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DAS NEUE LERNEN

Als Buch hier erhältlich:

Wie wir lernen, neu zu lernen – und damit unser volles Potenzial ausschöpfen

Schon in der Schule werden wir in Schubladen gesteckt: Viele Menschen hören von Eltern und Lehrern, dass sie kein »Mathematiktalent«, keine »Sprachbegabung« oder keinen »Kunstsinn« hätten.

Jo Boaler, renommierte Stanford-Professorin und Lernforscherin, räumt mit diesem Mythos auf. Radikal stellt sie unsere Vorstellung von Begabung auf den Kopf: Denn die Annahme, dass Fähigkeiten eine Frage der Veranlagung seien, ist nicht nur falsch, sondern auch gefährlich. Sie hindert uns daran, Außergewöhnliches zu erreichen.

Jo Boaler gibt uns sechs Lernschlüssel zur Hand, mit denen wir, egal in welchem Fach oder auf welchem Gebiet, unser Potenzial entfalten und für uns zuvor undenkbare Leistungen erbringen können. Wenn wir lernen, neu zu denken, ändert sich auch unser Selbstbild und die Art, wie wir mit unserer Umwelt interagieren. Zudem zeigt sie, wie wichtig positiv verstärkende Botschaften sind – egal, ob wir sie als Lernende, Lehrende, Eltern oder im Arbeitsleben empfangen.


»Jo Boaler gehört zu den außergewöhnlich guten Pädagoginnen, die nicht nur das Geheimnis guten Unterrichts kennen, sondern auch wissen, wie man diese Kenntnisse weitergibt.«
CAROL DWECK, Autorin des Weltbestsellers »Selbstbild«

»Wenn Menschen, die unter Mathematikangst leiden, mit Zahlen in Berührung kommen, dann wird das Angstzentrum ihres Gehirns aktiviert – dasselbe Angstzentrum, das aktiv wird, wenn wir Schlangen oder Spinnen sehen. Sobald jedoch das Angstzentrum in Aktion tritt, wird die Aktivität in denjenigen Hirnregionen schwächer, die für die Problemlösung zuständig sind. Kein Wunder, dass so viele Menschen schlecht in Mathematik sind: Wenn ihre Ängste geweckt werden, kommt ihr Gehirn ins Straucheln. Angst sabotiert unser Denken, egal, durch welches Fach oder Thema sie geweckt wird. Daher ist es so wichtig, Lernenden eine andere Wahrnehmung ihrer Fähigkeiten zu vermitteln und in Familien und Lehreinrichtungen mit allem aufzuräumen, was solche Ängste weckt.«

»Was Sie suchen, liegt jenseits der Angst. Lassen Sie uns nun darüber nachdenken, wie wir unsere Angst hinter uns lassen und unser Potenzial entfalten können, um das zu werden, was wir sein wollen.«


  • Erscheinungstag: 16.02.2021
  • Seitenanzahl: 240
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959673969

Leseprobe

Dieses Buch widme ich allen,
die mir ihre Geschichte erzählt haben –
ohne sie hätte ich es nicht schreiben können.
Außerdem widme ich es meinen
wunderbaren Töchtern Jaime und Ariane.

EINLEITUNG
DIE SECHS SCHLÜSSEL

An einem sonnigen Tag blieb ich auf dem Weg zum San-Diego-Museum stehen, um das Spiel der Sonnenstrahlen zwischen den Säulen zu bewundern. Vor einem Ärzteplenum sollte ich meine neuesten Erkenntnisse über das Lernen präsentieren, und als ich die Treppen zum Auditorium hinaufstieg, verspürte ich einen Anflug von Lampenfieber. Ich halte oft Vorträge vor Lehrern und Eltern, doch ich hatte keine Ahnung, wie dieses für mich ungewohnte Publikum meine Entdeckungen aufnehmen würde.

Meine Sorgen waren unbegründet. Die Ärzte reagierten genauso wie die Studierenden und Lehrenden, mit denen ich regelmäßig zusammenarbeite. Die meisten waren verblüfft, einige betroffen, und alle erkannten sofort, was diese Erkenntnisse für ihre Arbeit und ihren Alltag bedeuteten. Einige sahen auch sich selbst in ganz neuem Licht. Eine Ergotherapeutin, die sich als Sara vorstellte, kam nach dem Vortrag auf mich zu, um mir zu erzählen, wie sie vor Jahren ihr Mathematikstudium abgebrochen hatte, weil ihr der Stoff nicht mehr so leicht fiel wie früher und sie das Gefühl hatte, Mathematik sei vielleicht doch nicht das Richtige für sie. Durch eine falsche Wahrnehmung ihrer Fähigkeiten hatte sie sich selbst geschadet und ausgebremst. Wie die meisten Menschen war sie davon ausgegangen, dass ihr Potenzial begrenzt war.

Was aber, wenn das Gegenteil der Fall wäre? Wenn jeder von uns alles lernen könnte? Wenn wir unbegrenzt und unser ganzes Leben lang in der Lage wären, neues Wissen zu erwerben, uns in neue Richtungen zu entwickeln und neue Identitäten anzunehmen? Wenn wir jeden Morgen mit einem neuen Gehirn aufwachen würden? Mithilfe aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse werde ich in diesem Buch zeigen, dass unser Gehirn – und damit auch unser Leben – in höchstem Maße wandelbar ist. In diesem Wissen können wir unser Lernen und unser Leben in ganz neuem Licht sehen und schier Unglaubliches erreichen.

Fast täglich begegne ich Menschen – Männern und Frauen in jedem Alter, mit jedem Bildungshintergrund und aus jeder gesellschaftlichen Schicht –, die mit falschen Annahmen über sich selbst und ihre Lernfähigkeit durchs Leben gehen und sich damit selbst große Steine in den Weg legen. Sie erzählen mir, dass sie in der Schule Mathematik, Kunst, Englisch oder ein anderes Fach gemocht hätten; doch als sie einen bestimmten Punkt erreicht hatten, an dem es ihnen nicht mehr spielend leicht von der Hand ging, kamen sie zu dem Schluss, dass ihr Gehirn nicht dafür gemacht war, und gaben auf. Aber wer Mathematik aufgibt, gibt auch alle damit verwandten Studiengebiete auf – die Naturwissenschaften, Medizin und technische Disziplinen. Wer zu dem Schluss kommt, nicht schreiben zu können, verschließt sich sämtlichen geisteswissenschaftlichen Fächern. Und wer glaubt, kein künstlerisches Talent zu besitzen, verabschiedet sich von Malerei, Bildhauerei und anderen schönen Künsten.

