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Das Muschelhaus am Deich

Als Buch hier erhältlich:

Ein wunderbarer Sommerroman von Bestseller-Autorin Tanja Janz

Die drei Freundinnen Kinka, Jenni und Kirsten haben sich nach ihrer Schulzeit im Nordseeinternat in St. Peter-Ording aus den Augen verloren. Doch nun, zwanzig Jahre später, bekommen sie eine Einladung zum Abi-Treffen. Sie beschließen, ihre Freundschaft neu aufleben zu lassen, und quartieren sich schon Tage vorher in dem gemütlichen Muschelhaus am Deich ein. Kinka freut sich auf die Zeit an der Küste, auf die wohlverdiente Auszeit, denn hinter ihr liegen schwere Monate. Doch am schönsten Strand der Welt an der friesischen Nordseeküste werden die Segel neu gesetzt, und Kinka stellt fest, dass das Leben einige Überraschungen für sie bereithält.


  • Erscheinungstag: 23.08.2022
  • Seitenanzahl: 304
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749905607
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Peggy

Das Leben ist kurz,

nimm dir Zeit für das Meer!

Prolog

St. Peter-Ording, an einem warmen Tag im Juni 1999

Kinka lief barfuß den sandigen Weg durch die Dünen entlang. Bis zum Deich war es nicht mehr weit. Mit der rechten Hand hob sie den Stoff ihres langen Kleides an, um nicht darüberzufallen, in der anderen balancierte sie ein halb gefülltes Sektglas, dessen Inhalt gefährlich nahe an den Rand schwappte. Die Luft roch nach Salz, und die Nachmittagssonne schien ihr warm ins Gesicht. Eine sanfte Brise strich über ihre nackten Arme, wobei sich die feinen Härchen aufstellten. Der leichte Wind wiegte Strandhafer leise raschelnd hin und her. Hinter sich hörte sie die Stimmen ihrer besten Freundinnen Kirsten und Jenni. Sie hatten sich nach dem offiziellen Teil der Abiturfeier aus der Aula des Nordsee-Internats gestohlen und waren mit dem Ortsbus nach Ording gefahren. Die Freundinnen wollten noch ein letztes Mal für sich allein sein, an ihrem Lieblingsort, der nördlichsten Spitze von St. Peter-Ording, wo sie so viel zusammen erlebt hatten.

»Erste!«, rief Kinka den anderen vom Deich aus zu und reckte ihr Sektglas wie eine Siegestrophäe in die Luft.

»Mit dir Sportskanone kann doch kein normaler Mensch mithalten«, keuchte Jenni außer Atem, die den Seedamm nach ihr erreichte und die halb volle Sektflasche schwenkte.

»Die Letzten werden die Ersten sein«, befand Kirsten und hakte sich kichernd bei Jenni unter. Ihre Wangen waren leicht gerötet und ihr Blick glasig. Normalerweise trank sie keinen Alkohol, doch am heutigen Tag hatte sie eine Ausnahme gemacht. Das Abitur bekam man schließlich nur einmal im Leben.

»Das sagt diejenige mit dem besten Abi-Schnitt des Jahrgangs«, merkte Kinka an. »Kommt weiter! Ich will noch einmal zum Muschelhaus mit euch!«

Die Mädchen verließen im Laufschritt den Deich und folgten dem Sandweg weiter nordwärts. Am Ende des Weges lag ein reetgedecktes, rotes Haus. Der Holzzaun, der das Grundstück eingrenzte, war fast gänzlich von Sanddorn- und Rosensträuchern überwuchert. Das gesamte Anwesen machte einen verwilderten Eindruck. Die Fensterscheiben hätten längst geputzt werden müssen, und das Gras reichte Kinka bis zu den Knien. Sie öffnete das Tor zum Garten. Über einen schmalen Steinweg gelangten die jungen Frauen zum Eingang des Hauses. Für Kinka war die bunt bemalte und mit Ornamenten verzierte Flügeltür die schönste in ganz St. Peter-Ording. Mit ihren aufwendigen Schnitzereien, den Segelschiffen im unteren Teil und den Muscheln im oberen, glich sie eher einem Kunstwerk als einem gewöhnlichen Eingang. Von ihrer Tante wusste Kinka, dass der Bauherr die besondere Haustür in Darß in Auftrag gegeben hatte. Ein Vorfahre von ihr, der fast sein gesamtes Leben auf See verbracht hatte. Damals war St. Peter-Ording noch ein armes Fischerdorf gewesen, und niemand wäre auf die Idee gekommen, eine lange Reise auf sich zu nehmen, um sich in dem nordfriesischen Küstenort zu erholen. Das war lange her. Seitdem war das Muschelhaus in Familienbesitz geblieben. Neben dem Eingang befand sich eine überdachte Terrasse, auf der eine Bank und ein Tisch standen. Hortensien blühten überall auf dem Grundstück in den verschiedensten Farben, und in der Luft lag ein Hauch von Lavendel, der gleich neben der Terrasse wuchs und unzählige Bienen anzog.

Kinka stellte ihr Sektglas geräuschvoll auf der Tischplatte ab und stieß einen zufriedenen Seufzer aus. »Wie gut es hier duftet!«

Jenni ließ ihren Blick durch den Garten schweifen. »Ist deine Tante Hedda mal wieder auf hoher See unterwegs?«

»Mal wieder ist gut. Das ist sie doch fast immer. In St. Peter hält sie es nie lange aus – wenn es sie denn überhaupt mal hierher verschlägt. So wie andere auf dem Meer seekrank werden, geht ihr es auf dem Land. Sie braucht das Wasser unter ihren Füßen. Als Kapitänin eines Kreuzfahrtdampfers muss man wohl so sein.«

Kirsten stakste mit dem Sektglas in der Hand durch das Gras. »Dabei ist es doch wunderschön hier. Eine richtige Oase.« Sie pflückte eine rote Mohnblume, roch daran und steckte sie sich ins Haar. »Das Muschelhaus ist viel zu schade, um es unbewohnt zu lassen.«

»Also, ich würde hier auch gerne leben. Ein Haus direkt am Deich, bloß wenige Meter vom Strand entfernt … und dann dieser traumhafte Blick auf den Westerhever Leuchtturm. Was will man mehr?« Jenni machte eine ausladende Geste mit einem Arm. »Und wenn ich hier nicht wohnen könnte, dann würde ich das Haus wenigstens vermieten, um es mit Leben zu füllen«, fügte sie versonnen hinzu.

