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Dem Sommer entgegen - zwei Romane von Mary Alice Monroe

hier erhältlich:

DEM HIMMEL ENTGEGEN

Als Ella einen Job als Pflegerin bei dem wortkargen Harris und seiner kleinen Tochter Marion annimmt, hofft sie, ihr eigenes Leben endgültig hinter sich lassen zu können. Zu schmerzhaft waren die Erfahrungen, die sie als Kinderkrankenschwester in der Notaufnahme machen musste. Doch auch in der wildromantischen Einsamkeit South Carolinas lässt ihre Vergangenheit sie nicht zur Ruhe kommen, denn sie spürt, dass sie Tochter und Vater schneller in ihr Herz schließt, als ihr lieb ist. Harris scheint nur seine Pflegestation für verletzte Greifvögel im Kopf zu haben - bis eines Tages Marions Mutter unerwartet wieder auftaucht ...

NUR DIESER EINE SOMMER

Zwei Welten prallen auf einander. Die erfolgreiche Geschäftsfrau Cara hat nur ihre Karriere im Sinn. Brett ist ein engagierter Naturforscher, der weiß, was im Leben wirklich zählt. Und dennoch fühlen sie sich unwiderstehlich zueinander hingezogen. In dem Naturparadies "Isle of Palms" erleben beide einen Sommer der Entscheidungen. Für die Liebe, für das Leben.


  • Erscheinungstag: 12.11.2015
  • Aus der Serie: E Bundle
  • Seitenanzahl: 792
  • ISBN/Artikelnummer: 9783955765149
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Mary Monroe, Mary Alice Monroe

Dem Sommer entgegen - zwei Romane von Mary Alice Monroe

Mary Alice Monroe

Dem Himmel entgegen

Roman

Image

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Deutsche Erstveröffentlichung

Copyright © 2012 by MIRA Taschenbuch
in der Harlequin Enterprises GmbH

 

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

Skyward

Copyright © 2003 by Mary Alice Kruesi

erschienen bei: Mira Books, Toronto

Published by arrangement with

Harlequin Enterprises II B.V., Amsterdam

Konzeption/Reihengestaltung: fredeboldpartner.network, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Claudia Wuttke

Titelabbildung: Corbis Images, Düsseldorf

Autorenfoto: © by Harlequin Enterprise S.A., Schweiz

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN eBook 978-3-95576-243-8

www.mira-taschenbuch.de

eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net

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CONTRETEMPS

Though the world’s dark heart brought me here,

where time was hiding in the unleashed sea,

I will stay in this fragile place

of broken trees and wounded birds

that teach me patience as I watch

them fill the bared branches

like clusters of singing leaves.

I will follow a passing flock of plovers,

who think faster than we can see

when they suddenly turn

and flash their snowy undersides

in one bright act of collected caring consciousness.

They must have heard a warning

in the lost language of the river wind.

But the silent merlin – in pursuit

disarmed, confused, and angry – cackles at his lazy gods.

I see the breath of another god, moving

beneath still wings of the osprey and the eagle

in flight. I see countless angels, rising from the river

with open hands and upturned palms

to hold the wings in place as the animals glide over

this sanctuary and pull the sky back into universe.

Majory Wentworth

Die Figur des Lijah in dieser Geschichte wurde von Gullah, der Tradition der afro-amerikanischen Erzähler (griots) inspiriert. Die Gullah-Sprache ist so reich an Worten und so komplex in ihrer Struktur wie die ganze Kultur, und ich hatte das Glück und die Ehre, von Königin Quet, Oberhaupt der Gullah/Geechee-Gemeinschaft, beim Schreiben von Lijahs Passagen unterstützt zu werden. Trotzdem habe ich mir die Freiheit genommen, Wörter zu ersetzen, um es dem Leser einfacher zu machen, den Text in seiner Gesamtheit zu verstehen. Und obwohl der Dialog nicht gänzlich der Gullah-Tradition entspricht, habe ich mich bemüht, die einzigartigen Qualitäten und den Rhythmus dieser bedeutenden Sprache zu bewahren.

1. KAPITEL

Raubvögel: (auch Raptatores genannt) besitzen charakteristische Merkmale, die sie von anderen Vögeln unterscheiden. Sie haben spitze, hakig gekrümmte Schnäbel, um ihre Nahrung zu zerlegen, kraftvolle Beine mit scharfen, gebogenen Krallen an den Füßen, um die Beute zu töten, und eine außerordentliche Sehfähigkeit. Auf dem Gebiet der USA und Kanadas verzeichnet man 38 unterschiedliche Arten von Greifvögeln. Die Spezies der Raubvögel wird in folgende Subkategorien eingeteilt: Bussarde, Habichte, Falken, Weihe, Milane, Adler, Fischadler und Eulen.

Ein kalter, rauer Wind wehte die südkalifornische Küste entlang. Er riss an dem eisbedeckten gelblichen Schlickgras und trieb dichten grauen Nebel von der See an Land. Der dunkelhäutige alte Mann hielt inne, legte den Kopf schief und horchte in den Himmel. Er konnte die Veränderung wie ein Flüstern im Wind hören. Es war kalt. Der Mann zog die Schultern hoch, stellte den Kragen seiner abgetragenen Wolljacke auf, der nun bis an seinen Hut reichte, und vergrub seine Hände tief in den Taschen. Langsam ging er weiter, ließ aber seinen Blick gen Himmel gerichtet.

Der alte Mann musste schon fast eine halbe Meile gelaufen sein, als ein heller, klagender Schrei das Lied des Windes übertönte. Er hielt an, angespannt, erwartungsvoll, und versuchte, durch den dichten Schleier zu sehen, der über der Sumpflandschaft hing. Es war ein friedlicher, ein stiller Morgen. Die blasse Mondsichel schien noch am Himmel. Plötzlich brach ein majestätischer Weißkopf-Seeadler aus dem Nebel hervor. Seine großen, geraden Flügel waren weit ausgestreckt, als er über das Wasser glitt.

“Da bist du!” murmelte der Mann tief befriedigt. Er legte seine großen, knorrigen Hände um den Mund und ahmte mit einem scharfen, klaren Pfiff den Ruf des Vogels nach.

Der Adler zog seine Kreise am Himmel. Die kraftvollen Flügel schwangen majestätisch auf und nieder. Er drehte eine Runde über dem Sumpf, dann endlich erwiderte er den Ruf.

Das ermutigte den alten Mann. Er hob die Hände zum Mund und pfiff erneut, lauter und nachdrücklicher als zuvor. Und der Adler reagierte. Er wendete und flog direkt auf den Mann zu.

Diese Augenblicke genoss Harris Henderson. Er blinzelte und ließ seinen Blick über die weite, offene Wiese schweifen, die von großen, schlanken Kiefern umgeben war. Das Gras war trocken, und der Boden war vom Morgenfrost bedeckt. In nur einem Tag hatte der Winter Einzug ins Land gehalten. Die angenehm milden Temperaturen der letzten Zeit waren unter den Gefrierpunkt gefallen. Er atmete tief ein und fühlte die feuchte Kälte, die sich in seinen Lungen ausbreitete. Die Morgenluft trug den Duft von brennendem Holz – Zeder, wie er vermutete – zu ihm herüber. Der Geruch war so intensiv, dass er meinte, ihn fast schmecken zu können.

Er neigte den Kopf und blickte auf den schlanken Bussard mit den rötlichen Schwanzfedern, den er mit seinen dicken Lederhandschuhen an seine Brust presste. Maggie Mims, eine kräftige Frau, deren Haare in der gleichen Farbe wie die Federn des Vogels leuchteten, schaute ihn aufgeregt an. Ihre Augen funkelten.

Sie nickte kurz.

Harris hielt das Tier nun von seiner Brust weg. Mit der Linken umklammerte er die Flügel des Bussards, und mit der rechten Hand hatte er die Beine gegriffen. Sofort verschärfte sich der wachsame Blick des Vogels, er öffnete seinen Schnabel und versuchte mit aller Macht, seine Flügel zu befreien.

“Ich weiß, du willst fort”, sagte Harris mit ruhiger Stimme.

Er wartete geduldig, bis das Tier sich beruhigt hatte. Sein Blick war voller Bewunderung, voller Liebe. Die Bussarddame war ein wunderschönes Exemplar, mit cremefarbenem Brustgefieder und einem dunklen Streifen am Bauch sowie den charakteristischen roten Federn am Schwanz, die der Gattung ihren Namen gaben. Die Rotschwanzbussarde sind außergewöhnlich gute Jäger, J.J. Audubon nannte sie “die schwarzen Krieger”. Es war kaum zu glauben, dass dieser anmutige, gesunde und kräftige Vogel vor nicht einmal zwei Monaten mit Schusswunden in die Tierklinik eingeliefert worden war. “Jetzt dauert es nicht mehr lange.”

Der Bussard drehte den Kopf, als er Harris’ Stimme hörte, und blickte ihn kämpferisch an – genau diese Wildheit, diese Aggressivität war nötig, um in Freiheit zu überleben. Jeder Muskel im Körper des Vogels war angespannt, alle Sinne auf die Flucht gerichtet. Harris spürte die Erregung des Tieres am eigenen Leib.

In diesem kurzen Moment vor dem Flug versuchte Harris, seinen Geist mit dem des Vogels verschmelzen zu lassen. Er hatte Geschichten von Schamanen gelesen, die diese alte Kunst beherrschten, Mythen von Indianern, deren Geist mit den Adlern aufstieg – Legenden, die beiläufig oder im Scherz erzählt wurden. Noch nie hatte er seine Gedanken mit jemand anderem geteilt, aber in seinem tiefsten Inneren glaubte er, dass in diesen Märchen und Mythen auch ein Funken Wahrheit steckte. Sicher gab es Menschen, die auf einer besonderen, einer Gefühlsebene mit den Vögeln kommunizierten. Er wusste es. Er hatte es gesehen.

Und er litt darunter, keiner von diesen Menschen zu sein. Obwohl er sehr talentiert war, fehlte ihm dieser Instinkt – diese seltene Gabe –, Verbindung aufzunehmen und seinen Geist mit den Tieren aufsteigen zu lassen.

Im Augenblick des Losfliegens bekam Harris eine Ahnung dieser geistigen Verbindung, dieses Geschenks. Wenn der Vogel die Schwingen ausstreckte und sich in die Lüfte erhob und Harris die Geräusche der Flügel und den Luftzug auf seinen Wangen wahrnahm, wusste er für einen Moment, wie es sein musste, zu fliegen. Dann konnte er sich vorstellen, aufzusteigen und die Luft an seinem Körper zu fühlen.

“Fertig?” fragte Maggie.

Der Bussard spürte die bevorstehende Freiheit. Der Griff seiner Klauen um Harris’ Arm wurde fester. Eine Windböe stieß unter seine Federn, doch er zuckte nicht. Die Augen des Tieres waren geradeaus gerichtet, und sein Atem war in der kalten Morgenluft sichtbar. Der Augenblick war gekommen.

“Okay, meine Schönheit”, sagte Harris sanft zu dem Vogel. “Jetzt schicken wir dich nach Hause.”

Er hob den Arm und öffnete gleichzeitig seine Hand. Der Bussard ließ los, schlug ein paar Mal mit den Flügeln und erhob sich in die Luft. Harris seufzte tief, als der Vogel hoch über ihm schwebte.

Der Rotschwanzbussard stieg höher und immer höher. Harris ließ das Tier nicht aus den Augen, verfolgte den Flug und schätzte die Stärke des Vogels ein. Er achtete auf die Gleichmäßigkeit der Bewegungen, um ausschließen zu können, dass der gebrochene Flügel doch noch nicht vollständig verheilt war. Das Überleben in der Wildnis war hart, und ein Raubvogel musste unbedingt erfolgreich bei der Jagd sein, wenn er eine Chance haben wollte. Dieser Vogel jedoch zeigte keine Schwächen mehr, keine vorsichtige Zurückhaltung oder Schonung, und Harris empfand tiefe Freude darüber, dass die Arbeit der Tierauffangstation einmal mehr erfolgreich verlaufen war.

Es war gelungen, auch diesen Vogel, Nummer 1985, zu retten und auszuwildern.

“Wir sollen hier nicht jagen.”

Brady Simmons deutete mit dem Lauf seines 22er-Kaliber-Gewehrs auf ein Schild mit der Aufschrift “Jagen verboten”, das an einer alten, knorrigen Eiche angebracht war. “Steht doch so auf dem Schild, stimmt’s?” sagte er und achtete dabei darauf, es mehr wie eine Frage und nicht wie eine lakonische Feststellung klingen zu lassen.

Sein Vater rieb sich das stoppelige Kinn und erwiderte: “Ich seh kein Schild.”

“Billy Trumplins Dad sagt, dass wir mächtigen Ärger kriegen können, wenn sie uns hier erwischen. Vor allem, wenn wir Vögel jagen. Die Jagdsaison ist vorbei.”

Roy Simmons drehte langsam den Kopf, verengte die Augen und sah seinen ältesten Sohn scharf an. Seine Stimme klang zwar leise, aber dennoch gefährlich. “Willst du mir sagen, was ich zu tun habe, Junge?” knurrte er.

Brady wich zurück. “N… nein, Sir.”

Sein Vater bemerkte den Respekt seines Sohnes. Seine Augen blitzten. “Unsere Familie jagt hier schon seit Menschengedenken. Es ist nicht falsch, sich ein bisschen von dem zu nehmen, was da ist.” Er schulterte sein Gewehr. “Außerdem sind wir nicht zum Spaß hier, sondern um was zu essen auf den Tisch zu bringen. Diese Baumfreunde, die mir das verbieten wollen, sollen ruhig herkommen. Denen werd ich’s schon zeigen.”

Brady nickte kurz und blickte auf die geballten Hände seines Vaters. Er schwieg. Die Whiskeyfahne seines Vaters erfüllte ihn mit Angst und Verachtung.

Roy Simmons griff nach dem Schild, riss es vom Baum und schleuderte es auf den Boden.

Unbewegt beobachtete Brady, wie sein Vater mit der schlammig verkrusteten Sohle seines Schuhs auf das Schild trat. Was für ein Idiot, dachte er bei sich. Er war es leid, seinen Vater darüber schimpfen zu hören, dass die Regierung Land vom Volk gestohlen hätte. Wie konnte den Menschen überhaupt etwas gestohlen werden, was ihnen gar nicht gehörte? Im Übrigen interessierte es ihn nicht, wer das Land besaß – er wollte nur so schnell wie möglich so weit wie möglich weg aus dieser Hölle auf Erden.

Tief befriedigt drehte sein Vater sich um und betrat bestimmt das verbotene Gelände. “Komm schon”, rief er über die Schulter. “Trödel nicht rum.”

Der Wald lag noch in dunklem Schweigen an diesem nasskalten, frühen Morgen. Wenn Brady über die gefrorenen Blätter stapfte, entstand ein Geräusch, das in der Stille des Waldes laut und gefährlich klang. Unzählige Terpentinkiefern wuchsen hoch in den Himmel und standen so eng beieinander, dass man sich leicht verirren konnte, wenn man den Weg nicht kannte. Brady hatte schon immer die Sumpfkiefern bevorzugt, deren lange Nadeln sich im Wind bogen. Sie hatten etwas Majestätisches an sich, wie sie in den Himmel ragten, mit einem mächtigen Stamm und kerzengerade – die Herrscher des Kiefernwaldes. Er liebte sie, auch wenn sein Vater sie hasste. Für ihn waren sie bloß Unkraut, denn ihre Rinde brannte kaum, und sie gaben schlechtes Feuerholz ab. Brady hatte Geschichten aus einer Zeit gehört, als die riesigen Sumpfkiefern das Bild der Wälder prägten. Das war lange bevor die Kettensägen ihr zerstörerisches Werk verrichtet hatten. Dieses Bild hätte Brady gerne gesehen.

Während sein Vater und er sich zwischen den dicht gedrängten Baumstämmen bewegten, sah Brady, wie das Licht der aufgehenden Sonne durch die Blätter brach und dabei den Frost wie Diamanten funkeln ließ. In den dichten Zweigen über seinem Kopf hörte er Eichhörnchen fiepen und etwas weiter entfernt einen Kokardenspecht gegen einen Baumstamm trommeln.

“Jetzt schleich schon nicht so! Wenn du dir nicht die ganze Nacht mit deinen nichtsnutzigen Freunden um die Ohren geschlagen hättest, wärst du jetzt auch nicht so kaputt. Hat lange gedauert, bis du endlich aufgestanden bist. Dabei habe ich dir doch gesagt, dass wir heute Morgen jagen gehen.”

Brady spuckte aus, um den säuerlichen Geschmack seines kargen Frühstücks loszuwerden, das aus trockenen Biskuits bestanden hatte. Er versuchte, mit dem massigen, breitschultrigen Mann in der Tarnjacke Schritt zu halten. Wenigstens ist das für längere Zeit das Letzte, was ich von dem Alten hören werde, dachte er. Denn um die Tiere nicht zu verschrecken, würde er ihm von hier an nur noch zuflüstern, was zu tun war, oder aber ihn anstoßen.

Roy Simmons fragte seinen Sohn nie, was ein guter Platz zum Jagen wäre oder welches Wild er gerne jagen würde. Brady fühlte sich eher wie ein Lakai neben dem talentierten Jäger, der besser als die meisten anderen wusste, wo es Hasen gab, ergiebige Austernbänke oder wo man am besten Vögel aufscheuchen konnte. Und danach suchten sie auch an diesem Morgen. Vielleicht fanden sie einen Fasan oder sogar Wachteln … sie brauchten etwas Besonderes für das Weihnachtsessen am nächsten Tag.

Fast alles, was sie aßen, hatte ihr Vater gejagt oder gefischt. Die siebenköpfige Familie lebte größtenteils von der Hand in den Mund und versorgte sich selbst. Seine Mutter gab sich viel Mühe, um aus allem, was sein Vater mitbrachte, ein schmackhaftes Gericht zu zaubern, aber der schien nie zufrieden zu sein. Und seit das umliegende Land zum staatlichen Naturschutzgebiet erklärt worden war, war es schwieriger geworden. Mehr und mehr Menschen jagten das immer weniger werdende Wild. Roy Simmons musste länger und vor allem geschickter jagen, und doch war die Ausbeute meist gering. Seine stets hungrigen Kinder litten darunter.

Eigentlich ging Roy Simmons lieber allein auf die Jagd, aber seit vor ein paar Tagen die Schulferien begonnen hatten, nahm er seinen ältesten Sohn Brady mit auf seine morgendlichen Ausflüge. Meist jedoch kamen sie mit leeren Händen heim. Jeden Tag erlebte Brady, wie sich die Verzweiflung seines Vaters in Zorn wandelte. Er folgte dem stampfenden, schweren Schritt seines Vaters und hoffte nur, dass dieser seine Wut nicht an ihm auslassen würde.

Mehr als eine Stunde hatten sich Brady und sein Vater durch den Marion National Forest geschlagen, ohne auch nur ein Tier zu erlegen. Mittlerweile waren sie einige Meilen von dem heruntergekommenen Haus und der Scheune, die seine Familie ihr Zuhause nannte, entfernt. Das Stückchen Land, auf dem die Simmons wohnten, war vor langer Zeit dem Urgroßvater geschenkt worden. Damals lag es zu abgelegen, um von Wert zu sein. Doch inzwischen dehnten sich die Siedlungen Charlestons immer weiter aus, und Umweltschützer sahen sich gezwungen, jedes Stückchen Land, das sie ergattern konnten, in ein Schutzgebiet umzuwandeln, um die Natur zu retten. Das armselige bisschen Boden der Simmons war ein winziges privates Fleckchen Erde, ganz umgeben von tausenden Hektar Nationalparks. Sein Vater nannte es immer den “Dorn im Hintern des Staates”.

“Meinst du nicht, wir sollten langsam mal umkehren?” fragte Brady. Seine Füße schmerzten, und er war müde.

“Wir gehen erst nach Hause, wenn wir etwas zum Essen gefunden haben.”

Brady seufzte leise. Er konnte kaum noch seine Augen offen halten, und seine Füße in den schweren Stiefeln waren eiskalt. Müde trottete er seinem Vater hinterher. Er hasste es, so früh am Morgen aufstehen zu müssen. Und er hasste es, in diesem verdammten Wald herumzuhängen, hungrig und frierend, wobei er sich doch nichts sehnlicher wünschte, als in sein warmes Bett zu kommen. Auch wenn er sich sein Zimmer mit seinem Bruder und dem Hund teilen musste. Niemals würde er es seinem Vater gegenüber zugeben, aber er hasste die Jagd. Es war langweilig und sinnlos, so wie die meisten Dinge in seinem Leben.

Endlich kamen sie an die Stelle, wo der Wald endete und in eine Sumpflandschaft überging. Sein Vater hielt inne, das Gewehr hing über seinem Arm, und er betrachtete die weite Ebene.

Ein scharfer Wind wehte vom Ozean herüber. Er brannte auf Bradys Wangen und erweckte die Lebensgeister in ihm. Brady ließ sein Gewehr sinken und betrachtete in stiller Ehrfurcht den wunderschönen Himmel. Der Morgen kündigte sich an, und zartrosa Streifen hingen am klaren, blassblauen Himmel. Doch eine Armada von tief hängenden, grauen Wolken zog bedrohlich den Horizont auf.

“Schau! Da!” Sein Vater stieß ihn unsanft in die Seite und deutete auf etwas.

“Wo?”

“Na, da! Direkt über dem Sumpf. Auf neun Uhr.”

Brady wendete seinen Kopf und sah einen gewaltigen schwarzen Vogel über die Landschaft schweben. Die Schönheit dieses Anblicks war überwältigend.

“Los, Junge. Nimm ihn ins Visier!”

Sein Vater hatte ihm die seltene Gelegenheit gegeben, ein Tier zu erlegen. Brady war starr vor Schreck. Wertvolle Sekunden verstrichen, während er ungeschickt versuchte, das Gewehr genau anzusetzen.

“Beeil dich, sonst verlierst du ihn!”

Nein, ich verliere ihn nicht, dachte er bei sich, wohl wissend, das diese Gedanken ihn von dem Vogel ablenken könnten. Er hörte das Blut in seinen Ohren rauschen. Adrenalin schoss durch seine Adern, als er gespannt durch das Zielfernrohr sah.

“Er dreht eine Kurve”, hörte er seinen Vater sagen. “Er kommt direkt auf dich zu.”

“Ich kann ihn nicht sehen!”

“Er ist zurück in den Nebel geflogen. Macht nichts. Warte ab. Sei auf der Hut.”

Brady entsicherte die Waffe, legte seinen rechten Zeigefinger auf den Abzug und wendete seinen Blick nicht von dem Punkt, an dem der Vogel wieder auftauchen musste. Er versuchte, sich zu beruhigen, tief einzuatmen, damit er den Schuss sicher abgeben konnte und sein Ziel nicht verfehlte. Sein Vater würde ihm keine zweite Chance geben, wenn er das Tier nicht erlegte.

Okay, wo bist du? Eins … zwei … drei … Plötzlich brach der Vogel aus der Nebelwand hervor – genau an der Stelle, die Brady im Blick hatte. O ja, es war wirklich ein stattliches Tier. Ein wirklich riesiger Vogel. Er ermahnte sich selbst zur Ruhe und Besonnenheit, während er zielte. Sein Finger krümmte sich um den Abzug. Brady hielt die Luft an.

Im nächsten Augenblick atmete er aus und ließ mit einem Fluch das Gewehr sinken. “Ich kann nicht schießen. Es ist doch ein Adler.”

“Ein was? Verdammt … Das ist alles, was in diesem verdammten Schutzgebiet noch übrig ist.” Roy schüttelte den Kopf und fluchte leise. “Sie geben uns einfach keinen Platz, um zu jagen, und verbieten uns, Tiere zu schießen. Sieh nach oben! Er kommt auf uns zu. Kühn ist er, mutig, weil er genau weiß, dass wir nicht schießen dürfen. Wahrscheinlich wird er die Hühner eines anständigen Farmers reißen. Ach, zur Hölle. Los, mein Junge. Hol ihn dir!”

“Was? Das kann ich nicht tun. Das ist gegen das Gesetz!”

“Was hat denn das Gesetz mit meinem gottgegebenen Recht zu tun, zu jagen, wie es auch schon mein Vater und mein Großvater getan haben? Der Vogel ist unser Feind, hörst du?”

“Aber der Vogel hat uns doch nichts getan.”

“Das ist kein Spiel, mein Sohn, ich meine es ernst.” Zornig sah er Brady an und sagte mit leiser, bedrohlicher Stimme: “Entweder bist du auf meiner Seite, oder du stellst dich gegen mich.”

Brady zögerte.

Sein Vater schimpfte ihn verweichlicht und feige, warf ihm einen verächtlichen Blick zu und setzte sein Gewehr an.

Brady spürte, wie sich sein Brustkorb zuschnürte, und sah wieder durch sein Zielfernrohr. Sein Finger berührte den Abzug. Das ganze Leben mit seinem Vater erschien ihm wie eine endlose, qualvolle Reihe von Tests.

