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Der Geheimnishüter von Jaipur

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Indien, 1969: Hennakünstlerin Lakshmi gelingt es, ihrem Schützling Malik eine Anstellung im königlichen Palast von Jaipur zu verschaffen. Malik ist die rosafarbene Stadt Indiens bestens vertraut. Auf den Straßen Jaipurs ist er groß geworden. Und er kennt die ungeschriebenen Gesetze, nach denen die Mächtigen Geld und Einfluss nur unter sich aufteilen. Doch Malik will aufsteigen. Für sich und für Nimmi, seine große Liebe. Also wendet er an, was er von seiner Lehrerin Lakshmi gelernt hat. Geschickt nutzt er die Informationen, die er im königlichen Palast aufschnappt, und erlangt so das Ansehen der richtigen Leute. Bis eine Tragödie alles verändert – und Malik beschließt, endlich die Wahrheit auszusprechen.


  • Erscheinungstag: 21.03.2023
  • Aus der Serie: Die Jaipur Trilogie
  • Bandnummer: 2
  • Seitenanzahl: 448
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749905522
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Bradley, der mich zum Schreiben ermutigt hat.

Für meine Leser, die sich in Malik verliebt haben.

Das Gute, das du tust, wird morgen vergessen sein. Tue trotzdem Gutes. Ehrlichkeit und Offenheit machen dich verwundbar. Sei trotzdem ehrlich und offen. Was Jahre braucht, um gebaut zu werden, kann über Nacht zerstört werden. Baue trotzdem. Gib der Welt das Beste, das du hast, und du könntest verletzt werden. Gib der Welt trotzdem dein Bestes.

Mutter Teresa

Wenn du die Rose haben willst, musst du die Dornen hinnehmen.

Hinduistisches Sprichwort

Sei bescheiden, denn du bist aus Erde gemacht. Sei großmütig, denn du bist aus Sternen gemacht.

Serbisches Sprichwort

Auftretende Personen:

Malik: einundzwanzigjähriger ehemaliger Schutzbefohlener von Lakshmi, Absolvent der Bishop-Cotton-Jungenschule

Nimmi: dreiundzwanzigjährige Stammesfrau aus dem Himalajavorgebirge, Mutter von Rekha (Mädchen) und Chullu (Junge)

Lakshmi Kumar: vierundvierzigjährige ehemalige Hennakünstlerin, jetzt Leiterin des Lady-Bradley-Heilkräutergartens in Shimla, verheiratet mit Dr. Jay Kumar

Jay Kumar: Arzt im Lady-Bradley-Hospital in Shimla, Leiter der Gemeindeambulanz, Schulkamerad von Samir Singh, Ehemann von Lakshmi

Radha: sechsundzwanzigjährige Parfümeurin und Lakshmis jüngere Schwester; ist mit einem französischen Architekten verheiratet, mit dem sie in Paris lebt und zwei Töchter hat; bekam vor zwölf Jahren ein uneheliches Kind von Ravi Singh; das Baby wurde von Kanta und Manu Agarwal adoptiert.

Samir Singh: zweiundfünfzigjähriger Architekt und leitender Direktor von Singh-Sharma Construction aus einer Rajputen-Familie aus einer hohen Kaste, die mit der königlichen Familie von Jaipur verwandt ist; Ehemann von Parvati Singh und Vater von Ravi und Govind

Parvati Singh: achtundvierzigjährige führende Dame der Gesellschaft; Ehefrau von Samir Singh, Mutter von Ravi und Govind, entfernte Verwandte der königlichen Familie von Jaipur

Ravi Singh: dreißigjähriger Sohn von Parvati und Samir, Architekt im Familienbetrieb Singh-Sharma Construction, verheiratet mit Sheela

Sheela Singh: ehemals Sheela Sharma; achtundzwanzigjährige Ehefrau von Ravi Singh, Mutter von zwei kleinen Kindern, Rita und Baby

Manu Agarwal: neununddreißig Jahre alt, kümmert sich als leitender Direktor um die Liegenschaften der königlichen Familie von Jaipur, Ehemann von Kanta

Kanta Agarwal: neununddreißigjährige Ehefrau von Manu Agarwal, stammt ursprünglich aus einer Literatenfamilie aus Kalkutta, Mutter des zwölfjährigen Niki (oder Nikhil)

Nikhil Agarwal: zwölfjähriger Adoptivsohn von Kanta und Manu; Lakshmis Schwester Radha ist seine leibliche Mutter.

Baju: ein alter Familiendiener von Kanta und Manu Agarwal

Saas: »Schwiegermutter« auf Hindi; wenn Kanta sich auf ihre Saas bezieht, meint sie Manus Mutter, und wenn eine Frau ihre Schwiegermutter direkt anspricht, nennt sie sie respektvoll Saasuji.

Die Sharmas: die Eltern von Sheela Singh, Mitbesitzer des Singh-Sharma-Unternehmens. Mr. Sharma ist achtzig Jahre alt und gebrechlich. Seine Frau geht fast nirgendwo ohne ihn hin. Deshalb kümmert sich Samir Singh jetzt um alle Betriebsabläufe der Firma.

Moti-Lal: prominenter Juwelier, Eigentümer von Moti-Lal Jewellers in Jaipur

Mohan: Moti-Lals Schwiegersohn und Assistent bei Moti-Lal Jewellers

Hakeem: Buchhalter fürs Liegenschaftsbüro des Palastes von Jaipur

Mr. Reddy: Kinoleiter im Royal Jewel Cinema

Maharani Indira: vierundsiebzigjährige kinderlose Witwe eines ehemaligen Maharadschas von Jaipur, Schwiegermutter von Maharani Latika; lebt im Palast der Maharanis

Maharani Latika: vierundvierzigjährige glamouröse Witwe des kürzlich verstorbenen Maharadschas von Jaipur und Schwiegertochter von Maharani Indira; lebt im Palast der Maharanis; gründete die Maharani-Mädchenschule in Jaipur

Madho Singh: ein Alexandersittich, den Maharani Indira Malik geschenkt hat

Am Ende des Buchs finden Sie ein Glossar von Begriffen auf Hindi und Französisch.

Prolog

Malik

Mai 1969

Jaipur

Heute Abend wird das Royal Jewel Cinema eröffnet, das so glänzend strahlt wie ein Edelstein. Tausende von Lichtern glitzern an der Decke der riesigen Lobby. Weiße Marmorstufen, die zur oberen Loge hochführen, reflektieren den Glanz Hunderter Wandleuchter. Ein dicker purpurroter Teppich dämpft den Klang Tausender Füße. Und innen im Kino ist jeder einzelne der tausendeinhundert Mohairsessel besetzt. Und noch mehr Menschen stehen entlang der Wände zur Premiere Schlange.

