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Dein Tod komme

Greenbury, New York: ein strahlend schöner Tag, wie gemacht für einen ruhigen Waldspaziergang. Doch plötzlich wird Rina Deckers Harmonie jäh gestört - tief im Wald stolpert sie über die verscharrten Überreste eines Menschen. Sofort benachrichtigt sie ihren Mann, Peter, der nach Jahren als Detective für das LAPD nun bei der örtlichen Polizei aushilft. Er stellt schnell fest, dass es sich bei den Leichenteilen um eine Studentin eines nahen College handelt. Weiteres ergeben seine offiziellen Ermittlungen nicht. Rina, die als Dozentin dort arbeitet, sieht sich gezwungen, selber nach der Wahrheit zu suchen und begibt sich dadurch in höchste Gefahr ...

Faye Kellerman ist einfach eine exzellente Autorin."
The Times

"Ein flüssig geschriebener Roman von einer erstklassigen Schriftstellerin. Die Handlung sehr durchdacht geschildert und mit einem exzellenten Spannungsbogen versehen. Glückwunsch."
Magazin Köllefornia


  • Erscheinungstag: 05.02.2018
  • Aus der Serie: Ein Decker/Lazarus Krimi
  • Bandnummer: 24
  • Seitenanzahl: 480
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959677431
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Lila, Oscar, Eva und Judah
und zum ersten Mal auch für Masha
Und wie immer für Jonathan

KAPITEL EINS

Das Auge sieht, was es sehen will – und manchmal auch das, was es nicht sehen will.

Der Spätsommer in Upstate New York war dieses Jahr wunderschön: warm, aber nicht zu heiß, und auch die Luftfeuchtigkeit hielt sich in Grenzen. Hier, tief im Wald, blitzte der strahlend blaue Himmel durch das dichte grüne Blätterdach. Überall summte und brummte es, die Vögel sangen. Ein herrlicher Tag, der noch dem größten Miesepeter ein Lächeln aufs Gesicht zaubern konnte. Rina hielt auf dem Weg inne. Ein Hauch von Herbst lag in der Luft, und auf diesen würde ein kalter Winter folgen. Als sie und Decker noch in Los Angeles gewohnt hatten, hätte sie sich niemals getraut, alleine eine Wanderung zu unternehmen. Aber Greenbury war eine Kleinstadt, und allein schon deshalb fühlte sie sich sicher.

Einen Rucksack auf dem Rücken, folgte Rina dem markierten Pfad. Der Handyempfang war bestenfalls sporadisch, und als sie noch tiefer in den Wald gelangte, hatte sie fast gar kein Netz mehr. Hier war es ein wenig kühler, und die Bäume standen dichter. Die ersten Eichen und Ahorne verfärbten sich bereits und gaben einen kleinen Vorgeschmack auf die herbstliche Farbenpracht. Rina liebte diese Jahreszeit ganz besonders. Auf ihrer Wanderung bewunderte sie, wie das Sonnenlicht auf dem Waldboden funkelte und die Kontraste von Hell und Dunkel stärker hervortreten ließ. Ein atemberaubendes Naturschauspiel wie auf den Bildern von Ansel Adams. Das musste sie unbedingt festhalten.

Rina setzte den Rucksack ab und holte ihr Handy und eine Tasche mit Kameraaufsätzen heraus. Handys waren deshalb so praktisch, weil man nahezu unbegrenzt Aufnahmen machen, sie speichern und auch wieder löschen konnte.

Da sie den Bogat-Wanderweg schon mehrmals gegangen war, kannte sie das Gelände gut. Jedes Mal, wenn sie hier Fotos machte, suchte sie sich ein neues Motiv. Letzten Monat waren es Insekten gewesen: Sie hatte über hundert Aufnahmen von Käfern, Spinnen, Schmetterlingen und anderen Fluginsekten gemacht. Heute wollte sie sich an etwas Größeres wagen, und zwar an die eindrucksvollen, hoch aufragenden Bäume und das Spiel von Licht und Schatten. Sie fand genau das, was ihr vorgeschwebt hatte, in Gestalt einer riesigen alten Eiche mit einem gewaltigen Stamm und Blättern, die in der leichten Brise schimmerten wie Sonnenlicht auf den sanften Wellen eines Sees. Dummerweise lag die Eiche jedoch ein Stück abseits des Wegs. Rinas Smartphone hatte zwar einen Zoom, aber sie wollte lieber eine Aufnahme aus nächster Nähe.

So weit ist es nicht, versuchte sie, sich Mut zu machen. Trau dich einfach.

Zuerst notierte sie sich jedoch ihre Koordinaten mithilfe eines altmodischen Kompasses. Hier im Wald konnte man sich leicht verirren, denn alles ringsherum sah gleich aus, tiefgrün und üppig wuchernd. Als sie sich der Eiche näherte, war Rina jedoch schon wieder etwas weniger mulmig zumute, denn vor ihr lag eine Lichtung, und auch der Handyempfang schien etwas besser geworden zu sein.

Abseits des Wegs musste sie besonders achtgeben, um nicht zu stürzen, denn der Untergrund war von dicken Baumwurzeln und Felsbrocken durchzogen. Während sie sich Schritt für Schritt vorarbeitete, sah sie sich um, bis sie schließlich eine gute Stelle für das Foto gefunden hatte. Um den perfekten Bildausschnitt zu finden, wechselte sie mehrfach die Position. Der Boden fühlte sich weich und nachgiebig an, was seltsam war, da es in den letzten Wochen nicht geregnet hatte.

Rina machte einen großen Schritt nach hinten, um auf den Baum scharfzustellen, als es plötzlich unter ihrem Schuh knackte. Sie sah hin und dachte zuerst, sie sei auf einen Zweig getreten. Dann wurde ihr klar, dass es sich um etwas anderes handelte, doch sie war so perplex, dass sie einen Moment brauchte, bis sie begriff, was sie da sah.

Eine skelettierte menschliche Hand.

Es war schon mehrere Stunden her, seit Rina das letzte Mal etwas gegessen hatte, aber jetzt wurde ihr übel, und sie hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Ihr Herz raste, und ihr wurde schwindelig. Irgendwie gelang es ihr, sich auf den Beinen zu halten, aber sie bekam kaum noch Luft. Sie musste sich gut zureden, um nicht vollends in Panik zu verfallen.

Die Knochen sind alt, Rina. Hier ist niemand. Du bist in Sicherheit.

Sie presste sich die Hand auf den Mund und versuchte, sich zu beruhigen.

Geh zurück zum Weg.

Nicht rennen. Normal gehen.

Dann hörte sie im Kopf die Stimme ihres Mannes:

Aber zuerst musst du deinen Fund dokumentieren.

Das Objektiv hatte sie ja bereits aufgesteckt.

Den schrecklichen Fund durch eine Linse gefiltert zu betrachten machte die Sache etwas erträglicher. Sie fotografierte nicht nur die Hand, sondern auch deren unmittelbare Umgebung. Als sie immer unruhiger wurde, hörte sie auf, nahm das Objektiv ab und packte es weg. Dann wählte sie die Handynummer ihres Mannes. Sie erreichte jedoch nur seine Mailbox.

Rina zog den Kompass aus der Tasche und bahnte sich langsam einen Weg hangabwärts, zurück zum Ausgangspunkt ihrer Wanderung. Dabei versuchte sie immer wieder, Decker zu erreichen.

Kein Netz.

Macht nichts, zumindest bist du jetzt wieder auf dem markierten Weg.

Einen Fuß vor den anderen.

Nicht rennen. Normal gehen.

Es hätte ein perfekter Tag werden sollen, doch hatte er sich in einen Albtraum verwandelt. Aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt für Selbstmitleid.

Denn hier, mitten in diesem unwegsamen Waldgebiet, hatte jemand anderes etwas unfassbar viel Schlimmeres erlebt.

Da Rina nach wie vor nur Deckers Mailbox erreichte, versuchte sie es bei seinem Partner Tyler McAdams, der ihrem Mann hin und wieder bei der Aufklärung von Verbrechen zur Seite stand – die in einer so kleinen Stadt wie Greenbury recht selten waren. Als Tyler sich meldete, schilderte Rina ihm, was passiert war. Seine erste Reaktion war: »Wo, zum Teufel, ist der Bogat-Weg?«

»Du hast doch ein Jahr lang hier gelebt!«

»Eigentlich zweieinhalb, aber egal. Hast du mich schon mal in Goretex-Klamotten gesehen?«

»Nicht dass ich wüsste.«

»Eben, und mit Kaschmir bleibt man immer an den Ästen hängen … Meine Wanderwege führen von der juristischen Fakultät zur Widener-Bibliothek. Also noch mal: Wo ist dieser Bogat-Weg?«

»Ruf einfach Peter an, und sag ihm, ich sitze in meinem Auto auf dem Wanderparkplatz. Er weiß, wo das ist. Sag ihm, er soll mich anrufen. Ich kann ihn nicht erreichen, und mittlerweile hab ich ihm so oft draufgesprochen, dass seine Mailbox voll ist.«

»Er ist gerade in einem Meeting mit Radar und dem Disziplinarbeauftragten von einem der Colleges. Gestern Abend gab’s Ärger in einer Kneipe in der Stadt: Es kam zu einer Schlägerei, dabei ging ein Fenster zu Bruch. Der Besitzer ist stinksauer.«

»Dabei hat das Semester doch gerade erst angefangen.«

»Genau das ist das Problem. Rühr dich nicht vom Fleck, Rina. Ich sag Peter sofort Bescheid.«

Kurz darauf kam Decker an den Apparat.

»Herrgott noch mal, was machst du ganz allein auf dem Bogat-Weg?«, polterte er.

Rina holte tief Luft. »Die Wanderung hab ich schon zigmal allein gemacht.«

»Na, mir hast du jedenfalls nie was davon erzählt.«

»Doch, hab ich, aber es hat dich nicht gestört, weil ich noch nie menschliche Überreste gefunden habe.«

Decker schwieg. Dann presste er zwischen den Zähnen hervor: »Fahr nach Hause. Wir reden später drüber.«

»Ich bleibe hier, schließlich muss ich dir zeigen, wo es war. Ich habe mir die Koordinaten von meinem Kompass aufgeschrieben.«

»Dann kann ich die Stelle auch ohne dich finden. Fahr jetzt bitte nach Hause.«

Rina seufzte. »Schatz, ich weiß, du bist sauer, weil du dir Sorgen um mich machst, aber ich kann nichts dafür, dass ich die Knochen gefunden habe. Hier geht’s gerade nicht um mich.«

Decker dachte nach. »Du hast recht. Und du bist sicher, sie stammten von einem Menschen?«

»Das waren ganz sicher menschliche Fingerknochen, es sei denn, hier gibt’s Affen.«

»Geht’s dir gut?«

»Nein, aber danke der Nachfrage.« Rina spürte, wie sich ihr die Kehle zuschnürte. »Komm einfach, so schnell du kannst.«

»Ich mach mich sofort auf den Weg. In ungefähr zwanzig Minuten bin ich bei dir.«

»Kommt Tyler mit?«

»Ich denke schon.«

»Dann fahr du, er hat keine Ahnung, wo der Bogat-Weg liegt.«

»Es tut mir so leid, Rina. Das muss schrecklich gewesen sein.«

»War’s auch, aber wenigstens hyperventiliere ich mittlerweile nicht mehr …« Sie überlegte. »Ich hab Fotos gemacht.«

