicht auszurutschen. Über uns knisterten die Stromleitungen und zerrten an ihren Masten; die vom Eis beschwerte Kugel einer Straßenlaterne fiel zu Boden und zersprang auf der Straße mit einem gedämpften Knall. Unter einem spröden schwarzen, von Sternen gesprenkelten Nachthimmel und einem Mond, dessen hartes Licht auf die kristallenen Gebäude fiel, die den Boulevard säumten, wanderten wir dahin. Wir liefen immer weiter, bis wir nach fast zwei Kilometern den goldenen Turm des Fisher Building erreichten, ohne den Grund dafür zu kennen, ohne zu wissen, warum wir dorthin wollten. Aufgewühlt und mit glitzernden Eisklümpchen in den Haaren und einem wahnsinnigen Hunger auf einander kehrten wir in jener Nacht in unsere Wohnung zurück. Das war die Nacht, in der Cindy gezeugt wurde.

Jetzt höre ich das lauter werdende Zirpen der Grillen und das Knirschen der Steine unter den langsam auf dem Kiesweg vorbeifahrenden Autos. Von irgendwoher dringt mir der Duft von Mikrowellenpopcorn in die Nase. Ich kann es nicht begründen, aber umgeben von all diesen Menschen fühle ich mich sicher. John ist inzwischen aufgewacht, und ich kann ihn leise vor sich hin murmeln hören. Er schimpft jemanden. Ich höre ihn Obszönitäten flüstern, Feinden drohen, Beschuldigungen. Während unseres ganzen gemeinsamen Lebens war John ein passiver, ruhiger Mann. Aber jetzt, seit sein Geist sich nach und nach von ihm verabschiedet, spricht er die Dinge aus, die er den Leuten immer schon mal sagen wollte. Permanent liest er jemandem die Leviten. Das passiert häufig um diese Tageszeit. Wenn die Sonne untergeht, steigt die Wut in ihm auf.

Er erscheint in der Tür des Wohnwagens. »Wo sind wir?«, herrscht er mich streitlüstern an.

»Wir sind in Illinois«, erwidere ich wachsam.

»Sind wir hier zu Hause?«

»Nein, zu Hause ist in Michigan.«

»Was machen wir hier?«, faucht er mich an.

»Wir machen Urlaub.«

»Tatsächlich?«

»Ja. Und wir amüsieren uns blendend.«

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