Jedes Jahr werden Millionen Kinder eingeschult, die sich auf die vielen Dinge freuen, die sie lernen werden. Doch sie werden rasch desillusioniert, weil sie zu dem Schluss kommen, dass sie weniger »schlau« sind als die anderen. Erwachsene beschließen, ihre Träume zu den Akten zu legen, weil sie glauben, dass sie nicht gut genug sind oder dass sie nicht so »intelligent« sind wie andere. Jeden Tag betreten Tausende Arbeitnehmer Konferenzräume in der Angst, ihre Kollegen und Vorgesetzten könnten sie durchschauen und herausfinden, dass sie nicht genug wissen. Diese Annahmen schaden uns ganz real, sie schränken uns ein, doch sie existieren nur in unseren Köpfen und sind oftmals das Ergebnis falscher Botschaften anderer Menschen, der Schule oder der Universität. In meiner Laufbahn bin ich so vielen Menschen begegnet, die sich durch solche und andere falsche Selbstbilder beschränkt hatten, dass ich irgendwann ein Buch schreiben wollte, das mit diesen Mythen aufräumt, die uns täglich im Weg stehen. Es ist Zeit für einen anderen Umgang mit Leben und Lernen.

Viele Menschen hören von Eltern und Lehrern, dass sie kein »Mathematiktalent«, keine »Sprachbegabung« oder keinen »Kunstsinn« haben. Erwachsene meinen noch, dass sie jungen Menschen einen Gefallen tun, wenn sie ihnen sagen, dass ein bestimmtes Thema »nichts für sie« sei. Die einen machen diese Erfahrung als Kinder, andere an der Universität, wieder andere während des ersten Vorstellungsgesprächs. Einige Menschen sagen uns auf den Kopf zu, dass wir nicht das erforderliche Talent mitbringen, andere begegnen uns mit unausgesprochenen und tief in der Kultur verwurzelten Vorurteilen, warum wir etwas können oder nicht.

Die neuen Erkenntnisse der Lernforschung und die sechs Lernschlüssel, die ich in diesem Buch vorstelle, werden Ihnen eine ganz neue Sichtweise eröffnen und damit Ihr gesamtes Leben verändern. Sie werden nicht nur Ihre Wahrnehmung der Realität verändern, sondern auch Ihre Realität selbst. Denn wenn wir unsere wahren Möglichkeiten erkennen, dann schließen wir einen Teil von uns auf, zu dem wir lange keinen Zugang hatten, und befreien uns von einengenden Vorstellungen. Wir versetzen uns selbst in die Lage, die kleinen und großen Herausforderungen des Lebens zu meistern und das zu werden, was wir wirklich wollen. Die neuen Erkenntnisse der Lernforschung sind für uns alle relevant und eröffnen ganz neue Perspektiven für Lehrende und Lernende.

Als Professorin für Pädagogik an der Stanford University arbeite ich seit Jahren mit Hirnforschern zusammen und verarbeite ihre Erkenntnisse in meiner Bildungs- und Lernforschung. In meinen Kursen vermittle ich regelmäßig das Wissen, das Sie gebündelt in diesem Buch finden; ich lade die Kursteilnehmer ein, anders mit ihren verschiedenen Herausforderungen umzugehen, und stelle fest, dass sie damit ein ganz neues Selbstverständnis entwickeln. Im Mittelpunkt meiner Arbeit steht das Schulfach Mathematik, weil hier unter Lehrern, Schülern und Eltern die problematischsten Vorstellungen herrschen. Die Annahme, dass jemand ein bestimmtes Talent für Mathematik (und alle anderen Disziplinen) mitbekommen hat, ist der Grund, warum dieses Fach solche Ängste schürt. Entweder man hat es drauf oder eben nicht – das glauben viele Kinder. Und wenn Kinder mit schwierigen Aufgaben konfrontiert werden, dann kommen sie sehr schnell zu dem Schluss, dass sie es eben nicht draufhaben. Von da an erinnert sie jede knifflige Aufgabe an ihren vermeintlichen Mangel an mathematischer Begabung. In einer Befragung unter Auszubildenden gaben 48 Prozent an, Angst vor Mathematik zu haben, 1 und in einer anderen Befragung hatten 50 Prozent aller Teilnehmer eines Mathematikgrundkurses an der Universität Angst vor dem Fach. 2 Es ist schwer zu sagen, wie viele Menschen mit solchen falschen und abträglichen Vorstellungen durchs Leben gehen, doch aufgrund dieser Zahlen würde ich davon ausgehen, dass mindestens die Hälfte der Bevölkerung betroffen ist.

Wenn Menschen, die unter Mathematikangst leiden, mit Zahlen in Berührung kommen, dann wird das Angstzentrum ihres Gehirns aktiviert – dasselbe Angstzentrum, das aktiv wird, wenn wir Schlangen oder Spinnen sehen. 3 Wenn jedoch das Angstzentrum in Aktion tritt, dann wird die Aktivität in denjenigen Hirnregionen schwächer, die für die Problemlösung zuständig sind. Kein Wunder, dass so viele Menschen schlecht in Mathematik sind: Sobald ihre Ängste geweckt werden, kommt ihr Gehirn ins Straucheln. Angst sabotiert unser Denken, egal durch welches Fach oder Thema sie geweckt wird. Daher ist es so wichtig, Lernenden eine andere Wahrnehmung ihrer Fähigkeiten zu vermitteln und in Familien und Lehreinrichtungen mit allem aufzuräumen, was solche Ängste weckt.