»Fotos? Von den Knochen?«

»Ja, und von der unmittelbaren Umgebung. Nach dem anfänglichen Schock dachte ich: Jetzt kannst du auch was Nützliches machen.«

»Sind da noch andere Leute unterwegs?«

»Keine Menschenseele, aber mir kann nichts passieren. Ich sitze im Auto und esse ein Thunfischsandwich. Die Fenster sind nur einen Spalt offen, und ich hab die Türen verriegelt.«

»Mach am besten auch die Fenster zu.«

»Erst nach dem Thunfisch. Aber bleib dran, und rede weiter mit mir.«

»Natürlich. Wir gehen gerade zum Auto. Ist dir zufällig noch was anderes aufgefallen, als du da draußen warst?«

»Wie zum Beispiel die Mordwaffe? Nein. Wie lief’s denn bis jetzt bei dir? Von der demolierten Kneipe hab ich schon gehört.«

»Dumme Jungs. Davon abgesehen gab’s nichts Weltbewegendes.«

»Wie bei mir – bis auf das jetzt.«

»Was hast du überhaupt da oben im Wald gemacht?«

»Den herrlichen Tag genossen. Ich hatte eine riesige Eiche gefunden und wollte ein paar Aufnahmen machen. Oh, gleich wirst du ziemlich viele Eichen-Bilder sehen … Da war übrigens kein Verwesungsgeruch, Peter. Was da auch vergraben ist, es ist schon vor langer Zeit verrottet. Wie lange dauert eigentlich der Verwesungsprozess bei einer Leiche?«

»Bei milden Temperaturen Wochen. Länger, wenn der Boden gefroren ist, aber wir hatten schon seit Monaten keinen Frost mehr.«

»Also liegt die Leiche schon länger dort?«

»Keine Ahnung. Es gab in letzter Zeit keine Vermisstenmeldungen, aber ich seh später im Archiv nach. Vielleicht sind hier im Ort irgendwann mal Mädchen verschwunden. Ich lasse jetzt den Motor an und schalte mit Bluetooth auf die Freisprechanlage um. Kann sein, dass ich kurz weg bin.«

Gleich darauf war die Verbindung wieder da.

»Bist du noch dran, Rina?«

»Ja.«

»Hallo, Rina.«

»Hallo, Tyler. Danke, dass du Peter Bescheid gesagt hast.«

»Na klar doch. Wie geht’s dir?«

»Besser als bei unserem Telefonat vorhin. Fordert ihr die Spurensicherung an?«

»Mike Radar ist schon dabei, ein Team aufzustellen«, meldete sich jetzt Decker. »Er kümmert sich um den Coroner, und je nachdem, wer Dienst hat und wie weit er oder sie anreisen muss, sollten wir in ein paar Stunden alle vor Ort haben. Es ist noch eine ganze Weile hell.«

»Ich bin unterwegs an einer wunderschönen Wiese vorbeigekommen«, sagte Rina. »Es blühte noch alles. Jetzt werden sie den Weg wahrscheinlich für einige Zeit sperren. Wie traurig. Na ja, viel trauriger natürlich für die Person, die da oben verscharrt ist. Was rede ich denn für ein wirres Zeug? Ich muss wohl noch ein bisschen durcheinander sein.«

»Ich bin ja schon durcheinander, und ich bin noch nicht mal vor Ort«, kommentierte McAdams.

»Sagt der Mann, der zweimal angeschossen wurde.«

»Ach, Schnee von gestern …«

Rina musste lachen, »Bleib einfach dran, bis ihr hier seid.«

Das sagte sie jetzt zum zweiten Mal, also hatte ihr die Sache mehr zugesetzt, als sie zugeben wollte. Decker sagte versöhnlich: »Entschuldige noch mal, wenn ich vorhin ruppig zu dir war. Mich hat nur der Gedanke erschreckt, du ganz allein da oben im Wald, meilenweit von jeglicher Zivilisation.« Als Rina kicherte, brummte Decker: »Was ist daran so witzig?«

»Ach, ich musste nur gerade denken: Trotz der Grimm’schen Schauermärchen ist es im finstern Tann vermutlich immer noch sicherer als in der sogenannten Zivilisation.«

Die Techniker von der Spurensicherung mussten auf Hand-Werkzeuge und Bürsten zurückgreifen, um die fragilen Knochen nicht zu beschädigen. Nach kurzer Zeit traten die Umrisse einer skelettierten Leiche aus der Erde hervor. Decker unterhielt sich mit dem Coroner, einem Mann um die vierzig, der im fünfzehn Meilen entfernten Hamilton Hospital arbeitete. Er hieß Jerome Donner und stellte hauptsächlich Totenscheine für Leute aus, die eines natürlichen Todes gestorben waren. Er war nicht die ideale Wahl, aber da Greenbury nicht in der Nähe von Boston oder New York lag, hatte man so kurzfristig niemand Erfahreneres auftreiben können.

»Bislang habe ich kein Weichteilgewebe entdeckt, aber Haare und Nägel sind noch vorhanden. Die werden wesentlich langsamer zersetzt.«

»Lange dunkle Haarsträhnen. Weiblich?«

»Die Körperhaltung der Leiche lässt keine Rückschlüsse zu. Ich kann erst etwas dazu sagen, wenn ich sie bei mir im Labor habe.«

Die Leiche war in Embryonalhaltung zusammengekrümmt. Ungewöhnlich für eine vergrabene Leiche, aber so brauchte man keine große Grube auszuheben.

Donner wandte sich an Rina: »Ihnen ist also nicht sofort aufgefallen, dass da eine Hand aus dem Boden ragt?«

»Nein. Ich habe einen Schritt zurückgemacht, dann knackte es, ich sah runter – und da waren die Finger.« Rina verzog das Gesicht. »Tut mir leid, falls ich den Tatort durcheinandergebracht habe.«

Decker trat zu seiner Frau und legte ihr den Arm um die Schulter. »Warum bist du eigentlich noch hier?«

»Weil ich hier sein will.« Rina sah wie gebannt in das geöffnete Grab. »Können Sie schon abschätzen, wie alt das Skelett ist?«

»Nicht ohne Weiteres«, entgegnete Donner. »Dazu kann ich hoffentlich etwas sagen, sobald wir es im Leichenschauhaus haben. Da sind Haare, sehen Sie. Abgestorbene zwar, aber zumindest haben wir einen Anhaltspunkt bezüglich Haarlänge und – farbe.«

»Also vermutlich eine Frau«, folgerte Decker.

»Ja.« Der Coroner sah zu den beiden auf. »Ist das bei so was nicht meistens der Fall?«

Decker zuckte nur die Achseln. »Wenn erst die sterblichen Überreste gesichert sind, sehen wir uns genauer um und schauen mal, was wir sonst noch finden können.«

»Zum Beispiel eine Handtasche mit Ausweisen?«, fragte Donner.

»Schön wär’s.«

»Frei herumliegendes Papier wäre längst abgebaut, aber bei Papier in einer Handtasche oder einem Portemonnaie würde es länger dauern. Selbst wenn wir keine Ausweise finden, vielleicht liegt ja irgendwo ein Stückchen Stoff von einem Kleidungsstück.«

»Wie lange dauert es, bis Kleidung vollständig verrottet ist?«, fragte Rina.

»Bei Kunststoffgeweben ziemlich lange. Wenn die Leiche eine Geldbörse aus Plastik besaß, haben wir gute Chancen.«

McAdams trat zu ihnen. »Hier gibt’s so gut wie keinen Empfang, aber jetzt hab ich endlich Kevin erreicht. Er wird sich die Unterlagen aller Vermisstenfälle der letzten fünf Jahre raussuchen. Ich hab ihm gesagt, es kann sich sowohl um eine Frau als auch einen Mann handeln, aber bei der Haarlänge ist eine Frau wahrscheinlicher.«

Decker nickte. »Das Opfer könnte aus Greenbury stammen, aber auch von irgendwo anders. Die Gegend hier ist der perfekte Ablageplatz.«

»Aber die Leiche wurde nicht ›abgelegt‹, jemand hat sie vergraben«, korrigierte ihn McAdams. »Jemand hat Stunden damit zugebracht, ein tiefes Loch auszuheben, sie reinzulegen und alles säuberlich wieder zuzuschütten.«

»Wenn das kein geplanter Mord war, hätte der Mörder sich dann die Mühe gemacht, ein Grab für sein Opfer zu schaufeln?«, fragte Rina.

»Klar, wenn er seine Tat verbergen wollte und genug Zeit hatte«, antwortete Decker. »Manche Täter turnt so ein Begräbnis richtig an. Aber ich weiß, worauf du hinauswillst: Der Mörder war vielleicht jemand aus dem näheren Umfeld des Opfers und fand es pietätlos, die Leiche einfach so herumliegen zu lassen.«

»Können Sie schon sagen, wie das Opfer umgekommen ist?«, fragte Tyler den Coroner.

»Nein.«

»Wie lange wird es schätzungsweise dauern, das ganze Skelett auszugraben?«

»Wir werden die ganze Nacht damit beschäftigt sein.«

Decker drehte sich zu Rina um. »Ich bring dich zum Auto.«

»Klar. Hast du Lust auf mein zweites Thunfischsandwich? Könnte sogar sein, dass noch zwei übrig sind. Auf eine Wandertour nehme ich mir immer richtig viel Proviant mit.«

»Die Sandwiches nehm ich gerne, aber das mit dem Wandern solltest du im Moment lieber lassen.«

»Ist ja eh bald Winter.«

»Komm, Schatz.«

Auf dem Weg zum Auto unterhielten sich die beiden über Belanglosigkeiten. Dann herrschte einen Moment Schweigen, bis es aus Rina herausplatzte: »Sie könnte Studentin an einem der fünf Upstate-Colleges gewesen sein. Wie weit ist es bis zum Campus, etwa ’ne Viertelstunde mit dem Auto?«

»Wenn’s hochkommt.« Decker dachte nach. Schließlich fragte er: »Kennst du jemanden, der schon länger an einem der Colleges arbeitet und sich an eine Studentin erinnern könnte, die vielleicht schon vor Jahren verschwunden ist?«

»Tilly Goldstein ist seit über zwanzig Jahren die Verwaltungsleiterin des Hillel.«

»Wie alt ist sie?«

»Ende fünfzig. Soll ich sie mal nach vermissten Studentinnen fragen?«

»Warum nicht. Sie wird wissen wollen, warum dich das interessiert. Du kannst ihr von dem Skelettfund erzählen, aber bitte sie, es einstweilen für sich zu behalten. Und frag auch niemand sonst. Ich muss im Auge behalten, wen wir alles einbeziehen.«

»Na klar. Ich ruf sie an, sobald ich zu Hause bin.«

»Danke.«

»Kann ich sonst noch irgendwas für dich tun?«

»Da gäbe es so einiges, aber das geht nicht, wenn so viele Leute in der Nähe sind …«

Rina musste ein Grinsen unterdrücken und versetze Decker einen spielerischen Hieb.