Kinka musste grinsen. »Deinem Blick nach zu urteilen, siehst du dich schon als Tante Heddas neue Mieterin.«

»Ach was«, winkte Jenni ab.

»Apropos Blick, habt ihr eigentlich vorhin den von Miriam gesehen?«, fragte Kirsten.

»Du meinst, als dich der Direx offiziell zum fleißigsten Lieschen der Stufe ernannt hat und nicht sie?« Kinka griff nach ihrem Glas. »Miriam schien ziemlich überrascht zu sein.«

»Der von Dirk war aber auch nicht schlecht. Der hätte vor Schreck fast sein neues Handy fallen gelassen. Wofür braucht er das eigentlich?«

Kinka hob die Augenbrauen. »Passend zum Aktenkoffer vermutlich.«

Jenni schüttelte den Kopf. »Ich kann es immer noch nicht glauben …«

»Was kannst du nicht glauben?«

»Na ja …« Sie zuckte die Achseln. »Dass in ein paar Stunden alles vorbei sein wird und wir dann in alle Himmelsrichtungen verstreut sein werden.« Sie seufzte und setzte sich auf die Bank, die an der Hauswand stand. »Die letzten drei Jahre sind wie im Zeitraffer vergangen.« Sie schnipste mit den Fingern und schaute einer Möwe nach, die Richtung Meer flog.

Aus Kirstens Gesicht wich mit einem Mal jede Fröhlichkeit. »Stimmt. Ich habe mich so an St. Peter-Ording gewöhnt. Ich kann mir gar nicht vorstellen, nach den Sommerferien nicht mehr zurückzukommen. Du machst es richtig, Kinka. Du bleibst nach dem Abi einfach hier.«

Kinka winkte ab. »Ich werde bestimmt auch nicht alt hier. St. Peter-Ording ist mein Geburtsort, und ich kenne jeden Winkel. Mir ist es viel zu klein und beschaulich. Ich möchte endlich mal was anderes sehen, neue Leute kennenlernen, raus in die weite Welt. Ich werde mich ganz auf das Tennisspielen konzentrieren und dabei viele neue Orte sehen. Wer weiß, wohin es mich verschlägt.«

»Und in ein paar Jahren gewinnst du in Wimbledon wie Steffi Graf.« Jenni zwinkerte Kinka zu.

»Und bis dahin bist du eine Staranwältin oder eine berühmte Pianistin«, stimmte sie ihrer Freundin zu.

»Vermutlich eher Anwältin als Musikerin. Da gibt es talentiertere Leute als mich. Die Uni in Hannover soll für Jura ganz gut sein. Vielleicht bringe ich es sogar bis zur Richterin. Und du, Kirsten?«

Kirsten zuckte mit den Schultern. »Mathe war schon immer mein Ding. Ich schreib mich in Düsseldorf für BWL ein und schau dann mal, was sich ergibt. Alex studiert in Köln Medizin. Das ist Gott sei Dank nicht weit entfernt. So können wir uns endlich wieder außerhalb der Ferien sehen.«

»Oder du ziehst gleich zu ihm nach Köln, dann siehst du ihn jeden Tag«, schlug Jenni vor.

»Lieber nicht. Er wohnt doch in einer WG. Fürs Erste bleibe ich bei meinen Eltern in Neuss und pendele zur Uni und zu Alex. Mit BWL kann ich nach dem Studium überall arbeiten. In Düsseldorf und Köln gibt es viele Banken und große Unternehmen. Und wer weiß, wo Alex später eine Anstellung als Arzt bekommt. Vielleicht gehen wir sogar zusammen ins Ausland. Keiner weiß, was kommen wird.«

Kinka trank einen Schluck aus ihrem Glas und zog nachdenklich die Augenbrauen hoch. »Früher habe ich gedacht, dass wir einmal zu viert hier stehen würden. Mit Miriam.«

»Mit Miriam? Wieso denn mit der?«, wunderte sich Kirsten.

»Dein Früher muss aber verdammt lange her sein. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass Miriam auch nur einmal nett zu uns gewesen wäre«, merkte Jenni an.

»Sie war sogar mal sehr nett und meine beste Freundin obendrein. Damals hat kein Blatt zwischen uns gepasst«, sagte Kinka nachdenklich.

Kirsten zog die Stirn in Falten. »Muss vor meiner Zeit gewesen sein. Bis wann wart ihr denn beste Freundinnen?«

»Bis zu Miriams zwölftem Geburtstag«, antwortete Kinka wie aus der Pistole geschossen. »Das weiß ich noch ganz genau. Danach war sie plötzlich völlig verändert. Als hätte sich ein Schalter in ihrem Kopf umgelegt.«

»Kein Wunder, dass wir uns nicht an die nette Ausgabe von Miriam erinnern können. Das war vor meiner Zeit am Internat. Ich kenne bloß die Miriam, die immer die Beste und Schönste sein will. Miriam die Streberin. Miriam die Petze«, zählte Jenni auf. »Und bevor ich es vergesse, Miriam, die dir den Freund ausgespannt hat und jetzt mit ihm auf der Abi-Feier tanzt.«

Kinka verzog den Mund. »Danke für die Erinnerung.« Bei dem Gedanken an René kam Wut in ihr auf. Sie wusste nur nicht, auf wen sie wütender war. Auf Miriam, deren Glück mit René sie nicht mit ansehen konnte. Oder auf René, weil es mit seiner angeblichen großen Liebe nicht weit her gewesen war, da er sie, ohne mit der Wimper zu zucken, für Miriam abserviert hatte. Oder sollte sie eher auf sich selbst wütend sein, weil sie vor Liebe blind gewesen war und nicht erkannt hatte, was für eine Pfeife René in Wirklichkeit war?