War er nun auf der Seite seines Vaters, oder war er gegen ihn? In eben diesem Moment, der eine Ewigkeit zu dauern schien, erkannte Brady, dass, wie auch immer er sich entscheiden würde, sein Leben nicht mehr wie vorher wäre.

Der alte Mann strahlte vor Freude und Erregung beim Anblick des majestätischen Vogels mit den mehr als zwei Metern Flügelspannweite, der im Aufwind dahinglitt. Gott wusste, was er tat, als er den Adler erschuf, dachte der Mann. Kraftvolle Schwingen, einen scharfen Schnabel und Krallen, die so lang und so gefährlich waren wie die eines Tigers. Und wie er flog … Er war sich bewusst, dass er der König der Lüfte war. Es gibt auf der ganzen Welt wohl kein schöneres und anmutigeres Tier, dachte der Mann.

Er pfiff erneut und griff in den Beutel, den er umgehängt hatte, um einen Barsch herauszuholen, den er nur für diesen Vogel mitgebracht hatte. Der Adler war mit seinem Nest und mit dem Brüten beschäftigt, und er war hungrig.

“Nun, komm her und hol dir einen Bissen”, sagte er zu dem Tier und hielt den Fisch hoch in die Luft. Wieder pfiff er, klar und laut, bewegte den Barsch hin und her und begann bedächtig, über das Feld zu laufen. Der Adler konnte ihn sehen. Der Mann erkannte das an der Art, wie er am Himmel kreiste.

Plötzlich zerriss das Geräusch eines Gewehrschusses den friedlichen, stillen Morgen. Der alte Mann stolperte vor Schreck. Er riss die Arme nach vorne, der Fisch fiel auf den Boden. Mit hilflosem Entsetzen sah er, wie das Tier am blauen Himmel flatterte, ins Taumeln geriet. Der Atem stockte dem Mann, als er sah, wie der Vogel einen Augenblick in der Luft zu hängen schien, wie die Flügel sich nicht mehr bewegten und wie das Tier dann wie ein Stein zu Boden fiel.

Der Mann schrie seine Qual heraus. Aber sein Schrei wurde hinweggetragen von dem Wind, der über die Sümpfe streifte und dem Mann den Hut vom schlohweißen Kopf fegte. Langsam setzte er sich in Bewegung, ging hölzern, mit steifen Beinen über das gefrorene Feld, bis hin zum Körper des Adlers.

2. KAPITEL

Buteos: Die schwebenden Jäger. Buteos sind mittelgroße Vögel mit breiten Schwingen und einem kurzen Schwanz. Obwohl sie langsam fliegen, sind sie doch Meister im Gleitflug und in der Jagd. Sie bilden eine vielfältige Gruppe mit unterschiedlichsten Lebensräumen und Beutetieren. Die Kategorie der Buteos umfasst den Rotschwanzbussard, den Rotschulterbussard, den Breitflügelbussard, den Präriebussard, den Rauhfußbussard und den Königsbussard.

Harris stand im rauen Wind und sah in den Himmel, bis der Bussard, der nur noch als kleiner brauner Fleck erkennbar war, ganz verschwunden war. Er suchte den Horizont ab, konnte aber keinen anderen Bussard ausmachen; lediglich ein Breitflügelgeier schwebte über die Baumkronen.

Er erinnerte sich an die Erzählungen seines Großvaters, in denen er berichtete, wie man meilenweit über die Felder laufen konnte und dabei fast alle Arten von Greifvögeln zu Gesicht bekam: den Eckschwanzsperber, den Rundschwanzsperber, Rotschwanzbussarde und Rotschulterbussarde, Falken und Weihe – sein Großvater nannte diese kleinen, schnellen Vögel “Sumpfhabichte”. Harris war damals nicht älter als fünf Jahre, als sein Großvater ihn auf seine Wanderungen durch die Felder mitnahm. Während der Ausflüge hielt sein Großvater zwischendurch immer inne, um in den Himmel zu zeigen und zu fragen: “Was ist das?” Harris hatte die Antwort stets mit kindlicher Begeisterung herausgeschrieen. Nie fühlte er sich gemaßregelt, wenn sein Großvater ihn dann korrigierte. Diese Wanderungen waren eine starke, schöne Erinnerung und markierten den Beginn von Harris’ Leidenschaft für Raubvögel. Auch sein Opa hatte Greifvögel geliebt, vor allem die Habichte, und er hatte ihm beigebracht, dass das Erkennen eines Habichts am Himmel nicht so sehr ein Talent als vielmehr eine Kunst ist. Die Farbe des Gefieders sagt bei Raubvögeln nicht so viel über die Art aus wie bei kleineren Vögeln. Er war ein kluger und geduldiger Lehrer, der seinen Enkel in die Kunst einführte, die kleinen Merkmale zu sehen und zu deuten – die Form und Neigung der Schwingen, die Geschwindigkeit der Flügelschläge –, und er lehrte ihn, seiner Intuition zu vertrauen, zu betrachten, wie das Tier sich in der Luft bewegte, bevor er es benannte. Als Harris zwölf war, starb sein Großvater, aber der Junge hatte gelernt, mit Bestimmtheit einen Raubvogel von weitem zu erkennen und zu benennen.

Harris wurde in den frühen 1960er Jahren geboren. Umweltschutz wurde in dieser Generation groß geschrieben – die Menschen sahen die Zerstörung, die z. B. DDT in der Umwelt angerichtet hatte. Schon seit seiner Kindheit hatte er mitgeholfen, Raubvögel vor dem Aussterben zu bewahren. Um die Zahl der selten gewordenen Vögel wieder so ansteigen zu lassen, dass sie den Himmel bevölkerten wie zu Zeiten seines Großvaters, hatten sie noch viel Arbeit vor sich, aber wenigstens waren sie auf dem richtigen Weg. Jedes Mal, wenn Harris ein Tier retten und in die Freiheit entlassen konnte, war er von einem Gefühl tiefer Hoffnung erfüllt.

“Harris!”

Widerstrebend wendete er seine Blicke vom Himmel und sah ein junges, dunkelhäutiges Mädchen, in sauberen, frischen Jeans und einem dicken Fleecepulli, das über die offene Ebene zu ihm herüberlief. Harris winkte ihr zu, um zu zeigen, dass er sie bemerkt hatte, und warf einen letzten Blick in den Himmel. Der Bussard war schon lange fort. Von den Rändern der Wiese zog Nebel auf.

“Mr. Henderson?” rief das Mädchen erneut, atemlos, weil sie so gerannt war. “Ich soll Ihnen sagen, dass Sherry dringend Ihre Hilfe in der Klinik braucht. Jemand hat einen angeschossenen Vogel gebracht.”

Harris stieß einen unterdrückten Fluch aus.

“Ich nehme das hier”, sagte Maggie und bückte sich nach der Ausrüstung. “Solltest du nicht eigentlich mit Marion Weihnachtsgeschenke kaufen gehen? Die Kleine spricht seit Tagen von nichts anderem mehr.”

Er nickte und half, die Ausrüstung zusammenzusuchen. Seine fünfjährige Tochter hatte ihn schon im Morgengrauen geweckt, fertig angezogen mit ihrer besten Hose und ihrem besten Pullover, das Haar mit einem rosafarbenen Plastikband zurückgebunden. Sie war so aufgeregt wegen des gemeinsamen Ferienausfluges, dass sie ihren Toast kaum anrührte und stattdessen einige Gläser Orangensaft trank – mit dem Erfolg, dass sie alle paar Minuten zur Toilette laufen musste. Während er sich auf den Weg nach Hause machte, musste Harris beim Gedanken an seine Kleine schmunzeln. Er hatte sie gefragt, ob sie ein Loch in der Leitung hätte. Das Letzte was er sah, bevor er das Haus verlassen hatte, war Marions trauriger Blick, mit dem sie ihm aus dem Fenster hinterher schaute. Harris hatte ihr zugewunken und gerufen, dass er bald wieder da sein würde, aber sie hatte nicht einmal gelächelt. Er musste den Bussard frei lassen, aber der Gedanke an sein kleines Mädchen versetzte ihm noch immer einen Stich.

“Du hast bis jetzt kein einziges Geschenk für das Kind besorgt, habe ich Recht?” fragte Maggie in die Stille hinein. Gerade liefen sie über die Wiese zum Truck, und sie musterte ihn fragend. Als er nicht antwortete, sagte sie: “Meine Güte, Harris. Hast du wenigstens schon einen Weihnachtsbaum?”

“Sicher. Der Baum steht, und die Lichter sind auch dran, du musst dir also keine Sorgen machen, Mutter Maggie”, sagte er mit einem verschmitzten Grinsen und bemerkte erleichtert, wie sich ihre Züge langsam wieder entspannten. Wenn Maggie erst einmal in Fahrt war, konnte sie so schnell nichts stoppen. “Marion und ich bummeln jeden Heiligabend durch die Stadt, nur wir beide, und sie darf sich etwas Besonderes aussuchen. Das ist sozusagen unsere Tradition.”

“Tradition?” Maggie sah ihn ungläubig an. “Ach, Henderson, mir kannst du nichts vormachen. Ich kenne dich schon zu lange. Du bist ein Einsiedler, der seinen Wald nicht verlassen würde, wenn er nicht müsste, und diese so genannte Tradition ist deine Entschuldigung dafür, die Weihnachtsbesorgungen auf den letzten Drücker zu machen, damit du nicht öfter als unbedingt nötig in die Stadt musst.” Sie war fast so groß wie Harris, und in ihren grünen Augen, mit denen sie fest in seine blickte, flammte ihr Temperament auf. “Keine Ausflüchte mehr heute! Du überlässt den Vogel mir und gehst jetzt nach Hause zu deiner Tochter, um ihr ein schönes Weihnachten zu bescheren.”

Harris grinste und hob beschwichtigend die Hände in die Höhe. “Schon gut, schon gut, ich geh ja. Um dieses Tier kümmerst du dich.”

“Aber Sherry hat gesagt, sie braucht Sie, Harris”, unterbrach das Mädchen die beiden. “Es ist ein Adler. Sie sagt, Sie müssen sich beeilen.” Der kalte Wind pfiff, und das Gesicht des Mädchens war voller Sorge.

Harris warf Maggie einen viel sagenden Blick zu und lief zu seinem Wagen, der am Rand des Feldes geparkt war. Er kümmerte sich um alle Raubvögel, die in der Klinik angeliefert wurden: Habichte, Eulen, Fischadler und Falken. Aber es waren die Adler, zu denen er sich besonders hingezogen fühlte. Seiner Meinung nach konnte es kein anderer Greifvogel mit der Anmut und der Kraft des Adlers aufnehmen. Und es war diese Stärke, die es so schwierig machte, mit diesen Tieren umzugehen. Anders als die kräftige Maggie war Sherry älter und von zierlicher, schlanker Statur, vergleichbar mit einem Wanderfalken. Obwohl sie klug war und schnell reagierte, hatte sie nicht die körperliche Kraft, um mit einem Tier wie dem Adler fertig zu werden. Wenn ein solch großer Vogel eingeliefert wurde, übernahm Harris die Behandlung.

Schweigend sprang Maggie neben ihm in den Wagen. Kieselsteine flogen zur Seite, als die Räder des Wagens sich in Bewegung setzten und Harris auf die Straße bog. Die Wiese, auf der sie die Vögel in die Freiheit entließen, war nicht weit vom Coastal Carolina Center für Raubvögel entfernt. Er stellte den Truck neben dem Haus ab und lief zwischen den Bäumen hindurch auf ein weißes Holzhaus zu, das auf Zinderblöcken stand – die Klinik. Sofort machte er Sherry Dodds aus, seine langjährige freiwillige Helferin, die in voller Schutzbekleidung und offensichtlich sehr aufgeregt neben einem hoch gewachsenen, schlanken, dunkelhäutigen Mann mit schlohweißem Haar stand. Harris Blick fiel auf etwas, das der Mann in seinen Armen hielt, und er stoppte abrupt.

Maggie griff nach seinem Arm. “Oh, mein Gott …”

Er schluckte schwer. Was er da sah, konnte er nicht glauben. Der alte Mann trug einen ausgewachsenen Weißkopf-Seeadler in seinen bloßen Armen. Die Krallen dieses Tieres konnten ganz leicht den Mantel des Mannes zerfetzen, und mit dem spitzen, scharfen Schnabel konnte er dem Gesicht Wunden zufügen wie eine Gewehrkugel.

“Vorsichtig”, warnte Harris Maggie, als sie sich langsam näherten. Sie wollten den Adler nicht erschrecken. Er schien unter Schock zu stehen, bewegte sich nicht, nur seine gelben Augen folgten jeder ihrer Bewegungen mit der typischen Aufmerksamkeit.

“Zum Glück bist du hier.” Sherry atmete erleichtert auf. Sie achtete darauf, leise zu sprechen. Selten sah man sie so angespannt. “Dieser Mann … er kam hier einfach mit dem Adler herein … auf seinen Armen! Ich wusste nicht, was ich tun sollte, so wie er ihn hält …”

Harris nickte kurz. Er kannte die Gefahren genau. Der alte Mann hatte mit einer Hand die Beine des Adlers umfasst, und das war gut, aber er hielt das Tier einfach zu nah an seinem Körper und seinem Gesicht.

Sherry schlüpfte aus der ledernen Schutzkleidung und den langen Handschuhen und reichte sie Harris. Die ganze Zeit über ließ sie den Vogel nicht aus den Augen. Während Harris die Schutzausrüstung überstreifte, begutachtete er den Adler mit geschultem Blick. Sie hatten es hier mit einem sehr großen Tier zu tun, mit glänzendem Gefieder und offensichtlich in guter Verfassung, bevor er angeschossen worden war. An den weißen Federn am Kopf konnte man erkennen, dass es sich um ein ausgewachsenes Exemplar handelte, wenigstens fünf Jahre alt.

“Entschuldigen Sie? Sind Sie der Doktor?” fragte der alte Mann. Sein längliches, wettergegerbtes Gesicht war von Sorge gezeichnet. Er benahm sich zurückhaltend, war fast gänzlich in verwaschenes Schwarz gekleidet, und trotz seiner großen, knorrigen Hände hielt er den Adler fast so zärtlich und behutsam wie eine Krankenschwester einen Säugling. Entweder ist er ein mutige, alter Hase, oder er weiß nicht, welchen Gefahren er sich gerade aussetzt, dachte Harris. Wenigstens hatte er die Klauen fest im Griff.

“Ja, das bin ich. Aber sprechen Sie jetzt nicht. Menschliche Stimmen ängstigen wilde Vögel, und im Moment wollen wir nichts weniger, als diesen alten Jungen noch mehr aufzuregen.”

“Mädchen.”

Harris verengte die Augen. Wenn er die Größe des Vogels in Betracht zog, konnte der alte Mann Recht haben. “Ich muss den Adler aus Ihren Armen holen. Hören Sie mir genau zu. Ich werde mich jetzt dem Vogel nähern und seine Beine mit den Handschuhen umfassen. Wenn ich ›loslassen‹ sage, dann lassen Sie los und entfernen sich so schnell wie möglich. Haben Sie verstanden?”

“Denken Sie, Santee würde mich verletzen?” fragte der Mann. Er schüttelte ganz leicht den Kopf. “Nein, sie würde mir nie etwas tun. Sie kennt mich.”

“Sie kennt Sie?”

Er nickte ernst. “Ich habe ihr den Namen gegeben. Sie kam zu mir, als jemand sie vom Himmel geschossen hat. Ich habe sie gesucht und gefunden – sie lag auf dem Boden. Lebend, Gott sei Dank! Von Ihnen habe ich schon gehört. Wie Sie den Vögeln helfen. Zum Glück ist das Center in der Nähe, und ich konnte gleich herkommen.”

“Sie haben den Vogel hier zu Fuß hergebracht?”

“Ich bin die große Straße heraufgekommen.”

“Wie weit sind Sie gelaufen?”

“Nicht so weit. Den Weg hinunter, vielleicht ein paar Meilen. Aber es hat länger gedauert, weil ich durch den Sumpf gehen musste.”

Harris musste fast auflachen, die Geschichte klang zu absurd. “Wie lange haben Sie den Adler bis hierher getragen?”

“Seit Sonnenaufgang bin ich unterwegs.”

Mittlerweile war es fast neun Uhr. Das bedeutete, dass der Adler seit einigen Stunden verletzt war. Harris sah den Vogel an. Das Tier erwiderte seinen Blick, nicht lethargisch oder mit hängendem Kopf, wie man es von einem Vogel unter Schock vermuten würde, sondern mit beunruhigender Gelassenheit. Nur der Schock konnte diese Regungslosigkeit erklären – und der Schock konnte tödlich sein. Harris musste handeln, wenn er das Leben des Tieres retten wollte. Er warf einen besorgten Blick auf Sherry, die sich ein neues Paar langer Lederhandschuhe angezogen hatte. Sie wartete, bereit, zuzugreifen.

“Der Vogel steht unter Schock”, erklärte er ihr.

“Das habe ich mir schon gedacht. Ein Tuch und die Beruhigungsspritze liegen bereit.”

Harris holte tief Luft, um die Beklemmung, die er in seiner Brust spürte, loszuwerden. Sein Blick begegnete dem des alten Mannes. Der schien keine Angst zu haben. “Okay. Sind Sie so weit?”

“Ja.”

Mit langsamen, bedachten Bewegungen legte Harris seine Hände, die sicher in den Schutzhandschuhen steckten, um die Beine des Adlers. “Ich habe sie. Lassen Sie los.”

Als der alte Mann seine Hände wegnahm, zog der Vogel seine Krallen zurück und wand sich in Harris’ Griff. Schnell packte Harris den Körper und die Flügel und hob den Adler aus den Armen des Mannes. Obwohl der Schuss die Flügel verletzt hatte, war das Tier noch erstaunlich kräftig und versuchte, seine Beine zu beugen, um sich während der Übergabe zu befreien. Aber Harris war erfahren und hatte die Situation schnell unter Kontrolle.

Zwar hatte sich der Adler beruhigt, aber sein Atem ging jetzt schwerer, und er schnappte nach Luft. Sherry trat vor, um ein leichtes Tuch um den Kopf des Tieres zu legen.

“Warum machen Sie das?” fragte der alte Mann.

“Das hilft, sich zu beruhigen”, erwiderte sie.

“Sie haben wirklich Glück gehabt”, sagte Harris und atmete erleichtert auf. “Wenn dieser Vogel nicht unter Schock gestanden hätte, wären Sie jetzt wahrscheinlich auch im Krankenhaus. Vergessen Sie niemals, dass es wilde Geschöpfe sind. Machen Sie nicht den Fehler, ihnen zu vertrauen.”

“Vertrauen ist nie ein Fehler”, sagte der Mann.

Er blickte Harris genauso ruhig und fest an, wie es der verletzte Adler getan hatte. Harris drehte sich unvermittelt um und wandte sich an die beiden Frauen, die neben ihm standen. “Könnt ihr bitte die Aufnahmeformalitäten mit dem Herrn regeln?”

“Schon dabei”, antwortete Maggie und machte einen Schritt nach vorne.

Harris widmete sich nun wieder dem Mann. “Wir danken Ihnen, dass Sie den Adler zu uns gebracht haben. Ich werde ihn in den OP bringen. Sie können Ihren Namen und Ihre Telefonnummer bei Maggie hinterlassen, und wir informieren Sie, wenn wir wissen, was los ist. Danke nochmals für Ihre Mühen.” Er ging zum Behandlungszimmer und ließ ihn zurück.

“Ich warte hier.”

“Wir haben kein Wartezimmer”, erwiderte Maggie freundlich. “Machen Sie sich keine Sorgen, ich rufe Sie gleich nach der Operation an. Es kann Stunden dauern.”

“Das macht nichts. Ich werde einfach draußen warten.”

Maggie schaute fragend zu Harris. In seinen Augen flackerte Verärgerung auf, aber er hatte keine Zeit, um sich mit dem Mann auseinander zu setzen. “Er kann in meinem Büro warten”, sagte er kurz, drehte sich dann um und trug den Vogel hinein.

Die Sonne ging schon unter, als Harris seinen Dienst beendete. An diesem Tag war ungewöhnlich viel los gewesen. Zwei Streifenkäuze und ein Rabengeier waren mit Kopfverletzungen eingeliefert worden, die sie von Zusammenstößen mit Autos davongetragen hatten – das Ergebnis des starken Ferienverkehrs. Nach der Operation waren die Vögel auf die Intensivstation verlegt worden. Er war ein kleiner schmaler Raum direkt neben dem Behandlungszimmer, der zwei lange Regale enthielt, auf denen zwei Reihen Käfige aufgestellt waren. Jeder davon war mit Stoff ausgelegt, der für Dunkelheit und Ruhe sorgen sollte. Stress in Gefangenschaft konnte für wilde Vögel tödlich sein, und das Vogelzentrum tat alles, um die Gefahren für die Tiere zu minimieren.

Bevor Harris das Gebäude abschloss, sah er noch einmal nach dem Adler. In der Dunkelheit seines Käfigs lag das Tier auf der Seite, noch benommen von den Betäubungsmitteln. Die Schrotkugeln, die ihn getroffen hatten, hatten ihn ernsthaft verletzt. Einige Kugeln hatten an sehr kritischen Stellen in seinem Körper gesteckt. Außerdem hatte das Tier Kopfverletzungen erlitten, als es zu Boden fiel. Ob es jemals wieder würde jagen können, musste die Zeit zeigen.

Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, als er den Behandlungsraum verließ. Sein Rücken schmerzte vom stundenlangen Stehen am Operationstisch. Jetzt wünschte er sich nichts mehr, als aus seinem dreckigen Flanellhemd und seiner Jeans zu schlüpfen, seine Wanderstiefel in die Ecke zu feuern, eine Dusche zu nehmen, einen Happen zu essen und dann endlich ins Bett zu fallen. Das Telefon schwieg glücklicherweise, und er wollte Feierabend machen. Gähnend ging er an seinem Büro vorbei und sah den alten Mann noch immer dort sitzen. Er hatte die Ellbogen auf die Knie gestützt und drehte seinen Hut nervös in den Händen. Als Harris ins Zimmer trat, sprang er auf.

“Wie geht es ihr?”

“Für einen Vogel, dem man einen Eimer voll Schrotkugeln aus dem Leib operiert hat, geht es ihr erstaunlich gut. Es war eine langwierige Prozedur.” Er schüttelte den Kopf. “Aber ich muss Ihnen sagen, obwohl sie einige ernste Schusswunden hatte, war doch kein Knochen gebrochen. Ich dachte, das Tier hätte mindestens einen Knochenbruch im Flügel, aber ich habe mich geirrt. Der Adler hat wirklich großes Glück gehabt.”

“Gott sei Dank!” seufzte der Mann.

“Ich denke, ein Teil des Dankes gebührt auch Dr. Henderson”, mischte sich Sherry gut gelaunt ein, die in diesem Moment in Harris’ Büro trat. Sie hatte ihr dunkles Haar, das von hellen Strähnen durchzogen war, unter einer Strickmütze verborgen und zog sich ihren Parka an, während sie zum Abmeldebogen ging.

“Kein Zweifel, kein Zweifel. Und ich bin dankbar. Ich weiß nicht genau, wie ich das wieder gutmachen soll. Aber als ich hier saß und wartete, dachte ich … dass ich vielleicht hier aushelfen könnte. Es müssten einige Reparaturen gemacht werden. Und ich bin ein guter Zimmermann.”

“Sie müssen das nicht wieder gutmachen”, platzte Sherry heraus. “Dafür sind wir ja da – um kranken, verletzten Vögeln zu helfen.”

“Aber das ist ja nicht irgendein Vogel. Das ist mein Vogel.”

Sherry hielt inne und sah Harris an. Er konnte in ihren Augen die Frage lesen, die ihm selbst gerade durch den Kopf schoss. Adler waren eine gefährdete Spezies, die von der Regierung der Vereinigten Staaten geschützt wurde. Niemand konnte einen Adler in irgendeiner Form besitzen. Sogar sie selbst, als Raubvogel Center und Klinik, waren angewiesen, einen Adler nicht länger als neunzig Tage bei sich zu behalten. Für eine Verlängerung des Aufenthaltes brauchten sie eine staatliche Genehmigung.

“Entschuldigen Sie, aber ich habe Ihren Namen nicht mitbekommen”, sagte Harris.

“Mein Name ist Elijah. Elijah Cooper”, antwortete der Mann, streckte die Schultern und reichte Harris höflich die Hand. “Aber die meisten Leute nennen mich Lijah.”

Harris schüttelte seine Hand. Sie fühlte sich groß und überraschend stark an.

“Ich wünsche Ihnen gesegnete Weihnachten, Lijah”, unterbrach Sherry. Ihre Augen funkelten hinter der Brille, sie freute sich auf die Ferien und konnte es kaum erwarten, nach Hause zu kommen. “Dir natürlich auch, du Kauz”, sagte sie zu Harris und umarmte ihn kurz, aber herzlich. “Ich habe für Marion und dich eine Kleinigkeit unter den Baum gelegt”, flüsterte sie ihm leise zu.