»He!«

»Was?«

»Das bedeutet doch nur, dass ich noch Interesse an dir habe. In meinem fortgeschrittenen Alter. Wenn das kein Kompliment ist…«

Rina griff Deckers Hand. »Na ja, irgendwie schon. Wann genau soll dieses Schäferstündchen denn stattfinden?«

»Heute Abend auf keinen Fall. Kann ich schon mal einen anderen Termin reservieren?«

»Da muss ich erst in meinem Terminkalender nachsehen.«

Decker lächelte verschmitzt. »Wie heißt es doch in unserer alten Heimatstadt: Dein Agent soll meinen Agenten anrufen …«

KAPITEL ZWEI

Obwohl Decker nur ein paar Stunden geschlafen hatte, fühlte er sich erholt. Er wachte um sieben auf, roch den Duft von frisch gebrühtem Kaffee, duschte und rasierte sich, und nachdem er sich angezogen hatte, betrat er beschwingt die Küche. Es war gestern Abend spät geworden. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Rina noch wach wäre, aber sie hatte extra auf ihn gewartet. Und zum Schlafen waren sie dann noch eine ganze Weile nicht gekommen.

»Morgen.« Rina gab ihm einen Kuss. »Gut siehst du aus.«

»Dafür, dass ich …«

»Ohne Abstriche. Du siehst toll aus. Lass dir doch mal ein Kompliment machen! In der Zeitung steht übrigens noch nichts von eurer Leiche.«

»Als ich um zwei gegangen bin, waren die anderen immer noch zugange. Kevin und Karen haben mich abgelöst.« Decker schenkte sich einen Kaffee ein und setzte sich an den Frühstückstisch. »Ich sollte die beiden mal anrufen und rausfinden, was es Neues gibt.«

»Tu das.«

Als Decker anrief, war der Empfang vor Ort sehr schlecht. Aber er fand zumindest heraus, dass das Team des Coroners noch immer damit beschäftigt war, die Überreste freizulegen. Es würde aber nicht mehr allzu lange dauern, und dann könnten sie damit anfangen, das Grab nach Beweismitteln zu durchforsten. Decker versprach, gleich vorbeizukommen, und legte auf.

»Haben sie was gefunden?«, fragte Rina.

»Nein, noch nicht. Aber die Mitarbeiter des Coroners sind fast fertig. Ich sollte jetzt hinfahren und nachsehen, ob in dem Loch noch etwas liegt.«

»Ich habe dir und Tyler schon Verpflegung eingepackt. Ach, und gestern Abend habe ich mit Tilly gesprochen.«

Als Decker aufstehen wollte, setzte Rina sich gerade an den Tisch, also nahm auch er wieder Platz. »Die Frau vom Hillel.«

»Genau. Sie kann sich an zwei vermisste junge Frauen während der letzten acht Jahre erinnern. Über beide Fälle wurde in den Nachrichten berichtet.« Rina nahm einen Notizzettel, der auf dem Esstisch lag. »Eine der beiden Studentinnen, Delilah Occum, ging aufs Clarion College, die andere, Yvette Jones, war auf dem Morse McKinley.« Sie reichte Decker den Zettel.

»Okay … Warte.« Decker holte sein Handy heraus und überprüfte die Namensliste, die Kevin ihm gestern gemailt hatte. »Delilah Occums Name steht hier ganz oben.« Er las weiter. »Yvette Jones steht nicht drauf, aber es sind nur die Vermissten der letzten fünf Jahre aufgeführt.« Er hielt Rina das Handy mit den Namen hin.

»Oh, so viele.«

»Das sind alle Fälle von Upstate bis runter in die Tri-State-Area, also inklusive Teile von New Jersey, Connecticut und Pennsylvania. New York City ist nicht dabei, das läuft separat. Wann wurde Yvette als vermisst gemeldet?«

»Das weiß ich nicht.«

»Moment.« Decker öffnete seinen Laptop und gab Yvettes Namen ein. Im nächsten Moment erschienen die Suchergebnisse. »Vor siebeneinhalb Jahren.« Dann las er den ganzen Zeitungsbericht. »Sie hatte damals einen öffentlichen Vortrag am Morse McKinley besucht und war danach nie in ihrem Wohnheim angekommen.« Decker schloss die Fenster auf seinem Desktop und klappte den Laptop zu. »Im Büro sehe ich mir das mal genauer an. Kannte Tilly die junge Frau persönlich?«

»Keine Ahnung, aber ich treffe mich heute mit ihr zum Mittagessen im Vegan Palace, dann frag ich sie.«

»Danke. Du hast sie doch gebeten, es für sich zu behalten, oder?«

»Klar doch.«

»Macht wahrscheinlich sowieso keinen Unterschied. Es sind so viele Leute an der Ausgrabung beteiligt, da wird’s nicht mehr lange dauern, bis die Presse davon erfährt.« Decker stand auf. »Ich muss los. Viel Spaß heute Mittag bei eurem Kaninchenfutter mit Tofu.«

»Werden wir haben, Mr. Paleo. Wie in der Steinzeit …«

Decker musste grinsen. »Ganz genau.«

»Solange das Wetter noch so schön ist, könnten wir heute Abend ja grillen. Bring Tyler mit. Der mag doch auch Steak.«

»Aber hat er auch eins von den guten Rib-Eye-Steaks verdient?«

»Hängt wohl davon ab, wie gut er sich heute schlägt, was?«, frozzelte Rina.

»Ach, der Junge macht das schon gut. Sehr gut sogar.« Decker zog sein Jackett über. Dafür war es eigentlich zu warm – laut Vorhersage knappe 30 Grad –, aber es sah einfach professioneller aus. »Ich habe einen Artikel im Wall Street Journal gelesen. Wusstest du, was die Top-Kanzleien Harvard-Studenten für ein Praktikum zahlen?«

»Um die 3 000 Dollar die Woche.«

»Und das zehn Wochen lang, das sind 30 000 insgesamt. Weißt du, was Tyler diesen Sommer verdient hat?«

»Vielleicht 10 000?«

»Wenn’s hochkommt. Das war so was von bescheuert von ihm.«

»Aber vergleich mal das Arbeitspensum, Peter. Ich würde sagen, ihr zwei habt diesen Sommer mehr Zeit vor der Xbox verbracht als auf dem Revier.«

»Damit ist es jetzt vorbei. Wiederaufgerollte Fälle haben’s meist in sich. Wenn es sich bei der Leiche um eine der beiden Studentinnen handelt, stammt das Opfer nicht aus Greenbury. Ich werde versuchen müssen, Leute ausfindig zu machen, die sich vermutlich nicht mehr an viel erinnern. Studenten sind nur ein paar Jahre hier, Professoren gehen, wenn sie anderswo eine bessere Stelle finden. Und falls es überhaupt Spuren gegeben hat, sind sie längst verwischt oder kalt.«

»Wenn irgendjemand den Fall lösen kann, dann du.«

»Du bist immer so positiv, wie machst du das nur?«, grummelte Decker.

»Ist ’ne angeborene Eigenschaft von mir, aber ich halte mich auch fit und ernähre mich entsprechend … Probier’s mal mit Tofu, du Steinzeitmensch. Täte nicht nur deinen Arterien gut, vielleicht würdest du dann auch öfter mal lächeln.«

Als das Grab leer und die Leiche abtransportiert war, konnte sich Decker die Grube vornehmen. Die Suche erbrachte nichts außer einem durchgeschwitzten Hemd. Weder Ausweise noch Tasche, Portemonnaie, Handy oder Laptop. Keine Seminartexte oder Arbeitsunterlagen und auch keine intakten Kleidungsstücke. Allerdings fand er ein Stück Stoff, eine kleine silberne Creole und einen grauen Knopf, der ursprünglich vielleicht einmal weiß gewesen war. Diese Fundstücke übergab er der Spurensicherung zur weiteren Untersuchung.

Decker und seine Kollegen vom Greenbury PD waren den ganzen Vormittag damit beschäftigt, das umliegende Gebiet nach Beweismitteln abzusuchen, die der Mörder auf dem Weg zur Begräbnisstelle vielleicht versehentlich fallen gelassen oder weggeworfen hatte. Sie fanden jede Menge verrostete Bier- und Limodosen, Zigarettenkippen und Chipstüten, die von sommerlichen Wandertouren und Picknicks liegen geblieben waren.

Als jedes einzelne Objekt eingetütet und ordnungsgemäß beschriftet war, fuhren Decker und McAdams zurück zum Revier. In seinem Büro fuhr Decker den Computer hoch und recherchierte den Fall Delilah Occum: Sie war vor drei Jahren am Clarion College verschwunden.

»Sie war brünett, also könnte sie’s definitiv sein. Laut Augenzeugen trug sie zuletzt einen schwarzen Mantel, ein rotes Minikleid und hohe Schuhe.« Decker sah vom Bildschirm hoch und drehte sich zu McAdams. »Sah der Stoff, den wir gefunden haben, für dich rot aus?«

»Der war so schmutzig, da konnte ich nichts erkennen, Kumpel. Aber der Knopf sah nicht so aus, als ob er von einem schwarzen Mantel stammt.«

»Das ergibt auch Sinn. Im Winter ist es schwer, eine Leiche zu vergraben. Gefrorener Boden.« Decker dachte nach. »Wann genau ist Delilah verschwunden?«

»Ich schau schnell nach.« McAdams öffnete die Akte auf seinem Computer. »Gleich nach Thanksgiving.«

»Ich frage mich, wie kalt es damals war.« Decker tippte etwas ein. »In dem Jahr hat es erst kurz vor Weihnachten angefangen zu schneien. Theoretisch hätte man also zur fraglichen Zeit noch eine Leiche vergraben können, vor allem im Wald, wo der Boden durch das ganze Laub vor Frost geschützt ist.«

»Also für mich sieht das wie der Knopf einer Bluse oder eines Hemds aus.«

»Finde ich auch. Was ist mit der anderen Studentin, Yvette Jones?« Decker öffnete die Vermisstenakte auf dem Computer. »Die hatte ebenfalls braune Haare.«

»Also ist sie auch im Rennen.«

»Ja. Yvettes Mitbewohnerin im Wohnheim erinnerte sich, sie an dem Morgen gesehen zu haben … mittags war sie in der Mensa, wo sie nach den Aufzeichnungen der Überwachungskameras bis 14:15 Uhr geblieben ist. Danach ging sie zu einer Vorlesung in der Murphy Hall: ›Sozialverträgliches Investieren‹. In den Aufzeichnungen trägt sie Jeans, eine helle Bluse, darüber einen Pulli in einer ähnlichen Farbe und Turnschuhe.«

»Unser Knopf ist hell.«

»Stimmt. Yvette war eins fünfundsechzig, wog knappe sechzig Kilo und hatte braunes Haar und braune Augen. Wir haben natürlich noch die Unterlagen zu dem Fall, aber das College hat uns die Informationen erst ein paar Tage nach ihrem Verschwinden zur Verfügung gestellt. Ich bin mir sicher, die hatten parallel ihre eigenen Akten mit Informationen, die wir noch nicht kennen.«

»Meinst du, die heben so was auf?«

»Falls nicht, wäre das fahrlässig von ihnen. Immerhin sind diese Fälle noch nicht abgeschlossen.« Decker lehnte sich im Stuhl zurück. »Lass uns mal hören, was der Coroner zu sagen hat. Ruf ihn an, und sag ihm Bescheid, dass wir vorbeikommen. Gegen Abend sollte er die Knochen doch richtig zusammengesetzt haben.«