Wir kommen nicht mit angeborenen Fähigkeiten zur Welt, und wenn jemand auf einem Gebiet besondere Leistungen vollbringt, dann nicht, weil es ihm oder ihr in die Wiege gelegt wurde. 4 Die Vorstellung, dass unser Gehirn weitgehend unveränderlich ist und man bestimmte Dinge einfach »draufhat« oder nicht, ist wissenschaftlich falsch. Trotzdem ist dieser Mythos allgegenwärtig – mit verheerenden Auswirkungen auf unsere Bildung und viele andere Lebensbereiche. Wenn wir uns von der irrigen Vorstellung frei machen, dass wir mit einem unveränderlichen Gehirn herumlaufen und dass unser Lebensweg von unseren Genen vorgezeichnet ist, und wenn wir stattdessen lernen, dass unsere Gehirne unvorstellbar flexibel und lernfähig sind, dann kann das ungemein befreiend wirken. Jedes Mal, wenn wir etwas lernen, verändert sich unser Gehirn und organisiert sich neu. Das zeigen die Arbeiten einer neuen Sparte der Hirnforschung, die sich mit der Veränderbarkeit des Gehirns beschäftigt, der sogenannten Neuroplastizität. 5 Dazu gleich mehr im ersten Kapitel.

Wenn ich Erwachsenen – meist Pädagogen und Lehrern – erkläre, dass wir uns von der Vorstellung eines unveränderlichen Gehirns befreien und stattdessen klarmachen müssen, dass jeder von uns die Anlagen mitbringt, alles zu lernen, dann erzählen sie mir unweigerlich von ihren eigenen Lernerfahrungen. Dabei erkennen die allermeisten, wie man ihnen Grenzen vorgab und sie beim Lernen behinderte. Wir sind mit dem Irrglauben aufgewachsen, dass einige von uns intelligent sind und eine bestimmte Begabung mitbringen und andere eben nicht, und dieses Märchen prägt uns ein Leben lang.

Heute wissen wir, dass diese Vorstellung von Begabung und Intelligenz falsch ist. Bedauerlicherweise hält sie sich noch immer hartnäckig. Die gute Nachricht: Wenn wir sie aus dem Weg räumen, eröffnen sich schier grenzenlose Möglichkeiten. In diesem Buch verabschieden wir uns von diesen tief verwurzelten und gefährlichen Annahmen, mit denen wir uns selbst Grenzen setzen, und erleben, welche Chancen sich eröffnen, wenn wir an unser grenzenloses Potenzial glauben. Dieser neue Ansatz basiert auf den aktuellen Erkenntnissen der Hirnforschung und bewirkt einen ganz neuen Umgang mit dem Lernen und unserem Leben ganz allgemein.

Die Entdeckung der Neuroplastizität liegt nun schon einige Jahrzehnte zurück, und es ist inzwischen bestens belegt, dass das Gehirn von Kindern und Erwachsenen ständig weiterwächst und sich verändert. 6 Doch in den Schulen, Vorstandsetagen und Familien ist diese Erkenntnis bislang noch nicht angekommen. Und vor allem wurde sie nicht in dringend benötigte neue Lernkonzepte übersetzt, wie ich sie in diesem Buch vorstelle. Zum Glück haben einige Pioniere ihre Erkenntnisse über das Potenzial unseres Gehirns einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Einer war der im Juni 2020 verstorbene schwedische Psychologe K. Anders Ericsson. Aber es war nicht einmal die Hirnforschung, die ihn auf das unglaubliche Potenzial unseres Gehirns stieß, sondern Experimente mit einem jungen Sportler, einem Querfeldeinläufer namens Steve. 7

Ericsson wollte herausfinden, wie viele Ziffern einer willkürlichen Zahlenfolge ein Mensch auswendig lernen kann. Schon 1929 hatte man beobachtet, dass unser Gedächtnis trainierbar ist. Damals hatten Psychologen einer Versuchsperson beigebracht, sich 13 Ziffern in Folge zu merken, eine andere kam auf 15. Ericsson wollte herausfinden, wie weit sich dies steigern ließ. Seine Testperson war ein junger Student namens Steve von der Carnegie Mellon University. Zu Beginn des Experiments war Steve nicht besser als alle anderen und konnte sich Folgen von sieben, manchmal acht Ziffern merken. Nach vier Tagen des Gedächtnistrainings kam er immerhin auf knapp unter neun Ziffern.

Dann passierte jedoch etwas Bemerkenswertes. Als Ericsson schon annahm, dass Steve an seine Grenzen gestoßen war, gelang ihm ein Sprung, und er konnte sich zehn Ziffern merken. Er beschrieb dies als den Beginn der zwei erstaunlichsten Jahre seiner Laufbahn. Von da an verbesserte sich Steve immer weiter, bis er sich irgendwann eine Folge von 82 zufälligen Zahlen merken konnte. Diese erstaunliche Leistung hatte nichts mit Magie zu tun. Steve war vielmehr ein »durchschnittlicher« Student, der sein Lernpotenzial entfaltet und eine seltene und beeindruckende Leistung zustande gebracht hatte.

Einige Jahre später führte Ericsson dasselbe Experiment mit einer Studentin namens Renee durch. Wie Steve verbesserte Renee ihr Gedächtnis weit über die Kapazität eines ungeübten Menschen hinaus und kam bald auf eine Folge von 20 Ziffern. An diesem Punkt blieb sie allerdings stecken, und nach 50 weiteren Übungsstunden gab sie auf. Das stellte Ericsson vor ein neues Rätsel: Warum war Steve so viel weiter gekommen als Renee?

Ericsson sah den Unterschied in einer Technik, die er als »gezieltes Üben« bezeichnete. Ihm wurde klar, dass Steve mit seiner Sportbegeisterung besonders konkurrenzorientiert und motivierbar war. Wenn er an eine vermeintliche Grenze stieß, entwickelte er neue Strategien, um sich weiter zu verbessern. Als er zum Beispiel bei 24 Ziffern eine Grenze erreicht zu haben schien, entwickelte er eine neue Methode, indem er die Ziffern zu Vierergruppen bündelte. Immer wieder dachte er sich etwas Neues aus.