“Das musst du doch nicht.” Die kleinen Aufmerksamkeiten, mit denen die Frauen des Vogel-Centers ihn und seine Tochter häufig bedachten, rührten ihn immer wieder. Es schien, als hätten sie eine heimliche Abmachung getroffen, ein Auge auf ihn und Marion zu werfen, die sich ohne Mutter zurechtfinden mussten.

“Natürlich muss ich das. Vergiss nicht, dass ich morgen nicht da sein werde. Und Maggie auch nicht. Aber am 26. werde ich in aller Frühe kommen.”

“Uns wird es schon gut gehen. Hab du nur ein schönes Weihnachtsfest mit deiner Familie. Und fahr vorsichtig. Es schneit ja noch immer.”

“Mach dir um mich keine Sorgen. Sei morgen einfach nur für deine Tochter da. Die Vögel werden einen Tag allein überleben”, rief Sherry über die Schulter, während sie voller Vorfreude auf ihr Zuhause und ihre Familie zum Ausgang lief.

Harris drehte sich zu Elijah um, der geduldig lächelnd wartete, so als hätte er keine Eile, an diesem verschneiten Heiligabend irgendwohin zu müssen. Eigentlich vermied es Harris, sich mit Fremden zu unterhalten oder Smalltalk zu machen, aber die Gelassenheit und Ruhe, die von dem Mann ausgingen, reizten ihn.

“Lijah, ich will Sie nicht aufhalten, aber es gibt etwas, das ich nicht verstehe.”

Er hob den Kopf, und in seinen dunklen Augen blitzte Interesse auf.

“Wie kann der Adler Ihnen gehören? Halten Sie ihn irgendwo?”

“Ihn halten? Meinen Sie in einem Käfig oder so?” Sein runzeliges Gesicht verzog sich zu einem Grinsen. “Nein, Sir. Niemand kann einen Adler halten. Erstens ist es verboten, und zweitens ist es nicht richtig. Adler sind edle Geschöpfe, sie müssen frei sein.”

“Wie meinten Sie dann, dass der Vogel Ihnen gehört?”

“Ich denke, sie hat mich adoptiert.” Lijah bemerkte, wie Harris verwirrt die Stirn runzelte, und erklärte: “Vor Jahren, als sie noch ein schwarzes Federkleid trug, flog sie einmal ganz niedrig neben mir her. Sie wissen, wie die Tiere sind … Sie schwebte dahin, neugierig, und ließ sich auf einem Ast nieder, keine drei Meter von mir entfernt. Sie beobachtete mich. Wahrscheinlich dauerte es nur einige Minuten, aber mir kam es vor, als würden wir uns eine Ewigkeit anschauen.” Er schüttelte den Kopf und lachte leise bei der Erinnerung daran. Dann zuckte er mit den Schultern: “Seitdem halten wir immer Ausschau nach einander. Ich nannte sie Santee, nach dem Fluss, an dem wir uns zum ersten Mal begegneten.”

Harris musterte den alten Mann und wusste nicht, was er von der Geschichte halten sollte. Noch nie hatte er eine derart fantastische Erzählung gehört, aber er konnte auch nicht leugnen, was er mit seinen eignen Augen gesehen hatte. Lijah hatte den Adler mit bloßen Händen in die Klinik getragen.

“Erzählen Sie mir, was heute Morgen passiert ist.”

“Also, Sir, ich lief die große Straße entlang, um Santee zu sehen. Meinen Wagen hatte ich in der Nähe abgestellt, weil ich wusste, dass sie nicht weit entfernt ein Nest hat. Sie würde früher oder später kommen, um zu jagen – das war mir klar. Und sie kam. Dann habe ich sie gerufen.”

“Sie haben sie gerufen?”

“Mmm-hmm. Etwa so.” Er hob die Hände, legte sie um den Mund, ließ sie aber wieder sinken und schüttelte mit einem bedauernden Lächeln den Kopf. “Das lasse ich lieber, sonst hört sie es und versucht zu kommen.”

Harris konnte die Verwunderung kaum unterdrücken. “Sie rufen, und der Adler kommt?”

“Das stimmt. Wie ich schon sagte, wir suchen und erwarten einander. Und sie weiß genau, dass ich immer etwas zu essen für sie dabeihabe. Na ja, heute Morgen habe ich sie also gerufen. Sie drehte eine Runde und kam auf mich zu.” Seine Miene verdunkelte sich. “In dem Moment hörte ich den Schuss. Sie haben sie angeschossen.” Er blickte gequält. “Was sind das nur für Menschen, die so etwas tun? Warum sollte jemand diese wundervollen Geschöpfe verletzen?”

“Das weiß ich nicht”, erwiderte Harris ernst. Diese Frage stellte er sich selbst immer wieder, wenn er Schrotkugeln aus Vogelkörpern operieren musste. “Haben Sie gesehen, wer auf das Tier geschossen hat?”

Lijah schwieg einen Augenblick, bevor er antwortete: “Ja, Sir, ich habe die Täter gesehen. Zumindest habe ich zwei Männer mit Gewehren im Wald erkannt, als ich Santee holen wollte. Sie standen genau dort, von wo das Geräusch des Schusses kam, und ich nehme an, dass sie es waren, die geschossen haben. Aber ich bin nicht zu ihnen gegangen, um sie zu fragen. Es ist, wie es ist.” Seine Augen blitzten auf, als er den Kopf schüttelte. “Sie waren es, da bin ich mir ziemlich sicher.”

“Sie sollten Anzeige bei der Polizei erstatten.”

“Ich habe die Polizei schon angerufen. Ihre Helferin hat mir freundlicherweise erlaubt, das Telefon zu benutzen, und die Polizisten waren da, während Sie Santee operierten. Wir haben uns unterhalten, ich habe Ihnen gesagt, was ich über die Sache weiß, und sie sind wieder gegangen.”

“Gut. Ich hoffe, sie fassen die Bastarde.”

Nachdenklich schürzte Lijah die Lippen. “Sie sagten, Sie haben Schrotkugeln aus Santee geholt? Keine Gewehrkugel?”

“Stimmt. Eine ganze Ladung. Warum?”

“Ach, es gibt keinen besonderen Grund, warum ich fragte – ich war nur neugierig.”

“Noch etwas. Dieser Adler …” Harris machte eine Pause, lächelte kurz und fuhr fort: “Santee. Sie hat eine Brutstelle. Haben Sie gesagt, ihr Nest wäre hier ganz in der Nähe?”

“Ja, Sir. Nicht so weit entfernt von hier. Sie sind gute Eltern, Santee und Pee Dee – ich habe sie nach Flüssen benannt. Das ist das zweite Jahr, in dem sie dieses Nest bebrüten. Beim letzten Mal hatten sie zwei Junge. Das ist der Grund, warum ich überhaupt hier oben im Norden bin. Ursprünglich stamme ich aus St. Helena, aber ich bin den Vögeln hinterhergereist, um sie beim Brüten zu beobachten. Manchmal übernachte ich im Zelt, manchmal kann ich bei Freunden bleiben. Es ist anstrengend, aber das nehme ich auf mich. Santee liebt den Platz zum Brüten. Ich denke, es ist der Ort, an dem auch sie geboren wurde.”

“Das könnte sein. Es ist noch früh in der Saison. Vielleicht hat sie ihre Eier noch gar nicht gelegt.”

“Kann ich Ihnen nicht sagen. Ich bin selbst gerade erst eingetroffen. Die beiden Adler scheinen aber sehr geschäftig zu sein, soweit ich das sehen konnte.”

Harris war drauf und dran, einen Vortrag darüber zu halten, dass Menschen sich von den Gelegen der Greifvögel fern zu halten hatten, um die Tiere nicht zu stören, aber er entschied sich dagegen. Der Mann kannte sich offenbar gut aus, und im Moment brauchte Harris seine Hilfe.

“Könnten Sie mir zeigen, wo das Nest ist?”

Lijah rieb sich das Kinn und runzelte die Stirn. Zögernd sagte er: “Ich denke, das kann ich machen.”

“Lijah, für das männliche Tier wird es schwierig, sich um die Jungen zu kümmern, die vielleicht schon ausgeschlüpft sind. Verdammt schwierig, wenn nicht gar unmöglich, um ehrlich zu sein. Wir müssen das Nest genau beobachten, um eingreifen zu können, wenn er es vernachlässigt.”

“Das hatte ich mir auch überlegt.”

“Wenn wir eventuell …”

Harris’ Aufmerksamkeit wurde durch ein sanftes Ziehen an seinem Hosenbein abgelenkt. Als er runtersah, blickte er in das zarte, blasse Gesicht seiner fünfjährigen Tochter. Marions Haar wurde durch ein Zopfband zusammengehalten und hing ein wenig achtlos und wirr herunter. Die Kleider, die sie heute Morgen angezogen hatte, waren nun schmutzig, und etwas Traubengelee klebte an ihrem Mund, den sie schmollend verzogen hatte.

“Daddy?”

Seine Miene hellte sich beim Anblick der Kleinen auf. “Ja, meine Süße?”

“Gehen wir jetzt einkaufen?” fragte sie quengelig.

Einkaufen. Heiligabend. Es ist schon Abend. All diese Tatsachen trafen ihn wie ein Schwall kalten Wassers. Wie konnte er nur den Ausflug vergessen? Das passierte ihm immer wieder. Er ging so in seiner Arbeit auf, das er die Zeit vergaß und auch alles andere, was er noch tun wollte.

Die Augen seiner Tochter spiegelten kindliche Erwartung und Sehnsucht wider, und er erinnerte sich an Maggies Ermahnungen. Er drehte den Kopf und sah aus dem Fenster. Obwohl es erst vier Uhr war, herrschte draußen schon Dunkelheit. Einige Schneeflocken tanzten im schwachen Licht der Außenbeleuchtung, aber der schlimmste Schneefall war abgeebbt. Harris musste sein Versprechen einhalten. Wenn er sich jetzt beeilte, könnten sie direkt in die Stadt fahren und wieder zu Hause sein, bevor es zu spät war.

“Natürlich, Schätzchen”, sagte er und streichelte ihr über den Kopf. “Gib mir noch eine Minute, um abzuschließen.” Er sah den alten Mann an, der bereits nach seinem Hut griff.

“Ich gehe jetzt besser”, wandte er sich an Harris. “Es ist Weihnachten, und es sieht aus, als hätten Sie was Schönes vor.”

“Das haben wir. Kein guter Abend, um jetzt noch draußen unterwegs zu sein, finden Sie nicht? Kann ich Sie irgendwo absetzen?”

“Nein, Sir. Vielen Dank, aber ich komme schon zurecht.”

“Aber haben Sie nicht erwähnt, dass Sie hierher gelaufen sind?”

“Ja, bin ich. Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf. Meine Freunde wohnen nicht weit von hier.”

“Das nächste Haus ist aber ein gutes Stück entfernt, und man muss durch den Wald gehen. Kommen Sie, ich nehme Sie mit.”

Lijah schüttelte den Kopf und ging zur Tür. “Ich habe den ganzen Tag gesessen. Ein Spaziergang wird mir gut tun. Danke, dass Sie sich um meinen Vogel gekümmert haben. Morgen werde ich reinschauen, um zu gucken, wie es ihr geht, wenn Sie nichts dagegen haben.” Bevor er ging, beugte er sich mit einem warmen Lächeln zu Marion hinunter. “Fröhliche Weihnachten, kleines Fräulein.”

Marion lächelte schüchtern und versteckte sich hinter den Beinen ihres Vaters.

“Wir sprechen uns wieder. Ich würde wirklich gerne zu dem Nest gehen”, sagte Harris.

Lijah nickte, trat aus der Tür und zog sie leise hinter sich ins Schloss.

Harris blickte ihm noch einen Augenblick hinterher. Der Mann hatte einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Mit einem Seufzer sah er aus dem Fenster auf die Schneeflocken, die im grau-blauen Licht des Nachmittags zu Boden schwebten. Er legte den Arm um die schmalen Schultern seiner Tochter und kniete sich neben sie.

“Siehst du dir das genau an?” fragte er. “Es ist schon sehr lange her, dass es hier in South Carolina an Weihnachten geschneit hat.” Er zog das Mädchen an sich heran und drückte es zärtlich. “Es ist das erste Mal in deinem Leben, dass du Schnee siehst. Ich denke, das wird dem alten Weihnachtsmann helfen.”

“Aber du hast mir gesagt, dass es den Weihnachtsmann nicht gibt.”

Er zog die Augenbrauen hoch. “Hab ich das?”

Sie nickte.

Obwohl er den Glauben an solche Dinge wie Märchen, den Weihnachtsmann oder den Osterhasen nicht unterstützte, glaubte er doch fest an die Magie und die Schönheit, die der Natur und dem Menschen innewohnten. Das Leben war voll von harten Tatsachen, wie zum Beispiel Menschen, die eine sportliche Herausforderung darin sahen, einen Adler abzuschießen. Und auch wenn er sich hundemüde und hungrig fühlte, wollte er doch wenigstens heute Abend alles dafür tun, den Zauber lebendig werden zu lassen.

Die grellen Lichter des Kaufhauses blendeten Harris, als er mit Marion an der Hand eintrat. Überall gab es Waren im Überfluss. Wer brauchte all diese Sachen? Leuchtend rote Schleifen, goldenes Lametta und batteriebetriebene Weihnachtsmänner schienen ihn aus den Regalen anzuspringen. Verglichen mit der Ruhe, die in den Wäldern herrschte, dröhnte die laute und aufdringliche Weihnachtsmusik in seinen Ohren. Er drückte die Hand seiner Tochter und unterdrückte den drängenden Wunsch, schneller durch die Gänge zu laufen. Andere Kunden rannten durch das Geschäft und rempelten einander in einer Art blinder Kaufwut an. Er konnte es nicht erwarten, endlich wieder draußen zu sein.

“Daddy, ich hab Durst.” Marions Gesicht schaute aus der Kapuze des pinkfarbenen Parkas heraus, den sie von einer von Maggies Töchtern geerbt hatte. Er war ihr zu klein, viel zu eng und die Ärmel waren zu kurz. Harris wollte ihr einen neuen Mantel kaufen, wenn sie schon einmal hier waren, aber dann dachte er nach. Das Geld war knapp, und in South Carolina war der Winter kurz. Die Jacke musste also noch ein bisschen länger halten.

“Du hast was getrunken, bevor wir losgefahren sind und an der Tankstelle auch. Du kannst doch unmöglich schon wieder Durst haben.”

“Hab ich aber. Kann ich was davon haben?” fragte sie, während sie auf ein bläuliches Mixgetränk in der Auslage einer Snackbar deutete.

“Später vielleicht.”

Marion zog erschöpft an seinem Arm und quengelte: “Ich hab aber jetzt Durst, Daddy.”

Sie klang sehr bestimmt und forderte seine volle Aufmerksamkeit. Er wandte die Augen von den Spielsachen und sah sie an. Ihr Gesichtchen war gerötet, und ihre Augen schimmerten glasig. Wenn er es genau bedachte, hatte sie den Saft heute Morgen in sich hineingeschüttet, als wäre sie kurz vor dem Verdursten. Er fragte sich, ob sie etwas ausbrütete.

“Ich sag dir was”, sagte er und kniete sich neben sie. “Zuerst holen wir dein Geschenk, und wenn du Lust hast, gehen wir ganz schick essen. Du darfst alles bestellen, was du magst. Wie klingt das?”

“Okay”, erwiderte sie matt und warf einen letzten sehnsüchtigen Blick auf die Getränkemaschine.

Es war seine Schuld, dass sie so spät dran waren, und trotzdem war er ein bisschen enttäuscht. Er hatte gehofft, dass sie sich über den Ausflug freuen und nicht hinter ihm hertrotten und jammern würde. Als sie die Abteilung mit den Puppen erreichten, breitete er die Arme aus und sagte mit der Euphorie eines Marktschreiers: “Hast du jemals so viele Puppen auf einmal gesehen, Marion? Und zu Weihnachten kannst du dir aussuchen, welche du willst. Na los. Egal welche.”

Marion ließ seine Hand los und schlich die Regale entlang. Lustlos und mit hängenden Schultern betrachtete sie die Puppen. In ihrem Gesicht war keine Spur von Freude oder Erwartung zu erkennen.

Er seufzte auf und kniete sich neben ihr auf den Boden. “Was ist denn los, Süße?”

Sie zuckte die Schultern.

“Aber du hast doch gesagt, dass du dir eine Puppe zu Weihnachten wünschst.”

Sie schüttelte den Kopf.

“Oh.” Harris war erstaunt, fasste sich aber schnell wieder. “Das macht nichts. Du musst dir keine Puppe aussuchen.”

Zum Glück habe ich noch keine besorgt, dachte er bei sich. Kinder änderten ihre Meinung alle paar Minuten. “Hier gibt es jede Menge Spielzeug. Spiele, Kuscheltiere, Sportsachen … Hey, wie wäre es mit einem Fahrrad?”

Sie drehte sich zu ihm um und sah ihn mit leeren Augen an. “Daddy, du weißt, was ich mir zu Weihnachten wünsche.”

In ihrem blassen, schmalen Gesicht spiegelte sich die Sehnsucht eines einsamen Kindes wider. Es brach ihm fast das Herz. Marion war eigentlich kein weinerliches Kind. Ganz im Gegenteil. Sie wünschte sich selten etwas für sich selbst. Nachdenklich nahm er sie in den Arm und setzte sie auf sein Knie. Er rang nach Worten.

“Süße, du weißt, dass ich dir deine Mommy zu Weihnachten nicht herholen kann. Wir haben doch darüber gesprochen. Das geht nun mal nicht. So ein Wunsch ist Unsinn.”

Marion schob schmollend die Unterlippe vor. “Das ist gar kein Unsinn.”

“Ich weiß, entschuldige. Warum suchst du dir nicht eine Puppe aus, die wie Mommy aussieht? Wäre das nicht gut? Sieh dir die Puppen da an. Die sind sehr hübsch, genau wie sie.”

Wenn sie ihn mit ihren großen, treuen blauen Augen so ansah, erinnerte sie ihn so sehr an ihre Mutter, dass es wehtat. Er küsste ihre zarte Wange. “Na los, geh schon.”

Mit einem resignierten Seufzen drehte Marion sich um und sah erneut die Auswahl an Puppen an. Nach einigen Momenten zeigte sie auf eine Barbie, die ein glitzerndes, leuchtend pinkfarbenes Ballkleid trug. Harris dachte, es sei die grellste und auffälligste Puppe auf dem Regal – und die passendste. Fannie liebte bunte Farben. Er griff nach der Barbie.

“Das ist eine gute Wahl, meine Kleine. Sie ist wirklich hübsch. Wie willst du sie nennen?” Einen kurzen Augenblick lang stockte ihm der Atem – er hoffte, sie würde die Barbie nicht nach ihrer Mutter benennen.

Marion verzog angestrengt das Gesicht, während sie nachdachte. “Lulu”, verkündete sie dann.

Er lächelte. “Perfekt. Du bleibst schön hier und guckst dir die Puppen an. Ich gehe schnell zur Kasse und kaufe die Barbie. Nicht weggehen, hörst du? Versprochen? Daddy ist gleich wieder da, gut so?”

Marion nickte, und er lief mit der Barbie zur Kasse. Offensichtlich war er nicht der Einzige, der auf den letzten Drücker noch Weihnachtseinkäufe machte, aber nur zwei Kassen waren geöffnet, und so hatten sich lange Schlangen gebildet. Ungeduldig stellte er sich an und warf immer wieder angstvolle Blicke über die Schulter, um Marion in der Spielzeugabteilung im Auge zu behalten. Die Schlange schien sich langsam im Rhythmus des Liedes “White Christmas” zu bewegen, das aus den Lautsprechern plärrte. Harris sehnte sich nach der Stille, die bei ihnen zu Hause herrschte, und trommelte nervös mit den Fingern auf der Verpackung in seiner Hand. Schritt für Schritt näherte er sich der Kasse und hatte genug Zeit, die Last-Minute-Weihnachtsgeschenke zu betrachten: dekorierte Lebkuchen, rote Weihnachtsplüschsocken, die mit Süßigkeiten gefüllt waren, ein kleines Plüschrentier und weihnachtliches Geschenkpapier mit Schleifen. Endlich war er an der Reihe. Er legte das Geschenk aufs Band, suchte einige Scheine aus seiner abgegriffenen Lederbörse und reichte sie dem Kassierer. In Gedanken überschlug er die Kosten für das Abendessen und überlegte, ob er noch genügend Geld bei sich hatte.

In solchen Momenten grübelte er darüber nach, ob es die richtige Entscheidung gewesen war, sein Leben dem Schutz von Vögeln zu widmen. Die meisten Biologen, die mit der Pflege und dem Schutz der Natur beschäftigt waren, konnten diese Bedenken nachvollziehen. Es war ein schwieriger Job, der viel Zeit und einige Opfer abverlangte. Außer Frage stand, dass sie die Arbeit liebten und sich nicht vorstellen konnten, etwas anderes zu tun, aber man musste auch einiges aufgeben und viele Abstriche machen, vor allem, wenn es um das Privatleben ging – ganz zu schweigen vom Bankkonto. Er seufzte. Während er seine Geldbörse in die Tasche steckte, wusste er, dass seine Antwort ja lautete – er wollte nichts anderes tun, als Vögel zu retten.

Er hob den Kopf und sah eine Menschenansammlung in der Spielwarenabteilung. Einige Leute beugten sich über etwas oder jemanden, der am Boden lag.

“Marion!” stieß er angsterfüllt hervor und rannte los. Er kämpfte sich zwischen den Menschen hindurch und fand seine Tochter auf dem Boden liegend vor. Ihr Gesichtchen war aschfahl, und ihre Augen waren verdreht. Die Lider zuckten. Harris’ Herz hämmerte wie verrückt. Er kniete sich hin, nahm seine Tochter in den Arm und fing mit zitternden Fingern an, ihre Kapuze und den Parka zu öffnen.

“Sie fiel einfach um, als wäre sie ohnmächtig geworden”, erklärte eine ältere Dame. “Ich hab es gesehen.”

Ein kleines Rinnsal Blut sickerte aus ihrem Mund. Hatte sie sich auf die Zunge gebissen? Er versuchte, ihren Mund zu öffnen, aber ihre Kiefer waren krampfartig aufeinander gepresst. Schreckliche Gedanken schossen durch seinen Kopf, während er versuchte festzustellen, was Marion hatte. Epilepsie? Ein Fieberkrampf? Die Angst schnürte ihm die Luft ab, und seine Hände zitterten. Dies war kein Habicht und auch kein Adler. Dies war seine Tochter, und er wusste einfach nicht, was er tun sollte.

Er blickte gegen eine Wand aus Menschen, die sich um ihn und seine Tochter gebildet hatte, sein Augen spiegelten seine Panik wider, als er rief: “Kann jemand einen Krankenwagen rufen?”

3. KAPITEL

Accipiter: Die blitzschnellen Wald-Jäger. Accipiter sind sehr flinke, entschlossene Jäger. Ihre kurzen, abgerundeten Flügel und langen Schwänze sind wie geschaffen für schnelle Sprints und die Möglichkeit, sich geschickt durch Äste und Buschwerk zu schlängeln, um Jagd auf andere Vögel zu machen. Die Familie der Accipiter umfasst unter anderem die Eckschwanzsperber, Rundschwanzsperber und Habichte.

Harris war sich nie bewusst gewesen, wie ein paar Wochen ein ganzes Leben verändern konnten. In weniger als einem Monat war seine hart erarbeitete Routine, seine ganze Welt, völlig aus den Fugen geraten. Er war immer der Meinung gewesen, alles unter Kontrolle zu haben. Und manchmal meinte er hören zu können, wie die Mächte des Himmels über diese Arroganz lachten.

Trotzdem konnte er sich glücklich schätzen. Er wusste das. Die Dinge könnten schlimmer sein, und er hatte weiß Gott schon Schlimmeres durchstehen müssen.

Er stand im Wohnzimmer des kleinen “Cape Cod”-Land-Hauses und betrachtete seine Tochter, die friedlich auf dem Sofa lag. Sie versank fast in einem Berg aus Kissen und war in eine alte, gelb-braune Wolldecke gehüllt. Ihre neue Puppe Lulu hatte sie fest im Arm. Mit ihren blauen Augen, die umrahmt waren von blassen Wimpern, sah sie sich aufmerksam die Zeichentrickfilme an, die im Fernsehen liefen. Die blonden Haarsträhnen kräuselten sich hinter ihren spitzen Ohren, die einen kleinen Tick vom Kopf abstanden. Einige zarte Sommersprossen blühten über ihrer Stupsnase.

Wenn man sie so ansah, erschien sie einem wie ein normales fünfjähriges Mädchen, das Fernsehen schaut.

Aber so war es nicht.

Marion hatte Juvenile Diabetes.