Kinka zuckte mit den Schultern. »Eine Enttäuschung ist das Ende einer Täuschung, sagt meine Mutter immer. Und bei vielen kommt das Ende erst zehn Jahre nach der Hochzeit. Das ist mir ja Gott sei Dank mit René erspart geblieben.«

»Und den teuren Scheidungsanwalt hast du auch gespart. Obwohl Jenni dir bestimmt einen Sonderpreis gemacht hätte.«

Kinka musste lachen. »Danke, liebe Kirsten. Positiv wie eh und je.«

»Wie dem auch sei!« Jenni erhob sich von der Bank und schaute ihre Freundinnen eindringlich an. »Eins müssen wir uns hier und jetzt fest versprechen. Egal, wohin es uns auf der Welt verschlagen wird, wir werden nie den Kontakt zueinander verlieren. Selbst dann nicht, wenn du Wimbledon gewinnst, Kinka.«

»Oder Kirsten einen Weltkonzern am Rhein oder in einer anderen Weltmetropole leitet«, fügte Kinka hinzu.

»Oder Jenni ein hohes Tier beim Bundesgerichtshof ist«, sagte Kirsten und nickte.

Die Freundinnen blickten sich eine Weile schweigend an. Jede von ihnen schien in ihre eigenen Erinnerungen an die gemeinsame Schulzeit am Nordsee-Internat vertieft zu sein. Kinka schwankte zwischen Wehmut und Aufbruchsstimmung. Jenni schaute ins Leere, als machte sich ein Gefühl von Ungewissheit in ihr breit. Was würde nach ihrer Schulzeit auf sie zukommen? Würden sie ihre Pläne verwirklichen können? Nur Kirsten wirkte dank ihres Schwipses leicht und beschwingt, was Kinka erleichtert zur Kenntnis nahm.

Lautes Möwengeschrei über ihnen riss die Mädchen aus ihren Gedanken.

»Darauf sollten wir anstoßen.« Kinka hob ihr Glas. »Beste Freundinnen für immer.«

»Beste Freundinnen für immer«, wiederholten Jenni und Kirsten.

Ihre Gläser stießen klirrend aneinander.

Einladung

1999 – Es war das letzte Jahr des alten Jahrtausends und die Berliner Mauer seit zehn Jahren Geschichte. Wir tanzten zu Mambo No 5 und sangen Du trägst keine Liebe in dir. Gerhard Schröder war unser neuer Bundeskanzler, und im Fernsehen lief Wetten, dass…? mit Thomas Gottschalk.

Seit unserem Abi ist viel passiert …

Nach zwanzig Jahren ist es höchste Zeit für ein Wiedersehen!

Du bist herzlich eingeladen zum zwanzigjährigen Abiturtreffen des Nordsee-Internats.

Wann?

10. August 2019 ab 18 Uhr

Wo?

In der Aula vom Nordsee-Internat in St. Peter-Ording

Um eure Vorschläge und rege Beteiligung am Abendprogramm wird gebeten. Ob musikalische Darbietungen, schauspielerische Einlagen oder Animation – wir freuen uns auf eure Beiträge!

Ihr könnt euch bis zum 15. Juli verbindlich für das Abi-Treffen anmelden. Bitte schickt uns E-Mails mit eurer aktuellen Adresse an:

Miriam Hein

Miriam.Hein@beauty-hair.de

oder

Dirk Hagemann

Dirkman05@nordnet.de

Die neuesten Infos zu unserem Abi-Treffen findet ihr in der Facebook-Gruppe des Nordsee-Internats.

Wir freuen uns, von euch zu hören, und auf ein baldiges Wiedersehen!

Viele Grüße von Miri und Dirk

1. Kapitel

Frankfurt am Main an einem Hochsommertag im Juli 2019

Der Sommer schien in diesem Jahr einen neuen Rekord aufstellen zu wollen. Die Sonne strahlte seit Wochen täglich ohne Unterlass von einem wolkenlosen Himmel, und die Temperaturen hatten sich bei 38 Grad festgesetzt. Die Meteorologen sprachen von einer außergewöhnlichen Wetterlage, die Jahrhundertsommer-Potenzial hatte. Mal wieder. Für hartgesottene Sonnenanbeter war das Wetterphänomen ein Segen. Für die Pflanzenwelt und hitzeempfindliche Leute wie Kinka hingegen eine Herausforderung.

In dem Autohaus roch es nach Bratwürstchen und Reibekuchen. Der fettige Geruch zog durch die geöffnete Eingangstür vom Parkplatz herein. In dem Geschäft herrschten saunaähnliche Verhältnisse. Durch das Flachdach und die großen Glasfronten an den Seiten des Gebäudes hatte sich der Verkaufsraum zusätzlich aufgeheizt. Kinka tupfte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn und griff wieder nach dem Stift.

»Wegen Ihnen hat meine Tochter damals mit dem Tennisspielen angefangen.« Eine Seniorin guckte sie freundlich durch die leicht beschlagenen Gläser einer rot eingefassten Brille an.

Kinka lächelte. »Das freut mich zu hören. Ist das Autogramm denn auch für Ihre Tochter?«

»Ja. Es soll eine Überraschung sein. Sie hat bald Geburtstag«, erklärte die Frau eifrig und neigte ihren Oberkörper leicht über den Tisch, hinter dem Kinka saß.