Dieser Ansatz zeigt etwas Entscheidendes: Wenn Sie an eine Grenze stoßen, ist es sinnvoll, eine neue Herangehensweise zu entwickeln und die Aufgabe aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Das klingt logisch, doch wir schaffen es oft nicht, uns eine neue Denkweise zuzulegen, wenn wir auf Widerstand stoßen. Stattdessen kommen wir zu dem Schluss, dass das Hindernis unüberwindlich sein muss. Ericsson hat die menschliche Leistungsfähigkeit auf vielen Gebieten erforscht und kommt zu einem ganz einfachen Schluss: »Egal auf welchem Gebiet, es gibt erstaunlich selten feste Obergrenzen für unser Leistungsvermögen. Vielmehr habe ich beobachtet, dass viele Menschen einfach aufgeben und keine weiteren Anstrengungen unternehmen, um sich zu verbessern.« 8

Vielleicht sind Sie skeptisch und sehen in Steves Gedächtnisleistung einfach den Beweis für sein außergewöhnliches Talent. Doch Ericsson konnte das Experiment mit einem weiteren Läufer namens Dario wiederholen. Der neue Kandidat wurde sogar noch besser als Steve und konnte sich schließlich Folgen von mehr als 100 Ziffern merken. Wenn Wissenschaftler die außergewöhnliche Leistungen scheinbar normaler Menschen untersuchen, stellen sie fest, dass diese Menschen keine besonderen Gene mitbringen, sondern einfach nur viel Zeit und Energie in das Lernen investieren. Die Annahme, dass Fähigkeiten eine Frage der Veranlagung sind, ist nicht nur falsch, sondern sie ist auch gefährlich. Trotzdem baut unser Schulwesen auf der Vorstellung des angeborenen Talents auf und hindert Schüler auf diese Weise daran, Außergewöhnliches zu erreichen.

Die sechs Lernschlüssel, die ich Ihnen in diesem Buch vorstelle, geben Ihnen die Möglichkeit an die Hand, auf jedem beliebigen Gebiet große Leistungen zu erzielen und sich ganz neue Lebensperspektiven zu eröffnen. Sie entfalten ein Potenzial, zu dem Sie bislang keinen Zugang hatten. Bevor ich selbst den in diesem Buch beschriebenen Weg gegangen bin, war ich der Ansicht, dass die neuen Erkenntnisse zu unserer grenzenlosen Lernfähigkeit Pädagogen motivieren würden, ihre Arbeit in der Schule zu verändern. Doch die Gespräche, die ich im Rahmen meiner Recherchen zu diesem Buch geführt habe, zeigen mir, dass die Auswirkungen noch viel weitergehen.

Eine Frau, die viel dazu beigetragen hat, unser Potenzial in neuem Licht zu sehen, ist meine Kollegin Carol Dweck, die ebenfalls in Stanford unterrichtet. In ihren Untersuchungen hat Dweck gezeigt, dass unsere innere Einstellung gegenüber unseren Talenten und Fähigkeiten große Auswirkungen auf unser Potenzial hat. 9 Sie unterscheidet zwischen zwei Gruppen von Menschen: Die einen bringen ein »dynamisches Selbstbild« mit und glauben zu Recht, dass sie alles lernen können. Die anderen haben ein »statisches Selbstbild« und sind überzeugt, dass ihre Intelligenz mehr oder minder vorgegeben und unveränderlich ist; sie können zwar in gewissem Umfang Wissen erwerben, doch an ihrer Intelligenz ändert dies nichts. In jahrzehntelanger Forschung konnte Dweck zeigen, dass diese beiden Selbstbilder großen Einfluss darauf haben, was wir lernen und wie wir leben.

Eine ihrer Untersuchung führte Dweck in einen Mathematikkurs an der Columbia University. 10 Auch dort waren diese Vorurteile quicklebendig: Jungen Frauen vermittelte man direkt oder indirekt die Botschaft, dass sie in der Mathematik nichts verloren hatten. Interessanterweise zeigte diese Botschaft allerdings nur dann Wirkung, wenn die Betroffenen ein starres Selbstbild mitbrachten. Wenn man diesen Studentinnen signalisierte, dass Mathematik Männersache sei, brachen sie den Kurs ab. Studentinnen mit einem dynamischen Selbstbild waren dagegen überzeugt, dass sie alles lernen konnten; sie waren in der Lage, dem Vorurteil zu trotzen und den Kurs abzuschließen.

In diesem Buch erfahren Sie, wie wichtig eine positive Selbstwahrnehmung ist und wie Sie diese entwickeln können. Sie erfahren auch, wie wichtig es ist, sich selbst und anderen positive Botschaften zu vermitteln, egal ob als Lehrende, Eltern, Freund oder im Management.

Eine sozialpsychologische Studie demonstrierte auf eindrucksvolle Weise, wie stark positive Botschaften von Lehrern wirken. 11 Sie untersuchte Schüler der Oberstufe, die einen Aufsatz schreiben sollten. Alle erhielten konstruktive Rückmeldung von ihren Lehrern, doch die Hälfte der Schüler erhielt am Ende der Bewertung einen zusätzlichen Satz. Diejenigen, die diese zusätzliche Anmerkung erhalten hatten – vor allem Angehörige von Minderheiten –, erzielten im weiteren Verlauf des Schuljahres deutlich bessere Leistungen und erreichten insgesamt einen besseren Notendurchschnitt. Was hatten die Lehrerinnen und Lehrer in ihrer Bewertung geschrieben, das einen derartigen Eindruck machte? Ganz einfach: »Diese Rückmeldung gebe ich dir, weil ich an dich glaube.«

Ich erzähle Lehrern von dieser Untersuchung, um ihnen zu zeigen, welches Gewicht ihre Worte und Botschaften haben, und nicht etwa, damit sie jede Bewertung mit diesem Satz schließen. In einem meiner Workshops meldete sich eine Lehrerin zu Wort und fragte zur allgemeinen Erheiterung: »Würden Sie mir raten, mir einen Stempel mit dieser Botschaft anzuschaffen?«

Die aktuelle Hirnforschung unterstreicht die Bedeutung der Selbstwahrnehmung und den Einfluss, den Lehrende und Eltern auf sie haben. Trotzdem faseln die Medien täglich von Genie und Begabung.