Die Zuckerkrankheit. Er konnte sich einfach nicht damit abfinden. Als der Arzt im Krankenhaus ihm die Diagnose mitgeteilt hatte, fühlte er sich, als hätte ihm jemand den Boden unter den Füßen weggezogen. Er konnte nur mit offenem Mund dastehen und den Arzt anstarren. Von allen Möglichkeiten, die in seinem Kopf herumgespukt hatten, erschien ihm Diabetes die abwegigste zu sein. Damit hatte er nicht gerechnet. Sicher, er wusste ein paar Dinge über die Krankheit. Diabetes bedeutete, dass im Körper zu viel Zucker war. Menschen, die an dieser Krankheit litten, brauchten Insulin. Aber es waren doch nur alte Menschen, die Zucker bekamen – keine kleinen Kinder. Keine Fünfjährigen, die noch nie ernsthaft krank gewesen waren.

Später jedoch, als er sich schlau gemacht hatte, erkannte er die Symptome, die Marion schon lange hatte, die er aber so richtig nie wahrgenommen hatte. Der übermäßige Durst, der erhöhte Harndrang, der Gewichtsverlust, Gereiztheit – all das waren Anzeichen, die auf Typ-1-Diabetes, die seltenste und gefährlichste Form dieser Krankheit, hingewiesen hatten.

Er fühlte sich schuldig. Heimtückische, fortwährende Selbstvorwürfe, die ihn nicht losließen, nagten an ihm. Er fragte sich, wie er es so weit kommen lassen konnte, wie er ihren immer schlechter werdenden Gesundheitszustand so ignorieren konnte, dass sie erst umfallen und einen fiebrigen Krampfanfall bekommen musste. Er fühlte sich wie der schlechteste, der erbärmlichste Vater auf der ganzen Welt.

Doch für Schuldgefühle hatte er eigentlich gar keine Zeit. Die Krankheit beeinflusste das ganze Leben. Nichts war mehr einfach. Er konnte Marion nicht einmal einen Snack bereiten, ohne daran zu denken, wie viele Broteinheiten sie zu sich nahm und was das für Auswirkungen auf ihren Zustand haben könnte. Zum ersten Mal seit Marions Geburt hatte Harris Angst vor der Verantwortung für sein Kind.

Er sah wieder auf seine Tochter, die sich auf dem Sofa zusammengerollt hatte und fernsah. Wie süß und unschuldig sie aussah. Und wie dieser Eindruck täuschte. Er schüttelte den Kopf, atmete tief ein und wappnete sich für das, was jetzt kam.

“Marion? Es ist Zeit, den Test zu machen.”

Sofort wich der friedliche Ausdruck aus ihrem kleinen Gesicht, sie zog die Knie an den Körper, schlang ihre Arme um die Beine und schrie: “Nein!”

“Komm schon, Süße. Du weißt, dass wir das tun müssen.”

“Nein!”

Harris seufzte auf. Ihm stand schon wieder ein Kampf bevor. Während er sich ihr näherte, verkroch sie sich in der Sofaecke. Wie einer seiner Vogel-Patienten war sie bereit, sich zu verteidigen. Schützend hatte sie die Arme vor den Körper gehoben und sah ihren Vater wild entschlossen an.

Harris ging ganz langsam und vorsichtig auf sie zu, wobei er ununterbrochen beruhigend auf sie einredete. Dann griff er schnell zu, hielt sie fest. Marion reagierte augenblicklich – sie schrie und tobte und wehrte sich aus Leibeskräften, wie es auch die Tiere in der Klinik taten.

“Nein! Ich will nicht! Nein, nein, nein!”

Ihre Schreie hallten im Raum wider und dröhnten in seinem Kopf. Obwohl sie so zart und zerbrechlich wirkte, war sie erstaunlich stark – und raffiniert. Immer, wenn er sie hochheben wollte, streckte sie die Beine von sich, begann zu treten und mit ihren winzigen Fäusten zu boxen, wobei sie vom Sofa rutschte.

“Was, in Gottes Namen, ist denn hier los?”

Harris erkannte Maggies Stimme zwischen dem Kreischen und Schreien seiner Tochter. Und auch Marion hatte Maggie gehört. Für einen kurzen Moment hörte sie auf – um dann mit noch mehr Kraft weiterzukämpfen. Er hielt sie noch fester, während sie versuchte, sich aus seiner Umklammerung zu winden.

“Oh nein, dass machst du nicht”, sagte er zu ihr und hob sie auf das Sofa zurück.

“Es hört sich an, als fände hier ein blutiger Kampf statt”, stellte Maggie fest und sah sich um.

“Das wäre entschieden leichter als das hier”, erwiderte Harris über die Schulter. “Ich muss ihr in den Finger stechen, um den Blutzucker zu messen. Aua, Marion, hör auf, mich zu treten.”

Maggie gluckste vor Vergnügen und ging auf die beiden zu. “Ich denke, es wäre hilfreich, wenn du ihr zuerst einmal die Schuhe ausziehst.”

“Wenn du mir hilfst?”

Maggie streckte die Arme aus und griff, wie sie es von den Vögeln her kannte, mit schlafwandlerischer Sicherheit nach Marions Beinen. Einige Sekunden später hatte sie dem Kind die Schuhe ausgezogen. Sie hielt die Beine immer noch fest. Das schien Marion noch wütender zu machen, und sie versuchte wie wahnsinnig, zu treten und sich aus dem Griff zu winden. Ihr Gesicht verfärbte sich vor Anstrengung rot.

“Jesus, sie ist stärker als ein Virginiauhu.”

“Sie beißt auch wie einer. Schnell, pack ihre linke Hand.”

Maggie hielt Marions Hand. Das Kind kreischte mittlerweile hysterisch.

“Jetzt muss sie gerade Luft holen. Schnell!”

Harris wischte sich mit dem Arm den Schweiß von der Stirn, zielte, stach in den Finger und drückte in Bruchteilen von Sekunden den Teststreifen gegen den Blutstropfen, der aus der winzigen Wunde quoll.

“Geschafft!” triumphierte er.

Marion schrie noch einmal wütend auf und rollte sich dann – besiegt, erschöpft und weinend – zwischen den Kissen auf dem Sofa zusammen. Der Kampf hatte sie viel Kraft gekostet.

“Es muss noch einen anderen Weg geben”, sagte Maggie, während sie ihre Arme auf Wunden untersuchte.

“Wenn es den gibt, wüsste ich gerne, wie er aussieht.” Er wollte Marions Kopf streicheln, aber sie schlug seine Hand zur Seite.

“Ich hasse dich!” brüllte sie zornig, rutschte vom Sofa und rannte in ihr Zimmer, als wäre sie auf der Flucht.

Harris fuhr sich durchs Haar. Die Tür zum Kinderzimmer wurde mit aller Macht zugeschlagen.

Maggie verdrehte die Augen. “Wie oft müsst ihr das machen?”

“Sechs Mal am Tag muss ich den Blutzucker messen, drei Mal muss ich ihr Insulin spritzen. Mindestens. Das bedeutet sechs bis neun Stiche mit der Nadel pro Tag.”

“Meine Güte!”

“Ja. Zuerst hat sie versucht, tapfer zu sein, aber jetzt ist es zu einem täglichen Krieg geworden.”

“Ich mag es fast nicht sagen – es scheint, als würdest du ihn verlieren.”

Er senkte den Kopf. “Das ist das Problem. Ich darf nicht verlieren. Ihr Leben hängt davon ab.” Erschöpft griff er nach dem Testgerät, warf einen Blick auf den Wert und nickte, zufrieden mit dem Ergebnis.

“In den ersten Wochen nach dem Krankenhaus habe ich es vermasselt und ihre Werte nicht gecheckt. Sie machte einen guten Eindruck, und ich dachte, ich könnte mal eine Messung überspringen. Im nächsten Moment wurde sie schwach, begann zu schwitzen, und ihre Hände zitterten. Gott sei Dank gibt es Traubenzucker. Aber ich kann dir sagen, das hat mich zu Tode geängstigt.

“Jetzt geht es ihr gut. Und das ist alles, was zählt.”

“Du hast Recht. Ich werde mich darum kümmern, dass es ihr auch weiterhin gut geht.” Er blickte Maggie an, um ihre Reaktion auf seine nächste Äußerung besser beurteilen zu können. “Ich habe übrigens eine Pflegerin engagiert, die hier wohnen und sich den ganzen Tag um Marion kümmern wird.”

Maggie machte große Augen. “Die hier wohnen wird? Hier? Aber, Harris, das Haus ist viel zu klein. Wo soll sie schlafen?”

“Sie kann in meinem Zimmer wohnen. Ich werde mich in meinem Büro einrichten.”

“Das wird dir auf Dauer zu eng. Und ich spreche nicht über die Raumaufteilung und die Möblierung.”

“Vielleicht. Aber ich muss das tun. Wenigstens im Moment.” Maggie wollte etwas erwidern, doch Harris hob abwehrend die Hände. “Es ist alles in die Wege geleitet, Maggie. Ich habe eine Anzeige geschaltet, und sie hat bereits zugesagt zu kommen. Bitte. Mach mir jetzt keine Vorhaltungen. Was ich brauche, ist Unterstützung. Marion und ich brauchen Unterstützung.”

Maggie wollte noch eine Menge sagen, aber sie presste die Lippen aufeinander. Sie nickte und schlang ihre Arme um Harris. Für sie war es keine Frage, für die beiden da zu sein. In den fünf Jahren, in denen Harris und sie Seite an Seite gearbeitet hatten, hatten sie gelernt, wie wichtig Ruhe und Umsicht in ihrem Job waren. Wenn sie miteinander sprachen, dann nur das Nötigste. Meistens ging es um die Patienten oder was noch zu tun war. Harris und Maggie verstanden sich auch ohne Worte. Obwohl Maggie die Glucke des Vogelcenters war und oft und gerne ihre Meinung preisgab, mischte sie sich so gut wie nie in Harris’ Privatleben ein. Die wichtigsten Informationen tauschten sie kurz aus, so dass man im Bilde war, was gerade zu Hause passierte. Bob ist entlassen worden. Marion hat die Grippe. Die Kinder haben heute Ferien bekommen und sind zu Hause. Die Waschmaschine hat den Geist aufgegeben. Ihre Loyalität und Verbundenheit war tief und ehrlich – und obwohl die Freundschaft niemals thematisiert wurde, wurde sie auch nicht in Frage gestellt.

“Du kannst mich jederzeit anrufen, wenn du mich brauchst”, sagte sie.

“Das werde ich machen.”

Harris klopfte leise an Marions Zimmertür. Sie antwortete nicht. Besorgt horchte er an der Tür und war erleichtert, nichts zu hören. Schlimmer wären laute Schluchzer gewesen – und Flüche, wie gemein ihr Daddy doch war. Behutsam öffnete er die Tür, um sie nicht zu wecken, falls sie schlief. Er steckte den Kopf durch den Spalt und sah sie auf dem Bett liegen und mit Lulu spielen. Ihr Kopf schnellte hoch, als sie ihn hörte, ihre Augen blitzten vor Neugierde, doch im nächsten Moment sah sie ihn wütend an.

“Darf ich reinkommen?”

“Nein!”

“Aber ich komme trotzdem rein.” Er ging zu ihr, sammelte unterwegs schmutzige Kleider vom Boden auf und setzte sich zu ihr ans Bett. “Hasst du mich immer noch?”

Schmollend schob sie die Unterlippe vor und kämmte inbrünstig das Haar ihrer Barbie. “Ich hasse die Piekser.”

“Das weiß ich. Aber die Piekser sind einfach nötig wegen deiner Diabetes.”

“Ich hasse Jabetes.”

Ein bittersüßes Lächeln machte sich auf seinem Gesicht breit. Er lehnte sich zu ihr hinüber, um das weiche Haar auf ihrem Kopf zu küssen. “Oh, mein Lieblingsparfüm”, sagte er und roch an ihren Haaren.

“Ich trage doch kein Parfüm, Daddy”, erwiderte sie, wie sie es immer tat, wenn er das sagte. Das war ein kleines Spiel zwischen den beiden, und ihre Antwort signalisierte ihm, dass der Sturm vorüber war.

“Ich muss kurz mit dir reden.”

Geduldig wartete er, bis sie das enge, glitzernde Kleid über die stattlichen Brüste der Puppe gezogen hatte und sie zur Seite gesetzt hatte. Endlich blickte sie ihn aufmerksam an, und er begann, leise und vorsichtig zu sprechen.

“Wir haben ein Problem. Oder, vielmehr, ich habe ein Problem. Ich bin nicht besonders gut darin, mich um dich zu kümmern.”

Marion schaute ihn mit großen Augen verwundert an. Damit hatte sie nicht gerechnet.

“Du brauchst jemanden, der dir deine Medizin gibt und der deine Ernährung überwacht.”

“Aber du kannst das doch tun.”

Er schüttelte den Kopf. “Nein, das kann ich nicht. Wir wissen beide, dass es nicht funktioniert.”

“Ich werde dich nicht mehr treten …”

“Süße, es ist nicht nur das. Natürlich ist es das auch …”, sagte er grinsend, um sie ein bisschen zu ärgern. Er zog sie an sich und drückte sie liebevoll. Marion legte ihren Kopf auf seine Brust. “Ich arbeite sehr viel. Und ich bin oft weg. Du aber brauchst jemanden, der immer ein Auge auf dich hat.”

“Warum kann Maggie sich denn nicht um mich kümmern?”

“Maggie arbeitet in der Klinik. Mit den Vögeln.”

“Wieso bekommen die Vögel immer alles?” Sie setzte sich auf und schaute ihn trotzig an. “Ich bin doch auch krank.”

Harris erschrak ein bisschen über die Abneigung, die sie den Tieren gegenüber verspüren musste, um solch einen Vergleich zu ziehen. “Die Vögel sind meine Arbeit, Süße. Aber du, du bist mein Herz, mein Leben.”

Das schien sie zu besänftigen. Sie seufzte und lehnte sich wieder zurück an die Brust ihres Vaters. “Du meinst also, ich bekomme einen neuen Babysitter? Wie Katie?”

“So in der Art. Erinnerst du dich, dass Katie abends nach Hause ging? Ich habe jemanden eingestellt, der hier wohnen und schlafen wird.”

“Sie wird hier bei uns wohnen? In unserem Haus?”

“Ja.”

Marion drehte sich, um ihm in die Augen schauen zu können. In ihrem Gesicht spiegelte sich deutliches Interesse wider. “Ist sie dann so etwas wie eine Mutter?”

“Um Gottes willen, nein”, sagte er und lachte leise. Er bemerkte, dass sie traurig wurde und sich ihr Blick trübte, und setzte sanft hinzu: “Ja gut, vielleicht ein bisschen. Sie wird dir vorlesen, Essen kochen und dir morgens beim Anziehen helfen. Und vor allem wird sie dafür sorgen, dass du regelmäßig deine Medizin bekommst.”

“Du meinst, die Spritzen?”

“Ja, die auch.”

Marion verzog das Gesicht. “Ich will gar nicht, dass sie kommt. Sie ist nicht meine Mommy. Und das ist unser Haus.”

“Hör auf. Das ist die falsche Einstellung. Ihre Aufgabe ist es, dir zu helfen, und deine Aufgabe ist es, dir helfen zu lassen. Du musst uns erlauben, uns um dich zu kümmern.” Er griff in die Brusttasche seines Hemdes und zog einen Brief heraus. Nachdem er ihn geöffnet hatte, hielt er ihn in das Licht der Nachttischlampe.

“Ich habe eine Anzeige in der Zeitung aufgegeben und einige Antworten bekommen. Miss Majors heißt die Frau, die ich für dich ausgesucht habe. Sie ist eine Krankenschwester, also weiß sie, was Diabetes ist und was sie tun muss. Sie kann das viel besser als ich.”

“Aber ich will, dass du bei mir bist und mich versorgst.” Ihre Stimme klang eher ängstlich als streitlustig.

“Möchtest du, dass ich den Brief vorlese?”

“Mir egal.”

Harris räusperte sich und begann zu lesen.

Lieber Mr. Henderson,

ich habe Ihre Anzeige in ‘der Charleston Post and Courier’ gelesen und möchte mich um die Stelle als Kinderpflegerin bewerben. Die Anzeige kam genau zur richtigen Zeit, denn ich bin erst seit kurzem in der Stadt und gerade auf der Suche nach einer neuen Aufgabe. Ursprünglich komme ich aus Rutland, Vermont, wo ich für einige Jahre als Kinderkrankenschwester gearbeitet habe.

Sie wundern sich vielleicht, dass ich eine Stelle als Kindermädchen und nicht als Krankenschwester suche. Ich hatte Angebote. Seien Sie versichert, dass ich mir nichts habe zuschulden kommen lassen. Meinen Lebenslauf und einige Referenzen und Zeugnisse habe ich beigelegt. Wenn Sie das Gefühl haben, meine ehemaligen Arbeitgeber anrufen zu müssen, um die Referenzen zu prüfen, tun Sie das bitte gern. Ich jedenfalls würde es machen, wenn es mein Kind wäre.

Offen gesagt, habe ich mehrere Jahre in der Notaufnahme gearbeitet, und ich spüre, dass ich einen Wechsel brauche. Deshalb bin ich in den Süden gezogen – um ein anderes Klima zu genießen, aber auch, um ein neues Leben zu beginnen und Abstand zu gewinnen. Als ich dann Ihre Anzeige sah, erschien es wie die perfekte Lösung. Mit der Behandlung und Pflege von Juveniler-Diabetes-Erkrankten kenne ich mich aus und begrüße die Möglichkeit, mich um ein einzelnes Kind statt vieler Kinder kümmern zu können.

Wenn Sie einverstanden sind und meine Zeugnisse Sie überzeugen konnten, kann ich die Stelle als Pflegerin Ihrer Tochter sofort für ein Jahr übernehmen.

Selbstverständlich sollten wir eine Probezeit von einem Monat vereinbaren. In dieser Zeit kann jeder von uns das Arbeitsverhältnis ohne Nennung von Gründen beenden.

Ich würde mich freuen, Sie und Marion kennen zu lernen. Sagen Sie ihr, dass ich gerne lese und Spiele mag, dass ich Kartentricks beherrsche und dass ich neugierig darauf bin, das zu lernen, was sie mag.

Mit freundlichen Grüßen

Ella Elizabeth Majors, R.N.

In der Stille, die folgte, saß Harris einfach da und starrte auf den Brief in seinen Händen. Seit er ihn vor einer Woche bekommen hatte, hatte er ihn bestimmt ein Dutzend Mal gelesen. Ihre Zeugnisse waren beeindruckend, und alle Arbeitgeber, die sie in ihrer langen Referenzliste angegeben hatte, waren am Telefon nur voll des Lobes für sie gewesen. Sie hatten sie als freundlich, sauber und ordentlich, pünktlich, effizient und verantwortungsvoll beschrieben. Das alles waren Qualitäten, die sie zu einer erstklassigen Krankenschwester machten. Aber es sagte nichts darüber aus, wie gut sie mit Kindern umgehen konnte, ob sie kochen konnte oder ob sie überhaupt nett war.

Doch Harris sagte sich wieder, dass er großes Glück hatte. In seiner Anzeige hatte er medizinische Grundkenntnisse verlangt, nicht jedoch mit einer ausgebildeten Krankenschwester gerechnet. Er hatte die Personalchefin des Krankenhauses angerufen, in dem Ella Majors tätig gewesen war, und die hatte ihm versichert, dass Miss Majors keine Leichen im Keller hatte. Am Ende des Gespräches hatte die Frau ihre Stimme gesenkt und eine Bemerkung gemacht, die Harris im Gedächtnis geblieben war.

Manchmal sieht eine Krankenschwester in der Notaufnahme einfach ein Kind zu viel sterben.

Er dachte darüber nach, ob es Ella Majors so ergangen war, während er den Brief wieder zusammenfaltete, um ihn in die Tasche zu stecken. Wenn dem so war, konnte er gut nachvollziehen, dass sie einen Wechsel nötig hatte – auch er hatte diese furchtbare Angst verspürt, als er im Krankenhaus auf Marion gewartet hatte, und zuckte beim Gedanken daran noch immer zusammen.

“War das alles, Daddy?”

Er nickte und schob den Brief in seine Tasche. “Ja, das war’s. Ach, bevor ich es vergesse, sie kommt vorbei. Sie wird morgen Mittag da sein.” Bitte, lieber Gott … “Also, was denkst du?”

“Weiß nicht”, sagte sie und zuckte die Schultern. “Ist sie hübsch?”

Die Frage ließ ihn schmunzeln. “Ich habe keine Ahnung.”

Marion gähnte herzhaft und blinzelte müde. “Okay. Ich hoffe nur, sie riecht nicht komisch.”

Harris lachte laut auf und umarmte seine Tochter liebevoll. “Das hoffe ich auch.”

Später, als Marion schlief, ging Harris um die Käfige der Greifvögel herum und spazierte an den Gehegen der verwundeten Vögel vorbei. Jeden Abend machte er diesen Rundgang, um zu sehen, ob alles in Ordnung war. Die Tiere kannten ihn – seinen Geruch und seine Bewegungen – und waren durch seine Anwesenheit nicht beunruhigt. Und Harris selbst fühlte sich auf eine seltsame Art und Weise akzeptiert. Während es in den Käfigen leise war, trillerten und schrieen in den Bäumen um das Center herum die Südkreischeulen, die nach Anschluss suchten.

Er hielt bei den Käfigen an, um nach den drei Fischadlern zu schauen. Mit dem schwarz gefärbten Gefieder um die Augen herum erinnerten sie ihn immer an fliegende Zorros, wie sie so durch die Lüfte schwebten. Allerdings waren sie keine Banditen. Sie jagten Fische, waren talentierte Fischer, die niemals ihr Futter erbettelten oder gar stahlen. Der Atem eines Tieres ging keuchend, was ein Anzeichen für eine Lungeninfektion war. Harris dachte bei sich, den Vogel am nächsten Morgen zur Behandlung zu holen. Der Rundgang über das Gelände war beendet. Er drehte sich um und ging zum Haus zurück. Nun hatte er Zeit, seine Entscheidung, Ella Elizabeth Majors ins sein Haus zu holen, noch einmal zu überdenken.

Genau wie die Raubvögel reagierte er misstrauisch und vorsichtig, wenn sich ein Fremder in seinem Revier aufhielt. Es bestand ein himmelweiter Unterschied dazwischen, jemanden einzustellen, der im Büro, also auf neutralem Boden, arbeiten sollte, oder jemanden, der das Haus, das tägliche Leben mit einem teilte. Man ließ zu, dass dieser Mensch Einblick in das privateste, intimste Leben bekam. Wie würde jemand wie er, der zu viel menschliche Nähe vermied, mit dieser Situation fertig werden?

Sie hatte in ihrem Brief geschrieben, dass sie ein Jahr bleiben wollte. Das waren zwölf Monate, zweiundfünfzig Wochen, dreihundertfünfundsechzig gemeinsame Tage. Er hoffte, dass diese Zeit ausreichen würde, um mit dem Diabetes umgehen zu können. Für Marion wollte er diese Zeit durchhalten, wollte die Fremde in seinem Leben erdulden und von ihr lernen, für seine Tochter zu sorgen.

Abgesehen davon konnte er die Pflegerin auch nur ein Jahr lang bezahlen. Miss Majors verlangte – zu seinem Glück – nur den Mindestlohn. Aber auch dieses kleine Gehalt würde all seine Ersparnisse verbrauchen und wohl noch mehr … Irgendwie musste er das alles schaffen. Auch in der Vergangenheit hatte er solche Krisen und Geldsorgen schon gemeistert. Sogar Fannies Rechnungen konnte er begleichen.

Fannie. Er hielt inne, fuhr sich durchs Haar und atmete tief durch. Sie war die einzige Frau, mit der er jemals zusammengelebt hatte – wenn man von seiner Mutter absah. Und wenn es so war, mit einer Frau zusammen zu sein, verzichtete er lieber. Oh Gott, wenn Miss Majors so war wie Fannie …

Er schüttelte den Kopf, überrascht, wie das Adrenalin beim bloßen Gedanken an seine Frau durch seinen Körper schoss. Es bestand keine Gefahr, dass Miss Majors so war wie Fannie. Fannie gab es nur einmal auf der Welt …

Die Entscheidung war gefallen: Er wollte Miss Ella Elizabeth Majors in sein Heim, sein Refugium lassen. Darüber hatte er gründlich nachgedacht. Auch wenn der bloße Gedanke daran seinen Atem so hektisch und keuchend wie den des Fischadlers werden ließ.