Dies ist Ravi Singhs großer Moment. Als leitender Architekt dieses Prestigeprojekts, das von Maharani Latika von Jaipur in Auftrag gegeben wurde, beweist das Royal Jewel Cinema, was moderner Einfallsreichtum und eine westliche Ausbildung alles erreichen können. Ravi Singh hat dafür das Pantages Theatre in Hollywood als Vorlage benutzt, achttausend Meilen weit entfernt. Und er hat dafür gesorgt, dass das Kino zu diesem feierlichsten aller Anlässe Jewel Thief zeigt, einen Film, der tatsächlich schon vor zwei Jahren auf die Leinwand gekommen ist. Vor ein paar Wochen hat Ravi mir erzählt, dass er sich den populären Film ausgesucht hat, weil er den Namen des Kinos widerspiegelt und zwei der derzeit berühmtesten indischen Schauspieler darin mitspielen. Er weiß, dass die Inder es lieben, ins Kino zu gehen, und sich denselben Film gewöhnlich mehrfach anschauen; die meisten Kinos wechseln ihr Programm nur alle paar Monate. Selbst wenn die Bewohner von Jaipur den Film schon damals gesehen haben, werden sie kommen, um ihn sich noch einmal anzuschauen. Ravi hat auch dafür gesorgt, dass die Filmstars Dev Anand und Vyjayanthimala ebenso wie Dipti Kapoor, eine der jüngeren Schauspielerinnen, bei dem großen Ereignis dabei sind. Die Presse ist ebenfalls anwesend, um über die Eröffnung des Royal Jewel Cinema und die gesamte Jaipurer High Society in ihrem juwelengeschmückten Glanz zu berichten und über die Stars und Sternchen aus Bollywood zu staunen.

Ich nehme die moderne Architektur, die plüschigen roten Samtvorhänge, die die Leinwand abschirmen, und die beinah mit Händen zu greifende Vorfreude in mich auf und bin beeindruckt von dem, was Ravi erreicht hat – auch wenn es andere Dinge an ihm gibt, die mir Unbehagen bereiten.

Meine Gastgeber, Manu und Kanta Agarwal, wurden dazu eingeladen, mit den Singhs und den Sharmas zusammen in der Loge zu sitzen, den teuersten Plätzen im Haus. Als ihr Gast sitze ich bei den Agarwals (sonst würde ich unten Platz nehmen, näher an der Leinwand, wo es billiger ist; ich bin schließlich nur ein einfacher Lehrling im Palast von Jaipur). Kinder sind hier oben in der Loge zugelassen, aber Kanta hat ihren Sohn Niki zu Hause bei ihrer Saas gelassen. Als ich vorhin bei den Agarwals eintraf, um sie zur Eröffnung zu begleiten, konnte ich sehen, wie niedergeschmettert Niki war.

»Es ist das Ereignis des Jahrhunderts! Warum darf ich nicht mit? Alle meine Freunde gehen hin.« Nikis Gesicht war rot vor Wut. Mit seinen zwölf Jahren ist er in der Lage, seine ganze Empörung über diese Ungerechtigkeit in seinen Worten zum Ausdruck zu bringen.

Manu, der angesichts des aufbrausenden Temperaments seines Sohns und seiner Frau immer die Ruhe bewahrt, sagte: »Tatsächlich war die Unabhängigkeit unseres Landes das Ereignis des Jahrhunderts, Nikhil.«

»Damals habe ich aber noch nicht gelebt, Papaji. Aber jetzt lebe ich! Und ich verstehe nicht, warum ich nicht mitkommen darf.« Er sah seine Mutter hilfesuchend an.

Kanta blickte ihrem Ehemann in die Augen, als wollte sie fragen: Wie lange noch können wir unseren Sohn von gesellschaftlichen Ereignissen fernhalten, bei denen die Singhs anwesend sind? Niki ist inzwischen so alt, dass er wissen will, warum er bei manchen Anlässen dabei sein darf und bei anderen nicht. Kanta warf mir einen Blick zu, als wollte sie meine Meinung hören: Malik, was hältst du davon?

Ich bin geschmeichelt, dass ihnen wohl dabei ist, solche Unterhaltungen vor mir zu führen. Ich bin kein Blutsverwandter von ihnen, sondern nur dadurch mit ihnen verbunden, dass mein früherer Vormund Lakshmi (oder Tante Boss, wie ich sie nenne) eine enge Freundin ist. Ich kenne die Agarwals, seit ich ein kleiner Junge war, deshalb weiß ich auch von Nikis Adoption, auch wenn Niki selbst nichts davon weiß. Und ich weiß, dass die Singhs in dem Moment, wenn sie seine blaugrünen Augen sehen – so völlig ungewöhnlich in Indien –, sich an die Unbesonnenheiten ihres eigenen Sohns erinnert fühlen werden; Radha, die Schwester von Tante Boss, war nicht das erste Mädchen, das Ravi schwängerte, bevor er Sheela heiratete. Sich der Schwächen ihres Sohnes bewusst zu sein, ist eine Sache, aber in Fleisch und Blut damit konfrontiert zu werden, würde sowohl Samir als auch Parvati Singh aus der Fassung bringen.

Am Ende brauchten die Agarwals meine Hilfe nicht, um die Sache zu entscheiden, was mich erleichterte. Manus Mutter, die mit ihrem Rosenkranz aus Sandelholz beschäftigt war, beendete die Diskussion. »Weil all dieses Tanzen und Singen in Filmen die Menschen verdirbt! Komm, Niki, hilf mir hoch. Wir gehen in meinen Tempel.« Nikhil stöhnte. Er war ein höfliches Kind; eine Anordnung seiner Großmutter wurde nicht infrage gestellt.

Jetzt betritt unter ohrenbetäubendem Applaus Maharani Latika – die dritte und jüngste Ehefrau und jetzt Witwe des Maharadschas von Jaipur – im Royal Jewel Cinema die Bühne, um all die Kinobesucher willkommen zu heißen. Dies ist das erste größere Projekt, das sie seit dem Tod ihres Ehemanns geleitet hat; sie ist Manus Chefin; keine der anderen Ehefrauen des Maharadschas wollte die Verwaltung der Finanzen übernehmen. Manu kümmert sich als leitender Direktor um die Liegenschaften des Palastes von Jaipur und leitet Bauprojekte wie dieses hier, und Tante Boss hat mich zu ihm geschickt, damit ich sein Handwerk lerne.

»Heute Abend feiern wir das großartigste Kino, das es in Rajasthan je gegeben hat, das Royal Jewel Cinema.« Die Maharani wartet, bis der Applaus verklungen ist, bevor sie fortfährt. Ihre Ohrringe aus Rubinen und Diamanten und der goldbestickte Pallu ihres seidenen roten Banarasi-Saris schicken ein tausendfaches Funkeln in das Publikum, während sie den Blick über den vollen Saal gleiten lässt, ein seliges Lächeln im Gesicht. »Es ist ein historischer Moment für Jaipur, Heimat von weltberühmten Architekten, blendenden Textilien und Juwelen und natürlich Rajasthans Dal Batti!« Die Menge bricht in vergnügtes Gelächter aus, als sie das berühmte lokale Gericht erwähnt.