Kinder – selbst Dreijährige – entwickeln ein destruktives statisches Selbstbild, weil sie immer wieder scheinbar unschuldigen Wörtchen wie diese hören: »klug«, »schlau« oder »intelligent«. Im Glauben, dass sie damit das Selbstbewusstsein ihrer Kinder stärken, loben Eltern sie und sagen ihnen, wie klug sie doch sind. Doch wenn wir Kinder für ihre Klugheit loben, dann denken sie: »Toll, ich bin intelligent!«; und wenn ihnen später etwas schwerfällt oder sie gar scheitern, wie es uns allen hin und wieder passiert, dann denken sie: »Ich bin ja doch nicht intelligent.« Das heißt, sie messen sich fortwährend an dieser statischen Vorstellung der Intelligenz. Es ist gut und richtig, Kinder zu loben, aber achten Sie darauf, sie für etwas zu loben, was sie getan haben und nicht für eine Eigenschaft. Hier einige Alternativen in Situationen, in denen Sie sonst vielleicht Wörter wie »klug« oder »schlau« verwendet hätten:

Statisches Lob

Dynamisches Lob

»Du kannst Bruchrechnen? Toll, du bist ein schlaues Kind!«

»Du kannst Bruchrechnen? Toll, dass du das gelernt hast!«

»Du hast diese schwierige Aufgabe gelöst? Du bist ja so intelligent!«

»Mir gefällt deine Antwort – das hast du sehr kreativ gelöst!«

»Du hast einen Abschluss in Physik? Du bist ein Genie!«

»Du hast einen Abschluss in Physik? Da musst du aber hart gearbeitet haben!«

An der Stanford University unterrichte ich einen Kurs mit dem Titel »Wie man Mathematik lernt«. Meine Studenten gehören sicher zu den besten des Landes, doch auch sie sind anfällig für destruktive Selbstbilder. Die meisten von ihnen haben im Laufe der Jahre immer wieder gehört, wie schlau sie sind, doch diese scheinbar positive Rückmeldung – »du bist intelligent« – ist keineswegs gut für sie. Wer sich für intelligent hält und plötzlich mit einer schweren Aufgabe konfrontiert wird, für den ist es eine vernichtende Erfahrung, dass ihm etwas nicht leicht von der Hand geht. Er muss nun glauben, dass er doch nicht intelligent ist, und läuft Gefahr, das Handtuch zu werfen.

Welche Erfahrungen auch immer Sie persönlich mit dem Mythos des statischen Gehirns gemacht haben, Sie werden nach der Lektüre dieses Buchs besser verstehen, wie Sie Ihr Potenzial und das anderer Menschen entfalten können. Wenn ich Sie davon überzeugen möchte, dass Ihre Lernfähigkeit grenzenlos ist, geht es nicht nur um eine Einstellung zum Erwerb von Wissen. Es geht um Ihr ganzes Wesen, Ihre Essenz, Ihre Identität. Wie diese neue Sichtweise wirkt, bemerken Sie vor allem dann, wenn Sie auf Schwierigkeiten stoßen oder Rückschläge erleben. Wenn Sie Ihr Potenzial entfaltet haben, werden Sie solche Momente als Lernchance begreifen, sie meistern und dabei wertvolle neue Erkenntnisse gewinnen.

George Adair lebte nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg in Atlanta. Er hatte als Zeitungsverleger und Baumwollspekulant angefangen und sollte nun im Baugeschäft aufsteigen. Seinen Erfolg verdankte er einer wichtigen Erkenntnis, die seither zu einer Art geflügeltem Wort geworden ist: »Was Sie suchen, liegt jenseits der Angst.« Lassen Sie uns nun darüber nachdenken, wie wir unsere Angst hinter uns lassen und unser Potenzial entfalten können, um das zu werden, was wir sein wollen.

KAPITEL 1
DIE REVOLUTION DER NEUROPLASTIZITÄT

Mit den sechs Lernschlüsseln, die ich Ihnen in diesem Buch an die Hand gebe, können Sie unterschiedliche Potenziale erschließen. Der erste Schlüssel ist der wichtigste, auch wenn er oft vergessen wird. Er kommt aus der Neurologie, insbesondere der Erforschung der Plastizität unseres Gehirns. Vielleicht haben Sie das eine oder andere schon gehört, doch interessanterweise basieren die Lehrmethoden in Schulen und Universitäten noch immer auf der Vorstellung des statischen Gehirns. Die Folge ist, dass viele Menschen weit hinter ihren Möglichkeiten zurückbleiben.

LERNSCHLÜSSEL 1

Immer wenn wir etwas Neues lernen, werden in unserem Gehirn neuronale Verbindungen geknüpft oder gestärkt. Anstelle der Vorstellung einer statischen Lernkapazität muss die Erkenntnis treten, dass jedes Gehirn veränderbar ist und wachsen kann.

In einer Gegend, die auch als die »Toscana Kaliforniens« bezeichnet wird, lebt Michael Merzenich, einer der führenden Hirnforscher der Welt. Durch Zufall stolperte Merzenich über eine der wichtigsten Entdeckungen der Gegenwart. 1 In den Siebzigerjahren arbeitete er an der Kartierung der Gehirne von Affen. Mithilfe neuester Geräte erstellte er sogenannte »mind maps«, Karten des Gehirns in Aktion. Er hatte die Hoffnung, mit seiner Arbeit ein paar Wellen in der wissenschaftlichen Zunft zu machen, doch seine Entdeckungen lösten einen Tsunami aus. 2

Merzenich kartierte einige Affenhirne, dann legte er die Karten beiseite und wandte sich anderen Arbeiten zu. Als er die Karten wieder zur Hand nahm, stellte er fest, dass sich die Affenhirne auf neuronaler Ebene verändert hatten. »Diese Entdeckung war ganz erstaunlich«, schrieb Merzenich. »Ich war völlig verblüfft.« 3 Schließlich zog er den einzig möglichen Schluss: Die Gehirne der Affen veränderten sich, und zwar schnell. Damit hatte er die Neuroplastizität entdeckt.