Kinka lächelte sie wieder an. »Wie heißt Ihre Tochter denn?«

»Cathrin. Mit C und th.«

Kinka schrieb eine persönliche Widmung auf eine Karte mit ihrem Konterfei. Insgeheim hatte sie sich heute bei jedem Autogramm gefragt, aus welchem Grund die Leute in Wirklichkeit zu dem Sommerfest gekommen waren. Waren es die kostenlosen Bratwürste und Reibeplätzchen, oder hatte sie durch ihr Kommen tatsächlich Publikum angezogen? In letzter Zeit quälten sie häufig Fragen dieser Art, die zu keinem Ergebnis führten, sondern ihrem angekratzten Ego noch einen weiteren Stoß versetzten. Wenigstens war die Seniorin ihretwegen gekommen. Kinka verstand ohnehin nicht, wie jemand bei der Hitze Bratwurst und Reibeplätzchen essen konnte. Allein der fettige Geruch verursachte ihr leichte Kopfschmerzen. Gut, dass das Autohaus sie bloß für zwei Stunden gebucht hatte und sie nicht bis abends in Frankfurt durchhalten musste. Je älter sie wurde, umso schlechter vertrug sie die Hitze in der Großstadt. Immerhin war sie fast vierzig. Früher hatten sie hochsommerliche Temperaturen nicht gestört. In solchen Momenten sehnte sie sich nach ihrer alten Heimat. Nach dem Strand von St. Peter-Ording, der salzigen Luft, dem Meeresrauschen und der kühlen Brise, die selbst den heißesten Sommertag erträglich machte.

Sie überreichte der Dame die Autogrammkarte. »Viele Grüße an Ihre Tochter. Schön, dass Sie gekommen sind.«

»Vielen Dank! Darüber wird sich Cathrin sehr freuen.«

»Richten Sie Ihrer Tochter herzliche Glückwünsche von mir aus.«

»Das werde ich machen.« Die Seniorin schüttelte ihr zum Abschied die Hand.

Nach der Autogrammstunde fuhr Kinka mit ihrem Auto nach Hause. Sie wohnte in einem kleinen Ort bei Köln. Die angebotene Hotelübernachtung hatte sie dankend abgelehnt, da die Rückfahrt keine zwei Stunden in Anspruch nahm und sie in fremden Bettenburgen schlecht schlief. Auf dem Beifahrersitz lag ihr Handy und daneben ein bunter Blumenstrauß, den sie als Dankeschön vom Team des Autohauses erhalten hatte. Die Blüten verströmten einen intensiven, süßlichen Duft. Kinka spürte ein leichtes Pochen an ihrer rechten Schläfe. Mit einem Blick auf das Navigationssystem stellte sie fest, dass es noch knapp 120 Kilometer bis zu ihrer Wohnung waren. Zu Hause würde sie als Erstes eine Kopfschmerztablette nehmen, damit sich das Pochen nicht zu einer Migräne steigern konnte. Sie griff nach der Sonnenbrille im Handschuhfach und drehte die Klimaanlage höher. Ihr Handy klingelte.

Kinka drehte das Radio leiser und drückte auf die Taste an ihrem Lenkrad, um das Gespräch anzunehmen. »Hallo, Jochen.«

»Hallo, Kinka. Bist du mit deinem Termin fertig?«, erklang die Stimme ihres Managers aus dem Lautsprecher.

»Ja, ich bin schon auf dem Heimweg.«

»Waren viele Leute da?«, erkundigte er sich.

»Einige. Es gab Würstchen und Reibekuchen. Umsonst.« Kinka setzte den Blinker und überholte einen LKW.

Jochen lachte. »Bei dem Wetter? Deswegen ist bestimmt niemand gekommen. Da wäre ein Eiswagen passender gewesen.«

»Wem sagst du das?« Jochens Anmerkung war Balsam auf ihrer Seele. Er kannte sie und rückte stets ihre Gedanken wieder gerade, wenn sie mal in Schieflage gerieten. Das schätzte sie sehr an ihm. »Hast du schon was wegen dieses neuen Auftrags gehört?«

»Deswegen rufe ich an.«

»Und?«, fragte Kinka gespannt. Eine große Kosmetikfirma suchte ein bekanntes Gesicht zur Einführung einer Anti-Falten-Creme für die Frau ab 40. In Kinkas Augen war dies der ideale Job, um sie wieder ins Licht der Öffentlichkeit zu rücken.

»Sorry, der Auftrag ist leider an die Konkurrenz gegangen.«

»Oh nein! Das Profil der Kampagne war wie geschaffen für mich«, sagte Kinka enttäuscht.

»Ich war auch fest davon überzeugt, dass wir den Zuschlag bekommen. Aber du weißt ja, wie das ist … da steckt man nicht drin.«

»Ist schon bekannt, für wen sie sich entschieden haben?«

»Lena Winter hat den Auftrag bekommen.«

Kinka zog geräuschvoll Luft durch die Zähne ein. »Lena Winter? Die Schwimmerin? Aber sie ist doch noch keine 40, geschweige denn 30. Höchstens Mitte zwanzig. Warum will die Firma ausgerechnet so eine junge Frau für die Kampagne einer Anti-Falten-Creme? Ich meine, sie hat doch keine einzige Falte.«

»Das wird vermutlich der Grund für ihre Wahl gewesen sein«, schlussfolgerte ihr Manager in sachlichem Ton.

»Bin ich denen etwa zu alt? Obwohl ich zur Zielgruppe gehöre?«, überlegte Kinka laut und zog dabei die Stirn in Falten.

»Das glaube ich nicht«, wiegelte ihr Manager ab. »Aber Lena Winter ist seit ihrem Sieg bei der Europameisterschaft unheimlich prominent und fast wöchentlich in irgendwelchen TV-Sendungen zu Gast. Ihr Marktwert ist dementsprechend hoch. Mit ihrem Gesicht lässt sich vermutlich auch eine Creme ab 40 gut verkaufen, selbst dann, wenn sie noch keine 30 ist. Über das Thema Logik brauchen wir uns in diesem Fall gar nicht unterhalten.«

Kinka schüttelte immer noch mit dem Kopf, als sie das Gespräch mit ihrem Manager längst beendet hatte. Die Werbeindustrie wurde immer verrückter. Wahrscheinlich würde es in ein paar Jahren Anti-Falten-Cremes für Teenager geben – als Special Edition für Einsteiger. Frei nach dem Motto: Früh übt sich, wer ein Meister werden will.