Ihre Hoheit würdigt Manus Aufsicht über das Projekt, beglückwünscht die Architekten von Singh-Sharma zu ihrer guten Arbeit und begrüßt zum Schluss ihrer Rede die Schauspieler aus dem Film auf dem Podium. Anand und Vyjayanthimala folgt unter lautem Pfeifen und »Waa! Waa!«-Rufen die kholäugige Kapoor in einem paillettenbesetzten Sari. Das Publikum überschüttet alle drei mit Rosen, Frangipani und Chemali und applaudiert ihnen im Stehen. In unserer Kindheit war Radha, die Schwester von Tante Boss, der größere Filmfan von uns beiden. Aber heute Abend bin selbst ich von der fiebrigen Aufregung, dem donnernden Beifall und dem Pfeifen des Publikums ergriffen.

Schließlich öffnet sich der Vorhang, und Stille legt sich über die Menge, während der Vorspann über die Leinwand läuft und der Film beginnt. Selbst die Rikscha-Wallas und Schneider auf den billigen Plätzen in den ersten Reihen verfallen in Schweigen.

Indische Filme sind lang, sie dauern fast drei Stunden, manchmal auch vier, mit einer Unterbrechung dazwischen. Während der Pause verlassen wir zusammen mit der Mehrheit des Publikums das Gebäude, um uns draußen Erfrischungen zu besorgen. Die Händler haben ihre Stände vorbereitet. Sie sind zu beiden Seiten der Straße vor dem Kino in Stellung gegangen. Das Aroma von gerösteten Chilierdnüssen, Panipuri, Zwiebel-Pakoras und Kartoffel-Samosas ist praktisch unwiderstehlich. Ich kaufe kleine Gläser Tee für alle und reiche sie herum. Samir kauft einen großen Teller voll Kachori und Aloo Tikki für unsere Gruppe.

Es ist Mai in Jaipur und bereits drückend heiß. Das Kino hat eine Klimaanlage, aber die Luft draußen ist frischer als der Geruch von tausend dicht aneinandergedrängten Körpern im Gebäude. Ravis Frau Sheela lehnt den Chai und das Essen ab und behauptet, es sei zu heiß. Ihre neugeborene Tochter ist an ihrer Schulter eingeschlafen. Sheela windet sich unter der Wärme des kleinen Körpers. Sie bläst die Wangen auf und geht zu einem Stand hinüber, der Khus-Khus-Fächer verkauft. Eine Schweißperle rollt ihren Hals hinunter und verschwindet im tiefen Ausschnitt ihrer fuchsiafarbenen Seidenbluse. Ich zwinge mich wegzuschauen.

Parvati präsentiert den Damen der Gesellschaft, die gekommen sind, um sie zu begrüßen, stolz ihre vierjährige Enkelin Rita. »Tumara naam batao, Bheti.«

Kanta plaudert fröhlich mit Freunden. Samir und Manu lassen sich von der Elite Jaipurs, die zur Gala gekommen ist, zu ihrer Arbeit am Kino beglückwünschen. Ich sehe mich nach Ravi um, der vorhin noch bei ihnen war, und frage mich, warum er sich die Gelegenheit entgehen lässt, im Rampenlicht zu stehen. Das sieht ihm nicht ähnlich.

So wie immer schaue ich hin und höre zu – was Tante Boss mir so gut beigebracht hat. In meinem nächsten Brief an sie und Nimmi in Shimla werde ich ihnen erzählen können, was die Kinobesucher von der Frisur der Hauptdarstellerin oder der Farbe ihres Saris hielten. (Ich würde wetten, dass Nimmi noch nie in ihrem Leben einen Film gesehen hat!) Ich werde ihnen auch berichten können, dass die meisten Damen in Jaipur den stattlichen Dev Anand heiraten würden, wenn sie auch nur den Hauch einer Chance hätten.

Ich sehe, wie Sheela zu unserer Gruppe zurückkehrt und mit dem Fächer vor ihrem Gesicht herumwedelt. Parvati streckt die Hand aus, um dem schlafenden Baby die feuchten Locken aus der Stirn zu schieben. Sheela sieht an ihrer Schwiegermutter vorbei. Plötzlich verhärtet sich ihr Gesichtsausdruck. Ich folge ihrem Blick zur Ecke des Kinos. Dann sehe ich, wie Ravi diskret die jüngere Schauspielerin durch die Seitentür des Gebäudes hinauseskortiert. Sheela verengt die Augen, während ihr Ehemann und das Filmsternchen in der Dunkelheit verschwinden, fort vom Gedränge. Ich weiß, dass es dort eine Laderampe gibt. Dort warten auch die Fahrer der Maharani und der Schauspieler, um sie schnell wegzubringen. Vielleicht geleitet er sie zu ihrem Wagen.

Wir hören die Klingel, die das baldige Ende der Pause ankündigt. Die zweite Hälfte des Films fängt gleich an. Ich werfe einen Blick auf meine Uhr. Es ist jetzt einundzwanzig Uhr dreißig. Sheelas Mädchen sollten längst im Bett sein, aber Ravi bestand darauf, dass seine Familie bei seinem großen Moment anwesend ist und von der Öffentlichkeit gesehen wird. Ich bin mir sicher, dass Sheela deswegen mit ihm gestritten hat. Ihr ist es lieber, wenn sich die Ayah um die Mädchen kümmert.

Die Menge strömt zurück in die Lobby und durch die offenen Türen des Vorführraums. Ich reiche den Chai-Wallas, die ihre Runden machen, die leeren Teegläser. Der Boden ist übersät mit Bananenblättern, auf denen Chaat gereicht wurden. Ein mannigfaltiger Duft nach Essen – nicht ganz unangenehm – hängt in der Luft. Ich hebe Ravis andere Tochter Rita, die ihre Augen kaum noch offen halten kann, auf meine Schulter.

Ich folge dem Rest der Gruppe in die Lobby.

Kurz bevor wir die Türen erreicht haben, hören wir ein lautes Knacken, dann ein klagendes Stöhnen und dann plötzlich das Dröhnen Tausender Kilo Zement, Ziegelsteine, Betonstahl und Trockenbauwände, die zusammenbrechen. Innerhalb von Sekunden ertönen das ohrenbetäubende Geräusch eines einstürzenden Gebäudes, gequälte Schreie und Schmerzgeheul aus dem Kino.

1

Nimmi

März 1969

Shimla, Himachal Pradesh, Indien

Ich bleibe stehen, um mir die Berge anzusehen, die langsam aus dem Schlaf erwachen. Der Winter in Shimla geht dem Ende zu. Die Männer und Frauen wickeln sich in zwei, manchmal auch drei Pashminaschultertücher ein, aber die Hügel werfen ihre Decken ab. Ich höre Schmelzwasser – tropf, tropf, tropf – auf dem harten Boden aufschlagen, während ich mich vorsichtig auf dem Weg zu Lakshmi Kumars Haus mache.

Gestern habe ich in dem Tal unter uns die ersten rosa Anemonen gesehen, wie sie frech ihre Nasen in die dünne Luft stießen. Ich stelle mir vor, wie in den entfernten Bergen im Norden mein Stamm seine Schafe und Ziegen durch das Kangra-Tal zum Dorf Bharmour in den Höhen des Himalaja führt, so wie ich es auch tun würde, wenn mein Ehemann Dev noch am Leben wäre. Es ist kaum zu glauben, dass er schon seit einem Jahr fort ist. Meine Tochter Rekha würde jetzt an der Seite ihres Vaters laufen und mit ihren Ärmchen wedeln, um ihm beim Treiben der Schafe und Ziegen zu helfen, während ich unser Baby Chullu auf dem Rücken trüge. Wir wären in Begleitung der anderen Familien unseres Stammes, die im unteren Teil des Himalaja überwinterten, damit ihre Herden genug Futter finden. Sobald der Schnee zum Frühlingsanfang zu schmelzen begann, kehrten wir immer in die Berge zurück, um unsere Felder mit dem Schafdung zu bearbeiten, der über die Wintermonate zu reichhaltigem Dünger herangereift war.