Als Merzenich seine Erkenntnisse veröffentlichte, widersprachen viele seiner Kollegen. Die Entdeckung widersprach allem, was sie als erwiesen ansahen. Einige Wissenschaftler waren überzeugt, dass das Gehirn von Geburt an unveränderlich war, und andere, dass es sich mit dem Eintritt ins Erwachsenenalter nicht mehr veränderte. Sie konnten nicht akzeptieren, dass sich auch erwachsene Gehirne noch veränderten. Doch inzwischen haben selbst die vehementesten Kritiker der Neuroplastizität eingeräumt, dass Merzenich recht hatte.

Unsere Schulen, Universitäten, Unternehmen und unsere gesamte Kultur basieren allerdings auf einer ganz anderen Vorstellung: Die einen haben es drauf, die anderen nicht. Aus dieser Sicht liegt es nahe, Kinder in verschiedene Gruppen einzuteilen und diese unterschiedlich zu unterrichten. Wenn Schüler oder Mitarbeiter unterschiedliche Leistungen bringen, dann liegt das nach dieser Logik nicht an den Lehrmethoden und Umweltfaktoren, sondern an der begrenzten Kapazität ihrer Gehirne. Doch nach jahrzehntelanger Forschung über die Plastizität des Gehirns ist es an der Zeit, mit diesem destruktiven Mythos aufzuräumen.

Angestoßen durch die Erkenntnisse über die Neuroplastizität bei Tieren untersuchten Wissenschaftler, inwieweit sich auch das menschliche Gehirn verändern kann. Eine der faszinierendsten Untersuchungen wurde in London durchgeführt, wo ich seinerzeit lehrte und forschte. London ist eine pulsierende Metropole mit Abermillionen Einwohnern, Pendlern und Touristen. Bei einem Besuch in der Stadt sehen Sie überall die legendären schwarzen Taxis. Die Fahrer müssen höchsten Anforderungen genügen: Wenn Fahrgäste in ein Taxi steigen und dem Fahrer eine Straße nennen, dann muss dieser wissen, wie er dort hinzukommen hat, ansonsten muss er mit einer Beschwerde bei der Taxiaufsicht rechnen.

Das gesamte Straßennetz von London zu kennen ist keine kleine Aufgabe, und die Fahrer müssen viel Zeit und Arbeit investieren, um es auswendig zu lernen. Viele büffeln vier Jahre lang, um die Taxiprüfung zu bestehen. Mein letzter Fahrer sagte mir, er habe ganze sieben Jahre dazu gebraucht. So viel Zeit ist nötig, um in einem Radius von zehn Kilometern um den Bahnhof von Charing Cross herum 25 000 Straßen und sämtliche Verbindungen zwischen ihnen auswendig zu lernen. Blindes Auswendiglernen reicht dazu nicht – die Kandidaten müssen die Straßen abfahren und die Auffälligkeiten und Verbindungen selbst erleben, um sie sich merken zu können. Zum Abschluss müssen sie sich einem Test unterziehen, der einfach nur »The Knowledge« heißt – »das Wissen«. Im Durchschnitt machen die Teilnehmer den Test zwölfmal, ehe sie ihn bestehen.

Diese breite und gleichzeitig hochspezialisierte Ausbildung der Taxifahrer weckte das Interesse von Hirnforschern, die die Gehirne der Fahrer vor und nach der Ausbildung untersuchen wollten. Dabei stellten sie fest, dass das intensive räumliche Lernen den Hippocampus der Taxifahrer messbar vergrößerte. 4 Diese Erkenntnis war in vielerlei Hinsicht faszinierend: Erstens wurde gezeigt, dass sich das Gehirn von Erwachsenen deutlich veränderte und vergrößerte. Zweitens ist die untersuchte Hirnregion – der Hippocampus – an ganz unterschiedlichen Formen des räumlichen und mathematischen Denkens beteiligt. Außerdem beobachteten die Wissenschaftler, dass sich der Hippocampus nach der Pensionierung der Fahrer wieder verkleinerte – nicht infolge eines Alterungsprozesses, sondern weil er weniger in Anspruch genommen wurde. 5 Der Grad der Plastizität des Gehirns und das Ausmaß der Veränderungen erstaunte die Wissenschaftsgemeinde. Wenn die Erwachsenen lernten, entstanden im Gehirn neue Synapsenverbindungen, und wenn diese nicht mehr gebraucht wurden, verschwanden sie wieder.

Diese Entdeckungen wurden Anfang des 21. Jahrhunderts gemacht. Etwa zur selben Zeit drang die Erkenntnis der Neuroplastizität auch in die Medizin vor. Ein neunjähriges Mädchen namens Cameron Mott litt unter einer seltenen Krankheit, die mit lebensbedrohlichen Anfällen einherging. Die Ärzte entschlossen sich zu einem drastischen Eingriff und entfernten ihr die gesamte rechte Gehirnhälfte. Sie gingen davon aus, dass Cameron Jahre oder vielleicht sogar ein Leben lang gelähmt sein würde, da das Gehirn den Bewegungsapparat kontrolliert. Doch nach der Operation beobachteten sie, dass sich das Mädchen unerwartet zu bewegen begann. Das ließ nur eine Schlussfolgerung zu: In der linken Hirnhälfte entstanden neue Verbindungen, welche die Aufgaben der rechten Gehirnhälfte übernahmen, 6 und zwar deutlich schneller, als die Ärzte erwartet hatten.

Seither wurde diese Operation auch bei anderen Kindern durchgeführt. Christina Santhouse war acht Jahre alt, als ihr eine Hirnhälfte entfernt wurde. Christina schloss die Schule als eine der Besten ihres Jahrgangs ab, danach studierte sie, und heute ist sie Sprecherzieherin.

Erkenntnisse aus der Hirnforschung und der Medizin lassen keinen Zweifel mehr daran, dass sich unser Gehirn in einem ständigen Wachstums- und Veränderungsprozess befindet. Das Gehirn, mit dem wir morgens aufwachen, ist nicht mehr dasselbe wie das, mit dem wir am Abend zuvor eingeschlafen sind. In den folgenden Kapiteln werden Sie erfahren, wie Sie das Wachstum Ihrer neuronalen Verbindungen Ihr gesamtes Leben lang nutzen können.