Früh am nächsten Morgen folgte Harris Lijah zum Nest von Santee. Sie trotteten einträchtig schweigend nebeneinander durch Schlamm und Dreck am Wando River entlang. Harris konnte mit seinen langen Beinen sehr schnell und geschickt das unwegbare Gelände durchqueren. Zwei Mal hielt er kurz an, da er dachte, der alte Mann könnte eine Pause gebrauchen. Doch Lijah war nicht einmal außer Atem. Es war ein kalter, diesiger Morgen, und die Reptilien und Amphibien, die in South Carolina heimisch waren, warteten in ruhigen, dunklen Höhlen auf den Frühling, der warmen Sonnenschein bringen würde. Hier und da entdeckten die Männer den ein oder anderen glänzenden schwarzen Salamander, der sich in einem Haufen feuchter, verrottender Blätter verbarg, um Jagd auf Regenwürmer und Maden zu machen. Die Tiere schwelgten in der frischen Winterluft, paarten sich und legten ihre gallertartigen Eierstränge ab, aus denen Monate später die Kaulquappen schlüpfen würden.

Endlich kamen die Männer an eine Stelle, an der einige alte, stolze Sumpfkiefern in den Himmel ragten. Zahllose kleinere Bäume und Büsche drängten sich zu Füßen der majestätischen Bäume, wie Kinder am Rockzipfel der Mutter. Lijah streckte den Arm aus und deutete auf etwas.

“Da ist es.”

Harris reckte seinen Hals, um einen Blick auf das runde Nest werfen zu können. Es war mächtig, mehr als zwei Meter im Durchmesser, und bestand aus dicken, verflochtenen Zweigen. Hoch in einer Astgabel war es gebaut worden. Daneben saß wie ein einsamer Wächter der Adler. Er starrte sie aufmerksam an. In stummem Einverständnis erlaubte er ihnen, näher zu kommen.

“Er sitzt immer noch beim Nest”, sagte Harris. “Armer Junge.”

“Die ganze lange Zeit hat er weitergebrütet. Ich weiß, dass es eine sehr schwere Zeit ist für ihn, so ganz ohne Santee. Ich habe getan, was ich konnte, um zu helfen. Fast jeden Tag habe ich ihm frischen Fisch gebracht. Damit er wusste, dass ich da war, habe ich kurz gepfiffen und das Essen dann am Fuße des Baumes liegen lassen. Als er sah, dass ich es war, kam er herunter, hat sich den Fisch geschnappt und ist gleich wieder zu den Eiern zurückgeflogen. Ich habe so gehofft …” Lijah schüttelte traurig den Kopf.

“Nehmen Sie es nicht zu schwer, Lijah. Es braucht zwei Tiere, um ein Gelege auszubrüten.”

“Aber Pee Dee … er war die ganze Zeit über beim Nest. Er hat nicht aufgegeben.”

“Auch wenn der Vater alle erdenklichen Anstrengungen unternimmt, muss er doch das Nest von Zeit zu Zeit verlassen, um zu essen. Die Umstände waren gegen ihn. Die Witterung lässt es nicht zu, die Eier allein zu lassen. Manchmal, wenn das Männchen Glück hat, findet es eine neue Partnerin, die ihm hilft, die Jungen auszubrüten und großzuziehen. Aber das ist sehr selten.”

“Das ist wirklich traurig.”

“Ja, das ist es. Ich weiß genau, wie er sich fühlen muss.”

Etwas in seiner Stimme ließ Lijah aufhorchen. Er wandte die Augen vom Nest und sah Harris an. “Meinen Sie, auch Sie ziehen ihr Kind allein groß?”

Harris sog die Luft tief ein und stemmte die Hände in die Hüften. Zu Fremden sprach er nicht oft über seine persönlichen Umstände und Gefühle. Für ihn war es schmerzhaft, sich einem Menschen anzuvertrauen, den er nicht kannte. Und er konnte nicht nachvollziehen, wie andere sich Fremden gegenüber so frei öffnen konnten. Aber die Ehrlichkeit und die entwaffnende Herzlichkeit und Wärme, die von dem alten Mann ausgingen, ließen seine Bedenken dahinschmelzen. Vielleicht war es auch nur der Wunsch, dem Vater, den er nie hatte, alles zu erzählen und ihn um Rat zu fragen.

“Marions Mutter verließ uns, kurz nachdem das Kind zur Welt gekommen war. Fannie war eine bildhübsche Frau, aber flatterhaft. Sie hatte … Probleme. Aber sie schenkte mir Marion, und dafür werde ich ihr immer dankbar sein. Nicht für einen Augenblick habe ich bereut, meine Tochter bei mir zu haben.”

“Natürlich nicht.”

“Ich tue, was in meiner Macht steht, um für sie zu sorgen. Für ein anständiges Heim, für genug zu essen, für Wärme und Kleidung. Zwar bin ich oft weg, aber ich gebe ihr immer etwas, auf das sie sich freuen kann.” Er zuckte die Schultern und merkte, wie sehr er auf das Verständnis des alten Mannes hoffte. “Es ist nicht leicht. In der Klinik brauchen sie mich, damit ich mich um die verletzten Vögel kümmere, die Tag für Tag eingeliefert werden. Dann gibt es die Vögel, die dauerhaft im Vogel-Center leben und die versorgt werden müssen. Schon für diese Aufgaben brauche ich einige Stunden pro Tag. Und darüber hinaus sammle ich ständig Spenden, beschaffe Geld, schicke Rundschreiben raus und versuche alles Menschenmögliche, um das Center am Laufen zu erhalten. Wenn man so will, muss ich sozusagen auch Futter heranschaffen.”

Er schaute zu dem Adler hinauf, der allein in den Baumzweigen saß. Das Nest neben ihm machte einen trostlosen und verlassenen Eindruck.

“Vom Verstand her ist mir klar, dass ich viel zu tun hatte, dass so viel erledigt werden musste.” Er presste die Lippen aufeinander. “Aber wenn ich noch einmal über die Tage, die Wochen vor ihrer Krankheit nachdenke, merke ich, wenn ich ehrlich bin, dass ich nicht wirklich da war. Sicher, ich habe dafür gesorgt, dass Essen auf den Tisch kam, und Geld für die Babysitter bezahlt, aber ich habe nicht richtig hingesehen, war nicht mit dem Herzen bei Marion. Wenn ich das getan hätte, hätte ich die Symptome erkannt, hätte gesehen, wie durstig sie war und dass sie abgenommen hatte. Ich hätte gesehen, wie krank und einsam sie wirkte. Ich bin doch ihr Vater – ich hätte es sehen müssen. Meine Tochter musste erst Krampfanfälle bekommen, bis ich bemerkte, wie es um sie stand. Was für ein armseliger Vater bin ich bloß gewesen?” Er hielt inne. “Also, es stimmt. Ich fühle mich wie der Adler da oben. Sie glauben, Pee Dee hat versagt? Ich habe versagt.”

Er wollte, dass Lijah ihm beipflichtete, dass er ihm sagte, was für ein miserabler Vater er war, schuldig im Sinne der Anklage. Vielleicht würden dann die Stimmen in seinem Kopf, die ihn immer und immer wieder für sein Verhalten verurteilten, endlich verstummen.

Lijah aber nickte nur, um zu zeigen, dass er verstanden hatte. Nachdenklich ließ er seinen Blick über die Sümpfe schweifen. Schließlich sagte er: “Es ist ein ziemlich langer Weg zurück. Ich werde Sie begleiten, mein Sohn.”

Sie liefen Schulter an Schulter durch den Schlamm, zurück nach Hause. Die Sonne ging auf, und es versprach ein schöner Tag zu werden. Ohne Vorwarnung begann Lijah zu singen. Seine kraftvolle, tiefe Stimme tönte über die Sümpfe wie eine kühle Morgenbrise, die die Mächte der Finsternis vertrieb. Er sang einen Gullah-Gospel, den Harris vor langer Zeit schon einmal gehört hatte, damals, als er noch ein Kind war, am Edisto River.

I look down duh road, en duh road so lonesome,

Lawd, I got tuh walk down dat lonesome road,

En I look down duh road, en duh road so lonesome,

Lawd, I got tuh walk down dat lonesome road.

4. KAPITEL

Eulen: Die Jäger der Nacht. Eulen sind nachtaktive Greifvögel, die der nächtlichen Jagd in Dunkelheit perfekt angepasst sind. Fransige Federn erlauben ihnen lautloses Fliegen, und große Augen und Ohren ermöglichen es, auch in absoluter Dunkelheit und nur über das Gehör geleitet, Beute zu machen. Eulen ruhen den Tag über, aber in der Dämmerung leben sie auf, bereit zu jagen. Die Familie der in South Carolina beheimateten Eulen umfasst den Virginiauhu, den Streifenkauz, die Ostkreischeule und die Schleiereule.

Auf dem Highway 17, einem lang gestreckten, vierspurigen Highway, fuhr Ella Elizabeth Majors einer ungewissen, doch wie sie hoffte, glücklichen Zukunft entgegen. Sie war nicht auf der Suche nach Magie. Und sie suchte auch nicht nach der großen Liebe. Alles, was sie sich wünschte, war, eine Verschnaufpause auf dem Weg in ein neues Leben einlegen zu dürfen. Eine Pause zwischen dem, was war, und dem, was kommen würde.

Die Straßenkarte lag ausgebreitet auf dem Beifahrersitz ihres kleinen viertürigen Wagens und informierte sie darüber, dass es den Highway schon zu Kolonialzeiten gegeben hatte und er damals King’s Highway genannt wurde. Die Rotjacken, Sklaven und Plantagenbesitzer hatten zur damaligen Zeit diese Straße benutzt.

Für Ella war alles neu. Erst vor einem Monat war sie in Charleston angekommen, und obwohl sie in den Süden gezogen war, um zu bleiben, fühlte sie sich wie ein Tourist aus dem Norden – und so würde sie sich die nächsten zwanzig Jahre noch fühlen, wenn sie den Büchern, die sie über diesen Landstrich gelesen hatte, Glauben schenken konnte.

Ella liebte das Autofahren und war es gewohnt, allein lange Reisen im Wagen zu unternehmen. In ihrer Heimat Vermont hatte sie sich mit ihrem Fahrzeug durch den tiefsten Schnee und Schlamm gekämpft, sie war im Zustand höchster Aufregung und tiefster Verzweiflung und – nach Doppelschichten in der Notaufnahme – mit vor Erschöpfung glasigem Blick gefahren. Sie war im frühen Morgengrauen, wenn niemand außer einigen Bauern auf der Straße war, und in tiefdunkler Nacht unterwegs gewesen, wenn man fast nichts sehen konnte außer den gelb leuchtenden Augen der Waschbären, die zufällig im Scheinwerferlicht ihres Wagens auftauchten.

Aber selbst sie als geübte Fahrerin griff das Lenkrad fester, als sie die enge Cooper-River-Brücke überqueren musste und unter ihr ein riesiger Tanker den Fluss hinabfuhr. Es waren scheinbar nur wenige Zentimeter zwischen Schiff und Brücke. Ellas Fingerknöchel waren weiß, so fest hatte sie das Steuer umklammert, und sie spürte Unbehagen. Doch ein paar Minuten und einige “Gegrüßet seist du, Maria” später hatte sie die Brücke hinter sich gelassen und folgte dem Highway, der sich durch das Städtchen Mount Pleasant zog. Geschäfte und Promenaden säumten die Straße, der Verkehr floss langsam, und die Verkehrsteilnehmer behandelten sich zuvorkommend und mit Respekt. Während sie weiter nach Norden fuhr, wurde die Besiedlung langsam spärlicher. An manchen Stellen standen einige Geschäfte dicht gedrängt und bildeten den Eingang zu prächtigen, eingezäunten Gemeinden. Hier und da fand sich eine wackelige Holzbude an der Straße, in der ein Nachfahre der Sklaven die traditionell handgeflochtenen Weidenkörbe verkaufte. Vereinzelte Tankstellen und kleine, versteckte Häuser, die hinter dem dichten Blattwerk der Bäume nur schwer auszumachen waren, waren die letzten Anzeichen der Zivilisation.

Weniger als eine Stunde, nachdem Ella die Brücke überquert hatte, wurde die Straße kurviger und enger. Nur noch selten begegnete Ella einem anderen Fahrzeug, und riesige Kiefernwälder prägten das Bild. Sie atmete tief durch. In der freien, offenen Ebene fühlte sie sich wohler. Die flache Landschaft unterschied sich von den felsigen, grünen Bergen in Vermont. Hier erstreckte sich der blaue Himmel endlos über die weiten Sümpfe und, dahinter, über das glitzernde Blau des Wassers. Über den Baumwipfeln schlug der allgegenwärtige Geier mit den Flügeln und zog seine Kreise.

Es war kaum zu glauben, dass sie nicht einmal vor einem Monat ihren Wagen voll gepackt hatte und aus dem Bundesstaat der grünen Berge nach South Carolina gefahren war. In den wenigen Wochen, seit sie in Charleston war, hatte sie im Hotel gewohnt und einige Vorstellungsgespräche für Schwesternstellen gehabt. Fähige Krankenschwestern wurden händeringend gesucht, und die Hospitäler rissen sich um sie.

Aber die Wahrheit war, dass sie nicht wieder in einem Krankenhaus arbeiten konnte. Noch nicht jetzt. Ihr Herz war ausgelaugt, ihre Seele war am Verdursten, und ihr Instinkt befahl ihr, so schnell wie möglich eine Oase zu finden, in der sie sich ausruhen und Kraft schöpfen konnte, bevor es zu spät war.

Und genau in dem Moment hatte sie die Anzeige in der Zeitung entdeckt. Es war nur eine winzige Anzeige gewesen, fast hätte sie sie übersehen. Jemand brauchte eine Vollzeit-Pflegekraft für sein Kind, das an Diabetes litt. Medizinisches Vorwissen war erwünscht. Das sprach sie an. Aber es war der kleine Zusatz Wir brauchen jemanden, der sich sorgt, der Ella dazu veranlasste, die Anzeige einzukreisen und die Nummer anzurufen. Sie glaubte nicht an Wunder, so etwas wie Schicksal oder Fügung konnte sie jedoch nicht ausschließen.

Nun also war sie wieder unterwegs. All ihre Habseligkeiten hatte sie in ihr Auto gepackt und fuhr ihrer neuen Bestimmung entgegen. Ihr Weg führte sie in eine ländliche kleine Stadt namens Awendaw, die nördlich von Charleston gelegen war. Als sie Vermont damals verließ, hatten ihr ihre Tanten gesagt, sie solle das Abenteuer genießen. Und als Kindermädchen in einem fremden Haushalt zu wohnen, den sie nie zuvor gesehen hatte, war in der Tat ein Abenteuer. Sie hatte sich entschieden, ihren beiden altjüngferlichen Tanten zunächst nichts von ihrer Entscheidung zu schreiben, da die beiden sich nur unnötig Sorgen machen und vor Aufregung durch die Wohnung flattern würden wie zwei alte Hennen. In Wahrheit aber jagte auch ihr Herzschlag wie verrückt, wenn sie darüber nachsann, ob das Kind sie mögen würde, ob die Familie nett war und ob das Haus sauber wäre oder nicht.

Nach etwa zwanzig Kilometern achtete sie auf die Kilometersteine und bog dann vom Highway 17 auf einen schmalen Kiesweg ab, der direkt ins Nichts zu führen schien. Sie hielt an, schob ihre Brille zurecht, prüfte ihre handschriftlichen Weisungen und reckte den Hals, um sich einen Überblick über die Gegend zu verschaffen. Es gab kein Schild oder Postkasten oder irgendetwas, das ihr einen Hinweis hätte geben können, wo sie sich befand.

Sie blickte aufmerksam die Straße hinauf und fuhr circa zwanzig Meter weiter. Die Reifen ihres Wagens knirschten im Kies. Vor einem breiten Metalltor, das den Weg versperrte, stoppte sie. Auf dem Gitter – und durch nichts von der Tatsache aus der Ruhe zu bringen, dass Ellas Wagen bloß dreißig Zentimeter vor ihm stand – saß ein dicker weißer Hahn, der sie über seinen gelben Schnabel hinweg stolz ansah. Ella lachte leise. Dies musste das Coastal Caroline Center für Greifvögel sein.

Sie öffnete die Wagentür und setzte einen Fuß heraus. “Hallo, du!” rief sie.

Der Hahn betrachtet sie mit seinen dunklen, strahlenden Augen und schüttelte nur einmal kurz seinen leuchtend roten Kamm.

“Okay, alter Junge, ganz wie du willst.” Die Sturheit von Hähnen kannte Ella nur zu gut. In ihrer Kindheit hatten sie eine ganze Hühnerfamilie besessen. Sie fuhr langsam immer näher an den Zaun heran, sicher, dass der Hahn jeden Moment laut protestierend davonflattern würde.

Doch nichts geschah. Der Vogel blieb unerschrocken auf seinem Platz. Schließlich stieg Ella aus und hob die schwere Kette an, die das Gatter verschloss. Sie stemmte das Tor auf, und der Hahn hielt sich wacker fest, als es aufschwang. Nachdem Ella durch das Tor gefahren war, wiederholte sich die Szene in umgekehrter Reihenfolge. In ihrem Rückspiegel konnte sie den Hahn noch immer reglos und teilnahmslos in die Gegend starrend auf seinem Platz sitzen sehen. Jetzt musste Ella laut auflachen – der Vogel gefiel ihr wirklich.

Nun, da sie die Umzäunung und den mysteriösen Wächter des Tores hinter sich gelassen hatte, fühlte sie sich in eine andere Welt versetzt. Die Straße war zu einem schmalen Kiesweg geworden, der von unzähligen Kiefern, Eichen und chinesischem Holunder gesäumt war. Ella fuhr im Schneckentempo den Weg entlang und kurbelte das Fenster herunter, um die kühle, feuchte Luft ins stickige Wageninnere zu lassen. Zwar war es Januar in South Carolina, aber sie brauchte nicht mehr als eine Fleecejacke, um nicht zu frieren. Nicht einmal Handschuhe oder eine Mütze benötigte sie, so mild war es. In dem Moment spürte sie das erste Mal, seit sie Vermont den Rücken gekehrt hatte, so etwas wie Heimweh. Hier im Süden mussten die Bäume gegen Sand und Sumpf um ein armseliges bisschen Erde kämpfen, um zu überleben, und ihr Blattwerk war blasser und, verglichen mit den Blättern ihrer Brüder im Norden, nicht so saftig und voll. Trotzdem war sie umgeben von dem vertrauten Duft von Gras, Moos, Humus und feuchter Erde. Singvögel trällerten in den Bäumen ihr Lied. Sie spürte ihre Lebensgeister zurückkehren, spürte längst vergessen geglaubte Erinnerungen und Gefühle wieder wach werden.

Sie folgte der gewundenen Straße zu einer Waldlichtung, wo einige Autos parkten. Dort stellte sie den Wagen ab, stieg aus, reckte sich und sah sich um. Hinter einer Wand aus kahlen Bäumen erhaschte sie einen Blick auf ein paar Holzgebäude. Weiter vorne und ein bisschen größer als die anderen Gebäude lag ein so genanntes “Cape Cod”-Haus, ein für diese Gegend typisches katenartiges Gebäude.

Die Arme vor der Brust verschränkt betrachtete sie das weiße Schindelhaus, das sich behaglich an zwei mächtige Sumpfkiefern schmiegte. Das Ganze wirkte wie eine Szene auf einem japanischen Holzschnitt. Auf den ersten Blick machte das zierlich wirkende Gebäude einen einladenden Eindruck, mit seiner langen, schmalen Veranda, dem tief gezogenen Dach darüber und dem soliden Sockel aus rotem Backstein. Die Verandastützen standen kerzengerade. Weißer Rauch quoll aus einem offenen Kamin und verbreitete den köstlichen Geruch von Zedernholz. Aber Wind und Wetter hatten auch ihre Spuren an der Fassade hinterlassen, und der Garten wirkte verwildert. Auf der Veranda standen zwei hübsche Weidenstühle, eiserne Gartengeräte, Gummistiefel und ein altes Fass mit Holzscheiten. Das alles unterstrich den etwas verwahrlosten Charme des Hauses und machte es zu einem Heim, in dem wirklich gelebt wurde.

Man merkt, dass hier ein Mann wohnt, dachte Ella bei sich.

Sie ließ ihre Taschen im Auto stehen, setzte die Brille ab und steckte ihr langes braunes Haar mit einer Spange hoch. Es erforderte all ihren Mut, auf das Haus zuzugehen. Unsicher strich sie ihren langen khakifarbenen Rock glatt. Wenn alles gut lief, würde sie hier, inmitten der Wälder, für die nächsten zwölf Monate ein neues Zuhause finden. Ganz eng würde sie mit der Familie in diesen Mauern zusammenleben und einem Mädchen beibringen, mit dem Diabetes zu leben. Vielleicht würde sie dabei auch den Sinn ihres Lebens und die Freude daran zurückgewinnen. Sie straffte die Schultern und lief über den ärmlich wirkenden Hof, wobei sie sich bei jedem Schritt wünschte, die Bewohner dieses Hauses wären anständig und nett. Leichtfüßig nahm sie die sechs Stufen aus rotem Backstein, die zur Veranda führten, und stellte zu ihrer Erleichterung fest, dass diese einen sauberen und aufgeräumten Eindruck machte. An der Tür hing ein Zettel.

Bitte klopfen. Klingel kaputt.

Von irgendwoher aus den Bäumen nahm sie das Lied der Spottdrossel wahr. Drinnen lief der Fernseher. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie den Arm ausstreckte, um zu klopfen – alles war so herrlich normal. Nur wenige Augenblicke nachdem sie geklopft hatte, wurde die Tür aufgestoßen.

Vor ihr stand ein schlankes, etwa fünf Jahre altes Mädchen, das Ella mit einem misstrauischen Blick aus ihren kornblumenblauen Augen bedachte.

Ella lächelte. “Hallo. Du musst Marion sein.”

Das Kind antwortete nicht.

“Mein Name ist Ella, und ich bin gekommen, um dich kennen zu lernen.”

Das Kind ließ die Tür los. “Du bist aber nicht hübsch”, platzte es heraus.

Überrascht von so viel entwaffnender Ehrlichkeit, lachte Ella laut auf. “Tja, da hast du Recht. Hübsch bin ich nicht. Aber ich bin fröhlich. Und das ist doch viel besser.”

Marion betrachtete sie, offensichtlich unsicher darüber, was sie als Nächstes sagen sollte.

Hinter ihr tauchte die Silhouette eines Mannes aus dem dunklen Flur auf. Ella sog die Luft ein, straffte die Schultern und fühlte Angst in sich aufsteigen. Der Mann trat ins Licht, und ihre Blicke begegneten sich. Er war ein großer, schlaksiger Typ. Ihre Tanten würde ihn wohl als langes Elend bezeichnen. Sie schätzte ihn auf Ende dreißig, aber das Alter von Männern zu schätzen war immer so eine Sache. Was ihr am wichtigsten erschien, war die Tatsache, dass er sauber und wohlerzogen wirkte. Fast wäre ihr ein Seufzer der Erleichterung entwischt.

“Hallo. Mein Name ist Harris Henderson”, sagte er und streckte ihr die Hand entgegen. “Sie müssen Miss Majors sein. Bitte, kommen Sie doch rein.”

Sie erwiderte kurz den Druck seiner warmen, schlanken Hand. Das Bündchen seines weißen Hemdes war ein bisschen ausgefranst. “Ja, das bin ich.”

“Wie ich sehe, haben Sie den Weg zu uns heraus gefunden. Viele Leute verpassen die Abfahrt.”

“Ihre Wegbeschreibung war wirklich sehr hilfreich. Vielen Dank.” Sie sah ihn an und faltete unschlüssig ihre Hände vor dem Körper. Er hatte ein ansprechendes Gesicht, fast schon hübsch, und es berührte sie irgendwie, dass er sich die Mühe gemacht hatte, sich für ihr erstes Gespräch ein frisch gebügeltes Hemd anzuziehen und eine Krawatte. Aber eigendlich waren es seine Augen, die sie gefangen nahmen. Sie waren blau, wie die von Marion, jedoch ohne das Misstrauen, das im Blick des Kindes lag. Vielmehr sah er sie offen und aufmerksam an. Vermutlich war er genauso aufgeregt wie sie.

“Marion haben Sie ja schon kennen gelernt”, sagte er und rieb sich nervös die Hände.

Ella lächelte das Kind an, keineswegs verärgert darüber, dass es nicht zurücklächelte, und erwiderte: “Oh, ja.”

“Es ist sehr kalt heute”, stellte Harris fest und schloss die Tür hinter Ella.

“Ach, ich finde es nicht kalt. Dort, wo ich herkomme, würde man diese Temperaturen für den Januar als mild bezeichnen.”

“Sie kommen aus Vermont, war es nicht so?”

“Das stimmt. Aus dem Süden von Vermont. Ich stamme aus einer kleinen Stadt namens Wallingford, aber die letzten Jahre habe ich in Rutland gelebt. Dort habe ich im Krankenhaus gearbeitet, wie Sie ja wissen.”

“Ja. Es ist ein weiter Weg bis zu uns nach South Carolina.”

“Das ist es. Aber ich brauchte einen Wechsel und dachte, ich fange mit dem Klima an. Ich musste ziemlich weit weg von Vermont, um endlich einmal Palmen zu sehen.” Sie lächelte zögerlich.

Harris nickte zurückhaltend und rieb sich erneut angespannt die Hände. “Möchten Sie vielleicht Kaffee? Oder bevorzugen Sie eher Tee?”