Ich habe meine Familie nicht mehr gesehen, seit ich meinen Stamm im vergangenen Frühling nach Devs tödlichem Unfall verlassen habe. Sie kommen nicht so weit nach Süden bis Shimla herunter, aber es vergeht nicht ein Tag, an dem ich nicht voller Zuneigung an sie denke.

Während wir marschierten, erzählte Old Suresh uns immer Witze. Kennt ihr schon den über die Ziege mit Blähungen und den Schäfer ohne Nase? Nein, erzähl ihn uns, erwiderten wir dann mit einem Lachen.

Die zahnlose Großmutter Sushila, aus deren dreieckiger Tätowierung an ihrem Kinn graue Barthaare herausragten, fing dann mit einem der Volksmärchen an, die sie von ihrer Großmutter kannte. Der König befahl also der Königin, aus der feinsten Wolle eine Decke für ihn zu weben, was sie fast zehn Jahre kosten würde, wie er wusste. Wir alle kannten die Geschichte auswendig und beendeten den letzten Satz für sie, woraufhin sie uns immer mit einem Stirnrunzeln ansah. Oh, kennt ihr diese Geschichte denn schon?

Nachdem wir die Wolle unserer Schafe im unteren Himalaja verkauft hatten, erfreuten wir uns an unseren umfangreichen Wintereinkäufen: ein himmelblauer Pullover aus der Fabrik, ein Transistorradio von Philips, ein gackerndes Huhn, gekauft auf dem Markt an einer Bergstation. Ein paar Familien hatten sich vielleicht eine stattliche gefleckte Hausziege oder einen jungen schwarzen Bullen ausgesucht, den wir bewunderten. Meine Schwägerin präsentierte uns eine neue Worfelplatte; mein älterer Bruder marschierte stolz mit seinen Söhnen an ihrer Seite. Wir wackelten mit den Köpfen und stimmten zu, dass sich die Spelzen mit dieser Platte viel schneller von den Reiskörnern trennen ließen.

Jetzt lächele ich, während ich an diese strapaziösen Reisen durch den Himalaja zurückdenke. Ich bin fast glücklich. Das Einzige, was mir dazu noch fehlt, ist ein Brief von Malik, selbst wenn ich ihn mit jemand anderem teilen muss, insbesondere wenn es sich bei diesem Jemand um Lakshmi handelt. Wenn ich doch nur zur Schule hätte gehen können, dann wäre ich nicht der Demütigung ausgesetzt, dass er seine Briefe für mich an sie schickt, damit sie sie mir vorliest.

Meine Ziegenfellstiefel erzeugen ein befriedigendes quatschendes Geräusch auf dem matschigen Kies, während ich mir vorstelle, wie ich Lakshmi Kumar aus meinem Leben hinausstampfe.

An dem Tag, an dem Lakshmi in mein Leben trat, war ich nicht bei klarem Verstand. Ich war so außer mir vor Fieber und Trauer, dass ich mir nicht mal bewusst war, dass ich meinen Sohn Chullu geboren hatte, zwei Monate zu früh. Vorher am selben Tag hatte mein Ehemann Dev versucht, einen von Rhododendronblättern berauschten jungen Ziegenbock zurück auf den engen Bergpfad zu ziehen. Wir waren auf dem Weg zu unseren Sommerunterkünften im oberen Himalaja gewesen. Dev verlor den Halt und stürzte mit dem Ziegenbock Hunderte Meter tief in eine Schlucht. Wir alle sahen es, aber es gab nichts, was wir hätten tun können. Der Himalaja ist für uns die Heimat der Götter – Shiva, Ram und Kamla –, die alle viel mächtiger sind als wir. Wenn sie jemanden von uns nehmen wollen, dann ist das ihr Recht, ihr Privileg. Dennoch war ich nicht bereit dazu, meinen Ehemann gehen zu lassen. Immer und immer wieder weinte ich. War die Ziege, die wir am Anfang unserer Reise geopfert haben, nicht genug, um uns zu schützen? Oder war es ein böser Nazar? Dass unsere Schafe im vorherigen Winter so viel Wolle produzierten, hatte möglicherweise jemanden neidisch werden lassen.

Ich packte die Menschen neben mir an den Schultern und kreischte in ihre erschrockenen Gesichter: Sag mir, dass du Dev nicht verflucht hast! Ich schrie Shiva an. Ich schlug mit den Fäusten auf meinen aufgeblähten Bauch und versprach Shivaji, ihm das Baby zu überlassen, wenn er mir nur Dev zurückbrächte. Mein Schwiegervater und mein Bruder mussten mir die Arme vom Bauch wegziehen, damit ich das Leben darin nicht verletzte. Die Frauen rieben meine Schläfen, Hände und Füße mit warmem Senföl ein, bis ich schließlich in der Benommenheit versank. Knapp eine Woche später, als ich daraus erwachte wie aus einem langen Schlaf, sah ich das sorgenerfüllte Gesicht der kleinen Rekha, die sich an meiner Bettkante herumdrückte, und rief meine Tochter zu mir. Sie war gerade erst drei Jahre alt und verstand noch nicht, dass sie ihren Vater nie wiedersehen würde. Damals erzählte mir mein Schwiegervater von dem Arzt und der Doctrini, die aus Shimla gekommen waren, um sich um mich zu kümmern; mein Körper hatte stärkere Medizin gebraucht als das, was unser Stamm dabeihatte. Der Vater meines Ehemanns sprach durch einen Vorhang mit mir, den die Frauen aufgebaut hatten, um stillende Mütter nach der Geburt des Babys elf Tage lang zu isolieren. Ich blickte hinunter und bemerkte zum ersten Mal ein schlafendes Neugeborenes in meiner Armbeuge, seinen Kopf von meiner tropfenden Brust abgewandt, aus seinem rosafarbenen Mund sabberte blassblaue Milch.

Wie hatte ich jemals dieses Baby wegwünschen können? In ihm hatte Shiva mir die feinen Nasenflügel, die breite Stirn und die leicht gelockten Haare von Dev wiedergegeben. Ich bat Rekha, zu uns auf die Decke zu klettern und ihren Bruder Chullu zu begrüßen.

Als ich Lakshmi Kumar das nächste Mal sah, war dies gleichzeitig der Tag, an dem ich Malik traf, im vergangenen Juni. Ich verkaufte Blumen am Hauptweg in Shimla. Rekha war drei Jahre alt, ein ernstes Mädchen, und ich hatte sie gebeten, auf ihren nun drei Monate alten Bruder aufzupassen. An dem Morgen hatte ich in den Wäldern Shimlas Rosen, Gänseblümchen und Butterblumen für Touristen und wiederkehrende Besucher gepflückt und für die anspruchsvollen Käufer Pfingstrosen, Schafgarbe und Roten Fingerhut. Durch das Zusammenleben mit meinem Stamm wusste ich, dass bestimmte Blumen Schmerzen und Husten kurieren, die monatliche Blutung erleichtern und unruhige Körper in den Schlaf wiegen konnten.