»Sein Labor ist in Hamilton, oder?«

»Ja. Sollen wir vorher was essen gehen? Wir haben noch Zeit.«

»Nein, keinen Hunger. Ich muss erst mal das Frühstück verdauen.«

»Ist doch fast Mittag, was gab’s denn?«

»Drei Eier mit Speck, Hash Browns, Orangensaft und drei Tassen Kaffee.«

»Das Irish Special von Paul’s Truck Stop?«

»Woher kennst du denn Paul’s Truck Stop, alter Mann? Da enthält doch selbst der Kaffee Spuren von gebratenem Speck.«

»Letzten Winter war ich da auf einem Einsatz. Zwei total überdrehte Trucker hatten sich in die Haare gekriegt. Nichts Gravierendes, die beiden haben nur etwas Dampf abgelassen, aber jemand wollte auf Nummer sicher gehen und hat die Polizei gerufen. Wenn der Laden eine Schanklizenz hätte, wäre ich sicher viel öfter dort.«

»Genau aus diesem Grund siehst du da auch nie Collegekids. Und weil’s zu Fuß zu weit vom Campus ist.«

»Ja, definitiv kein Studentenladen. Bist du da oft?«

»Diesen Sommer fast jeden Tag. Die machen einen Apfelkuchen, der ist fast so lecker wie meiner.«

»Ist aber nicht ganz dein Ambiente, Harvard.«

»Da hast du nicht ganz unrecht. Da wimmelt’s nur so von Truckern, die heißen alle Billy, Bud, Bubba, Cletus, Dwayne, Jessie, Jimmy und vor allem junior. Manchmal in der Kombi mit Ray oder Lee oder Boy, also Jonny Boy oder Billy Boy. Aber die Rednecks und ich haben so ’ne Art Waffenstillstand geschlossen. Sie nennen mich Herr Rechtsanwalt und fragen mich allen möglichen rechtlichen Kram, damit sie ihre Arbeitgeber auf Schadenersatz verklagen können. Die Bedienungen flirten mit mir und nennen mich Schätzchen, und ich gebe reichlich Trinkgeld. Außerdem gibt es WLAN: Ich sitze immer an der Theke und surfe im Internet. Genau wie bei euch fühle ich mich da wie zu Hause.«

KAPITEL DREI

Rina war zu früh dran, aber Tilly Goldstein war offenbar noch vor ihr eingetroffen. Das war auch gut so, denn das Vegan Palace war schon fast voll, und Tilly hatte noch einen der letzten Tische ergattert. Rinas Bekannte hatte blaue Augen, kurze graue Locken und eine Brille, die sie an einer Kette um den Hals trug. Heute hatte sie ein luftiges gelbes Kleid mit kurzen Ärmeln an, die den Blick auf dünne, runzlige Arme freigaben. Rina ließ sich auf den Stuhl ihr gegenüber fallen. Sofort reichte ihnen eine junge Frau mit blauen Haaren und jeder Menge Piercings und Tattoos die Karte. Sie stellte sich als Sarah vor und versprach, gleich Wasser und Pitabrot zu bringen.

Als sie gegangen war, sagte Tilly: »So ein hübsches Mädchen, warum läuft sie nur mit dem ganzen Metall im Gesicht rum wie eine Voodoopuppe! Und die Tätowierungen! Verstehst du das?«

»Damit wollen sich die Kids von der Masse abheben«, mutmaßte Rina. »Aber ich muss bei so was sofort an meine Eltern denken. Die haben beide den Holocaust überlebt und mussten zeitlebens die eintätowierten Nummern mit sich herumtragen. Weißt du schon, was du nimmst?«

»Noch nicht, und du?«, fragte Tilly.

»Vielleicht das Tofucurry oder den veganen Burger de Luxe.«

»Nimm das Curry. Dann nehm ich die gebratenen Nudeln mit Gemüse. Ich liebe Soba-Nudeln.«

Kurze Zeit später kam die Bedienung zurück, um ihre Bestellungen aufzunehmen. Die beiden Frauen unterhielten sich über Alltägliches, bis das Essen kam. Dann legte Tilly sich die Serviette auf den Schoß und kam zur Sache: »Also, was hat es mit diesem Leichenfund am Bogat-Weg auf sich?«

»Es wurden menschliche Knochen gefunden. Na ja, eigentlich habe ich sie gefunden.« Rina brachte ihre Freundin auf den neuesten Stand. »Natürlich lag die Vermutung nahe, dass sie zu einer der beiden vermissten Studentinnen gehören. Und da du schon so lange an der Uni arbeitest …«

»Erinnere mich bloß nicht daran.«

Rina holte einen kleinen Notizblock aus der Tasche. »Was kannst du mir über die beiden erzählen?«

»An Delilah erinnere ich mich besser als an Yvette, da sie erst vor drei Jahren verschwunden ist. War eine traurige Sache. Sie ging von einer Party nach Hause, kam aber nie in ihrem Wohnheim im Clarion College an. Ihr Verschwinden entfachte eine Riesendiskussion um zu laxe Sicherheitsvorkehrungen auf dem Campus, besonders am Abend. Die Colleges einigten sich darauf, die Anzahl der Wachleute zu erhöhen. Die Verwaltung richtete dann noch einen Begleitservice ein: Wenn ein Student, egal ob männlich oder weiblich, nicht allein über den Campus gehen will, steht zu jeder Tages- und Nachtzeit jemand zur Verfügung.«

»Wird dieser Service in Anspruch genommen?«

»Ständig. Es wurde gemunkelt, dass erst so etwas passieren musste wie mit Delilah, bis die Colleges eingesehen haben, wie gefährlich es auf dem Campus sein kann.«

»Das stimmt wahrscheinlich, aber muss man nicht wahnsinnig viele Sicherheitsleute einstellen, um genug Personal zu haben?«

»Nein, nein, das funktioniert wie die Uber-Taxis. Es haben sich unheimlich viel Studenten von allen fünf Colleges gemeldet, die bereit sind, für ein kleines Entgelt andere Studenten über den Campus zu begleiten. Wenn sich jemand bei uns meldet, sehen wir nach, wer gerade Zeit hat. Normalerweise haben wir mindestens vierzig bis fünfzig Studenten in Bereitschaft.«

»Und wie sorgfältig werden die vorher überprüft?«

Tilly sah auf einmal besorgt aus. »Weißt du, ich glaube, gar nicht. Aber der Sicherheitsdienst dokumentiert, wer welchen Auftrag übernimmt. Falls es Probleme gibt, kann man rausfinden, wer der oder die Betreffende war.«

»Und gab es schon mal Probleme?«

»Nicht dass ich wüsste, aber falls ja, erfährt man davon sowieso nichts …« Tilly widmete sich ihren gebratenen Nudeln. »Hmm, köstlich.«

»Ja, schmeckt wirklich gut. Leider kann ich meinen Mann nicht für vegetarisches Essen begeistern.«

»Typisch Mann. Warum wendet er sich wegen Delilah Occums Verschwinden nicht direkt an die Colleges?«

»Das wird er sicher noch tun.« Rina lächelte in sich hinein. »Woran erinnerst du dich bezüglich Yvette Jones?«

»Die ist auch abends verschwunden. Die genauen Umstände weiß ich nicht mehr, Rina. Nur, dass sie ebenfalls nie in ihrem Wohnheim ankam.«

»Ich habe gehört, sie kam gerade von einer Vorlesung.«

»Eine Vorlesung?«

»Irgendwas über sozialverträgliches Investieren oder so.«

»Aha, klingt nach Hank Carter. Zweimal im Monat hält er einen öffentlichen Vortrag. Die sind meist sehr gut besucht.«

»Aber Yvette ist vor sieben Jahren verschwunden. Gab’s da die Vorträge schon?«

»Carter ist schon seit Ewigkeiten am Morse McKinley. Ich war selbst schon bei einigen. Er ist ein begnadeter Redner.«

Rina notierte sich den Namen. »Wenn du ›sehr gut besucht‹ sagst, wie viele Leute ungefähr?«

»Die Vorträge finden in der Murphy Hall statt, da ist Platz für mindestens 300 Studenten. Außer ihm bieten noch andere Professoren öffentliche Vorträge an, aber verantwortungsbewusstes Investment ist sein Spezialthema, das schlachtet er schon seit Jahren aus.«

Die beiden Frauen schwiegen, während Rina sich Notizen machte.

Schließlich sagte Tilly: »Der Bogat-Weg, das ist doch gar nicht so weit weg.«

»Ungefähr eine Viertelstunde von hier mit dem Auto.« Rina sah hoch. »Der Weg ist gar nicht so anstrengend. Nach etwa zwei Meilen gabelt er sich: Man kann entweder zum Ausgangspunkt zurücklaufen oder eine größere Runde drehen, ich glaube, vier Meilen. Die hab ich aber noch nie gemacht, zu abgelegen für meinen Geschmack.«

»Ich find’s schon mutig, dass du dich da überhaupt alleine raustraust.«

»Als ich die Knochen gefunden habe, hatte ich eine Waffe im Rucksack. Die hatte ich dann ehrlich gesagt total vergessen.«

»Du hast eine Waffe?«

»Nur zur Selbstverteidigung, Tilly. Da im Wald treibt sich so einiges herum. Hast du nie Stephen King gelesen?«

Tilly konnte sich ein anerkennendes Grinsen nicht verkneifen. »Dann kannst du also wirklich schießen?«

»Ja.«

»Du könntest also auch auf einen Menschen schießen?«

»Das musste ich zum Glück noch nie rausfinden. Ich sollte aber mal wieder zum Schießplatz gehen und ein bisschen üben.«

»Ich kann’s einfach nicht glauben, du und eine Waffe!«

»Mein Mann ist doch Polizist.«

»Stimmt, also kein Wunder. Aber du bist doch … wir sind doch Juden. Was haben wir mit Schusswaffen zu tun?«

»Israel hat eine Armee. Und es gibt die Wehrpflicht für Frauen. So habe ich ursprünglich auch schießen gelernt. Du siehst, bewaffnete Frauen sind bei uns Tradition.«

Die Knochen lagen auf einem Metalltisch. Sie waren zwar nicht mehr verbunden, aber in der anatomisch korrekten Form eines menschlichen Skeletts angeordnet. Decker und McAdams standen in einem kleinen Raum, der normalerweise für Krankenhausobduktionen reserviert war – ein großer Unterschied zum Leichenschauhaus von L. A., das über mehrere Säle verfügte. Aber hier wie dort lag ein allzu vertrauter Geruch in der Luft: nach Verwesung, eklig süßlich und zugleich medizinisch. Dieser Geruch blieb einem noch lange in der Nase.

In Krankenhäusern starben die Menschen normalerweise eines natürlichen Todes. Decker fragte sich, mit wie vielen Mordopfern Jerome Donner es in seinem bisherigen Berufsleben tatsächlich schon zu tun gehabt hatte. Nicht, dass es diesmal darauf ankam. Die Todesursache war offensichtlich.

»Der Schädel wurde eingeschlagen«, merkte Decker an.

»Stumpfe Gewalteinwirkung«, erläuterte Donner. »Nach dem Grad der Zerstörung zu urteilen, wurde mehrfach zugeschlagen.«

»Wissen Sie schon, um welche Art von Objekt es sich gehandelt haben könnte?«

»Die Form der Verletzung ist nicht regelmäßig, aber das könnte auch an der Vielzahl der Schläge liegen. Ich würde auf einen Felsbrocken oder Stein tippen, vielleicht sogar den Kolben einer Schusswaffe.«

»Also starb sie infolge stumpfer Gewalteinwirkung?«, fragte McAdams.