Als sie zurück in ihrer Wohnung war, führte sie ihr erster Weg in die Küche, die in smaragdblauer Farbe gehalten war und deren Schränke mit hochwertigen Glasfronten ausgestattet waren. Sie nahm ein Glas aus einem Hängeschrank und füllte es mit Wasser. In einer Schublade fand sie die Packung mit dem gesuchten Schmerzmittel und gab zwei Brausetabletten ins Wasser.

Nebenan hörte sie den Signalton ihres Handys. Kinka nahm das Glas mit ins Wohnzimmer, stellte es auf der gläsernen Tischplatte ab und griff nach dem Mobiltelefon, das darauf lag. Sie wischte über die glatte Oberfläche des Displays. Eine Textnachricht von Jochen, ihrem Manager.

Hallo, Kinka! Der Job mit der Creme hat zwar nicht geklappt, aber die Sportkette Beautyfit macht in Köln einen neuen Laden auf. Sie möchten dich als Star-Gast für die Eröffnung im Herbst buchen. Hast du Lust auf den Job? Melde dich einfach bei mir, wenn du dich entschieden hast. Liebe Grüße und einen schönen Abend! Jochen

Kinka ließ das Telefon sinken. Eine Sportladeneröffnung war nicht wirklich ihr Traumjob – aber besser als nichts. Wenigstens lag der Laden gewissermaßen in ihrer Nachbarschaft, und sie musste keine lange Anreise dafür planen. Sie griff nach dem Glas und trank die bitter schmeckende Flüssigkeit in einem Zug aus. Vielleicht lag es doch an ihrem Alter, dass der Deal mit der Kosmetikfirma nicht geklappt hatte. Gedanklich überschlug sie ihre bisherigen Jobs in diesem Jahr. Es bestand kein Zweifel daran, dass ihre Auftragslage in der letzten Zeit übersichtlicher geworden war. Das konnte sie sich nicht schönreden. Die Zeiten, in denen sie Termine absagen musste, weil es zu viele Anfragen gab, gehörten längst der Vergangenheit an.

Sie ging zu der Vitrine, die neben einem Sideboard stand, und öffnete die gläserne Tür. In dem Glasschrank bewahrte sie ihre Medaillen und Preise auf. Kinka nahm einen der Pokale in die Hand und strich leicht über die Gravur. Gerry Weber Open 2004, 3. Platz, stand auf dem Gravurschild des Pokals. Sie erinnerte sich daran zurück, wie glücklich sie über die Platzierung gewesen war, wie motiviert und voller Energie sie sich danach ins Training gestürzt hatte. Immer das nächste Turnier und den großen Traum im Blick, eines Tages auf dem »heiligen« Rasen in Wimbledon spielen zu können, wo es schon Steffi Graf zu Weltruhm gebracht hatte. Zu dem Zeitpunkt hatte Kinka noch nicht ahnen können, dass ihre Träume bald platzen würden und das Tennis-Turnier in Halle ihr letztes gewesen sein sollte. Damals war sie 25 Jahre alt gewesen und glaubte eine lange Karriere als Profi-Sportlerin vor sich zu haben. Alles schien möglich zu sein, wenn sie nur ihr Bestes gab. Wenige Wochen später war es dann passiert. Bei einem Trainings-Match mit einer befreundeten Profi-Spielerin hatte sie sich durch eine abrupte Bewegung einen Meniskusriss im Kniegelenk zugezogen. Es folgten mehrere Operationen und eine langwierige Rehabilitationsmaßnahme. Danach hatte sie nicht mehr zur alten Form zurückgefunden, und bis heute spürte sie die Spätfolgen der Verletzung.

Normalerweise war ein vorzeitiges Karriere-Aus das Schlimmste, was einem Profi-Sportler passieren konnte – aber Kinka hatte Glück im Unglück gehabt. Sie hatte sich kurze Zeit später bei einer Sport-Gala in ihren Tennis-Kollegen Christian Swoboda verliebt und saß fortan bei jedem Match im Publikum, um ihm die Daumen zu drücken. Es hatte nicht lange gedauert, bis die Medien Wind von der Romanze zwischen ihr und Christian bekommen hatten und »das neue Traumpaar der Nation«, wie einige Blätter sie nannten, auf Schritt und Tritt verfolgten. Kinka konnte sich plötzlich vor Interviewanfragen und Fernsehauftritten nicht mehr retten. Kurz vor ihrer Hochzeit mit dem Tennisspieler hatte ihr eine Modefirma angeboten, das Werbegesicht für eine Sport-Kollektion zu sein. Danach folgten weitere lukrative Jobs in der Werbebranche. Das änderte sich auch nicht, als sie sich nach drei turbulenten Ehejahren wieder von Christian scheiden ließ, weil er sein Training nicht bloß auf dem Spielfeld absolvierte, sondern immer häufiger auch in Hotelzimmern in Gesellschaft diverser Mitspielerinnen.