“Oh, Kaffee wäre schön, danke. Mit Milch, bitte.”

“Fühlen Sie sich wie zu Hause. Ich habe gerade frischen aufgebrüht. Einen Augenblick, ich hole welchen.”

Während er in die Küche ging, ließ Ella ihre Hände los und sah sich in dem Zimmer um. Die niedrige Decke, die dunkle Holzvertäfelung und die schweren roten Vorhänge hatten eine erdrückende Wirkung. Am Ende des Raumes, in der Nähe der Küche, standen ein runder Holztisch und vier Stühle aus Hartholz. Ein paar weitere alte, zusammengesuchte Stühle und ein verschlissenes Sofa befanden sich vor einem mächtigen Steinkamin, der die östliche Wand dominierte. Ein schwarzer Eisenofen wirkte wie nachträglich in den Kamin eingebaut. Überall hingen prunkvoll gerahmte Fotos von großen fliegenden Vögeln, und mit Büchern voll gepackte Regale nahmen den restlichen Platz an den Wänden ein. Das Zimmer wirkte recht klein. Im Ofen prasselte ein Feuer und erfüllte den ganzen Raum mit einer wohligen Wärme. Ella zog ihre Fleecejacke aus, wohl wissend, dass Marion jede ihrer Bewegungen genau beobachtete.

“Wo schlaft ihr?” fragte sie das Mädchen fröhlich.

Offenbar hatte Marions Neugier ihr Misstrauen besiegt, denn sie lief los, um eine Tür an der Seite des Zimmers zu öffnen. Ella folgte ihr, die Finger gekreuzt in der Hoffnung, dass auch der Rest des Hauses ihr gefallen würde. Erwartungsvoll steckte sie ihren Kopf durch die Tür. Ein schmaler Flur teilte das kleine Haus in zwei Hälften. Direkt gegenüber befand sich ein gelb gekacheltes Badezimmer. Es war groß, aber spärlich eingerichtet. Eine Badewanne mit verschnörkelten Füßen war das Prunkstück des Raumes. Die Handtücher hingen schief in den Metallringen, aber Harris hatte extra neue Seifenstücke an die Badewanne und das Waschbecken gelegt. Dies hier war, soweit sie es überblicken konnte, das einzige Badezimmer.

“Hier schläft Daddy.” Marion wies auf einen weiteren Raum.

Durch die geöffnete Tür erkannte Ella ein schwarzes Metallbett, auf dem eine strahlend weiße Bettdecke lag, die neu zu sein schien. Sie drehte ihren Kopf und sah eine geschlossene Tür am Ende des Flurs. “Und was ist da?”

“Daddys Büro.”

“Ach so. Und wo schläfst du?”

Marion deutete nach oben. “Das war mal der Dachboden, aber Daddy hat es für mich umgebaut. Es ist jetzt mein Zimmer. Und es ist rosa. Rosa ist meine Lieblingsfarbe. Eine Treppe, hinten bei der Küche, führt nach oben.”

“Ist mein Zimmer auch da oben?”

“Neeein”, sagte Marion kopfschüttelnd und zog das Wort wie Kaugummi. Dabei sah sie Ella an, als wäre es völlig verrückt, überhaupt zu fragen. “Da oben ist nur mein Bett. Und ein Schrank, wo Daddy seine Sachen aufbewahrt.”

“Ah, ich verstehe.”

Aber verstehe ich das wirklich, fragte sie sich? Das Haus war noch kleiner, als sie es sich vorgestellt hatte, und es schien keine weiteren Räumlichkeiten zu geben. Sie biss sich auf die Unterlippe. Plötzlich hatte sie Angst, die Jobbeschreibung von Mr. Henderson vielleicht missverstanden zu haben.

“Kaffee?” rief Harris und betrat mit einem voll beladenen Tablett das Wohnzimmer.

Sie setzte sich auf einen Holzstuhl in der Nähe des wärmenden Ofens. Er hatte sogar daran gedacht, Lebkuchen und großzügig mit Käse bestrichene Cracker auf einem Teller anzurichten. In einem blauen Tonkrug war Milch. Er füllte ein Glas für Marion und legte ein paar der Käsehäppchen auf einer Serviette vor ihr auf den Tisch. Hastig schlang das Mädchen Milch und Cracker hinunter. Es herrschte verlegenes Schweigen. Ella nippte an ihrer Tasse, erleichtert, dass sie etwas zu tun hatte. Der Kaffee war stark und schmeckte köstlich, nicht so wie die lasche Brühe, die so viele Leuten kochten. Gestärkt durch das warme Getränk wartete sie geduldig, bis er sich mit seiner Tasse Kaffee auf das Sofa gesetzt hatte, bevor sie das Wort ergriff.

Sie straffte die Schultern. “Mr. Henderson”, begann sie. “Erlauben Sie mir, direkt auf den Punkt zu kommen. Dies ist doch eine Stelle, bei der die Pflegerin mit im Haus wohnt, stimmt’s?”

Gerade wollte er einen Schluck Kaffee aus seiner Tasse nehmen, hielt aber inne, stellte sie zurück auf den Tisch und legte seine Hände in den Schoß. “Ja.” Er errötete leicht und suchte unbeholfen nach den richtigen Worten. “Ich weiß, dass das Haus sehr klein ist. Aber nicht zu klein, wie ich denke. Am Anfang könnte es ein bisschen eng werden, doch wenn das Wetter erst mal wieder besser ist … es gibt eine kleine Holzhütte am Weiher. Sie hat keine Heizung, wissen Sie. Wenn es Frühling wird, kann ich da hinziehen. Und die Außendusche benutzen.”

“Oh, ich bin mir sicher, dass das Haus völlig ausreichen wird”, erwiderte sie hastig, erleichtert, dass sie die Anzeige nicht falsch verstanden hatte. “Aber … Mr. Henderson, welches ist denn mein Zimmer?”

Langsam dämmerte es ihm, und seine Miene hellte sich auf. Er verstand. “Aber natürlich … wie unaufmerksam. Ich hätte Ihnen gleich Ihre Bleibe zeigen sollen. Sie bekommen das große Schlafzimmer. Es ist das geräumigste Zimmer, und Sie haben einen wundervollen Ausblick auf den Weiher. Außerdem habe ich Ihnen einen kleinen Fernseher hineingestellt. Und einen Sekretär. Ich dachte, also, ich meine, falls Sie ein bisschen Privatsphäre brauchen.”

“Ich will Sie aber nicht vertreiben.”

“Das ist kein Problem. Es gibt in meinem Büro noch ein Bett. Das reicht mir vollkommen, und die meiste Zeit bin ich sowieso in der Klinik.”

Ella fühlte sich erleichtert. Zwar würde es eng werden, aber es würde schon gehen.

Marion beäugte sehnsuchtsvoll die Kekse. Ella nahm einige Käsecracker und legte sie vor Marion auf die Serviette. Das Kind aß sie, ohne zu murren. Für die Zukunft nahm Ella sich vor, sämtliche Lebkuchen, Kekse und sonstige Süßigkeiten wegzuwerfen. Die Fünfjährige sollte nicht mehr in Versuchung geführt werden.

“Können Sie mir etwas über Marions Krankheit erzählen?” fuhr Ella fort. “Wie hoch ist ihr derzeitiger Insulinpegel?”

Harris wischte sich den Mund mit seiner Serviette ab und wandte sich an seine Tochter. “Marion, warum gehst du nicht in dein Zimmer und spielst ein bisschen. Miss Majors und ich müssen uns unterhalten.”

“Muss ich?”

“Sie kann ruhig bleiben”, warf Ella ein.

“Ich denke, wir sollten diese Sache allein besprechen.” Harris blickte sie fest an.

“Aber es ist gut für Marion, wenn sie an allem, was ihre Krankheit betrifft, teilhat. Vielleicht hat sie ja selbst einige Fragen.”

“Ich glaube nicht, dass sie Fragen hat.”

“Nein? Sie sollten nicht vergessen, dass sie die Krankheit hat.”

Er schwieg, und sie spürte seinen wachsenden Unmut. “Ich will einfach nicht, dass sie Angst vor der Krankheit hat”, sagte er bestimmt.

“Vielleicht hat sie bereits jetzt schon genug Ängste, die ausgeräumt werden müssen.”

Die beiden Erwachsenen starrten sich an und bemerkten jeder die Sturheit des anderen. Keiner von beiden würde nachgeben.

Harris wandte sich wieder an seine Tochter. “Marion, möchtest du dabei sein und zuhören, oder möchtest du lieber in deinem Zimmer spielen?” Offensichtlich versuchte er, seine Tochter davon zu überzeugen, dass die Möglichkeit, in ihrem Zimmer zu spielen, die bessere Alternative wäre.

“Ich will hier bleiben”, entschied Marion, ohne auch nur einen Augenblick zu zögern. Sie lehnte sich mit einem triumphierenden Blitzen in den Augen auf dem Sofa zurück.

Harris presste die Lippen aufeinander. In seinem Blick spiegelte sich sein Ärger wider, doch er gab schließlich nach.

Zwar war es kein richtiger Sieg, denn es hatte ja auch keinen richtigen Kampf gegeben, dachte Ella, aber ihre Position hatte sie deutlich machen können. Wenn er ihr vorschrieb, was sie zu tun hatte, machte ihr Aufenthalt in diesem Haus keinen Sinn. Die Umgebung mochte neu und ungewohnt sein, doch wie man mit einem diabeteskranken Kind umging, war ihr Job.

Es folgte eine lange Diskussion über Marions Krankheit, während der Ella feststellte, dass das Kind, obwohl es an seinem Finger knibbelte und an die Decke starrte, doch sehr genau zuhörte. Ella hatte Erfahrung mit Kindern aller Altersstufen, die an Diabetes litten. Und obgleich sie alle aufgrund ihrer Persönlichkeit und ihrer Reife unterschiedlich reagierten, hatten sie eines gemeinsam. Sie alle wollten wissen, was in ihrem Körper vorging, und vor allem, wie viele Spritzen sie pro Tag über sich ergehen lassen mussten.

“Möchten Sie noch einen Spaziergang machen und sich umsehen, bevor es dunkel wird?” fragte Harris, nachdem das Wichtigste besprochen war.

“Wann sind Marions Zuckerwerte das letzte Mal gemessen worden?”

Ella bemerkte, dass Marion ihre Beine angezogen hatte und gereizt und mürrisch dreinblickte. Harris erblasste.

“Ich habe sie vor Ihrer Ankunft gemessen”, erwiderte er.

Ella sah auf die Uhr. “Seitdem ist viel Aufregendes passiert. Wir sollten noch einmal die Werte checken, bevor wir rausgehen.”

Harris warf einen aufmerksamen Blick auf seine Tochter. Marion schien angespannt auf die Prozedur zu warten, und Ella bemerkte die Unruhe, die in der Luft lag. Wie auf ihr Stichwort begann Marion, wie ein Gespenst zu heulen, schrie und trat um sich. Schon wollte Harris zu ihr gehen, aber Ella streckte ihren Arm aus und hielt ihn zurück. Sie stand unvermittelt auf und stemmte ihre Hände in die Hüften.

“Das reicht jetzt, junge Dame”, sagte mit lauter Stimme, um das Weinen und Kreischen der Kleinen zu übertönen. “Ich werde deinen Blutzucker vier, fünf, sechs Mal am Tag messen müssen, und das Gleiche gilt für die Spritzen. Jeden Tag. Das ist mein Job … Marion, hör mir zu.” Sie trat zu dem Kind, hielt es an den Schultern fest und setzte es zurück aufs Sofa. Ohne auf die Schläge und Tritte zu achten, die Marion austeilte, hielt sie sie fest.

“Marion!” rief sie laut und bestimmt.

Erschrocken hielt Marion den Atem an und verstummte für einen Moment.

Ella nutzte diesen Augenblick und sagte schnell: “Du musst überhaupt keine Angst haben. Ich bin Krankenschwester, ich weiß genau, was zu tun ist, und ich bin gut darin. Tatsächlich habe ich schon sehr viele Spritzen an hunderte von Kindern verteilt.

“Aber es tut weh.”

“Ein bisschen wird es wehtun, das weiß ich, aber wenn du ganz still sitzt, schmerzt es nicht so sehr. Und schon bald wirst du dich daran gewöhnt haben und es gar nicht mehr merken. Das verspreche ich dir.”

Ella sprach schnell, solange sie noch die Aufmerksamkeit des Kindes hatte. “Ich möchte dir etwas zeigen. Ein spezielles kleines Werkzeug.” Sie warf einen Blick über ihre Schulter zu Harris, der mit hängenden Armen in der Nähe wartete, um notfalls eingreifen zu können. “Können Sie mir bitte meinen Geldbeutel geben? Schnell, bitte.”

Marion hatte sich noch immer in einer Sofaecke verkrochen, aber wenigstens hatte sie aufgehört zu schreien. Aufmerksam beobachtete sie, wie Ella in ihre Geldbörse griff.

“Was ist das?” fragte sie angsterfüllt, als Ella eine kleine Plastikbox aus der Börse zog.

“Das ist eine Zauberbox, die deinen Finger so schnell anpiekst, dass es vorbei ist, bevor du irgendetwas spürst – du wirst überrascht sein.” In ihrer Handfläche lag das kleine Plastikteil, und Ella bemerkte zufrieden, dass Marion sich nach vorn lehnte, um das unbekannte Ding besser sehen zu können. Sie wusste, dass das Kind die Nadel nicht entdecken würde.

“Aber zuerst kommst du mal mit mir. Oh, nun sträub dich nicht, du dummes kleines Gänschen. Wir wollen nur deine Hände waschen. Komm mit.” Ohne zu zögern und auf das Einverständnis des Kindes zu warten, griff Ella Marions Hand und zog sie hinter sich her ins Badezimmer. Sie wandte Harris das Gesicht zu und formte lautlos das Wort “Teststreifen” mit ihren Lippen. Er verstand und ging los, um die Teststreifen zu holen. Während Ella die Hände des Mädchens einseifte, ließ sie ihren Blick durchs Badezimmer wandern. Unverkennbar war versucht worden, die Kacheln und das Waschbecken sauber zu halten, aber an die hygienischen Zustände eines Krankenhauses kam dieses Bad nicht heran.

“Gut, nun gucken wir uns mal deine Fingernägel an.” Sie schaute auf die kurzen Nägel und wählte dabei den Finger aus, in den sie stechen wollte. “Hmm … ich denke, wir müssen die Nägel nachher schneiden. Vielleicht sollten wir sie auch lackieren. Rosa? Ist das nicht deine Lieblingsfarbe?”

Marions Miene hellte sich auf.

“Jetzt spül deine Hände ab.” Sie wartete, bis Marion ihr den Rücken zugedreht hatte, bevor sie das Plastikgehäuse mit der winzigen versteckten Nadel herausholte. Sie zog die Augenbrauen hoch und schaute zu Harris. Der nickte kurz und hielt den Teststreifen bereit.

“Bist du fertig? Dann lass mal die Hände sehen.” Sie hielt Marions Hände fest. “Sehr gut gemacht, Marion. Hübsche, saubere Fingernägel. Gut, dann lass es uns jetzt tun, ja?” Ehe Marion sich versah, nahm Ella ihr Werkzeug, stach mit einer sehr präzisen und schnellen Bewegung in die Seite der Fingerspitze und presste schnell den Teststreifen auf die winzige Wunde.

Marions Mund stand offen, aber sie war zu verblüfft, um zu protestieren.

“Schon passiert!” Ella wusste, dass es der Anblick der Nadel war, der die Kinder am meisten erschreckte. Sie sah zu Harris rüber und stellte mit einem Schmunzeln fest, dass sein erstaunter Gesichtsausdruck dem seiner Tochter überraschend ähnlich sah. Lächelnd reichte sie ihm den Streifen, damit er ihn mit der Skala vergleichen konnte.

“Die Werte sind in Ordnung, sie kann mitkommen”, sagte er einen Augenblick später mit spürbarer Erleichterung.

“Ich denke, wir können jetzt einen Spaziergang machen, stimmt’s?” Sie griff nach Marions Hand und drückte sie sanft. Doch Marion riss ihre Hand los und sah Ella vorwurfsvoll an. Ella ertrug die Abfuhr des Kindes. Sie konnte der Kleinen nicht verübeln, beleidigt zu sein. Schließlich hatte sie Marion ausgetrickst. “Marion, läufst du vor?”

Sie spazierten bedächtig hinter dem Mädchen über das Gelände. Der Schleier der Dunkelheit legte sich sanft über das Land, und während sie durch die Schatten der hereinbrechenden Nacht lief, fühlte Ella sich wieder in eine andere Welt versetzt. Schon als sie das Eingangstor mit dem achtsamen Wächter hinter sich gelassen hatte, hatte sie so empfunden. Dieser seltsame Platz war ein Zufluchtsort inmitten einer hektischen Welt. Sie fühlte sich behütet, umgeben von den gewaltigen Bäumen und fragte sich, als sie an einem Käfig mit Eulen vorbeikam, die sie mit ihren weisen, allwissenden Augen anstarrten, ob Zufall und Schicksal nicht vielleicht doch miteinander verwoben waren. Ob ihre lange Reise hin zu dieser abgelegenen Stätte des Trostes vielleicht doch in den Sternen gestanden hatte.

Sie folgte Harris zwischen hoch aufragenden Bäumen hindurch zu einigen Holzgebilden in den unterschiedlichsten Größen und Formen.

“Es ist spät, und die tagaktiven Vögel haben sich zur Ruhe begeben. Wir sollten sie nicht stören. Ich fürchte, wir müssen den Spaziergang heute etwas abkürzen. Da hinten”, sagte er und deutete dabei auf ein L-förmiges weißes Gebäude mit tief gezogenem Dach, “dort ist die Klinik, in der wir die schwer verletzten Vögel behandeln und versorgen. Eigentlich nehmen wir nur Greifvögel auf, aber manchmal werden uns auch Holzstörche gebracht, zu denen wir natürlich auch nicht Nein sagen können.”

“Und die Krähen, Daddy.”

“Ja, wir haben auch zwei Krähen”, räumte er ein und lächelte das Kind an. “Marion liebt diese Vögel.”

“Es gibt auch eine Babykrähe”, fügte sie hinzu.

“Wir versuchen, Marion von den Vögeln fernzuhalten”, erklärte Harris in einem Ton, der deutlich machte, dass dies nun auch zu Ellas Aufgaben gehörte. “Es ist zu gefährlich, und sie würde sie stören.”

“Auf dem Eingangstor habe ich einen Hahn sitzen sehen”, warf Ella ein. “Das ist auch nicht wirklich ein Raubvogel.”

“Ach der!” Harris lachte laut auf. “Wir wissen nicht genau, wo er herkam. Eines Tages war er einfach da und hat uns nie wieder verlassen. Vermutlich hat er einen Schlafplatz in den Kiefern und kommt herunter, um nach Insekten zu suchen. Manchmal werfe ich ihm auch Futter hin, vor allem jetzt im Winter. Er ist eine starke Persönlichkeit. Sehr wachsam. Wir haben ihn in unser Herz geschlossen.”

“Wie heißt er?”

“Wir geben den Vögeln keine Namen. Das würde ein falsches Licht auf uns werfen. Wir denken, dass wir die Tiere darin bestärken sollten, dass sie wilde Kreaturen sind, nicht unsere Haustiere.”

“Cherokee hat aber einen Namen”, unterbrach Marion.

Er zuckte die Schultern. “Sehen Sie? Kinder erwischen einen immer wieder beim Lügen. Sie hat natürlich Recht. Einige der Vögel haben Namen, aber nur die Dauerbewohner des Centers, die aus irgendeinem Grund nicht wieder ausgewildert werden können. Ab und zu haben sie ja schon Namen, wenn sie hierher gebracht werden, und offen gesagt, wenn sie hier jahrein, jahraus leben, ist es für uns einfacher, uns einen Namen zu merken als eine Nummer.”

Er setzte sich langsam in Bewegung und deutete auf einige kleinere Käfige, die in einer Gruppe zusammenstanden. “Da drüben leben die Dauergäste. Wir können sie uns morgen ansehen. Und dort hinten sind Käfige für die verwundeten Tiere, die wieder ausgewildert werden.” Er zeigte auf zwei größere Holzverschläge zu ihrer Rechten.

Sie schlenderten langsam in die Richtung der Käfige zur Wiederauswilderung, während Harris darüber sprach, wie die Vögel je nach Gesundheitszustand in einer Art Rotationssystem die einzelnen Stationen durchliefen. Zuerst wurden sie auf der Intensivstation der Klinik behandelt. Wenn sie das kritische Stadium überlebt hatten, kamen sie in die größeren Käfige der medizinischen Abteilung, wo sie sich erholen konnten. Schließlich wurden sie in die Voliere verlegt, in der sie ausfliegen und Jagd auf lebendige Mäuse machen konnten, um sich wieder an ein Leben in Freiheit zu gewöhnen.

“Das ist die letzte Station auf dem Weg zur Auswilderung”, erklärte Harris, als sie an der langen, niedrigen Voliere angekommen waren. Sie war mit schwerem schwarzem Maschendraht abgetrennt und mit Holz gerahmt. “Sie ist einfach zu klein. Wir hoffen, bald eine größere bauen zu können. Eventuell sogar zwei, wenn wir Glück haben. Dann hätten auch die großen Vögel die Chance, ihre Flügel zu testen. So, das war alles”, schloss er. “Unsere Ziele hier im Center sind, zu beobachten, zu heilen und die Vögel wieder in die Freiheit zu entlassen.”

Als er über das Gelände sah, bemerkte sie den Stolz und die Befriedigung in seinen Augen, so viel erreicht zu haben. Ella hatte Marion immer im Blick, während sie neben den beiden spazierte. Wie war es wohl für sie, neben all diesen wilden und gefährlichen Raubvögeln aufzuwachsen, fragte sie sich und beschloss bei nächster Gelegenheit, mit Harris über Fragen der Sicherheit zu sprechen.

Er trat näher an die Voliere heran und beugte sich weit vor, um zwischen den Holzlatten hindurchzuspähen. “Schauen Sie sich die Vögel dahinten an. Rotschwanzbussarde. Sie sind wieder gesund und bereit für ihre Rückkehr in die Natur. Ich hoffe, dass ich sie bald freilassen kann.”

Sie blinzelte und versuchte, im schwindenden Licht etwas zu erkennen. Zusammengepfercht an der hintersten Wand bildeten die drei Bussarde eine beeindruckende Gruppe, robust und kräftig, viel größer, als sie einem vorkamen, wenn man sie am Himmel erblickte. Drohend starrten die Tiere sie an.

“Sie sehen aus, als wüssten sie, dass sie beobachtet werden”, sagte Ella.

“Davon können Sie ausgehen”, erwiderte Harris. Er sah über ihre Schulter und sagte: “Warten Sie einen Moment. Ich muss kurz etwas erledigen.” Er rannte auf eine freiwillige Helferin zu, die gerade mit einem Behälter voll Fisch und Mäusen zu den Käfigen der Station unterwegs war.

“Mmm … Abendessen!” kicherte Marion.

Eigentlich war Ella nicht zart besaitet, spielte aber mit und erschauderte angewidert. “Iiiih. Ich hoffe, das ist nicht für uns.”

“Doch, das ist es!” lachte Marion und hielt sich die Hand vor den Mund.

Ella genoss die ersten freundlichen Worte von Marion und warf ihr einen viel sagenden Blick zu. Aber damit war sie zu weit gegangen. Marions Lächeln erstarb, und das Misstrauen kehrte in ihr Gesicht zurück.

Um sie herum schwand das Tageslicht nun immer schneller. Ein erstaunter Blick auf die Uhr sagte Ella, dass sie eine halbe Stunde gelaufen waren. Sie beobachtete Marion. Das Mädchen hatte sich gegen eine Mauer gelehnt und machte einen erschöpften und zerknirschten Eindruck. Dies konnte bei einem Kind, das zuckerkrank war, mehr als bloße Müdigkeit anzeigen.

Harris unterhielt sich immer noch mit der Mitarbeiterin. Offenbar ging es um Schwierigkeiten mit einem Fischadler. Während er sprach, gestikulierte er wild in der Luft herum. Ella wunderte sich, wie er den Vögeln so viel Aufmerksamkeit schenken und so blind für das Befinden seiner eigenen Tochter sein konnte. Nicht nur die Vögel brauchten etwas zu essen.

“Also, ich bekomme jetzt langsam Hunger”, stellte sie entschieden fest und wandte sich zu Marion. “Und was ist mit dir?”

Das Kind nickte und kratzte sich müde am Kopf.

“Lass uns beide doch mal nachsehen, was es zum Abendessen gibt.” Sie streckte ihre Hand aus und war dankbar, als das Kind sie ergriff. “Meinst du wir finden in eurem Kühlschrank noch was anderes außer Mäusen?”

Zu ihrem Entsetzen waren Mäuse genau das, was sie fand.