Vor einigen Jahren luden wir 83 Schülerinnen und Schüler der Mittelstufe zu einem 18-tägigen Mathematikworkshop an die Stanford University ein. Es waren normale Kinder mit den üblichen Leistungen und Einstellungen. Bei Einzelgesprächen am ersten Tag gaben sie durch die Bank an, kein Talent für Mathematik zu haben. Auf Nachfragen verwiesen alle auf den Mathecrack in ihrer Klasse – in der Regel meinten sie damit diejenigen, die eine Aufgabe am schnellsten lösten.

Unser Mathematikworkshop wollte die Vorstellungen der Kinder korrigieren. Alle hatten zuvor am üblichen Mathematiktest ihres Schulbezirks teilgenommen, und zum Abschluss des Workshops legten wir ihnen denselben Test noch einmal vor. Die Teilnehmer hatten sich im Durchschnitt um 50 Prozent verbessert, was der Leistung von 2,8 Schuljahren entspricht. Diese unglaublichen Ergebnisse waren ein weiterer Beleg für das Lernpotenzial, das unser Gehirn hat, wenn es die richtige Botschaft erhält und mit den richtigen Methoden unterrichtet wird.

Um die negative Selbstwahrnehmung der Schüler zu überwinden, zeigten wir ihnen unter anderem Bilder von Camerons Gehirn, das nur noch aus einer Hälfte bestand, und schilderten ihnen die Operation. Wir beschrieben ihre Genesung und das Staunen der Ärzte über das Wachstum der verbliebenen Gehirnhälfte. Für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer unseres Workshops war Camerons Geschichte ein Ansporn. In den folgenden Wochen hörten wir immer wieder, wie die Kinder einander sagten: »Wenn das Mädchen das mit einem halben Hirn schafft, dann schaffe ich das auch!«

Viele Menschen glauben, dass ihr Gehirn nicht für Mathematik, Naturwissenschaften, Kunst, Sprachen oder was auch immer geschaffen ist. Wenn wir Schwierigkeiten mit einem Schulfach oder Thema haben, dann kommen wir zu dem Schluss, dass unser Gehirn einfach nicht dafür gemacht ist. Aber niemand kommt mit einem Gehirn zur Welt, das für ein bestimmtes Thema nötig ist. Wir alle müssen die dazu erforderlichen neuronalen Verbindungen erst allmählich entwickeln.

Wenn wir etwas Neues lernen, dann wächst unser Gehirn auf dreierlei Weise. Erstens kann ein neuer neuronaler Schaltkreis entstehen; dieser ist zunächst nicht sonderlich stark, aber je intensiver wir uns mit der fraglichen Sache beschäftigen, desto kräftiger wird er. Zweitens kann ein bereits bestehender Schaltkreis verstärkt und ausgebaut werden. Und drittens kann eine Verbindung zwischen zwei bislang nicht verbundenen Schaltkreisen hergestellt werden.

Auf diese drei Weisen wächst unser Gehirn beim Lernen, und dank der Prozesse, die Schaltkreise entstehen lassen und kräftigen, wird unser Einsatz in Mathematik, Geschichte, Naturwissenschaften, Kunst, Musik und jedem anderen beliebigen Gebiet von Erfolg gekrönt. Wir kommen nicht mit diesen Pfaden zur Welt – sie entstehen erst beim Lernen. Und je mehr Einsatz wir zeigen, desto stärker werden sie. Mehr noch: Unser Gehirn verändert sich mit allem, was wir tun, und die Schaltkreise werden optimiert, um die anstehenden Aufgaben besser zu lösen. 7

Das Märchen vom statischen Gehirn

Diese Erkenntnis kann das Leben von Millionen Kindern und Erwachsenen verändern, die überzeugt sind, dass sie dies oder jenes niemals lernen werden. Aber sie hilft auch Lehrern und Managern, die Menschen für Versager halten, weil sie Schwierigkeiten mit einer bestimmten Aufgabe haben oder daran scheitern. Viele von uns glauben, dass sie auf einem bestimmten Gebiet unfähig sind, und viele haben es von ihren Lehrern gehört. Die Lehrer sagen das nicht, weil sie grausam sind, im Gegenteil: Viele halten es für ihre Aufgabe, Schüler darauf hinzuweisen, worauf sie sich konzentrieren sollten und wovon sie besser die Finger lassen.

Andere wollen mit dieser Botschaft trösten. »Mach dir nichts draus, dass Mathematik nicht dein Ding ist« – gerade Mädchen hören diesen traurigen Spruch immer wieder. Andere Schüler erhalten diese Botschaft indirekt durch unzureichende oder veraltete Lehrmethoden, etwa die Aufteilung von Schülern in Leistungsgruppen oder die Betonung der Geschwindigkeit. Aber egal woher die Botschaft stammt – vielen von uns wurde eingeimpft, dass wir dies und jenes nicht lernen können. Doch mit dieser schrecklichen Idee im Kopf verändern sich unsere Lern- und Denkprozesse.

Jennifer Brich leitet das Mathematiklabor der California State University in San Marcos und unterrichtet selbst Mathematik. Als eine der wenigen Lehrkräfte an Universitäten tut sie alles, um die falschen Vorstellungen zu korrigieren, die ihre Studenten von Mathematik und ihrem eigenen Gehirn mitbringen. Auch Brich war früher der Ansicht, »dass man eben mit bestimmten Begabungen zur Welt kommt und dass sich daran auch nichts ändert«. Dann beschäftigte sie sich mit der Forschung zur Neuroplastizität. Heute gibt sie diese Erkenntnisse an ihre Studenten weiter und vermittelt sie an die Lehrkräfte ihres Labors. Das ist nicht einfach, und sie stößt immer wieder auf Kritik von Leuten, die hartnäckig daran glauben, dass manche Menschen mit einem Talent für Mathematik zur Welt kommen und andere eben nicht.