»Das war die Todesursache. Aber das mit dem ›sie‹ kommt nicht hin.«

»Ist das ein Witz?« McAdams war perplex.

»Schauen Sie sich mal das Becken an, Detectives. Der Ausgang ist eng, das Kreuzbein vorgeneigt, und der Winkel zwischen den Sitzbeinhöckern ist kleiner als neunzig Grad. Das hier ist ein Mann.«

Ungläubiges Schweigen. Schließlich sagte Decker: »Tja, das ändert so einiges. Was können Sie uns noch mitteilen?«

»Nach meinen Berechnungen anhand der Länge des Oberschenkelknochens war er deutlich über einen Meter achtzig.«

»Um so jemandem den Schädel einzuschlagen, muss der Täter selbst ziemlich groß gewesen sein«, folgerte McAdams.

»Oder unser Opfer hat gekniet«, gab Decker zu bedenken.

»Oder das.«

»Die Gewalteinwirkung fand am unteren Ende des Scheitelbeins statt, genau oberhalb des Hinterhaupts. Also eher ein Schlag gegen den Hinterkopf als von oben auf den Schädel.«

»Dann wurde er also von hinten angegriffen.«

»Vermutlich. Das Opfer hatte übrigens schmale Knochen und lange Finger … Klavierspielerhände.«

»Also eher ein schlaksiger Typ?«

»Auf jeden Fall nicht untersetzt.«

»Im Schädel befand sich ein kompletter Satz schöner gerader Zähne«, bemerkte Decker. »Wurde an den Zähnen mal was gemacht?«

»Ja, Sie haben Glück. Junge Leute haben heutzutage kaum noch klassische Füllungen. Liegt an den ganzen neuen Versieglungsmethoden. Aber das Opfer hatte zwei kleine Amalgamfüllungen der Klasse I. Sie können sie mit zahnärztlichen Unterlagen abgleichen, genau wie die DNA in den Zahnwurzeln.«

»Gut. Haben Sie ein ungefähres Alter?«

»Nach den Knochennähten am Schädel und den Zähnen zu urteilen, Anfang bis Mitte zwanzig. Sehen Sie hier: Zwei Weisheitszähne sind bereits durchgebrochen, im Unterkiefer liegen noch mal zwei. Die stecken allerdings fest. Und Sie haben recht, die Zähne sind perfekt ausgerichtet, was entweder für gute Erbanlagen oder einen guten Zahnarzt spricht.«

»Ethnische Zugehörigkeit?«

»Meißelförmige Schneidezähne … Die Nasenflügel sind recht schmal. Europäer, würde ich sagen. Oder auch: weiß.«

»Also ein männlicher Weißer mit langen, dicken Haaren.« Decker hob den Zeigefinger. »Könnte sein, dass wir deshalb nur einen Ohrring, eine kleine Silbercreole, gefunden haben. Als ich den anderen nicht finden konnte, bin ich davon ausgegangen, dass er während des Kampfes verloren gegangen ist.«

»Du meinst, vielleicht war er schwul«, merkte McAdams an.

»Könnte sein«, sagte Donner. »Sehen Sie sich mal die Finger- und Fußnägel an. An den Fingernägeln befinden sich noch Reste von Keratin.«

Decker und McAdams beugten sich über den Seziertisch. Die Nagelspitzen schimmerten schwach lila.

»Nagellack«, stellte Decker fest. »Können Sie sagen, wie lange die Leiche da schon lag?«

»Wenn erst mal das ganze Fleisch weg ist und nur noch die Knochen übrig sind, wird’s schwierig mit der Datierung. Da aber noch viel Haar und auch Nagellackfragmente erhalten sind, würde ich sagen, vermutlich weniger als zehn Jahre. Wenn Sie ein paar Kandidaten haben, vergleichen wir den Zahnstatus.«

Decker warf einen Blick auf seine Liste. Die Identifizierung der Leiche hatte oberste Priorität.

Der Großteil der vermissten Personen war weiblich und zwischen achtzehn und fünfundvierzig. Es befanden sich jedoch auch ein paar männliche Weiße im relevanten Alter darunter. Zwei davon waren Studenten an den Colleges gewesen. Falls keiner der beiden auf die Beschreibung passte, würde Decker die Suche ausweiten müssen. Der junge Mann konnte theoretisch von überallher stammen und seine Leiche nur oben im Wald abgelegt worden sein. Schlimmstenfalls, wenn er nicht identifiziert werden konnte, blieb noch die Möglichkeit, eine Gesichtsrekonstruktion anhand der Schädelknochen vorzunehmen.

Eigentlich konnte Decker sich nicht beklagen, wenigstens hatte er schon einige Anhaltspunkte. Größe, Alter, die langen Haare, der Ohrring und der lila Nagellack waren eine ziemlich auffällige Kombination. In Greenbury gab es nicht allzu viele junge Leute mit einem derart ungewöhnlichen Erscheinungsbild. Bis zu den Colleges war es nur eine kurze Autofahrt; sie konnten also ebenso gut gleich dort mit der Suche beginnen.

KAPITEL VIER

Byron Henderson, einundzwanzig und Mitglied des Ringerteams, war vor vierzehn Jahren vom Duxbury College verschwunden. Er hatte sich auf sein Fahrrad gesetzt und war nie wieder gesehen worden. Henderson war eins achtundsiebzig gewesen, stämmig und hatte kurzes, lockiges Haar gehabt. Da er nicht ihrer Beschreibung entsprach, konnte Decker ihn ausschließen.

Kirk Landry, ein Student am Kneed Loft, war neunzehn, als er vor elf Jahren nach einer Party verschwunden war. Er war sturzbetrunken gewesen, und es gab Spekulationen, er sei ins Eis eines der unzähligen Tümpel und Seen im Waldgebiet rund um Greenbury eingebrochen und ertrunken. Als es im darauffolgenden Frühling noch immer keinen Hinweis auf den Verbleib des jungen Mannes gab, wurde die Suche eingestellt. Landry war eher klein gewesen und hatte schütteres Haar gehabt, was ebenfalls nicht ihrer Leiche entsprach.

»Wie geht’s jetzt weiter?«, fragte McAdams.

»Zur Sicherheit sollte ich mir trotzdem die Zahnschemata der beiden Jungs besorgen.« Decker schüttelte missmutig den Kopf. »Ich hasse so was. Versetzt die Angehörigen in Aufregung, und wenn sich dann rausstellt, dass es doch nicht ihr Sohn ist, brechen sie völlig zusammen. Parallel werde ich mich ans Telefon klemmen. Diesen Fall werden wir wohl nicht so schnell lösen. Du musst doch bald wieder zurück an die Uni, da brauchst du dich gar nicht erst näher mit der Sache zu beschäftigen.«

McAdams dachte kurz nach. »Hm, wegen der langen Haare und dem Nagellack: Ich könnte mal im LGBT-Zentrum auf dem Campus anrufen. Soll nicht heißen, dass unser Unbekannter unbedingt schwul gewesen sein muss, aber irgendwo müssen wir ja anfangen.«

»Jedenfalls passt seine Beschreibung auf keinen der beiden vermissten Studenten.« Decker erhob sich. »Weißt du was, zum Campus sind es nur zehn Minuten zu Fuß, und das Wetter spielt mit. Wir versuchen’s einfach.«

Jetzt, nach dem Labor Day am 1. September, fing Greenbury langsam an, sich auf die kalte Jahreszeit vorzubereiten: keine Picknicks mehr, keine Festumzüge und auch keine faulen Tage im Park mit spontanen Darbietungen von der Konzertbühne. Statt Bademode und Shorts konnte man jetzt die neuesten Pullover, Parkas und Skibekleidung in den Schaufenstern der örtlichen Klamottenläden bewundern. Obwohl es noch Wochen bis zum offiziellen Herbstanfang waren, hatten die Cafés und Supermärkte bereits Kürbis in allen Varianten im Angebot.

Bei den Fünf Colleges von Upstate angekommen, kam es Decker so vor, als fläzten sich weit mehr Studenten draußen auf den Rasenflächen, als in den Seminarräumen lernten. Das weitläufige Universitätsgelände bestand aus gepflegten Grünflächen und bewaldeten Gebieten und war von Greenbury aus bequem zu Fuß zu erreichen. Jede Institution hatte ihren eigenen Dekan, eigene Professoren, einen eigenen Campus und Wohnheime – und natürlich ihren ganz eigenen Charakter. Duxbury war das älteste College, eine hochrangige geisteswissenschaftliche Einrichtung, vergleichbar mit Amherst oder Williams, deren Baustil sich nahtlos in die Ivy-League-Universitäten eingefügt hätte. Das Frauen-College Clarion war in den 1920ern erbaut worden; die Backsteingebäude im zurückhaltenden Federal Style waren mit Art-déco-Elementen verziert. Morse McKinley, das Politikwissenschafts- und BWL-College, stammte aus der Nachkriegszeit, der Unterricht fand in funktionellen Klassenräumen in ebenso funktionellen Gebäuden statt. Die Wohnheime waren im Stil der kastenförmigen Apartmentgebäude der 1950er und 1960er Jahre gehalten. Kneed Loft war das kleinste College und hatte die größte Ähnlichkeit mit einem Militärbunker. Hier konnte man Mathematik, Naturwissenschaften und Ingenieurswesen studieren. Littleton, erbaut in den 1960ern, war den Kunst- und Theaterwissenschaften gewidmet. In seinen heiligen Hallen und auf den umliegenden Grünflächen bauten die Studenten ihren eigenen Grünkohl an, machten Cider aus den Äpfeln des college-eigenen Obstgartens und hielten Schafe zur Wollgewinnung.

Die Clubs, Vereine und Studenten-Zentren waren jeweils in einem der Universitätsgebäude untergebracht und lagen im Umkreis von einer Meile. Fast alle waren »Fünf C«-Organisationen, standen also allen Studenten des Collegeverbundes offen. Es gab unzählige Möglichkeiten, Gleichgesinnte zu treffen oder neue Leute kennenzulernen, das LGBT-Zentrum war nur eine von vielen. Das Türschild hing offenbar schon eine ganze Weile, denn jemand hatte mit dickem schwarzen Marker ein großes Q hinter das T gemalt.

Als Decker und McAdams eintraten, bimmelte ein Glöckchen. Drinnen war es stickig, da es draußen noch ziemlich warm war und das Zentrum keine Klimaanlage hatte. Stattdessen standen mehrere Ventilatoren in einer Ecke und bliesen lauwarme Luft in den Raum. Auf einem großen Tisch lagen Stapel von Broschüren zu Themen wie sexueller Identität – musste man sich überhaupt für eine entscheiden? – bis hin zum »besten Safer Sex, den du je hattest«. Kurz darauf trat eine zierliche junge Frau aus dem Lagerraum. Sie hatte blaue Augen und einen Pixie-Cut und reichte den beiden Detectives ihre manikürte Hand mit pink lackierten Nägeln.

»Arianna Root.« Zuerst begrüßte sie McAdams, dann Decker. »Wie schön, dass Sie Ihren Sohn herbegleiten. Das zeigt, wie sehr Sie ihn akzeptieren. Ich darf Ihnen beiden versichern, die Fünf Colleges gehören zu den liberalsten und tolerantesten Hochschulen des Landes. Hier wirst du keinerlei Probleme haben. Kann ich etwas Bestimmtes für dich tun?«

Decker drehte sich abrupt zu McAdams um, als dieser sagte: »Er ist nicht mein Vater, und ich bin nicht schwul. Muss Ihnen aber nicht peinlich sein, hab ich beides schon öfter gehört …« Tyler hielt ihr seinen Ausweis hin.