In meinem Verkaufsstand holte ich die Blumen aus dem großen, flachen Korb heraus, den ich aus Feengras gewebt hatte, und richtete sie auf einer Pferdehaardecke auf dem Boden aus. Als Chullu anfing, unruhig zu werden, zog ich einen kleinen Lumpen von meinen tropfenden Brüsten aus der Bluse, um ihm den zu geben. Er begann daran zu saugen und beruhigte sich wieder. Bald würde er Zähne bekommen, und schließlich würde ich mit dem Stillen aufhören müssen, aber jetzt genoss ich es noch, seine Wärme – Devs Wärme – an meinem Körper zu spüren.

Zuletzt packte ich immer die silberne Statue von Shiva aus. Nachdem ich ein stilles Gebet gesprochen hatte, um ihm für meinen Chullu zu danken, stellte ich sie auf einer Seite auf. Dann setzte ich meine beiden Kinder in den leeren Korb. So wie meine Mutter vor mir und ihre Mutter vor ihr hatte ich gelernt, meine Kinder anzubinden, wenn ich damit beschäftigt war, Ziegenmilch für den Käse zu kochen, einen Mantel zu nähen oder Dung fürs Feuer zu sammeln. Chullu sah zu, während ich das Stoffseil um seine Handgelenke band. Als ich seine Wangen küsste, drehte er sich zur Seite und warf den Kopf zurück. Rekha spielte mit seinen Haaren. Kaum hatte sie seine Locken zu einem Zopf geflochten, schüttelte er schon den Kopf und kicherte, sodass sich der Zopf wieder auflöste und sie von Neuem beginnen musste.

Ich wusste, dass ich anders aussah als die anderen Verkäufer am Gehweg, und ich betrachtete das als Vorteil, insbesondere bei den Touristen – Inder in den Flitterwochen, ältere Menschen in spiritueller Klausur, Europäer, die von der Lebensweise unseres Stammes fasziniert waren. So wie die anderen Frauen meines Stammes auch trug ich meinen geblümten Rock aus leuchtend gelber Baumwolle über meinem grünen Shalwar Kamiz. Ein silbernes Medaillon thronte wie eine kleine Kappe auf meinen Haaren und krönte den orangen Chunni, den ich über den Kopf und um meine Schultern gelegt hatte. Um meine Taille hatte ich zwanzigmal ein Seil aus gekochter und schwarz gefärbter Schafwolle geschlungen. Und dann waren da noch die verräterischen Punkte – drei Stück, die in Form eines Dreiecks auf mein Kinn tätowiert worden waren, als ich erwachsen wurde –, weswegen mich Besucher in Shimla immer anstarrten. Nur den üppigen Nasenring, so groß wie ein Armband, den ich zu meiner Hochzeit bekommen hatte, trug ich nicht mehr; ich hatte gemerkt, dass er mich nicht nur zu einer Kuriosität machte, sondern fast schon zu einer Attraktion, auf die die Besucher sich gegenseitig aufmerksam machten. Sie glaubten, diskret zu sein, aber ich fand die Faszination in ihren Gesichtern verstörend.

Nachdem Dev in der Schlucht gestorben war, war ich fest entschlossen, dafür zu sorgen, dass meine Kinder niemals das gleiche Schicksal erleiden würden, nämlich mit dem Stamm hin und zurück durch die Berge zu ziehen und Zehen durch Erfrierungen zu verlieren, während der drohende Tod immer nur ein paar Schritte entfernt war. Ich hatte meinen Schwiegervater darum gebeten, in Shimla bleiben zu dürfen. Er hätte es gerne gesehen, wenn ich einen anderen Junggesellen aus meinem Stamm geheiratet hätte, aber auch er betrauerte den Tod seines Sohnes und stimmte zögernd unter der Bedingung zu, dass ich es allein schaffen musste. Sein Abschiedsgeschenk war ein großer Vorrat an getrocknetem Fleisch und der gesamte Silberschmuck aus meiner Aussteuer. Als Frau hatte ich kein Anrecht auf Eigentum, nicht einmal auf ein Schaf oder eine Ziege, aber ich wusste, dass ich meinen Schmuck in harten Zeiten verkaufen konnte.

Links von meinem Verkaufsstand in der Shimla Mall quetschte ein Luftballonverkäufer seine Luftwürstchen in die Form eines Elefanten oder Kamels. Meine Kinder sahen begeistert zu. Chullu streckte die Hand nach einem aus, aber Rekha drückte seinen Arm sanft herunter. Zu meiner Rechten gab es einen Coca-Cola-Stand, dessen Besitzer noch nicht da war. Für ein kühles Getränk war es noch etwas früh am Tag. Bis zum Nachmittag würden die Besucher wegen des exotischen Geschmacks Schlange stehen.

Die Uhr in der Kirche Christi schlug acht Mal. An Frühlingsmorgen wanderten die Frühaufsteher zu den Tempeln von Jakhu Hill, Sankat Mochan oder Tara Devi, um dort zu beten. Die weniger Religiösen schliefen aus; sie brauchten sich nicht zu beeilen, um ihren Tag zu bewältigen.

In der Ferne sah ich einen jungen Mann und eine Frau, die zielstrebig auf mich zukamen. Die Frau trug einen kastanienbraunen Sari und einen dazu passenden Wollumhang, der an den Säumen mit weißen Blüten bestickt war. Sie ging mit schnellen, kurzen Schritten. Ihre Haare hatte sie oben auf dem Kopf ordentlich zusammengesteckt. Der junge Mann war schlank, einen Kopf größer als die Frau, aber sein Gang war lässiger, als hätte er alle Zeit der Welt. Trotzdem hielt er mühelos mit ihr Schritt. Als sie sich meinem Stand näherten, bemerkte ich, dass sie alt genug war, um seine Mutter zu sein. Feine Linien zogen sich über ihre Stirn und ihre Mundwinkel. Der Mann schien nicht älter als zwanzig zu sein, vielleicht ein paar Jahre jünger als ich. Er trug ein weißes Hemd, einen blauen Pullover und eine dunkelgraue lange Hose. Die Frau hatte ihren Blick auf meine Blumen gerichtet, während er amüsiert meine Kinder im Korb beobachtete.

Die Frau griff nach den Pfingstrosen. »Wo hast du die gefunden?«, erkundigte sie sich.

Ich musste meine Augen von dem jungen Mann losreißen; er erinnerte mich so sehr an meinen verstorbenen Ehemann. Devs Augen, gleichzeitig sanft und schneidend, ganz ähnlich wie die von diesem Mann, hatten mich umworben, mich geliebt und mir ein Gefühl von Sicherheit vermittelt.