Als Ella den Kühlschrank geöffnet hatte, entdeckte sie neben einem Milchkarton, Eiern, einem halben Brot und unzähligen Gewürzen eine große, verschlossene Plastikdose. Neugierig wie sie war, beugte sie sich vor, um die Dose zu öffnen. Der Verschluss sprang auf, und ein beißender Geruch quoll aus dem Behälter, als sie den Deckel abnahm.

“Oh!” Der Deckel fiel zu Boden, als Ella mit einem lauten Schrei die Hand vor den Mund schlug.

Sie stand mit aufgerissenen Augen vor dem Kühlschrank und rang nach Luft. Sie konnte es nicht glauben. In dem Behälter befanden sich Dutzende von toten Mäusen, schwarz, weiß und blutig, bis zum Rand der Dose übereinander gestapelt. Mäuse draußen, auf einem Tablett angerichtet für die Vögel, zu sehen war eine Sache. Aber hier im Kühlschrank, gleich neben dem Paket mit den Lebensmitteln für die Menschen, eine gänzlich andere.

“Ist alles in Ordnung?” fragte Harris, als er ins Haus kam. Er war außer Atem, als ob er den ganzen Weg von den Käfigen bis zum Haus gerannt wäre. “Ich habe Sie schreien gehört.”

“Sie bewahren Mäuse in Ihrem Kühlschrank auf!” rief sie aufgeregt und zeigte anklagend auf das Gerät.

“Ich weiß.”

“Und?”

“Was und?”

“Also, das ist nicht richtig. Das ist … das ist völlig inakzeptabel!”

“Ich wusste gar nicht, dass Krankenschwestern so empfindlich sind.”

“Empfindlich? Empfindlich?” wiederholte sie, wobei ihre Stimme immer schriller wurde. “Ich bin überhaupt nicht empfindlich. Und wenn man per Zufall Dutzende von blutigen, toten Mäusen im Kühlschrank einer Familie findet und sich erschreckt, hat das nichts, aber auch gar nichts damit zu tun, dass man empfindlich ist.” Sie fasste sich an den Kopf und versuchte, sich zu beruhigen. Eine Minute später atmete sie tief durch, und ihr Mund zuckte, als sie sagte: “Der Hauptgrund, der gegen Mäuse im Kühlschrank spricht, ist, dass sie einem absolut den Appetit verderben.”

Harris kratzte sich verschmitzt grinsend hinter dem Ohr. “Sie haben Recht. Es kommt auch nicht oft vor. Ich weiche nur auf diesen Kühlschrank aus, wenn das Gerät in der Klinik voll ist. Aber eigentlich sollten Sie das gar nicht mitbekommen. Ich wollte heute für Sie kochen. Sie sind unser Gast. Ich habe Steaks aufgetaut.”

Ihr drehte sich beim bloßen Gedanken daran, an diesem Tag noch Fleisch zu verzehren, fast der Magen um. “Marion muss etwas essen”, erklärte sie. “Ich dachte, ich mache schnell etwas.”

Seine Miene zeigte Verständnis und Anerkennung. “Ich schmeiße schon mal den Grill an.”

“Mr. Henderson”, rief sie ihm hinterher, um ihn aufzuhalten. “Bitte, bevor Sie irgendetwas tun, könnten Sie die Mäuse wegpacken? Das ist wirklich nicht sehr hygienisch. Und …” Sie nahm all ihren Mut zusammen. “Ich will Ihnen nicht vorschreiben, wie Sie Ihren Arbeitsplatz in der Klinik organisieren, aber da dies hier mein Arbeitsplatz sein wird, muss ich Sie bitten, keine toten Mäuse mehr in meinem Kühlschrank zu lagern.”

Er schwieg kurz, um nachzudenken, nickte dann und holte die Plastikdose. Marion hatte sich gegen das Sofa im Nebenzimmer gelehnt und betrachtete die Szene mit lebhaftem Interesse.

“Ich danke Ihnen”, sagte Ella mit einem aufrichtigen Seufzer der Erleichterung, als er das Behältnis nahm. “Kann ich Ihnen sonst irgendwie helfen?”

“Nein, das mache ich schon. Wie ich bereits sagte, Sie sind unser Gast.”

“Aber das bin ich nicht. Ich mag es nicht, untätig in der Gegend herumzusitzen, und Marion sollte so schnell wie möglich etwas in den Bauch bekommen. Warum soll ich nicht schon mal das Fleisch würzen, während Sie sich um den Grill kümmern? Und ich könnte einen Salat zubereiten. Das könnte ich doch tun, oder?”

“Sie sind wirklich eine Nervensäge”, sagte er tonlos. Sie konnte nicht entscheiden, ob es als Kompliment oder Kritik gemeint war. “Gut, dann überlasse ich Ihnen ab heute die Küche. Ich werde nur mal schnell die hier los und werfe anschließend den Grill an.”

Später an diesem Abend saß Ella auf der Kante ihres Bettes und starrte aus ihrem offenen Fenster in die Nacht hinaus. Ihr langes Haar fiel in weichen Wellen sanft über ihren Rücken und bewegte sich leicht in der kühlen Brise, die ins Zimmer wehte. Die Nacht war frisch, und sie hatte das Fenster geöffnet, um dem Schreien der werbenden Eulen zu lauschen. Harris hatte ihr beim Abendessen erklärt, dass die Eulen Paarungszeit hatten. Nachts, wenn die anderen Vögel sich zur Ruhe begaben, erwachten die Eulen erst zum Leben und begannen zu rufen.

Harris. Sie war erleichtert und glücklich darüber, dass ihr Arbeitgeber ein ansprechender, wohlerzogener Mann war. Und trotzdem war sie nicht auf ihre eigene Reaktion auf ihn vorbereitet gewesen. Sie fühlte sich magisch von ihm angezogen, und wenn immer er in der Nähe war, schlug ihr Herz so schnell und so laut, dass sie die Arme um ihren Leib schlingen musste, weil sie Angst hatte, dass er es sonst hören könnte. In diesem Moment lag er in seinem Bett im Zimmer am Ende des Flures, nicht weit von ihr entfernt, und sie war sich dieser Nähe schmerzlich bewusst.

Ella kuschelte sich immer tiefer in ihren Morgenmantel und lehnte sich nach vorne, um die melodische Abfolge von tiefen Rufen besser zu hören. Das melancholische Kreischen der Vögel ging von einem Käfig zum anderen – als ob die Tiere miteinander kommunizierten. Manchmal schrie auch eine Eule von einem Baum herüber. Aus allen Himmelsrichtungen tönten die Rufe, und der geheimnisvolle, erotische Gesang der Eulen entführte sie in die Nacht.

Sie schloss die Augen und hielt ihr Gesicht in den kühlen, feuchten Windhauch. Der geisterhafte, bleiche Mond schien über allem, und sie fühlte sich, als wäre ihr Herz geöffnet worden und ihre sorgsam verborgenen und wohl behüteten Erinnerungen nach außen gedrungen, wie ein paar alte Leinentücher und Kleider, die aus einer verstaubten Truhe zum Lüften nach draußen gehängt werden. Ihre Erinnerungen umgaben sie schmerzhaft, und sie spürte eine tiefe Leere und Einsamkeit. Die Dunkelheit war erfüllt von den Liebesgesängen der Eulen, und sie saß, vollkommen allein, auf ihrem Bett.

Wie immer.

Ella war fünfunddreißig Jahre alt. Sie stand zu ihrem Alter und konnte es jedem, der fragte, ohne zu stottern, zu erröten oder ein paar Jahre wegschummeln zu wollen, preisgeben. Fünfzehn Jahre lang hatte sie als Kinderkrankenschwester gearbeitet und war mit all ihrer Hartnäckigkeit und Hingabe, die ihr innewohnte, in dem Beruf aufgegangen. Am Vorabend ihres letzten Geburtstages hatte sie sich wie gewöhnlich eine Tasse Tee gemacht, ein Feuer in ihrem Kamin entzündet und, während sie in die Flammen starrte, über sich nachgedacht. Sie hatte ihr Leben fein säuberlich und realistisch analysiert, wie ein Buchhalter Zahlen analysiert.

Sie war eine durchschnittliche, nicht besonders hübsche Frau mit einer hervorragenden Schulbildung und guten Jobaussichten. Sie hatte seit achtzehn Monaten keine Verabredung mehr gehabt, seit vier Jahren keinen festen Freund mehr, und ihre romantischen Perspektiven sahen nicht gerade rosig aus. Und sie hatte sich gesagt, es sei an der Zeit, die Wahrscheinlichkeit eines Lebens ohne Mann in Betracht zu ziehen und sich allmählich damit abzufinden.

Die Wirklichkeit war nicht so sehr beängstigend als vielmehr ernüchternd. Während sie so in die Glut starrte, sah sie, wie ihre innersten Träume von einer eigenen Familie immer schwächer wurden und sich schließlich wie der Rauch eines erlöschenden Feuers in Nichts auflösten.

An jenem Geburtstagsabend, den sie allein verbrachte, entschied sie sich, nicht länger verzweifelt zu hoffen, sondern etwas zu tun. Sie konnte in ihrem Leben nicht viel ändern, aber sie konnte ihren Weg durch dieses Leben selbst bestimmen. Ihr Leben würde wieder Sinn machen, Erfolg und Freude bringen. Wenn sie sich nicht um ihre eigene Familie und ihre eigenen Kinder kümmern konnte, dann würde sie sich eben ihrer Karriere widmen und sich um die Kinder sorgen, die unter ihrer Obhut standen.

Und außerdem – auch das entschied sie in einer kalten, einsamen Winternacht in Vermont – würde sie es wenigstens schön warm haben.

Am nächsten Morgen besorgte sie sich eine Landkarte und wählte nur die Städte aus, die in der Nähe von Sandstränden und Palmen lagen. In der Stadt musste es selbstverständlich ein großes Krankenhaus geben, auch ein Theater und gute Musik würde sie sich wünschen, und ein Museum stellte ein großes Plus dar. Aber das Wichtigste auf der Liste war das milde Klima. Das erschien ihr nicht zu viel verlangt, und sie hatte sich den Wunsch nach einer Klimaveränderung bereits in den Kopf gesetzt. Direkt nachdem die Weihnachtskränze und Tannenzweige am Gasthof ihrer Stadt abgenommen worden waren, packte sie alles, was sie mitnehmen konnte, in ihren Toyota, küsste ihre weinenden Tanten zum Abschied und fuhr gen Süden ins sonnige Charleston, um dort ihr neues Leben im neuen Jahr zu beginnen.

Während der langen Fahrt bekam sie fast nichts von der Schönheit der Landschaft mit. Zu beschäftigt war sie mit der Frage, was sie am Ende dieser Reise erwarten würde. In ihrem Kopf spielten sich alle möglichen Szenarien ab. Aber niemals, nicht einmal in ihren kühnsten Träumen hatte sie mit dem Gedanken gespielt, dass Raubvögel einmal ihre Nachbarn wären und dass sie mit einem sturen Mann und seiner aufsässigen Tochter in einem winzigen Häuschen mit nur einem Badezimmer leben würde.

Sie schmunzelte über die versponnenen Wege des Schicksals, stand dann auf und schloss ihr Fenster. Zitternd zog sie sich ihren Morgenmantel aus und schlüpfte unter die schwere Bettdecke. Es dauerte ein paar Minuten, bis sich ihr durchgefrorener Körper wieder aufgewärmt hatte. Sie schlang die Arme um ihren Körper und rieb die Füße aneinander. Schon bald wurde es warm unter der Decke, ihre Muskeln entspannten sich, und ihr Atem ging gleichmäßig. Sie schloss die Augen und konnte durch das Fenster die süßen Liebeslieder der Eulen hören, die sie umgaben.

In dem Augenblick, als ihre Lider bereits schwer wurden, glaubte sie für einen kurzen Moment, die tiefe, volle Stimme eines Mannes zu hören, die mit den Liedern der Vögel verschmolz.

5. KAPITEL

Federn: Federn sind Wunderwerke der evolutionären Anpassung. Sie gehören zu den stärksten und zugleich leichtesten Strukturen lebenden Gewebes und können mehr, als Vögeln helfen zu fliegen. Wenn das Tier sich aufplustert, entstehen unter den Federn Luftpolster, die es vor der Kälte schützen. Wenn der Vogel die Federn nah an den Körper presst, wird über die Federn überschüssige Hitze abgegeben. Alle Vögel verlieren von Zeit zu Zeit ihre alten Federn und ersetzen sie durch neue. Diesen Prozess bezeichnet man als die Mauser.

Ella erwachte im Morgengrauen. Das zartrosa Licht der dämmernden Sonne kündigte den Tag an. Die Vögel zwitscherten vor ihrem Fenster. Es waren nicht die zarten Liebeslieder der Eulen oder die durchdringenden Schreie der Raubvögel, sondern das unmelodische Zanken und Keifen Eichelhäher und Spottdrosseln in den umliegenden Wäldern. Sie zog die Ecke ihrer wärmenden Steppdecke näher an das Kinn und kuschelte sich tief hinein. Als ihr wieder bewusst wurde, wo sie war, erstarrte sie.

Mein Gott, wie spät ist es? Hastig schlug sie die Decke zurück, und die kühle, feuchte Morgenluft traf sie wie ein Schwall kalten Wassers.

Eilig griff sie nach ihrer Uhr und sah mit Erstaunen, dass es noch nicht einmal halb sechs war. In der Luft hing die bittere und feuchte Kälte, die entsteht, wenn ein Feuer im Kamin erstirbt. Sie zitterte wie Espenlaub und nahm schnell ihren Morgenmantel vom Ende des Bettes, wo sie ihn am Abend zuvor abgelegt hatte. Während sie in den wunderbar wärmenden Mantel schlüpfte, huschte sie barfuß über den eisigen Fußboden zum Fenster, um durch einen Schlitz zwischen den Vorhängen einen Blick in den Garten zu werfen.

Draußen erwachte der Tag und tauchte die Welt in zarte, weiche Farben. Entzückt zog sie Vorhänge zur Seite, um eine bessere Sicht zu haben. Die idyllische Szene eines kleinen, stillen, tiefschwarzen Weihers, vollkommen eingeschlossen von grünen Kiefernwäldern, war ihr bei ihrer Ankunft gar nicht aufgefallen. Ein kleines Lächeln huschte über ihr Gesicht. Ihr gefiel der Gedanke, jeden Morgen diese wundervolle Aussicht genießen zu können. Eine Holzhütte mit einem Blechdach schmiegte sich ans Ufer des Teiches. Das musste die Hütte sein, in der Mr. Henderson angeboten hatte zu übernachten, sobald das Wetter besser würde. Sehr niedlich, fast verwunschen, dachte sie, als sie den Vorhang aus den Händen gleiten ließ und vom Fenster zurücktreten wollte. Doch aus den Augenwinkeln bemerkte sie eine Bewegung in der Nähe der Hütte.

Verwundert riss sie den Vorhang zur Seite und beugte sich weit vor, um besser sehen zu können. Tatsächlich. Sie hatte sich die Bewegung nicht eingebildet … Ein hagerer dunkelhäutiger Mann mit einem Bündel unter dem Arm stahl sich gerade aus der Holzhütte und huschte davon.

Verblüfft und mit offenem Mund verharrte sie noch einen Augenblick am Fenster. Das konnte doch nicht wahr sein! Jemand schlief in der alten Hütte? Bei dieser Witterung? Sie konnte es nicht fassen. Aus dem Kamin kamen keinerlei verräterische Rauchwolken, und am Dach hingen Eiszapfen. Da drinnen muss es doch eisig sein, dachte sie bei sich und fror schon beim bloßen Gedanken an die Kälte im Haus. Das alles schien ihr höchst suspekt, und sie entschied, Mr. Henderson beim Frühstück darauf anzusprechen.

“Ein Mann in der Holzhütte? Sind Sie sicher?” fragte Harris und blickte dabei skeptisch auf seinen Teller mit dem gebratenen Speck. Drei dicke Streifen lagen dort in einer Pfütze aus Fett, die an den Kanten völlig verbrannt waren.

“Natürlich bin ich sicher”, erwiderte Ella bestimmt, die neben ihm stand und ihm gerade Kaffee nachschenkte. “Sie meinen doch nicht etwa, dass ich mir das ausdenke, oder?”

“Nein, selbstverständlich nicht. Es ist nur …” Er schob den Teller mit dem Speck zur Seite und griff nach dem Toast. Auch die gerösteten Brotscheiben waren an den Kanten bereits schwarz. “Ein großer Mann, sagen Sie? Schlank? Dunkelhäutig?”

Ella zuckte innerlich zusammen, als sie sah, wie er verstohlen die verbrannten Ecken des Toastes abkratzte. Er wirkte unendlich müde, mit seinem zerzausten Haar und seinem schläfrigen Blick, und gleichzeitig so jungenhaft, dass Ella an sich halten musste, um nicht “Iss jetzt auf!” zu rufen, wie es früher ihre Tanten mit ihr gemacht hatten, wenn sie wieder mit dem Essen auf ihrem Teller gespielt hatte.

“Genau so!” erwiderte sie.

Harris stützte die Ellbogen auf dem Tisch ab. “Lijah”, sagte er nur, bevor er begann, den verkohlten Toast dick mit Marmelade zu beschmieren.

Ella fühlte sich beim Anblick des dürftigen, leicht verunglückten Frühstücks ein wenig schuldig und verschwand eilig in die Küche, wo sie sich eine stärkende zweite Tasse Kaffee einschenkte. Schon seit Stunden war sie auf den Beinen. Da sie als Erste aufgestanden war, nahm sie in rekordverdächtiger Zeit eine Dusche und zog sich Jeans und ein dickes Sweatshirt an. Das Haus war ihr so fremd, und sie musste gegen eine plötzliche Welle des Heimwehs und der Selbstzweifel ankämpfen. Doch sie ordnete ihre Gedanken, schob die Ängste beiseite und konzentrierte sich auf ihre Aufgaben. Als Erstes suchte sie Besen und Kehrblech. An einem Haken in der Küche hing eine Fleischerschürze, die sie sich umband, und einen Besen fand sie hinter der Küchentür. Mit dem Werkzeug in der Hand ging sie zum Holzofen. Wie sie erwartet hatte, war das Feuer schon lange erloschen und der Ofen ausgekühlt.

Holzöfen waren in Vermont üblich, und in kürzester Zeit hatte sie die Asche herausgefegt, nach draußen gebracht und ein neues Feuer entfacht, wozu sie das Holz verwendete, das sie in dem Fass auf der Veranda entdeckt hatte. Nachdem sie danach ihre Hände gewaschen hatte, fand sie es an der Zeit, sich mit der Küche vertraut zu machen. Der Norden mit seiner oft ungastlichen, kühlen Witterung lag ihr im Blut, und so erweckte die kalte Morgenluft ihre Lebensgeister.

Ella ließ ihre Blicke durch die Küche schweifen und dachte wieder, was es doch für ein seltsam herzergreifender kleiner Raum war. Alles schien entweder viel zu groß oder viel zu klein zu sein. Der winzige Roper Herd musste vormals einem Camper gute Dienste erwiesen haben. Dagegen sah das Waschbecken aus Porzellan überdimensional und riesenhaft aus. Es wirkte in dem schmalen grünen Resopalbüfett wie der Schwangerschaftsbauch einer zierlichen, dünnen Frau. Für das Waschen von großen Töpfen war es ideal, und Ella fragte sich, ob Marion früher nicht sogar in dem Becken gebadet worden war. Außerdem standen in der Küche noch ein kleiner Kühlschrank – ohne Mäuse –, ein antiker Toaster mit einem gefährlich ausgefransten Kabel und wunderschöne, handgefertigte Holzschränke, die so schwer aussahen, dass sie inständig hoffte, die Wände würden unter ihrem Gewicht nicht kollabieren. Alles in allem stellte diese Küche eine Herausforderung für einen geübten Koch dar – und ein geübter Koch war sie nun wirklich nicht.

Ella seufzte und betete, ein paar gute Kochbücher in den Regalen zu finden, die sie durch das Chaos leiten würden. Gerade wollte sie etwas Milch in ihren Kaffee geben, als sie bemerkte, dass nur noch ein Rest übrig war. Marion würde sicherlich Milch haben wollen, wenn sie aufwachte, und mit einem resignierten Seufzer stellte Ella den Karton zurück in den Kühlschrank. Missbilligend starrte sie in ihre Tasse, ging zu Harris und setzte sich an den Tisch.

“Wir brauchen Milch”, stellte sie fest.

“Ich werde heute einkaufen gehen.”

“Das müssen Sie nicht. Verraten Sie mir nur, wo das nächste Geschäft ist. Ich finde mich gut zurecht, wie Sie ja wissen”, fügte sie mit einem leichten Lächeln hinzu. “Wir müssen uns einen Plan für das Einkaufen überlegen. Eine Kasse mit Haushaltsgeld und so etwas. Ich denke, Sie geben mir einen wöchentlichen Zuschuss?”

“Wenn Ihnen das am liebsten ist.”

Er sprach generell nicht viel, bemühte sich aber, aufgeschlossen zu sein. “Heute bin ich in aller Frühe aufgestanden und habe mich ein bisschen umgesehen. Ich habe eine Liste mit den Dingen erstellt, die wir brauchen”, sagte sie und zog dabei ein Blatt Papier aus der Tasche ihrer Schürze. In zwei ordentlichen Spalten hatte sie aufgeschrieben, was sie an Lebensmitteln, sonstigen Artikeln und Putzmitteln benötigte, um ihren Job zu beginnen. Sie fühlte das Koffein durch ihre Adern schießen und konnte es kaum erwarten, die Ärmel hochzukrempeln und loszulegen. Sie wollte unbedingt einen guten Eindruck machen.

“Und natürlich wüsste ich gerne, welche Nahrungsmittel Sie und Marion bevorzugen und welche Sie nicht mögen, wie zum Beispiel Zwiebeln, Paprikaschoten und dergleichen. Reagieren Sie auf irgendetwas allergisch?”

“Nein, aber Marion isst nicht so gerne Gemüse. Vor allem nicht Okra.”

Sie lachte. “Ich könnte eine Okra nicht von einem Kohlkopf unterscheiden.”

“Oh.”

Ella dachte, dass es sich mehr wie ein Aufstöhnen und nicht wie ein Kommentar anhörte. Sie fuhr mit den Fingern am Rand ihrer Kaffeetasse entlang, bevor sie sie auf den Tisch stellte und ihre Hände faltete. “Mr. Henderson, ich denke, es ist nun an der Zeit, Ihnen zu gestehen, dass ich nicht die beste Köchin bin.”

Mit sorgenvoller Miene sah er sie an.

“Es ist so, dass ich bei meinen Tanten aufgewachsen bin”, beeilte sie sich zu erklären. “Sie besitzen ein Gasthaus, und sie kochen leidenschaftlich gerne. Meine Tante Eudora ist die Chefköchin. Sie kann eine Sauce Béarnaise zaubern – da kommen Sie aus dem Schwärmen gar nicht mehr heraus. Und ihre Desserts!” Ella verdrehte die Augen. “Ob Sie es glauben oder nicht, alles ist mit frischer Sahne und Butter aus Vermont gemacht.

Meine Tante Rhoda ist die Bäckerin. Ihr ganzes Interesse konzentriert sich auf Brote, Brötchen, Kuchen, Pasteten und das leckerste Gebäck. Immer riecht sie nach süßem Mehl, und ihre Hände sind so kräftig, dass sie Ihnen leicht eine Verspannung am Nacken wegmassieren, aber auch einen dicken Teigklumpen durchkneten kann. Ihr Gasthaus ist mit vier Fodor-Sternen ausgezeichnet worden”, fügte sie nicht ohne Stolz hinzu.

In Harris’ Gesicht spiegelt sich ein Funke Hoffnung wider. Doch als sie merkte, was er dachte, schüttelte sie grinsend den Kopf. “Tja, für mich ist nichts weiter zu tun gewesen, als hinter ihnen herzuräumen. Darin bin ich gut. Putzen. Ich kenne mehr nützliche Haushaltstipps als jede Großmutter. Außerdem bin ich ein Organisationstalent. Schon als kleines Mädchen habe ich die Verantwortung für die Speisekammer übernommen, und – unter uns gesagt – im Krankenhaus hatte ich die Zügel fest im Griff.” Sie schaute sich nachdenklich im Zimmer um. “Und ich sehe, dass meine Hilfe hier benötigt wird.”

“Aber, Sie wissen doch, wie man kocht?” Die Sorgenfalten auf seiner Stirn wurden immer tiefer.

“Ach, ein bisschen”, lenkte sie ein. “Schließlich habe ich für einige Jahre allein gewohnt.” Sie verkniff sich die Bemerkung, dass sie sich außerhalb der Krankenhauskantine nur von Tiefkühlkost oder den Carepaketen ihrer Tanten ernährt hatte. “Meine Tanten haben mir die Grundlagen beigebracht. Ich meine, ich kann Wasser kochen, und ich weiß, was backen und braten bedeutet. Wie schwierig kann es schon sein, wenn ich ein gutes Kochbuch zur Hilfe habe?”