Schlagartig veränderte sich der Gesichtsausdruck der jungen Frau von freundlich zu argwöhnisch. »Sie sind von der Polizei?«

»Ja, wir beide. Mein Name ist Detective McAdams, das ist Detective Decker.«

»Moment.« Arianna verschwand und kam mit Verstärkung wieder. Ihr Kollege hieß Quentin Lewis, schien ungefähr zwanzig zu sein, hatte kurze Haare und braune Augen und trug jede Menge Ohrschmuck: Ringe, Stecker und Ohrklemmen. Er war schmächtig gebaut und hatte ebenfalls pink lackierte Nägel.

Nachdem sie sich vorgestellt hatten, brachte Decker gleich ihr Anliegen zur Sprache: »Weiß einer von Ihnen beiden, was gerade am Bogat-Wanderweg passiert ist?«

»Den kenn ich gar nicht«, antwortete Quentin. »Wandern ist nicht so mein Ding.«

McAdams erzählte den beiden von der Leiche. »Wir wissen nicht, ob der Typ schwul war, aber er hatte sehr lange Haare, einen Ohrring und lackierte Nägel, weswegen wir zuerst mit Ihnen hier am Zentrum sprechen wollten. Wir haben keine Vorurteile, Sie müssen uns also jetzt nicht bekehren. Es geht einfach nur darum, irgendwo anzufangen.«

»Welche Farbe hatte noch mal sein Nagellack?«, fragte Arianna.

»Ein Lilaton, der aber vermutlich mit der Zeit verblasst ist.«

»Also ursprünglich recht dunkel?«

»Anzunehmen.«

»Unsere Erkennungsfarbe ist Knallpink, wenn er einer von uns gewesen wäre, hätte er keine so dunkle Farbe genommen. Vor ungefähr fünf Jahren war dunkellila Nagellack total in. Klingt nach Vex oder Vampire. Wie alt ist die Leiche?«

»Die exakte Datierung steht noch aus«, antwortete McAdams. »Aber fünf Jahre, das kommt schon hin.«

»Da war ich natürlich noch nicht hier.«

»Gibt es jemanden, der damals schon hier gearbeitet hat?«, fragte Decker.

»Nein, das Zentrum wird von Studenten geführt«, antwortete Quentin.

»Was ist mit den Professoren?«

»Unser Service ist nur für Studenten«, erläuterte Arianna. »Wir haben LGBT-Dozenten, die uns unterstützen und an den Veranstaltungen teilnehmen, um ihre Solidarität zu zeigen. Aber das Zentrum leiten wir.«

»Gibt es eventuell Dozenten, die schon seit Jahren mit dem Zentrum zu tun haben?«

Quentin nickte. »Klar.«

»Könnten Sie uns ein paar Namen nennen?«, bat Decker.

»Ich weiß nicht, Privatsphäre und so.« Quentin drehte sich zu Arianna um. »Was meinst du?«

»Ich finde, wir sollten erst die Betreffenden fragen, ob sie helfen wollen. Nicht unsere Entscheidung, tut mir leid.«

In diesem Moment betrat ein graumelierter Mann in den Vierzigern das Zentrum. Er musterte Decker und McAdams argwöhnisch und sah dann zu Quentin und Arianna. »Alles in Ordnung?«

»Wir sind vom Greenbury Police Department.« Decker zeigte dem Mann seine Dienstmarke. »Und Sie sind?«

»Jason Kramer. Ich unterrichte Psychologie am Duxbury College. Was führt Sie her?«

»Gestern Nachmittag haben wir die skelettierten Überreste eines jungen Mannes in der Nähe des Bogat-Wanderwegs gefunden. Jetzt versuchen wir herauszufinden, wer er war. Seine äußeren Merkmale passen auf keinen der männlichen Studenten, die in den letzten fünfzehn Jahren von einem der Colleges verschwunden sind, aber es ist nicht ausgeschlossen, dass er irgendwann hier studiert hat. Wir sind noch in der Anfangsphase unserer Ermittlungen und suchen jemanden, der uns weiterhelfen kann.«

»Gibt es irgendeinen Anlass zu vermuten, der Mann war schwul?«, fragte Kramer.

»Lange Haare, Ohrringe, Nagellack«, zählte McAdams auf. »Aber das hier ist nur eine Richtung, in die wir ermitteln.«

»Wenn er kein Student an einem der Colleges war, wieso sollte es dann eine Verbindung zum Zentrum geben?«, hakte Kramer nach.

»Studenten kommen und gehen. Manche wechseln auf andere Unis, andere kommen hierher. Und nach ihrem Abschluss kommen sie zu Besuch und sehen sich die alten Stätten an.« McAdams lächelte. »Wie Detective Decker schon sagte, wir sind noch ganz am Anfang und versuchen, mit dem zu arbeiten, was wir bislang haben.«

Kramer runzelte nachdenklich die Stirn. »Beschreiben Sie ihn mir noch mal?«

»Lange braune Haare, ein silberner Ohrring. Lila Nagellack auf Finger- und Zehennägeln«, antwortete Decker.

»Dann haben Sie nur die Knochen, Nägel und Haare?« Arianna war schockiert.

»Menschliches Gewebe zersetzt sich schnell, Haare und Nägel bleiben oft wesentlich länger erhalten.«

»Und wie alt sind die Überreste?«, fragte Kramer.

»Ich weiß es nicht. Wir vermuten, sie stammen aus den letzten zehn Jahren, Pi mal Daumen. Oder meinten Sie das Alter des Toten?«

»Beides, schätze ich.«

»Die Knochen gehören zu einem Mann Anfang zwanzig, ziemlich groß, um die eins fünfundachtzig. Laut Coroner hatte er lange, schlanke Finger, Klavierspielerhände, wie er es nannte.« Decker konnte sehen, dass sich bei dem Professor etwas tat. »Kommt er Ihnen bekannt vor, Dr. Kramer?«

»Jason genügt völlig.« Der Mann seufzte. »Vor etwa sechs oder sieben Jahren hatten wir einen Studenten, Lawrence Pettigrew. Sehr begabt. War am Morse McKinley, Hauptfach PoWi.«

»Was ist das?«

»Politik- und Wirtschaftswissenschaft«, erläuterte Quentin. »Man muss sich bewerben, wenn man das im Hauptfach studieren will. Vor sieben Jahren war ich aber noch nicht hier.«

»Während seiner Zeit hier hat Lawrence mal ein Konzert auf dem Christopher Street Day, der Gay-Pride-Veranstaltung, gegeben«, fuhr Kramer fort.

»Da war ich noch in der Mittelstufe«, kommentierte Arianna.

»Lawrence war immer gut drauf«, fuhr der Professor fort. »Total extrovertiert, der sprichwörtliche Mittelpunkt jeder Party. Er hatte sehr lange Haare, aber damals waren sie blond. Er trug nicht einfach Kleidung, sondern richtige Kostüme: flatternde Seidenschals, verrückte Hüte, wild gemusterte Hosen und absichtlich nicht dazu passende Hemden. Außerdem trug er Unmengen an Schmuck – Ringe, Ohrringe, Ketten. An Nagellack erinnere ich mich allerdings nicht.«

Decker notierte die Informationen auf seinem Block. »Wissen Sie, wo der junge Mann wohnt? Nur damit wir ihn ausschließen können?«

»Nein, aber vielleicht die Verwaltung.«

»Und wo würden wir ein Foto von ihm herbekommen?«

»Keine Ahnung.«

»Erinnern Sie sich an Details seines Gesichts, vielleicht Augenfarbe oder Gesichtsform? Hatte er einen Bart? Muttermale? Tattoos?«

»Darauf habe ich weniger geachtet, weil seine Klamotten so schrill waren.« Kramer holte tief Luft. »Er hatte ein längliches Gesicht, aber keinen Bart. Ich glaube, seine Augen waren braun, aber ich bin mir nicht sicher. An Tattoos kann ich mich nicht erinnern.«

»Gut. Und wurde er irgendwann als vermisst gemeldet?«

»Nicht von uns, Detective. Am Ende des ersten Studienjahres ist er von der Uni abgegangen, was wirklich ein Jammer war. Als ich Lawrence das letzte Mal gesehen habe, ging es ihm blendend.«

»Und wann war das?«

»Wie ich bereits sagte, vor etwa sieben Jahren.«

»Irgendeine Ahnung, warum er sein Studium abgebrochen hat?«

»Ich glaube, weil er sich einer Hormonbehandlung unterziehen wollte. Das hat er überall verkündet: wegen seiner geschlechtsangleichenden Operation.«

KAPITEL FÜNF

Decker hielt sich das Handy ans andere Ohr. Er war gerade mit McAdams auf dem Weg ins Verwaltungsgebäude des Morse McKinley. »Ich weiß nicht, ob er als vermisst gemeldet ist, Kev, schau einfach nach, ob du seine Adresse rauskriegen kannst … Lawrence Pettigrew. Soll ich das buchstabieren?«

McAdams recherchierte gerade auf seinem iPhone. »In der unmittelbaren Umgebung von Greenbury ist er nicht gemeldet.«

»Ja, er war auf dem Morse McKinley … bleib mal dran.« Decker drehte sich zu McAdams um. »Was hast du gerade gesagt?«

»Kein Eintrag in der unmittelbaren Umgebung.«

Decker widmete sich wieder seinem Telefonat: »Pettigrew ist angeblich von der Uni abgegangen, um sich einer Geschlechtsumwandlung zu unterziehen. Ich versuche gerade herauszufinden, ob ich seine Studienakte einsehen kann. Da sollte ich die Adresse und Telefonnummer seiner Eltern finden. Alles, was du in Erfahrung bringen kannst, würde uns helfen, angefangen mit einem Foto … Okay … danke, Kevin. Bis später.«

Tyler war etwas eingefallen: »Hör mal, wenn er eine Geschlechtsumwandlung hatte, könnte er jetzt unter einem weiblichen Namen gemeldet sein.«

»Stimmt, aber seinen Nachnamen hat er wahrscheinlich beibehalten. Sieh dir noch mal die vermissten Frauen auf unserer Liste an, ob eine ähnliche körperliche Merkmale hat wie Pettigrew.«

»Die größte Frau auf der Liste ist eins fünfundsiebzig, Caroline McGee. Brünett mit blauen Augen. Sie kommt aus dem Großraum Boston.« Tyler rief ihr Bild auf und hielt es Decker hin.