Als ich mich der Frau zuwandte, erschrak ich über ihre Augen. Sie war eine attraktive Frau, doch diese blauen Kugeln mit der Farbe des Berghimmels nach einem nächtlichen Regenschauer machten sie zu einer Schönheit. »In einer Schlucht ungefähr eine Meile von hier entfernt«, erwiderte ich. »Sie fällt scharf von der Klippe ab. Dort unten am Boden wachsen welche.« Meine Fundstelle zu enthüllen, machte mir keine Sorgen. Für mich war es normal, steile Abhänge entlangzuklettern, und ich war mir sicher, dass eine so kultivierte Person wie sie mir nicht dorthin folgen würde. Wenn unsere Stammesältesten einander als »alte Ziegen« bezeichneten, bezogen sie sich darauf, wie leichtfüßig wir neben unseren Herden die Berge hochtrotteten.

Chullu fing zu weinen an, und die Frau wurde auf ihn aufmerksam. Ihre Augen flackerten, und ihr Mund öffnete sich leicht. Ich rieb mit einem Finger über Chullus schmerzendes Zahnfleisch, um ihn zu besänftigen. Auf dem Gesicht der Frau erschien ein wundervolles Lächeln. »Ich sehe, dass er gewachsen ist.«

Kannte ich sie? Falls ich sie schon einmal getroffen hatte, konnte ich mich nicht an sie erinnern. Sie bemerkte meine Verwirrung und zeigte mit dem Kinn auf Chullu. »Dr. Kumar und ich haben dir vor ein paar Monaten bei seiner Geburt geholfen.« Sie warf einen Blick hoch zur Spitze des Bergrückens. »Mehrere Meilen auf der anderen Seite des Gipfels.«

Das war also die Doctrini, die sich um mich gekümmert hatte! Sie war für die Rettung meines Chullu verantwortlich; ich schuldete ihr eine ganze Menge. Ich legte die Hände zusammen und verneigte mich, um ihre Füße zu berühren. »Vielen Dank, Doktor. Wenn Sie nicht gewesen wären …«

Sie beugte sich herunter, um mich aufzuhalten, wobei sie ihre Hände über meine legte. In dem Moment bemerkte ich die feinste Hennamalerei, die ich je auf den Händen einer Frau gesehen hatte. Es sah aus wie die elegante Perlen- und Paillettenstickerei auf einem Hochzeits-Chunni – fast so, als würde sie Chiffonhandschuhe mit einem verschlungenen Muster tragen. Es kostete mich Mühe, meinen Blick von ihren Händen abzuwenden. Sie sprach weiter.

»Du musst meinem Ehemann, Dr. Kumar, danken. Oben im Lady-Bradley-Hospital«, sagte sie. »Ich bin keine Ärztin. Ich arbeite mit ihm zusammen, um die Schmerzen während und nach der Geburt zu lindern. Ich freue mich, dass es dir und dem Baby so gut geht.«

Meinen Ehemann erwähnte sie nicht, wofür ich ihr dankbar war. Der intensive Schmerz, den ich nach Devs Verlust anfangs gespürt hatte, war jetzt zu einem Rinnsal verebbt, das ich nur noch in bestimmten Momenten wahrnahm – zum Beispiel, wenn mein Blick auf das Amulett von Shiva fiel, das Dev immer um den Hals getragen hatte und das ich jetzt um die Statue des Gottes in meinem Zuhause drapiert hatte.

Ich wandte mich von der Frau ab, schob die Gedanken an Dev beiseite und begann Pfingstrosen in Zeitungspapier zu wickeln. Ich hörte, wie der junge Mann meine Kinder fragte, welches Tier der Ballonverkäufer für sie machen solle. Ich warf ihm einen Blick zu, wie er vor dem Korb der Kinder hockte. Chullu starrte ihn fasziniert an.

»Bitte … Es ist nicht notwendig«, sagte ich.

Der Mann mit den Augen meines Ehemanns drehte sich zu mir um und sagte: »Nein, es ist nicht notwendig.« Er lächelte mich an, bis ich mich abwenden musste, mein Gesicht vor Hitze gerötet.

Ich beschäftigte mich mit den Blumen. Als die Frau bezahlen wollte, winkte ich ab. »Ich könnte meine Schuld bei Ihnen nie begleichen, Ji

Aber die Frau drückte mir trotzdem Geld in die Hand und sagte: »Du kannst es mir vergelten, indem du sie gut ernährst«, und zeigte auf die Kinder, die jetzt mit dem Elefantenluftballon spielten, den der junge Mann ihnen gekauft hatte.

Die Doctrini fragte: »Kannst du morgen bitte auch ein paar Pfingstrosen mitbringen? Und wo ich schon hier bin, nehme ich auch noch Schafgarbe mit.«

Als das Paar sich mit seinen Einkäufen zum Gehen wandte, rief ich ihnen nach: »Memsahib, darf ich wissen, wie Sie heißen?«

Ohne innezuhalten, drehte die Frau mit den blauen Augen den Kopf zu mir herum und lächelte mich an. »Mrs. Kumar. Lakshmi Kumar. Und du?«

»Nimmi.«

Sie zeigte auf den jungen Mann, der sich zu mir umgedreht hatte und jetzt rückwärtsging, um mit ihr Schritt zu halten. »Das ist Malik – Abbas Malik –, der regelmäßig alle paar Tage eine Blumenbestellung bei dir abholen wird.« Malik hielt an, um mir ein Salam zu schenken, grinste und rannte dann los, um sie wieder einzuholen.

Am nächsten Tag machte ich mich mit mehr Sorgfalt als üblicherweise zurecht und achtete darauf, dass meine Haare zurückgesteckt waren. Ich trug die Ohrringe und die Kette aus schwerem Silber, die von meiner Hochzeit stammten. Ich sagte mir selbst, dass ich mich für die Touristen angezogen hatte, aber ich wartete sehnlich auf Malik. Ich war mir nicht sicher, ob er kommen würde, aber ich hatte so ein Gefühl. Als er auftauchte, begrüßte er zuerst Chullu und Rekha. Chullu grinste ihn mit rosa Gaumen an, aber Rekha studierte ihn ernsthaft, wie es so ihre Art ist. Dann zog Malik ein kleines Glas aus seiner Stofftasche und reichte es mir.

Überrascht nahm ich es entgegen und sah mir die kompakte goldene Flüssigkeit darin an. Meine Hände zitterten. Das letzte Geschenk, das ich je bekommen hatte, waren die mit Spiegeln besetzten Bänder für meine Zöpfe, die Devs Schwester zu meiner Hochzeit für mich angefertigt hatte.

»Für wenn er Zähne bekommt«, erklärte er.

Ich drehte das Glas auf und zwirbelte etwas Honig um einen Finger und streckte ihn Chullu hin, der daraufhin den Mund öffnete. Ich rieb ein bisschen über sein Zahnfleisch, und er begann sich mit seiner winzigen Zunge über die Lippen zu lecken. Rekha wollte ebenfalls Honig haben, und ich gab ihr einen Finger voll zum Schlecken. Ich besaß nicht genug Geld, um Honig zu kaufen, und war voller Dankbarkeit, dass mir jemand, der nicht zu meiner Familie gehörte, so ein umsichtiges Geschenk gemacht hatte.