Harris schluckte schwer und sah auf den geronnenen, zu kurz und zu heiß gebratenen Speck auf seinem Teller.

“Dieser Lijah”, fragte Ella, die begierig war, auf das ursprüngliche Thema zurückzukommen. “Arbeitet er hier?”

“Er ist der Mann, von dem ich Ihnen schon erzählt habe. Derjenige, der mit dem Adler auf dem Arm in die Klinik kam, erinnern Sie sich? Das muss er gewesen sein, der da aus der Holzhütte kam, dieser zugeknöpfte alte Kauz”, fügte er hinzu, doch die Zuneigung, die in seinem Blick lag, widersprach dem ärgerlichen Tonfall seiner Stimme.

“Sie wussten nicht, dass er da war?”

Harris schüttelte den Kopf. “Er ist ein seltsamer Mensch, bescheiden und arbeitsam, aber dies ist eine besondere Situation. Normalerweise lebt er in St. Helena, ist jedoch seinem Adler zu dessen Nistplatz gefolgt. Die beiden verbindet eine ganz besondere … Beziehung, so kann man das vielleicht nennen.” Er schwieg und rief sich die Nacht ins Gedächtnis, in der er Lijah an Santees Käfig stehen sah. Der alte Mann hatte das Tier sorgenvoll betrachtet. “So etwas Außergewöhnliches erlebt man nur selten. Er erzählte mir, er wolle nur so lange wie sein Adler bleiben. Ich bezweifle, dass er damit gerechnet hat, wie lange das sein würde. Ich habe das so akzeptiert und ihn in Ruhe gelassen. Er gehört zur Gemeinschaft der Gullah.”

Ella schüttelte den Kopf. Sie verstand nicht, was das bedeutete.

Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und streckte seine langen Beine unter dem Tisch aus. “Unter Gullah versteht man sowohl eine hier verbreitete Kultur als auch eine Sprache, die sich aus der Sprache der afrikanischen Sklaven und dem Englischen entwickelt hat. Man kann sagen, dass diese Art der Verständigung ein Vermächtnis des Sklavenhandels ist, die ihre Blütezeit auf den Plantagen erlebte und bis heute, zum Beispiel auf den Sea Islands, überlebt hat. Man findet überall in South Carolina Spuren dieser Kultur. Die geflochtenen Weidenkörbe, hoppin’ John, Musik …” Harris war in Gedanken versunken, ein Lächeln umspielte seinen Mund. “Manchmal höre ich, wie Lijah plötzlich Gullah spricht, wenn er sich mit den Vögeln unterhält – vor allem, wenn er mit ‘seinem’ Adler redet. Ich verstehe bei weitem nicht alles von dem, was er sagt, aber ich will verdammt sein, wenn die Vögel es nicht tun.” Er schüttelte den Kopf und schmunzelte bei dem Gedanken daran. “Die Tiere sitzen da, wenn er spricht, und hören zu wie Kinder, denen man eine Gutenachtgeschichte vorliest.”

“Kommt er oft vorbei?”

“Seit er den verletzten Adler bei uns vorbeigebracht hat, ist er fast jeden Tag in der Klinik, um zu helfen. Er erledigt Gelegenheitsarbeiten – bessert Käfige aus, hält die Gebäude instand. Es scheint nichts zu geben, was er nicht bauen oder reparieren kann. Wir können uns wirklich glücklich schätzen, dass er da ist.” Er runzelte die Stirn, als er auf seinen Teller sah. “Aber ich kann nicht zulassen, dass er in der alten Holzhütte übernachtet.”

“Warum nicht? Dort kann man offenbar gut wohnen.”

“Sicher. Im Sommer. Aber jetzt ist es viel zu kalt ohne Heizung.”

“Könnten wir ihm nicht einen Ofen hineinstellen?”

“Vielleicht”, lenkte er ein. “Aber das ist nicht das eigentliche Problem. Die Hütte ist nur für gutes Wetter gebaut worden. Oft haben wir im Sommer Studenten oder junge Tiermediziner zu Gast, die wir in dem Holzhäuschen unterbringen. Ich kann nicht vertreten, dass die Hilfskräfte dort wohnen.”

“Und Sie wissen wirklich nicht, wo Lijah wohnt ist, während er hier ist?”

“Nein. Ehrlich gesagt betrachte ich es auch nicht als meine Aufgabe, im Privatleben meiner Hilfskräfte herumzuschnüffeln. Sie kommen hierher, um ihre Zeit und ihre Kraft der Pflege dieser Vögel zu widmen. Ich bezahle sie nicht. Manche bleiben für lange Zeit, andere sind schnell gelangweilt oder haben sich die Arbeit im Center anders vorgestellt, und wieder andere finden einen Job und beenden ihre Tätigkeit hier.” Er machte eine Pause. “Aber Lijah gehört zu denjenigen, die mit Leib und Seele helfen wollen. Zuerst musste ich ihm zeigen, wo das Material lagerte und was zu tun war, doch schon kurze Zeit später hatte er selbst herausgefunden, was anstand, und erledigte es einfach. Solche Menschen sind schwer zu finden. Ich würde ihn schmerzlich vermissen, wenn er ginge.”

“Dann lassen Sie ihn nicht gehen.”

“Sie verstehen nicht. Er hat klargemacht, dass er nur vorübergehend bleibt.”

“Wenn er so gut ist, wie Sie sagen, kann man doch eine Einigung finden, oder? Sie könnten ihm einen Job anbieten.”

Harris legte seine Hände übereinander und betrachtete sie eingehend. “Miss Majors, ich habe meine eigene Art, solche Dinge zu regeln.”

“Sie sollten herausfinden, ob er einen Platz zum Schlafen braucht. Es gibt in der ganzen Gegend kein Hotel oder Motel. Hat er überhaupt genug zu essen?”

“Ich kümmere mich darum”, warf er ein und schnitt ihr das Wort ab. Er griff nach seiner Tasse und nahm einen langen Schluck, während er nachgrübelte.

Ella nahm schweigend ihre Tasse und kämpfte innerlich mit sich, ob sie ihre Grenzen hier im Haus überschritt, wenn sie der Sache mit Lijah weiter nachging. Wieder spürte sie, dass sie sich gegen Harris stellte, auch wenn sie sich heute Morgen geschworen hatte, einen guten Eindruck zu machen. Durch den Dampf, der aus ihrer Tasse aufstieg, sah sie ihn an. Er starrte in die Ferne, die Kiefer hatte er fest aufeinander gepresst.

Ella holte tief Luft. “Ich weiß, dass es meine Aufgabe in diesem Haus ist, mich um Marion zu kümmern. Und ich will mich auch gar nicht in die Geschäfte der Klinik einmischen. Aber Sie können doch nicht einfach die Augen verschließen und so tun, als hätten Sie nichts gesehen. Was, wenn dieser arme Mann keinen Platz zum Schlafen hat? Er kann nicht noch eine Nacht in dieser eisigen Hütte verbringen, so viel ist sicher. Es war ja schon hier so kalt, dass ich meinen Atem sehen konnte, als ich aufstand. Können Sie sich vorstellen, wie es in dem Häuschen am Weiher sein muss?”

“Tut mir Leid wegen des Feuers”, warf er schnell ein. “Normalerweise lasse ich es nicht ausgehen.”

“Macht nichts. Ich kenne mich mit Holzöfen aus. Von nun an schaue ich noch einmal nach, bevor ich ins Bett gehe. Und ich werde die alte Asche morgens entsorgen.” Sie bemerkte, dass er widersprechen wollte, und sagte mit aller Entschiedenheit: “Das ist mein Job, Mr. Henderson.”

Er musterte ihr Gesicht einige Augenblicke lang, und sie fühlte sich, als würde er sie genau abschätzen. “Sie haben es gern, wenn alles nach Ihren Vorstellungen läuft, habe ich Recht, Miss Majors?”

“Sie etwa nicht?”

Er stellte seine Kaffeetasse ab und sah sie mit einem Anflug von Ärger an. Er antwortete nicht. Stattdessen zog er die Beine an und stand vom Tisch auf. Ella blieb kerzengerade auf ihrem Stuhl sitzen, beobachtete ihn und fragte sich, wie sie beide es ein ganzes Jahr lang miteinander in einem Haus aushalten sollten.

“Danke für das Frühstück”, sagte er, ohne dass es sarkastisch klang. “Es ist schon lange her, dass ich vom Duft frisch gebrühten Kaffees geweckt wurde, den ich nicht selbst gemacht habe.”

Sie entspannte sich. “Gern geschehen.”

Langsam ging er zur Tür und nahm seinen marineblauen Mantel vom Haken. “Marion schläft manchmal gerne lange”, sagte er, während er die Arme in den Mantel steckte. Den Kragen schlug er hoch, bis er an die Ohren reichte, und fügte hinzu: “In ein paar Stunden bin ich wieder zu Hause, und dann stellen wir gemeinsam einen Haushaltsplan auf.”

Er war auffallend kurz angebunden, und sie fürchtete, ihn verärgert zu haben. Eine Erinnerung überfiel sie … Eines Morgens – es war schon lange Zeit her – erklärte sie dem Pfarrer ihrer Gemeinde, nachdem dieser eine bewegende Predigt über die Erbsünde gehalten hatte, dass sie nicht an einen Gott glauben könne, der es zuließ, dass arme, kleine, ungetaufte Kinder ins Fegefeuer kämen. Also habe entweder der Pfarrer sich geirrt und Gott missverstanden, oder sie könne nicht mehr zur Kirche gehen. Sie war damals neun Jahre alt und erinnerte sich genau daran, wie sie dem Pastor mit dem Finger gedroht hatte, während sie sprach. Ihre Tante Eudora hatte sie mit ihren blassgrauen Augen hinter den Brillengläsern eher traurig als böse angeguckt und gesagt: “Kind, wann wirst du lernen, deine Zunge zu zügeln?” Ella hatte das nie gelernt, und dieser Charakterzug war sowohl ihre Stärke als auch ihr Fluch.

“Wenn Sie Zeit haben, über den Haushaltsplan zu sprechen, stehe ich gern zur Verfügung”, sagte sie. “Oh, und Mr. Henderson …” rief sie, bevor er das Haus verließ.

Er hatte schon eine Hand an der Tür, stoppte aber und sah sie unsicher an.

Sie blickte auf den Teller mit Speck, den er nicht angerührt hatte, und versicherte ihm: “Ich versuche in Zukunft, es besser zu machen.”

Sein Lächeln war am Anfang zurückhaltend, doch als es aufblühte, veränderte es sein Gesicht vollkommen, und seine hellen Augen erstrahlten wie ein sonniger blauer Himmel.

“Miss Majors”, sagte er, offenbar berührt genug, um ihr ein kleines bisschen Vertrauen zu schenken.

Ella sah ihn voller Erwartung an. Neugierig hing sie an seinen Lippen.

“Ich sorge mich um meine Helfer. Sie sind gute Menschen, die sich besondere Mühe geben. Alles, was ich ihnen im Gegenzug für ihre Arbeit hier zurückgeben kann, ist, genauso hart oder noch härter zu arbeiten und die Gründe, warum sie hier sind, einfach zu akzeptieren. Wir mögen aus unterschiedlichen Welten stammen, aber die Liebe zu den Greifvögeln verbindet uns. Wir zählen aufeinander und brauchen uns gegenseitig.” Er öffnete die Tür, hielt inne und fügte schließlich hinzu: “Und jetzt gehe ich los, um herauszufinden, was mit Elijah Cooper los ist.”

Harris fand Elijah, der über den Arbeitstisch gebeugt war, im Untersuchungsraum. Bis jetzt war ihm nie aufgefallen, wie oft er den alten Mann schon frühmorgens in diesem Raum arbeiten gesehen hatte. In dem Moment, als er in das gemütliche, warme Zimmer trat, wusste er den Grund. Es war ein schönes kleines Zimmer. Ordentlich hingen Reihen von Lederhandschuhen, mit denen man die Vögel greifen konnte, und Hauben an den Haken, daneben waren Schaubilder und eine Gewichtstabelle an der Wand angebracht, und ein paar zusätzliche Käfige standen herum. Ein langer Holztisch hatte seinen Platz unter einem großen Fenster gefunden, aus dem man einen schönen Blick über die Käfige der Vögel hatte, die für immer im Center lebten. In den Schubladen des Tisches befanden sich die Bellen, Drahlen, Geschühriemen und was sonst noch für den Falkner wichtig war. Es schien vollkommen nachvollziehbar, dass ein Mann, der die Raubvögel so liebte, wie er es tat, sich in dieser Umgebung wie zu Hause fühlen musste.

Der alte Mann drehte sich um und blickte über seine Schulter, als Harris das Zimmer betrat. “Guten Morgen, Harris. Gut geschlafen?”

“Ja, ganz gut.” Er schloss die Tür hinter sich. “Womit sind Sie gerade beschäftigt?”

Lijah widmete sich wieder seiner Arbeit. “Oh, ich schneide nur Lederstreifen für die Fußfesseln zurecht. Ich dachte mir, heute lasse ich es mal langsam angehen, da ich beschlossen habe, später Kunstrasen auf den Ställen zu verlegen. Das ist ein harter Job, aber jemand muss es ja machen. Und so wie ich die Sache sehe, bin dieser Jemand wohl ich …” Sein leises, glucksendes Lachen schien tief aus seinem Brustkorb zu kommen.

“Das weiß ich zu schätzen”, sagte Harris und kam näher. Er sah zu, wie Lijah einige Streifen des leichten, strapazierfähigen Leders zuschnitt, die den Raubvögeln später an die Beine gebunden werden konnten, um sie sicherer halten zu können. Die Bänder, die er gerade in Arbeit hatte, sahen von der Größe her aus, als passten sie für einen Wanderfalken.

“Lassen Sie mich Ihnen zeigen, wie man diese so genannten Geschühriemen richtig zuschneidet”, sagte er und griff nach Leder und Messer. “Sie müssen darauf achten, das Leder nicht zu verletzen, wenn Sie die Streifen abtrennen”, erklärte er und demonstrierte ihm die richtige Technik. “Die Riemen sind nur gut, wenn sie sicher sind. Was nützen dem Falkner Drahlen, die einen Elefanten zurückhalten können, wenn die Geschühriemen nicht mal einen Spatzen zähmen? Hier. Wie ist das?” fragte er und hielt ein perfekt zugeschnittenes Paar Fußfesseln in die Höhe.

“Das sieht gut aus.”

“Jetzt probieren Sie es einmal.”

Er betrachtete genau, wie Lijah das Leder bearbeitete. Wie bei den meisten Tätigkeiten in der Vogelpflege war auch hier höchste Konzentration und Aufmerksamkeit vonnöten. Einmal hatte Harris einen Falken entdeckt, der sich mit einem Bein so hoch in einem Baum verfangen hatte, dass er ihm nicht helfen konnte. Und das alles nur wegen schlechter Fußriemen. Aber der alte Mann arbeitet trotz seiner großen, knorrigen Hände so geschickt wie eine Näherin, die feine französische Knoten herstellt, dachte Harris und betrachtete ihn voller Bewunderung.

“Sie haben geschickte Hände.”

“Ja, das habe ich. Sie haben mich all die Jahre nie im Stich gelassen. Ich kann fast alles aus ein bisschen Holz und einigen Nägeln zimmern. Auch mit Eisen habe ich schon gearbeitet. Und ich kann mit einem Netz umgehen, falls Sie auf dem Gebiet jemals Hilfe brauchen …” Er hob seine Hände und betrachtete sie mit Respekt. “Ich wollte mit diesen Händen früher immer Piano spielen, aber wir sind nie dazu gekommen. Ich denke, wir hätten bestimmt gute Musik gemacht.”

Harris atmete tief durch und rieb nervös seine Hände, denn er wusste bereits, dass die nächsten Minuten darüber entscheiden würden, ob dieser außerordentlich begabte Mann im Center bleiben würde.

“Ziemlich kalt heute, finden Sie nicht?”

“Kalt? Nein, so kalt ist es gar nicht. Heute Mittag sollen es sogar über 4 Grad werden.”

“Wirklich? Das ist gut. Dann können wir die Vögel nach draußen bringen.” Er räusperte sich und nahm einen neuen Anlauf. “Aber die Nächte sind kalt, stimmt’s?”

Lijah gluckste leise, während er das Material behandelte. “Oh, ja. Die Nächte sind sehr kalt.”

Harris wartete ein oder zwei Sekunden, bevor er fortfuhr: “Ich kann mir vorstellen, dass es sehr kalt ist, vor allem in der kleinen Holzhütte.”

Lijah hielt inne und ließ die Hände sinken. Er saß für einen Augenblick unbewegt, seufzte dann schwer, drehte sich um und sah Harris offen in die Augen.

“Ich wollte Sie nicht hintergehen”, sagte er düster. “Ich habe nichts schmutzig gemacht und darauf geachtet, nichts durcheinander zu bringen.”

“Ich weiß”, antwortete Harris. Er schwieg kurz. “Lijah, haben Sie denn keinen Platz, an dem sie vorübergehend bleiben können?”

“Doch, doch. Ich bin bei Freunden zu Besuch – nicht weit von hier, die Straße runter. Aber jeden Tag hin- und herzufahren, um Santee zu sehen, war zu umständlich. Sehen Sie, ich muss bei ihr sein. Ich muss bei meinem Vogel sitzen, damit wir das gemeinsam durchstehen können. Genau wie Sie auch für Ihre Tochter da waren, als sie im Krankenhaus war.”

Harris spürte eine starke Sympathie für die Situation des Mannes in sich aufwallen. Lijah liebte diesen Adler wie ein Vater sein Kind. “Ich verstehe”, sagte er. “Aber verdammt, Lijah, es gibt keine Heizung in der Holzhütte.”

“Es geht mir gut.” Ein schüchternes Lächeln huschte über sein Gesicht. “Es ist auf jeden Fall besser, als im Auto zu übernachten.”

“Lijah, es ist nicht gut, dass Sie in der Kälte schlafen. Wir müssen uns etwas anderes überlegen.”

“Sie müssen sich keine Sorgen um mich machen. Ich werde nicht mehr in der Hütte gehen und mir etwas Neues suchen. Das soll aber nicht Ihr Problem sein.”

“Aber wo wollen Sie hin?”

Er zuckte die Schultern. “Das wird sich finden. Wie ich schon erzählte, ich habe Freunde. Und es ist ja nur vorübergehend.” Seine Miene drückte plötzlich Sorge aus. “Ich hoffe, das alles ändert nichts daran, dass ich hierher kommen und arbeiten darf? Wenigstens, bis Santee wieder gesund ist? Ich liebe es, in der Nähe dieser Tiere zu sein und etwas zu tun. Und ich denke, ich mache meine Arbeit gut, oder?”

“Das ist keine Frage, und das wissen Sie auch selbst. Sie arbeiten fast zu gut. Inzwischen sind Sie nahezu jeden Tag hier, und das ist schon mehr als helfen. Ich möchte Ihre Großzügigkeit wirklich nicht ausnutzen.”

“Sie können mich nicht ausnutzen, denn ich gebe freiwillig, was ich kann.” Lijah lächelte gelassen.

“Also, ich möchte Sie sicherlich nicht daran hindern, auch weiterhin zu kommen. Da gibt es keinen Zweifel. Aber die Bedingungen, unter denen Sie bei uns tätig sind, haben sich grundlegend geändert. Sie arbeiten so hart wie jemand, der fest angestellt ist, doch das Problem besteht darin, dass ich Ihnen nicht den Lohn eines Festangestellten bezahlen kann.”

Lijah straffte die Schultern. “Ich habe nie um Geld gebeten.”

“Ich weiß, dass Sie das nicht getan haben. Aber Sie verdienen es. Also habe ich nachgedacht. Was würden Sie zu einem Gehalt sagen? Wir könnten über einen fairen Lohn verhandeln.”

Lijah wirkte nicht froh über den Vorschlag, sondern eher aufmerksam und vorsichtig. “Ich danke Ihnen für Ihr Angebot. Es ist sehr nett, um ehrlich zu sein. Aber all das hört sich für mich so fest und so langfristig an. Ich suche nicht nach einem Job. Mein ganzes Leben lang habe ich für mich selbst gesorgt und das Geld verdient, das ich brauchte. Mein ganzes Leben lang. Und ich möchte nicht, dass Sie für meine Arbeit hier bezahlen, denn ich bin wegen meines Vogels hier. So soll es sein. Ich sorge für mich selbst, und ich möchte selbst entscheiden, wann ich komme und wann ich gehe. Eigentlich möchte ich für Santee da sein und diese Sache mit ihr durchstehen. Wenn sie wieder gesund ist, werden wir die Heimreise antreten. Hoffentlich bald.” Sein Blick traf den von Harris. “Sie müssen verstehen und akzeptieren, dass, wenn Santee geht, ich mit ihr gehen werde.”

“Das verstehe ich.” Harris seufzte und traf eine Entscheidung. “Ich denke, wir können die Hütte etwas herrichten. Wir stellen einen Kerosinofen hinein, öffnen die Wasserleitungen, beziehen das Bett, und Sie können uns beim Essen im Haus Gesellschaft leisten. Obwohl Sie womöglich gerne auf dieses Vergnügen verzichten werden, wenn Sie erst mal in den Genuss von Miss Majors’ Kochkünsten gekommen sind.” Er lächelte. “Was sagen Sie? Sie können so lange oder so kurz bleiben, wie Sie möchten.”

“Wenn das so ist, danke ich Ihnen für Ihr freundliches Angebot und nehme gerne an.”

Sie gaben sich die Hände und lächelten sich in der freundschaftlichen, fast schon verschworenen Art an, wie es Männer häufig tun, wenn sie erleichtert und zufrieden mit der Lösung eines Problems sind.

“Ich gebe zu”, sagte Lijah, und wieder umspielte dieses ironische Lächeln seine Mundwinkel, “einige dieser Nächte waren so kalt, dass ich Angst hatte, mir könnten meine Gliedmaßen abfrieren. Aber es ist ja bald wieder Frühling, also wird alles gut.”

“Sie werden keine weitere Nacht frieren müssen – nicht, solange Miss Majors ein Wörtchen mitzureden hat. Sie war diejenige, die Sie im Morgengrauen aus der Hütte hat verschwinden sehen, und seitdem macht sie sich die größten Sorgen. So, wie ich sie kennen gelernt habe, wird sie das Holzhäuschen bis heute Abend hergerichtet haben.”

Lijah hob die Augenbrauen. “Miss Majors? Ist das Ihre neue Freundin?”

“Um Gottes willen, nein! Sie ist das Kindermädchen. Gestern ist sie angekommen und wird bei uns wohnen, um sich um Marion zu kümmern, den Haushalt zu meistern und – der Himmel steh uns bei – auch unser Essen zu kochen. Wo wir gerade davon reden, was und wo haben Sie eigentlich in den letzten Wochen gegessen?”

“Ich bin ein alter Mann, und mein Appetit ist nicht mehr das, was er einmal war.” Seine dunklen Augen funkelten amüsiert. “Ich habe des Öfteren die Mikrowelle in der Klinik benutzt, um mir einen Topf mit Suppe oder Eintopf zu erwärmen. Und von Zeit zu Zeit habe ich bei einem Verwandten oder Freund gegessen, der in der Nähe wohnt. Sie können es einfach nicht lassen, mich durchzufüttern. Natürlich habe ich auch Biskuits und dergleichen dabei. Oh, und ich bin ganz dankbar für die Erfindung von Slim Fast in Dosen. Schmeckt ziemlich gut. Das Einzige, was ich vermisse, ist ein starker, frisch aufgebrühter Kaffee am Morgen.

Harris lächelte, wie so oft verwundert darüber, wie sich die Dinge im Leben fügten. Er legte Lijah die Hand auf die Schulter.

“Heute ist Ihr Glückstag. Ich weiß, wo Sie eine gute Tasse bekommen.”

Brady Simmons befand sich auf dem Weg zum Coastal Carolina Center und schwor sich, dafür zu sorgen, dass sich jeder in diesem Center genauso schlecht fühlen würde, wie er es tat.

Er saß auf dem Beifahrersitz des alten Ford-Pick-ups seiner Familie, dessen Auspuff furchtbar qualmte und der jedes Mal aufheulte, wenn man in einen höheren Gang schaltete. Als wäre es nicht schon peinlich genug gewesen, in dieser verfallen Rostlaube gesehen zu werden, wurde er auch noch von seiner Mutter gefahren.

Dass er nicht selbst fahren durfte, war nur ein Teil der umfangreichen Auflagen, die er zu erfüllen hatte, seit die Polizei ihn überführt hatte, auf den Adler geschossen zu haben. Der Vogel wurde noch nicht einmal tödlich verletzt, aber mein Leben ist praktisch ausgelöscht, dachte er trotzig. Schlimm genug, dass er jeden Mittwoch und Samstagmorgen gemeinnützige Arbeit zu leisten hatte – und das für die nächsten sechs Monate. Das jedoch tat er, ohne zu murren. Er hatte es schließlich verdient. Er hätte den Abzug nicht drücken sollen.

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