Eine unscheinbare Frau, spießige Uniform, schulterlanges braunes Haar. Und sie war älter, ungefähr fünfunddreißig. Decker schüttelte den Kopf. »Die Haare könnten mittlerweile länger sein, aber das Alter passt nicht.«

»Ganz nebenbei, was ist denn jetzt die richtige Bezeichnung für die Leiche? Er, sie oder gar ›es‹?«

»Ich würde sagen, wir bleiben bei ›er‹, bis wir definitiv wissen, dass er offiziell eine Frau war.«

»Okay. Wir haben nicht sehr viel Schmuck bei ihm gefunden. Falls er ’ne Menge auffälliges Zeug getragen hat, als er ermordet wurde, steht zu vermuten, dass derjenige, der ihn verscharrt hat, die Sachen an sich genommen hat. Der Ohrring war nicht besonders groß. Vielleicht hat der Täter ihn einfach übersehen.«

»Du hast recht.« Decker seufzte. »Warum sollte Pettigrew überhaupt hier gewesen sein, wenn er gar nicht mehr auf dem College war?«

»Wie gesagt, vielleicht hat er Freunde besucht.« McAdams dachte einen Moment nach. »Angenommen, er war hier, um alte Kumpel zu treffen. Was könnte dazu geführt haben, dass ihn jemand ermordet und im Wald vergraben hat?«

»Das Erste, was mir einfällt, ist Schwulenhass.«

»Jemand von den Colleges oder aus der Stadt?«

»Das weiß ich natürlich nicht. Die Colleges geben sich supertolerant, aber einzelne Studenten können trotzdem Vorurteile haben. Vielleicht war’s auch jemand aus Greenbury selbst.«

»Hier leben doch hauptsächlich Rentner«, merkte Tyler an.

»Stimmt, aber Hamilton ist nur zehn Meilen entfernt, und das ist eine Arbeiterstadt mit hoher Arbeitslosenquote, seit die Klimaanlagenfabrik in Elwood dichtgemacht hat.«

Decker dachte einen Augenblick nach.

»Ich habe jetzt zwei Winter in Greenbury erlebt: Viele junge Leute aus Hamilton habe ich nicht in den Kneipen gesehen, das wäre mir aufgefallen. Allerdings werde ich auch nur in die Studentenläden gerufen, wenn’s Probleme gibt. Trotz der Sache am Wochenende ist das nicht allzu oft.«

»Stimmt, kommt nicht oft vor«, gab McAdams ihm recht. »Ich weiß noch, als ich gerade hier angefangen hatte, musste ich mal im College Grill ’ne Schlägerei unter Besoffenen schlichten. Gab zwar keine Waffen, aber jede Menge blutige Nasen. Die College-Jungs haben behauptet, die Kids aus der Stadt wären extra reingekommen, um Stunk zu machen. Und die anderen, sie hätten nur was trinken wollen, und die Jungs aus dem College hätten sie angegriffen. Wir haben alle nach Hause geschickt, damit sie sich beruhigen. Gab keine Festnahmen.«

»Dann weißt du auch nicht, wer damals beteiligt war.«

»Nein. Das haben damals hauptsächlich Kevin und Ben geregelt. Ich war neu, hatte von nichts ’ne Ahnung und bin allen auf die Nerven gegangen, da wollte keiner viel mit mir zu tun haben.«

»Kommt mir bekannt vor.«

»Sehr witzig.«

»Du bist seit drei Jahren dabei, oder?«

»Ungefähr.«

»Erinnerst du dich noch an … Moment.« Decker sah in seinem Notizblock nach. »Delilah Occums Verschwinden?«

»Das war ungefähr sechs Monate bevor ich hier anfing. Außerdem suchen wir nicht nach ihr, sondern nach ’nem Typen. Ich wollte damit nur sagen, es kann sein, dass ein paar besoffene Kids Pettigrew zusammengeschlagen haben. Als sie dann gemerkt haben, er ist tot, haben sie sich Schaufeln besorgt und ihn vergraben.«

»Möglich. Aber zuerst müssen wir rausfinden, ob Pettigrew überhaupt als vermisst gemeldet ist. Könnte ja auch sein, dass es ihm gut geht und er irgendwo glücklich und zufrieden als Frau lebt.«

»Das würde bedeuten, Frauen sind glücklich.«

Decker musste lachen. »Ja, davon gibt’s ’ne ganze Menge, Tyler.«

»Auch wieder wahr, Boss. Wahrscheinlich sind sie nur nicht glücklich mit mir …«

Nachdem Decker und McAdams im Verwaltungsgebäude von Pontius nach Pilatus geschickt worden waren, fanden sie schließlich jemanden, der bereit war, ihnen Auskunft zu erteilen, aber selbst der war nicht sonderlich hilfsbereit. Leo Riggins war etwa fünfunddreißig und adrett gekleidet. Er trug eine Nickelbrille, hatte eine kleine Nase und große Ohren. Am Morse McKinley arbeitete er seit zehn Jahren.

»Ich verstehe nicht, warum ich Ihnen das verraten soll, wenn der ehemalige Student gar nicht als vermisst gemeldet ist«, beschwerte sich Riggins.

»Falls es sich um seine Leiche handelt, wurde er das aber vermutlich«, knurrte Decker. »Wir wissen nur nicht, wo das geschehen ist. Deshalb wüssten wir gerne, wo er herkommt. Wenn wir ihn ausschließen können, können wir in eine andere Richtung ermitteln.«

»Ohne sein Einverständnis kann ich Ihnen seine Telefonnummer nicht aushändigen.«

»Na, wenn Sie das bekommen, hat sich der Fall ohnehin erledigt …«, kommentierte McAdams.

»Wenn die Handynummer irgendwo in den Unterlagen aufgeführt ist, rufen Sie ihn an, und reden Sie mit ihm«, fuhr Decker fort. »Das verletzt seine Privatsphäre nicht, und wir vom Greenbury PD wissen, dass wir woanders weitersuchen müssen.«

»Ach ja, Pettigrew könnte mittlerweile eine Frau sein«, merkte McAdams an. »Anscheinend hat er das Studium abgebrochen, um sich einer geschlechtsangleichenden Operation zu unterziehen. Also falls eine Frau drangeht, fragen Sie sie, ob sie früher Lawrence Pettigrew hieß.«

»Ich sollte besser meinen Vorgesetzten rufen.« Riggins wurde zunehmend nervös.

»Es ist nur ein Anruf, Mr. Riggins«, sagte Decker. »Bitte helfen Sie uns.«

»Warten Sie. Ich sehe erst nach, ob ich etwas in den Unterlagen finde.«

»Danke.«

»Sie sollten wirklich einen ordnungsgemäßen Durchsuchungsbeschluss mitbringen oder wie das bei Ihnen heißt, wenn Sie die Akten einsehen wollen.«

»Falls sich herausstellen sollte, dass es sich bei der Leiche im Wald tatsächlich um Lawrence Pettigrew handelt, werden wir genau das tun.«

Riggins biss sich auf die Unterlippe. »Wie furchtbar! Da bin ich schon wandern gewesen. Wirklich gruselig. Da fragt man sich, was da oben noch so rumliegt. Gab es noch mehr schaurige Funde?«

»Bislang nicht«, antwortete Decker. »Sie sagten, Sie sind seit etwa zehn Jahren hier?«

»Richtig.«

»Und Sie erinnern sich nicht an Lawrence Pettigrew?«, hakte Decker nach. »Von dem, was wir gehört haben, war er ein ziemlich auffälliger Typ mit quietschbunter Kleidung, der ständig Klavier gespielt hat.«

»Ich habe wenig direkten Kontakt mit den Studenten. Wenn es ein Problem mit den Unterlagen gibt, schreibe ich schnell eine Mail und bitte sie, die Sache zu regeln. Meist geht es darum, dass sie ihre persönlichen Angaben auf den neuesten Stand bringen müssen. Geht alles online.«

»Also sehen Sie die Studenten eher selten«, fasste Decker zusammen.

»Ganz genau.« Riggins scrollte durch die Dokumente auf seinem Bildschirm und pfiff tonlos vor sich hin. »Tatsächlich, hier steht eine Handynummer.« Er murmelte die Ziffern vor sich hin, und nachdem er sie auf dem Festnetzapparat auf seinem Schreibtisch gewählt hatte, griff Decker den Hörer.

Riggins sah ihn ungläubig an. »Ähm?«

»Hier geht es um Mord, da sollten Sie mich das besser machen lassen.« Der Anschluss existierte nicht mehr. »Hm, nicht gut«, sagte Decker. »Hat er die Nummer seiner Eltern angegeben?«

»Das hat er.« Riggins wählte und reichte Decker den Handapparat.

»Danke.«

»Wenn der Junge vermisst wird oder gar tot ist, will ich keinesfalls mit seinen Eltern sprechen.«

»Ist auch besser so.«

Der Anrufbeantworter.

Hallo, Sie haben die Pettigrews erreicht. Bitte hinterlassen Sie Ihren Namen und eine Telefonnummer, wir rufen schnellstmöglich zurück.

Piep.

Decker sprach seinen Namen, Rang und Identifikationsnummer auf das Band, nannte aber nicht den Grund seines Anrufs. Falls Lawrence Pettigrew noch lebte, war es besser, keine Panik zu verbreiten. Und falls er tatsächlich vermisst wurde, wüssten die Eltern ohnehin, warum die Polizei sich bei ihnen meldete.

Als sie gerade das Collegegelände wieder verlassen wollten, hörte Decker entfernt jemanden »Detectives!« rufen. Er und McAdams drehten sich um. Es war Arianna Root, die ihnen hinterhergelaufen war und jetzt winkte. Sie winkten zurück. Als die junge Frau schließlich zu ihnen aufgeschlossen hatte, hob sie nur die Hand, während sie versuchte, wieder zu Atem zu kommen.

»Nur die Ruhe«, sagte Decker.

»Können wir …« Arianna rang noch immer nach Atem. »Können wir uns irgendwo ungestört unterhalten?«

»Auf dem Revier gibt’s Vernehmungszimmer«, schlug McAdams vor.

Root winkte ab. »Ich dachte eher an ein Café.«

Decker sah auf die Uhr. Fast Mittag. »Wir wär’s mit dem Bagelmania? Ist nur zwei Blocks von hier, und wir können zu Fuß gehen.«

»Ja, okay.« Root hielt sich im Gehen die Seite. »Sind Sie sich ganz sicher, dass die Leiche Lawrence Pettigrew ist?«

»Nein, überhaupt nicht.« Decker drehte sich zu ihr um und sah sie eindringlich an. »Sie kannten ihn also besser.«

»Ja, aber vor Jason und Quentin wollte ich nicht darüber sprechen.«

»Kann ich verstehen«, sagte Decker. Sie hatten das Café erreicht und suchten sich einen Tisch. McAdams kümmerte sich um die Bestellungen, während Decker seinen Notizblock hervorzog.

»Wann haben Sie Lawrence das letzte Mal gesehen?«

»Vor ungefähr fünf Jahren.«

»War Pettigrew damals ein Er oder eine Sie?«

»Er war wie eine Frau gekleidet und nahm Hormone. Ob er die OP schon hinter sich hatte? Wohl eher nicht. Wir sind uns rein zufällig begegnet. Er hat mich zuerst wiedererkannt und gesagt, er freut sich total, dass ich mir diese Uni ausgesucht habe. Und dass er hofft, ich fühle mich hier wohl. Ich hab ihm gesagt, das täte ich.«

»Und was für einen Eindruck machte er auf Sie?«

»Freundlich wie immer, aber irgendwas schien ihn zu bedrücken. Ich hab gefragt, ob er einen Kaffee mit mir trinken geht, aber er hatte keine Zeit. Also haben wir uns einfach verabschiedet.«

»Könnten Sie mir etwas mehr Kontext geben? Wann haben Sie ihn kennengelernt?«

»Auf dem CSD vor sieben Jahren, als ich mir gerade verschiedene Colleges angesehen habe, vor allem die LGBTQ-Zentren. Ich hatte mich zwar noch nicht geoutet, wusste aber schon Bescheid.«

McAdams kam mit den Bagels und den Getränken zurück, verteilte Essen und Besteck und setzte sich.