»Danke«, sagte ich, wobei ich die Augen auf meine Kinder gerichtet hielt.

»Ich bin es, der für die Pfingstrosen zu danken hat. Sonst hätte Tante Boss mich die Klippe hinunterklettern lassen, um welche zu besorgen.« Er lachte tief und laut.

Ich sah ihn an. »Tante Boss?«

»Mrs. Kumar. Sie ist mein Boss, auch wenn sie so tut, als wäre das nicht der Fall.« Er grinste.

»Woher wusstest du das mit dem Honig?«, fragte ich.

»Von Omis Kindern – ihren eigenen und den anderen aus meinem Viertel, auf die sie aufgepasst hat. Irgendwer zahnte immer. Meine Mutter – nun, ich bezeichne Omi als meine Mutter, aber tatsächlich hat sie mich nur aufgenommen, als ich klein war – rieb ihnen das Zahnfleisch mit Honig ein.« Er grinste. »Warte nur, bis du siehst, was ich alles mit Haaren machen kann. Ich habe all meinen Cousinenschwestern mit den Zöpfen geholfen.«

Bevor ich ihn fragen konnte, was mit seiner richtigen Mutter passiert war oder wer diese Omi war, rief Rekha: »Mach mir die Haare!« Sie hatte unserem Gespräch zugehört.

Seitdem kam er jeden Tag und brachte etwas für die Kinder vorbei: eine Schleife für Rekha, einen Beutel süßer Litschis, eine grüne Grille für Chullu. Von Anfang an fühlte ich mich in seiner Gegenwart wohl. Ich begann die seltensten Pflanzen zu ernten, damit er sie Mrs. Kumar bringen konnte. Rhododendron, um geschwollene Knöchel zu kurieren. Die Wurzeln von Schneegipfelhimbeeren, um die monatliche Blutung einer Frau zu stoppen, wenn sie zu stark wird. Eines Tages gab ich ihm sogar eine Schüssel Sik aus den getrockneten Früchten des Niembaums, die ich in Ghee gebräunt hatte, bevor ich Zucker und Wasser hinzufügte. Das hatte ich während meiner beiden Schwangerschaften gegessen. Alle Frauen in den Bergen essen es, damit ihre Körper vor und nach der Geburt gesund bleiben.

Eines schönen Augustmorgens, als der Nebel in den Bergen sich gelichtet hatte und die Sonne meine Wangen rötete, erschien Malik mit einem Tiffin-Träger. Und er sagte, dass er mit Mais und Weizen-Chapatis und einem Curry aus Sommerkürbis und süßen Zwiebeln gefüllt sei. »Heute kaufen wir alles, was du hast, und ich nehme euch zu einem Picknick mit.«

Rekha lächelte, was selten vorkam. Dann klatschte sie in die Hände und hüpfte aus dem Korb heraus. Ich machte die Kinder los und setzte Chullu auf meine Hüfte.

»Wer ist wir? Du und dein Schatten?«, neckte ich ihn.

Er begann meine Blumen einzusammeln und legte sie vorsichtig in den jetzt leeren Korb. »Das Lady-Bradley-Hospital. Gestern hat die Tochter eines Geldgebers Zwillingssöhne zur Welt gebracht. Ich hatte dein Sik mit den Krankenschwestern geteilt, die es mit ihr geteilt haben. Sie sagte, dass es mit das Beste sei, das sie je gegessen habe, und sie sich dadurch besser fühle. Und bevor du dichs versiehst, hat ihr Vater für den neuen Flügel des Krankenhauses Geld gespendet! Wie findest du das?« Malik klopfte mit dem Zeigefinger erst auf Chullus Nase, dann auf Rekhas, und sie kicherten.

Ich deckte den Blumenkorb mit der Pferdehaardecke ab und hievte ihn auf meinen Rücken. Dann hob ich Chullu über meinen Kopf und ließ seinen Kopf über die eine Schulter hängen, während ich über der anderen Schulter nach seinem Knöchel griff. Ich zeigte Malik, wie er Rekha auf die gleiche Art tragen konnte. So hat unser Stamm unsere Kleinkinder immer getragen, damit sie sich wohlfühlen und wir uns auch.

Malik übernahm diese Tragweise, als hätte er es schon sein ganzes Leben lang so gemacht.

An einem warmen Abend ein paar Wochen später tauchte er bei der Unterkunft auf, die ich für mich und meine Kinder unten in Shimla gemietet hatte. Die Luft im Raum war schwer vom Duft der würzigen Kartoffeln, die ich für die Kinder zubereitete, und ich hatte die Tür geöffnet, damit Luft hereinkam. Malik stand mit seinem trägen Lächeln auf meiner Schwelle. Den Löffel noch in der Hand, erstarrte ich einen Moment lang und sah ihn nur an. Dann ließ ich den Löffel los, ging zur Tür und legte meine Arme um ihn, ohne ihn überhaupt zu fragen, wie er herausgefunden hatte, wo ich wohnte.

Meine Unterkunft ist nichts anderes als ein überdachter Bereich unter dem Überhang eines Hauses – verdichtete Erde, Wände aus Holzbrettern, ein Fenster mit einem Vorhang. Sie fühlt sich vertraut an; sie ähnelt so sehr der Hütte, wo Dev und ich im Sommer immer wohnten, hoch oben in den Bergen. Dort schichteten wir als Wände lange Gräser über einem Holzgestell auf. Jeder im Stamm half mit. Unsere Fenster hatten keine Abdeckungen oder Glasscheiben, und wir schliefen auf Bettrollen, die mit Gras gefüllt waren.

Meine Vermieter hier in Shimla, die Aroras, hatten mir einen Kocher mit zwei Flammen gegeben, an den ich mich erst etwas gewöhnen musste; normalerweise kochte ich über offenem Feuer. Der Wasserhahn und das Plumpsklo befanden sich draußen. Die Aroras sind in den Sechzigern und haben keine eigenen Kinder. An dem Tag, an dem sie mich das erste Mal mit meinen zwei Kindern erblickten, wie ich das Lager auf einem ihrem Haus zugewandten Hügel abbrach, luden sie uns dazu ein, mit ihnen zu frühstücken. Mrs. Arora nahm mir Chullu ab und schnupperte an seinen Haaren, wobei sie die Augen schloss. Rekha versteckte sich in meinen Röcken, bis Mr. Arora ihr ein Toffee anbot. Nachdem sie von meiner Situation erfahren hatten, bot Mr. Arora mir an, den Raum unter ihrem Haus einzufassen, direkt unter dem auskragenden Salon. Ich sollte mir keine Sorgen wegen der Miete machen, aber ich versuche ihnen von dem, was ich mit dem Blumenstand verdiene, so viel zu geben, wie ich kann. Das alte Ehepaar seinerseits ist erfreut darüber, morgens auf Chullu und Rekha aufzupassen, während ich die Wälder durchstöbere.

In den sieben Monaten, seitdem Malik und ich angefangen haben, das Bett zu teilen, habe ich seine Tante Boss, Lakshmi, nur ein paarmal gesehen. Sie hat den Einkauf ihrer Heilkräuter Malik überlassen und kommt nur mit ihm mit, um zu sehen, ob ich seit ihrem letzten Besuch irgendwelche neuen Blumen geerntet habe, oder um zu fragen, ob es eine andere Eisenkrautvarietät gibt, die den Blutdruck vielleicht noch besser senkt als die letzte Charge, die Malik gekauft hat.