Durch die vielen Aufträge hatte sie allerdings kaum Zeit gehabt, wegen der Scheidung Trübsal zu blasen. Sie jettete für Fotoaufträge rund um den Globus, und wenn sie mal in Deutschland war, standen Termine bei Preisverleihungen oder TV-Sendungen an. Das ging all die Jahre gut, bis die Aufträge vor ein paar Monaten plötzlich ausblieben. Selbst Jochen hatte sie nicht wie gewohnt im Fernsehen platzieren können. Gott sei Dank hatte sie durch die Jobs der vergangenen Jahre finanzielle Rücklagen gebildet und musste sich in den nächsten Monaten um das Thema Geld keine Gedanken machen. Doch im Herbst würde es höchste Eisenbahn für neue Aufträge sein. Von einem Auftritt bei einer Ladeneröffnung konnte sie nicht lange existieren. Nachdenklich stellte Kinka den Pokal wieder zurück in die Vitrine und setzte sich an den Esstisch. Sie schrieb Jochen eine Nachricht und sagte die Buchung der Sportfirma zu. Gezwungenermaßen. Bis zum Herbst dauerte es noch über zwei Monate. Und im Sommer herrschte jedes Jahr eine regelrechte Job-Flaute. Eine Auszeit für den Rest des Sommers würde ihr bestimmt guttun, um ihre Gedanken zu sortieren und neue Pläne schmieden zu können. Sie musste herausfinden, wie ihr Leben in Zukunft weitergehen sollte, und dafür war ein wenig Zerstreuung nicht schlecht.

Nun musste sie nur noch eine Idee haben, wo sie diese Auszeit verbringen sollte. Sie klappte ihr Notebook auf, das ebenfalls auf dem Esstisch lag, und rief spontan die Seite eines Reiseveranstalters auf. Bei einem Angebot für eine Rundreise durch Island blieb sie hängen. Der Preis war erschwinglich. Das Land der Elfen und Trolle wollte sie schon längst gesehen haben. Dorthin hatte sie noch nie ein Auftrag geführt. Kinka wollte schon die möglichen Reisetermine aufrufen, hielt dann jedoch kurz inne. Allein? Spontan fiel ihr niemand ein, der sie begleiten konnte. Ohne Begleitung machte die schönste Reise nur halb so viel Spaß. In ihr meldeten sich zusätzliche Zweifel. Sie dachte an das ungestüme Wetter und die schlechten Straßenverhältnisse auf der Insel. Nein, nach Island reiste sie besser nicht allein. Selbst mit dem preiswertesten Angebot nicht.

Das Klingeln ihres Handys unterbrach ihre Überlegungen.

Kinka nahm das Gespräch entgegen. »Hallo, Mama.«

»Gut, dass ich dich erreiche!«, meldete sich die aufgeregte Stimme ihrer Mutter.

»Ist was passiert?«, fragte Kinka alarmiert.

»Ja.«

Kinka setzte sich gerade hin. »Ist was mit Papa? Ist er etwa krank?«

»Nein. So was ist doch nicht passiert …«, sagte Kinkas Mutter in beschwichtigendem Ton.

»Dann ist ja gut«, antwortete Kinka und entspannte sich wieder.

»Auf was für Gedanken du immer gleich kommst.«

Kinka lehnte sich zurück an die Stuhllehne. »Na, hör mal, du rufst hier an und sagst, es ist was passiert …«

»Schon gut. Es ist ja auch was passiert. Aber was Gutes.« Sie machte eine kleine Pause, bevor sie fortfuhr. »Tante Hedda hat mich vorhin angerufen. Sie möchte sich endgültig vom Muschelhaus trennen.«

»Was? Warum denn das? Und wieso ist das gut?«, fragte Kinka erstaunt.

»Wie du weißt, war sie eigentlich die kürzeste Zeit ihres Lebens in St. Peter-Ording. Und seitdem sie John kennengelernt hat, kommt sie noch viel seltener hierher.«

»Schon, aber sie kann doch nicht einfach das Muschelhaus abgeben. Ich meine … es ist doch ihr Zuhause.« Kinka dachte daran zurück, wie sie sich als Mädchen während Tante Heddas Abwesenheit um das Muschelhaus gekümmert hatte. Wie sie den Rasen gemäht, die Pflanzen gegossen, die reifen Äpfel unter dem Apfelbaum behutsam aufgesammelt und in einen Weidekorb gelegt hatte. Und mit 15 hatte sie an einem lauen Sommerabend im Garten, neben dem blühenden Hibiskus, ihren ersten Kuss von ihrer damaligen großen Liebe bekommen. Das Muschelhaus war mit vielen schönen Erinnerungen verknüpft. Und nun wollte ihre Tante es einfach aufgeben? Das gefiel ihr gar nicht.

»Sie und John haben sich in Kalifornien ein Hausboot gekauft. Hedda ist ganz sicher, dass sie nie wieder im Muschelhaus dauerhaft wohnen wird. Du kennst deine Tante ja, so richtig zu Hause fühlt sie sich erst, wenn unter ihren Füßen Wasser plätschert.«

»Das schon, aber trotzdem finde ich es schade … was passiert denn nun mit dem Haus?«

»Du bekommst es …«

»Ich?«, fragte Kinka verdattert. »Ich dachte, Tante Hedda wird das Haus verkaufen …«

»Das Haus ist doch unverkäuflich. Hast du das etwa vergessen?«

Kinka erinnerte sich an ein Gespräch mit ihrer Tante, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war. »Daran habe ich wirklich lange nicht mehr gedacht. Tante Hedda hat mir mal von einer Regel erzählt, aber genau kann ich mich nicht mehr erinnern.«

»Nun, das ist ganz einfach. Der Bauherr hat verfügt, dass das Muschelhaus niemals verkauft oder vermietet werden darf, sondern immer an ein Familienmitglied weitergegeben werden muss, das in St. Peter kein Eigentum hat. Damit wollte er sicherstellen, dass die Familie für immer in St. Peter-Ording vertreten sein wird.«

»Hat Tante Hedda gesagt, warum ausgerechnet ich das Haus bekommen soll?«, wollte Kinka wissen.

»Überlege doch mal. Papa und ich haben unser Haus. Deine Schwester hat ebenfalls ein Eigenheim in Böhl. Bleibst also nur du übrig.«

»Das ist ja ein Ding. Damit habe ich überhaupt nicht gerechnet.« Kinka strich sich eine blonde Haarsträhne hinters Ohr, die ihr vor die Augen gerutscht war.