Decker brachte ihn auf den neuesten Stand: »Arianna hat Pettigrew auf dem CSD vor sieben Jahren kennengelernt, aber vor fünf Jahren hat sie ihn zufällig noch mal auf dem Campus gesehen. Er nahm Hormone und war als Frau gekleidet, hatte aber noch keine geschlechtsangleichende OP.« Er drehte sich zu der jungen Frau um. »Habe ich das richtig verstanden?«

»Ja.«

»Nannte Lawrence sich damals noch Lawrence?«, fragte McAdams.

»Er stellte sich als ›der ehemalige Lawrence Pettigrew‹ vor. Zu dem Zeitpunkt nannte er sich Lorraine Pettigrew.«

Decker fragte seinen Partner, ob der Name Lorraine Pettigrew auf der Vermisstenliste stand.

»Das kläre ich«, sagte Tyler.

»Und ich starte eine Anfrage mit beiden Namen.« Decker wandte sich Arianna zu. »Erzählen Sie mir mehr von der CSD-Party. Offenbar hat Lawrence einen ziemlichen Eindruck auf Sie gemacht.«

»Er hatte Frauenklamotten an, was aber nicht weiter auffiel, weil viele Jungs so rumliefen. Die Kostüme waren total ausgeflippt: Lederchaps mit nichts drunter, Federschmuck auf dem Kopf, Engelsflügel, Leder-G-Strings zu Ledermaske und Peitsche.«

»Klingt wie Halloween im Village«, kommentierte Tyler.

»Ja, so ungefähr. Die Party ist von der Univerwaltung nicht offiziell genehmigt, aber solange wir uns einigermaßen benehmen, haben sie nichts dagegen. Lawrence hat mich angesprochen und sich vorgestellt. Er war total nett, sehr lustig und herzlich. Ich habe ihm gesagt, dass ich mich für das Morse McKinley interessiere, und wir haben uns fast eine halbe Stunde lang unterhalten. Lawrence konnte sich gut ausdrücken und war intelligent: Wegen ihm hab ich mich dann auch für dieses College entschieden.«

»Und als Sie ihn vor fünf Jahren wiedergetroffen haben, haben Sie sich fünf Minuten unterhalten, und das war’s?«

»Na ja, als ich mit dem Studium anfing, hat er schon nicht mehr hier studiert. Und als ich ihn dann wiedergesehen habe, wollte ich natürlich wissen, warum er abgebrochen hat. Ob ihm jemand Stress gemacht hat, weil er eine Transfrau war.«

»Also war da doch mehr.« Decker nahm einen Schluck Kaffee. »Was hat Lawrence gesagt?«

»Dass es nichts mit der Einstellung von irgendwem auf dem Campus zu tun hatte und dass alle Verständnis gehabt hätten. Er hat aus persönlichen Gründen aufgehört, wegen seiner OP. Und dann hat er gesagt, er freut sich, dass ich jetzt am Morse McKinley bin. Das war’s dann auch schon, er musste nämlich dringend weg.«

»Und er hat keine Andeutungen gemacht, warum er zu Besuch am College war?«, hakte McAdams nach.

»Nein, gar nicht.«

»Wissen Sie, ob er sich mit einem der Dozenten besonders gut verstanden hat?«, fragte Decker. »Oder gab es jemand anders, den er vielleicht besuchen wollte?«

»Zum Beispiel Jason Kramer?«, schlug McAdams vor.

»Jason ist zwar schon lange hier, aber so, wie er über Lawrence geredet hat, kann ich mir nicht vorstellen, dass sie enger bekannt waren. Dass Lawrence schwul war, ist das eine. Er war aber auch sehr begabt.«

»Aber Sie wissen nicht, mit wem er befreundet war?«

»Nein, aber so groß ist das Morse McKinley nicht. Sie wissen ja auch noch gar nicht, ob er’s überhaupt ist.«

»Stimmt.«

»Verstehen Sie das bitte nicht falsch«, schaltete sich McAdams ein. »Aber es wäre vielleicht hilfreich, wenn Sie uns beschreiben könnten, wie Lawrence als Frau aussah.«

Arianna wirkte langsam genervt. »Groß, geschminkt, großer Busen. Seine Haare waren immer noch lang, aber die waren jetzt braun. Enge Jeans, Pulli und Stiefel.«

»Gutes Gedächtnis«, bemerkte Decker.

»Lawrence hat mich ja auch ziemlich beeindruckt.«

»Und das war das letzte Mal, dass Sie ihn gesehen haben?«

»Ja.«

»Danach sind Sie nicht in Kontakt geblieben, ab und zu ein Anruf oder so?«

»Nein. Sie wissen ja, wie das ist. Ich hatte genug mit meinem eigenen Leben zu tun.«

»Natürlich.«

Root stand auf. »Ich muss los, gleich hab ich ein wichtiges Seminar.«

»Wie kann ich Sie erreichen, falls ich noch Fragen habe?«

»Warum sollten Sie das?«

»Man weiß ja nie. Geben Sie mir Ihre Handynummer?«, fragte Decker. Nachdem er sich die Nummer notiert hatte, reichte er der jungen Frau seine Karte. McAdams tat dasselbe.

Root warf einen kurzen Blick darauf, dann stopfte sie die Karten in ihren Rucksack und verließ, ohne sich zu verabschieden, das Café.

»Was denkst du?«, fragte McAdams Decker.

»Macht einen glaubwürdigen Eindruck. Sie hat uns von sich aus erzählt, was sie wusste.«

»Vielleicht wollte sie uns auf eine falsche Fährte locken.«

Decker erhob sich schmunzelnd. »Immer so misstrauisch.«

»Nützliche Eigenschaft in unserem Berufsfeld.« Tyler grinste. »Noch besser für einen Rechtsanwalt. Bei beidem hab ich zwar erst reingeschnuppert, aber ich kann schon mal sagen, Mandanten lügen noch wesentlich mehr als die Verdächtigen, mit denen ich bislang zu tun hatte.«

»Die nehmen sich nicht viel.« Deckers Handy klingelte. Er kramte es hervor und sah kurz auf das Display. »Nicht aus Upstate.« Er drückte auf »Annehmen«.

Die Frau am anderen Ende verzichtete auf jegliche Begrüßungsfloskel: »Er ist tot.«

Decker brauchte einen Moment, bis er darauf kam, wer es sein konnte. »Mrs. Pettigrew?«

Stille. Dann: »Sie baten um Rückruf.«

»Danke, dass Sie sich melden. Von wo aus rufen Sie an?«

»New York, Staten Island. Ich vermute, es geht um meinen Sohn Lawrence? Haben Sie seine Leiche gefunden?«

»Da Sie nicht um den heißen Brei herumreden, komme ich ebenfalls gleich zur Sache: Ich bin vom Greenbury PD. Wir haben in der Nähe eines beliebten Wandergebiets eine Leiche gefunden und sind dabei, deren Identität festzustellen.«

»Also wissen Sie nicht genau, ob es Lawrence ist.«

»Richtig. Haben Sie Ihren Sohn als vermisst gemeldet, Mrs. Pettigrew?«

»Ja, vor fünf Jahren.«

»Können Sie sich an das genaue Datum erinnern?«

»Am 9. Dezember.«

»Verstehe.« Das passte definitiv in den Zeitrahmen. »Wo war das, bei welcher Polizeibehörde?«

»Wir wohnen auf Staten Island, aber Lawrence lebte damals nicht bei uns. Ich wusste aber nicht, wen ich sonst anrufen sollte, also habe ich die örtliche Polizeibehörde eingeschaltet.«

»Gut, falls ich weitere Informationen brauche, wende ich mich an die.« Decker hielt inne.

»Glauben Sie, es ist Lawrence?«, fragte Mrs. Pettigrew. »Sie müssen doch eine Vermutung haben, sonst hätten Sie mich nicht angerufen.«

Decker ging nicht darauf ein. »Ich frage nicht gerne, aber gibt es vielleicht zahnärztliche Unterlagen?«

»Also lag die Leiche schon eine ganze Weile dort.«

»Sie haben genau begriffen, worum es geht, Mrs. Pettigrew.«

»Wie viel wissen Sie über meinen Sohn?«

»Ich glaube, alles Weitere sollten wir lieber persönlich besprechen. Von hier aus sind es etwa drei Stunden zu Ihnen, und ich könnte …« Decker sah auf seine Armbanduhr. »… heute Abend gegen sechs oder sieben bei Ihnen sein, je nach Verkehrslage.«

»Das würde gehen. Um die Zeit sollte auch mein Mann zu Hause sein.« Mrs. Pettigrew nannte Decker die Adresse. »Dann sollte ich wohl Lawrence’ Unterlagen beim Zahnarzt abholen?«

»Das würde mir bei meinem Fall außerordentlich weiterhelfen.«

»Dann gehen Sie von einem Mord aus?«

»Ja.«

»Ja, das passt zu Lawrence, Detective. Er hat Schwierigkeiten schon immer magisch angezogen.«

KAPITEL SECHS

Decker telefonierte mit Rina. Sie sagte gerade: »Ich würde aber gerne mitkommen.«

»Ich bleibe nicht über Nacht. Ich rede nur mit der armen Frau und lasse mir die Röntgenbilder geben, dann fahre ich sofort zurück nach Greenbury.«

»Du kannst mich einfach irgendwo absetzen, dann fahre ich allein nach Brooklyn weiter. Wäre doch zu schade, mir die Gelegenheit entgehen zu lassen, die Kinder zu besuchen.«

»Bis du da bist, schläft Lily bestimmt schon längst.«

»Vielleicht darf sie etwas länger aufbleiben, dann kann ich ihr eine Gutenachtgeschichte vorlesen. Willst du denn gar nicht wissen, was ich über Yvette Jones und Delilah Occum rausgefunden habe?«

»Nein, denn die beiden sind nicht meine Leiche, Rina.«

»Der junge Mann verschwand zeitlich zwischen den beiden Mädchen. Bist du nicht wenigstens ein kleines bisschen neugierig?«

»Doch, Vermisstenfälle interessieren mich generell, aber ich verstehe nicht, was Delilah Occum oder Yvette Jones mit dem Jungen aus meinem Fall zu tun haben sollen.«

»Der zum Zeitpunkt seines Verschwindens vorhatte, sein Geschlecht anpassen zu lassen und auch körperlich eine Frau zu werden, richtig?«

Decker war verblüfft. »Denkst du etwa an einen Serienmörder?«

»Ich wollte damit nur sagen, solange du nicht weißt, mit wem du’s zu tun hast, würde es sich doch lohnen, alles in Betracht zu ziehen.«

»Hast ja recht. In zehn Minuten fahre ich vom Revier aus los. Mach dich fertig, ich hol dich gleich ab.«

»Bin ich schon längst. Ich packe uns in der Zwischenzeit etwas Abendbrot ein, dann müssen wir nicht unterwegs irgendwo anhalten.«

Kurze Zeit später stieg Rina mit einer großen braunen Papiertüte auf der Beifahrerseite in Deckers Wagen. Dann drehte sie sich um. »Hast du genug Platz dahinten, Tyler? Ich hab dir den kisay hakoved weggenommen.«

»Und das heißt …?«

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