Brich berichtete mir, wie sie eines Tages in ihrem Büro saß und ihre E-Mails durchging, als sie plötzlich aus dem Nachbarbüro ein lautes Schluchzen vernahm. Sie horchte auf und hörte, wie der Professor sagte: »Das ist doch nicht so schlimm. Sie sind nun mal eine Frau. Frauen haben ein anderes Gehirn als Männer. Es ist in Ordnung, wenn Sie das nicht gleich verstehen, und es ist auch in Ordnung, wenn Sie es überhaupt nicht verstehen.«

Brich war entsetzt. Sie nahm ihren Mut zusammen und klopfte an die Tür des Kollegen. Dann streckte sie den Kopf zur Tür herein und fragte, ob sie kurz mit ihm sprechen könne. Sie sprach mit ihm über die falschen Botschaften, die er vermittelte, woraufhin er sich derart aufregte, dass er sie bei der Direktion anschwärzte. Das Institut wurde zum Glück von einer Frau geleitet, die wusste, dass die Botschaft falsch war, und Brich unterstützte.

Brich hat den Kampf gegen die Talentlüge aufgenommen, und sie ist nicht die Einzige. Sie berichtete mir von ihrer eigenen Erfahrung als Studentin:

Ich war im ersten Jahr meines Magisterstudiums und hatte gerade mit der Planung meiner Abschlussarbeit begonnen. Es lief gut, ich habe fleißig gebüffelt und gute Noten bekommen. Ein Topologiekurs war eine echte Herausforderung für mich, aber ich habe mich reingehängt und in der Prüfung gut abgeschnitten. Ich war stolz. Wir bekamen die Ergebnisse, und ich hatte 98 von 100 Punkten. Ich habe mich riesig gefreut. Dann habe ich ans Ende der Prüfung geblättert und eine Bemerkung des Professors entdeckt. Er wollte mich gern sprechen. Ich dachte, na ja, vielleicht freut er sich ja auch. Ich war richtig froh und stolz.

Aber als ich dann in sein Büro kam, hat er mir erklärt, dass ich nicht das Zeug für Mathematik hätte. Er wollte wissen, ob ich auswendig gelernt oder vielleicht geschummelt hätte, weil ich in der Prüfung so gut abgeschnitten hatte. Er hat mir mehr oder weniger gesagt, dass ich keine Mathematikerin bin, dass ich in der Mathematik keine Zukunft hätte, und dass ich mich nach anderen Optionen umsehen sollte.

Ich habe ihm gesagt, dass ich im Sommer meine Abschlussarbeit anfangen würde und was mein Durchschnitt war. Also hat er meine Akte aufgerufen und sich die Noten angesehen. Dabei hat er immer wieder Fragen gestellt und mir unterstellt, dass ich diese Noten nicht selbst erarbeitet hätte. Das hat mich total fertiggemacht, denn ich hatte Respekt vor dem Mann, das war jemand, den ich für intelligent gehalten hatte, er hatte einen guten Ruf in der Fakultät. Meine männlichen Kommilitonen waren begeistert von ihm. Nach dem Gespräch habe ich mich in mein Auto gesetzt und geheult. Ich habe mir die Augen aus dem Kopf geflennt.

Danach habe ich meine Mutter angerufen, die ist Lehrerin. Als ich ihr von dem Gespräch erzählt habe, ist sie sauer geworden. Sie hat mir gesagt, ich soll mal genau nachdenken und mich an Leute erinnern, die gut in Mathematik sind, und mich fragen, wie sie dahin gekommen sind. Sie hat mich veranlasst, mir Gedanken zu machen. Ich glaube, sie hat die Saat gelegt und mir geholfen zu verstehen, was ein dynamisches Selbstbild ist. Danach hat sich dann zum Glück mein Trotz gemeldet und mein Wille, und das hat mich motiviert, in diesem Kurs und im ganzen Studium noch mehr zu geben. Und bei der Abschlussfeier habe ich den Professor ganz besonders breit angegrinst.

In Brichs Geschichte begegnen wir einem Professor, der eine gewisse Verantwortung für das Leben seiner Studenten trägt und der überzeugt ist, dass Mathematik ausgewählten Menschen vorbehalten ist. Und bedauerlicherweise ist er nicht der Einzige, der so denkt. In westlichen Gesellschaften ist die Vorstellung tief verwurzelt, dass in jedem beliebigen Bereich nur manche Menschen das Talent mitbringen, um wirklich gut zu sein. Das hat man uns eingeimpft. Aber sobald wir glauben, dass Höchstleistungen nur einigen Auserwählten vorbehalten sind, betrifft dies unser ganzes Leben, und wir entscheiden uns gegen Wege, auf denen wir möglicherweise sehr weit gekommen wären. Die Überzeugung, dass nur einige wenige Menschen ein bestimmtes Talent haben, ist heimtückisch und hindert uns daran, unser Potenzial zu erschließen.

Wer anderen die Vorstellung vermittelt, dass sie nicht das Gehirn für ein bestimmtes Wissensgebiet haben, der kennt die wissenschaftlichen Tatsachen entweder nicht, oder er will sie nicht zur Kenntnis nehmen. Bedauerlicherweise unterrichten diese Menschen oftmals MINT-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik), worauf ich später noch eingehen werde. Diese Menschen klammern sich geradezu an den Mythos vom statischen Gehirn, und es ist kein Wunder, dass so viele an dieser Vorstellung festhalten. Die Neuroplastizität wurde erst in den vergangenen beiden Jahrzehnten einer breiteren Öffentlichkeit bekannt; davor war alle Welt überzeugt, dass wir mit einem fest vorgegebenen Gehirn zur Welt kommen, das sich nicht mehr verändert. Viele der Lehrenden, die diesen Mythos glauben, haben keine Ahnung von der Forschungslage. Das Bonussystem der Universitäten honoriert die Veröffentlichung von Fachartikeln, aber nicht von allgemeinen Sachbüchern (wie dem, das Sie in der Hand halten), die aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machen. Wichtige Erkenntnisse bleiben in Fachzeitschriften und erreichen die Menschen nicht, die sie angehen – in diesem Fall Pädagogen, Manager und Eltern.

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