»Glaubst du, ich? Ich war mindestens genauso überrascht wie du, als sie mir vorhin davon erzählt hat, dass sie dir ihr Haus vermachen will. Sie hatte übrigens deine aktuelle Telefonnummer nicht. Sonst hätte sie sich direkt bei dir gemeldet.«

»Ab wann soll ich es denn übernehmen?« Kinka stützte ihr Kinn auf einer Hand ab.

»So schnell wie möglich. Die Papiere liegen in St. Peter-Ording beim Notar. Sobald du dein Okay gibst, lässt sie den Grundbucheintrag ändern. Hast du denn Zeit, demnächst mal nach St. Peter zu kommen?«

Kinka schaute einen Moment auf den Bildschirm ihres Notebooks, auf dem immer noch das Angebot für die Rundreise zu sehen war. So schnell würde das jetzt nichts mit Island werden. St. Peter-Ording war ohnehin viel besser, weil sie dort nicht allein, sondern zu Hause war. Sie spürte eine große Sehnsucht nach ihren Eltern, ihrer Schwester, den scheinbar unendlichen Salzwiesen und dem Rauschen des Meeres, dessen Klang sie fast vergessen hatte. Viel zu lange war sie nicht mehr in Nordfriesland gewesen. »Zufällig habe ich gerade Zeit. Ich könnte gleich Montag nach St. Peter-Ording kommen.«

»Prima! Ich freue mich. Wird auch höchste Zeit, dass du mal wieder nach Hause kommst. Du hast dich ja fast so lange nicht blicken lassen wie Tante Hedda«, sagte Kinkas Mutter mit einem leicht vorwurfsvollen Unterton. »Außerdem hast du Post bekommen. Von deiner Schule.«

»Von meiner Schule?« Kinka musste lachen. »Was wollen die denn? Mir mein Abitur nach 20 Jahren aberkennen?«

»Das wirst du am Montag herausfinden, wenn du hier bist.«

»Alles klar. Ich fange gleich an zu packen.«

»Und ich gebe Tante Hedda Bescheid, dass die Familientradition gerettet ist«, sagte Kinkas Mutter gut gelaunt.

»Mach das.«

»Ach, Kinka?«

»Ja?«

»Ich freue mich wirklich, dass du endlich wieder nach Hause kommst. Sehr sogar. Und Papa auch!«

»Ich mich auch, Mama. Ich mich auch«, sagte Kinka und meinte es aus tiefstem Herzen. »Sag Papa einen lieben Gruß von mir.« Sie beendete das Gespräch und konnte es immer noch nicht fassen. Den Auftrag der Kosmetikfirma hatte sie zwar nicht bekommen, dafür wurde sie unverhofft Hausbesitzerin. Kinka öffnete das Sideboard und holte einen Karton daraus hervor. In der Kiste befanden sich unsortierte Fotos, die sie großflächig auf der Tischplatte verteilte. Zwischen Fotos von Turnieren, Familienfeiern, vergangenen Kindergeburtstagen und professionellen Werbeaufnahmen fand sie auch einige Schnappschüsse, die vor und im Muschelhaus entstanden waren. Wie hübsch das rote Reetdachhaus mit der bunten Haustür doch war. Fast wie gemalt. Und das würde bald wirklich ihr gehören? So richtig konnte sie es noch nicht glauben, und trotzdem überkam sie eine unglaubliche Freude darüber. Ihr Blick blieb an einem Foto hängen, das sie und ihre Schwester Anke als kleine Mädchen beim Strandschaukeln zeigte. Kinka nahm das Foto in die Hand, um es besser betrachten zu können. Sie konnte sich an den Tag erinnern, an dem das Foto entstanden war. Wie so oft hatte sie mit ihrer großen Schwester gewettet, dass sie höher schaukeln konnte als sie. Bis zum Himmel! Unwillkürlich musste sie lächeln. Sie hatte eine wunderschöne Kindheit in St. Peter-Ording verlebt, die sie mit nichts anderem tauschen wollte. In diesem Moment spürte sie wieder eine große Sehnsucht in ihrem Herzen. Es fühlte sich für sie richtig an, endlich in ihre Heimat nach St. Peter-Ording zurückzukehren. An den Ort, aus dem sie damals unbedingt wegwollte und an den sie in letzter Zeit immer öfter denken musste. Sie klappte das Notebook zu und ging ins Schlafzimmer, um zu packen.

2. Kapitel

Amtsgericht Bielefeld am Montag

»Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie dankbar ich Ihnen bin, Frau Lichtblau. Endlich hat der jahrelange Albtraum ein Ende!«, sagte die Frau mit dem modischen Kurzhaarschnitt. Sie trug einen gestreiften sommerlichen Overall. Ihre Wangen waren gerötet, und mit ihren Händen bearbeitete sie nervös ein Papiertaschentuch. Jenni musterte die Frau und wusste, dass sie selbst mit ihren zu einem strengen Knoten festgesteckten Haaren, ihrer schwarzen Aktentasche und ihrer Juristenrobe ein ganz anderes Bild abgeben musste.

»Ich hoffe, dass Sie und Ihr Sohn nun endlich zur Ruhe kommen können«, antwortete sie ruhig. »Das alleinige Sorgerecht kann Ihr Ex-Mann nicht mehr anfechten. Sie können sich nun entspannen, Frau Sellmann.«

»Nochmals vielen Dank! Für alles!« Ihre Klientin zerknüllte das Taschentuch in einer Hand und streckte ihr die andere entgegen.

Jenni ergriff Frau Sellmanns Hand und lächelte sie an. »Das habe ich gerne gemacht.« Sie linste zu einer Uhr, die an der Wand des Gerichtsgebäudes befestigt war. »Ich muss mich leider von Ihnen verabschieden, da ich noch einen wichtigen Termin habe. Falls noch mal etwas sein sollte, dann wissen Sie ja, wo Sie mich finden.«

Jenni suchte eine öffentliche Toilette im Gerichtsgebäude auf, um sich die Juristenrobe auszuziehen, die sie über eine weiße Bluse und eine beige Leinenhose gezogen hatte. Prüfend schaute sie in den Spiegel, der über einem Waschtisch angebracht war, wobei sie eine leicht nach vorne gebeugte Haltung einnahm. Ihr Gesicht war schmal und ihre braunen Augen ein wenig zu groß geraten. Sie war auch körperlich schon immer größer als alle anderen in ihrem Alter gewesen und hatte während der Schulzeit meistens die Jungs aus ihrer Klasse überragt. Das hatte dazu geführt, dass sie sich eine schlechte Haltung angewöhnt hatte, wobei sie sich krümmte, um auf Augenhöhe mit ihren Mitschülern reden zu können und bloß nicht aus der Gruppe ihrer Klassenkameraden hervorzustechen. Ihre dünne und schlaksige Statur hatte sie hinter weiten Klamotten verborgen. Jenni konnte so viel essen, wie sie wollte. Da kam ihr die zelthafte Juristenrobe in ihrem Beruf als Rechtsanwältin gerade recht. Sie ließ den Kopf kreisen, um ihre Verspannungen im Nackenbereich zu lösen. Die viele Arbeit am Schreibtisch forderte einen hohen Tribut.

Jenni griff in ihre Tasche und beförderte ein Eau de Toilette hervor, mit dem sie sparsam ihre Handgelenke benetzte. Es roch erfrischend nach Zitrone. Sie war erleichtert, dass der Prozess zugunsten ihrer Klientin ausgegangen war. Die Gegenseite hatte ihnen nichts geschenkt, aber sie hatte den Fall mit Leidenschaft vertreten und war ein kleines bisschen stolz auf ihre Erfolgsquote, die bei über 90 Prozent gewonnener Fälle im Familienrecht lag. Sie richtete den Hemdkragen ihrer Bluse und packte das Eau de Toilette wieder zurück in ihre Tasche. Sie musste sich wirklich sputen, wenn sie pünktlich zu ihrem Arzttermin sein wollte. Schließlich ging es dabei auch um das Thema Familie, wenngleich in privater Angelegenheit. Jenni legte die schwarze Robe über einen Arm, griff nach ihrer Tasche und eilte nach draußen.

Trotz voller Straßen erreichte sie die Praxis noch rechtzeitig. Vor ihr fuhr gerade ein roter PKW aus einem Parkplatz auf dem Seitenstreifen heraus. Sie setzte den Blinker und belegte ihn mit ihrem Wagen. Vielleicht war heute ihr Glückstag?

Schon kurz darauf betrat sie das Foyer des medizinischen Versorgungszentrums und nahm direkt den Fahrstuhl in den vierten Stock. Normalerweise hätte sie die Treppen genommen, doch sie wollte nicht verschwitzt vor ihrer Ärztin erscheinen. Bisher hatte sie sich ruhig gefühlt, nahezu entspannt. Dies änderte sich jedoch, als sie im Wartezimmer der Endokrinologie Platz nahm. Jenni spürte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte. Sie rieb ihre schwitzigen Hände aneinander. Hoffentlich gab es dieses Mal gute Nachrichten! Peter bezeichnete sie gerne als Kontrollfreak. Ganz unrecht hatte ihr Lebensgefährte damit nicht. Sie wurde nervös, wenn sie Dinge nicht kontrollieren konnte. Und die Ergebnisse, die sie gleich mitgeteilt bekommen würde, lagen definitiv außerhalb ihres Einflussbereichs.

»Frau Lichtblau?«, rief sie eine junge Frau auf, die zum Praxis-Team gehörte. Jenni folgte der Arzthelferin, die sie in ein Behandlungszimmer brachte.

»Sie können schon mal Platz nehmen. Frau Doktor Schlüter kommt gleich zu Ihnen.«

»Danke.« Jenni setzte sich auf den Stuhl, der vor dem Tisch der Ärztin stand. An den Wänden standen Regale mit unzähligen medizinischen Büchern, und auf einem kleinen Beistelltisch lagen Patientenakten. Vermutlich von Frauen wie ihr, die in dieser Praxis ihre letzte Hoffnung sahen. Jenni schwankte zwischen Zuversicht und Bangen. Einerseits brannte sie darauf, endlich das Ergebnis zu erfahren. Andererseits fürchtete sie nichts mehr als das.

Die Tür öffnete sich, und Frau Schlüter betrat in einem weißen Kittel und passender Hose den Raum. »Guten Morgen, Frau Lichtblau.«

»Guten Morgen, Frau Schlüter«, erwiderte sie den Gruß der Ärztin.

»So, dann wollen wir mal.« Sie klappte Jennis Patientenakte auf und überflog die Ergebnisse. »Leider wieder kein zufriedenstellendes Ergebnis.« Sie schüttelte bedauernd den Kopf. »Es tut mir leid.«

Jenni spürte, wie ihr gleichzeitig heiß und kalt wurde. »Aber was läuft denn bei mir schief? Mein Lebensgefährte und ich haben uns doch genau an meine fruchtbaren Tage gehalten.«

»Nun ja.« Frau Doktor Schlüter faltete ihre Hände auf der Tischplatte. »Abgesehen davon, dass es ab 40 generell schwieriger ist, überhaupt schwanger zu werden, kommt bei Ihnen noch ein weiterer Faktor hinzu. Genauer gesagt, Sie haben eine Überfunktion der Schilddrüse, eine Hormonstörung.«

Jenni hob reflexartig eine Hand an den Hals. »Was heißt das genau? Muss ich operiert werden?«

»Nein, nein. Keine Operation. Aber solange wir Ihre Schilddrüsenwerte nicht in den Griff bekommen, können Sie vermutlich nicht schwanger werden.«

»Ich kann keine Kinder bekommen?«

»Zum jetzigen Zeitpunkt schließe ich es wegen der schlechten Werte eher aus. Es kann sich aber noch ändern.«

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