Vor ein paar Monaten kam sie einmal mit Malik zum Verkaufsstand, und ich dachte, dass sie auf der Suche nach einem besonderen Kraut sein musste. Ich stand auf, um sie beide zu begrüßen. Aber sie wirkte zerstreut, sah meine Blumen und Pflanzen flüchtig an, während Malik die Sachen einsammelte, die er von meinem Stand brauchte. Ich spürte, wie sie mich musterte, als ich nicht hinsah. Meine Kinder riefen, dass sie mit Malik spielen wollten, als er fertig war. Rekha wollte mit ihm das Handklatschspiel spielen, das er ihr beigebracht hatte, und Chullu wollte auf seinem Rücken reiten. Malik lächelte sie an, wich mir aber aus.

Ich lächelte Lakshmi an, deren Blicke zwischen Malik und mir hin- und herflitzten. Mein Herz flatterte – das tut es immer, wenn ich beunruhigt bin –, und ich spürte ein Unbehagen zwischen uns entstehen. In dem Moment wurde mir klar, dass es Malik peinlich war, Lakshmi wissen zu lassen, dass zwischen uns mehr war als nur eine flüchtige Bekanntschaft.

2

Lakshmi

Shimla

Ich liebe diese Jahreszeit, die beißende Luft in meiner Nase, das Knirschen der Schneekristalle unter meinen Stiefeln und die Vorfreude auf eine neue Jahreszeit. Nachdem ich den Großteil meines Lebens in der trockenen Hitze von Rajasthan und Utta Pradesh verbracht habe, hätte ich nie gedacht, dass ich das kühlere Wetter im Himalajavorgebirge einmal so lieben würde.

Während ich auf meinem morgendlichen Spaziergang um den letzten Hügel biege, erblicke ich das Dach und die Giebel meines viktorianischen Bungalows, auf denen der letzte Rest Schnee liegt; wie ein aufwendig mit Sahne dekoriertes Gebäckstück. Auf der einen Seite des Hauses steht eine Himalajazeder, ihre Zweige mit weißem Pulver bestäubt. Der Anblick erfüllt mich immer mit Freude, und ich frage mich wie so oft, wie ich seine zarte Schönheit in einem Hennamuster einfangen könnte.

Dann sehe ich Nimmi, die an meiner Türschwelle wartet.

Auf dem Pfad zögere ich.

In ihrer vollständigen Stammestracht ist ihre schmale Figur eindrucksvoll. Ihre Haut hat die Farbe feuchter Rinde, sodass ihre Augen – klein, tief liegend – wie die eines energischen schwarzäugigen Bülbüls leuchten. Zusammen mit ihrer Falkennase lassen sie sie streng aussehen. Ich tadele mich, dass ich ein Urteil über sie fälle. Habe ich mir nicht selbst beigebracht, freundlich aufzutreten, selbst wenn die Situation es nicht erfordert? Das ist eine Fertigkeit, die ich mir in den zehn Jahren angeeignet habe, in denen ich mich um die Launen der Damen in Jaipur gekümmert habe, während ich ihre Hände mit Henna bemalte. Vielleicht werden die Frauen in Nimmis Stamm nicht dazu erzogen, ihre wahren Gefühle zu zügeln?

Ich ertappe mich bei einem Stirnrunzeln. Fühle ich mich in Nimmis Gegenwart unbehaglich, weil sie mich beschuldigt, ihr Malik genommen zu haben? Möglich. Vielleicht ist das der Grund, warum ich mir so große Mühe gebe, ihr gegenüber höflich und freundlich zu sein. Ich kaufe wahrscheinlich den Großteil ihrer Blumen in der Shimla Mall. Ich habe Malik angewiesen, ihr mehr zu zahlen, als sie verlangt, weil ich weiß, dass sie als junge Witwe darum kämpfen muss, über die Runden zu kommen und ihre Kinder zu versorgen. Und trotzdem spüre ich Feindseligkeit in ihrer Haltung mir gegenüber. Oder ist es Vorsicht? Als ob sie darauf warten würde, dass ich sie missbillige oder strafe oder zurechtweise? Tue ich das? Ich muss zugeben, dass sie mich an jene frühen Jahre mit meiner jüngeren Schwester Radha erinnert, die immer alles so schnell abtat, was ich ihr sagte.

Ich zwinge mich zu einem Lächeln, während ich die Verandastufen hochsteige. Nimmi macht einen ungeduldigen Schritt auf mich zu. Dieser hungrige Blick in ihren Augen fragt: Ist heute ein Brief von Malik gekommen?

Sie hat ihren Kopf mit einem Chunni bedeckt und trägt das silberne Medaillon über ihren Haaren, das sie als Nomadin kennzeichnet. Im Gegensatz zu mir scheint sie die Kälte nicht zu spüren, während ich mich in ein leichtes Wolltuch über einem Kaschmirpullover und einem schweren Sari eingewickelt habe. Malik hat mir mal erzählt, dass die Bindung und die Schussfäden von Nimmis Kleidern aus selbst gesponnener Wolle sie und die anderen Bergbewohner wärmer und trockener halten als das Garn, aus dem ich Pullover für Jay und mich stricke.

Ich nicke und murmele eine Begrüßung. Dann schließe ich die Vordertür auf und halte sie für sie auf. Sie macht ein paar Schritte ins Gebäude hinein und hält inne. Der Raum leuchtet orange und gelb von dem Feuer, das Jay heute Morgen entfacht hat, bevor er zur Arbeit ging. Seine Flammen werfen Schattenfiguren auf den glänzenden Holzfußboden. Gegenüber vom Kamin befinden sich ein Sofa und zwei Sessel, die mit cremefarbener Baumwolle bezogen sind.

Ich versuche den Raum mit Nimmis Augen zu sehen; sie scheint sich nicht wohlzufühlen. Für sie, eine Frau aus den Bergen, die es gewöhnt ist, unter freiem Himmel auf Steppdecken zu schlafen, die mit den Resten alter Decken gefüllt sind, müssen diese zweistöckigen Häuser in Shimla, die von den Briten gebaut wurden, schamlos luxuriös wirken.

»Namaste! Bonjour! Willkommen!«, kreischt Madho Singh. Nimmi reagiert und sieht sich nach der Quelle um – fast so wie Malik vor all diesen Jahren, als er den sprechenden Vogel zum ersten Mal im Palast von Maharani Indira in Jaipur sah. Madho Singhs Käfig steht am Kamin (er hat es gerne warm; schließlich ist er ein tropischer Vogel, und Shimla ist ein bisschen frisch für ihn). Malik musste ihn hierlassen, als er nach Jaipur abgereist ist (während seiner Internatszeit in der Bishop-Cotton-Jungenschule hatte er es irgendwie geschafft, den Vogel in seinen Räumen zu halten). Ich muss zugeben, dass ich mich an den Alexandersittich gewöhnt habe. Ich würde ihn fast schon vermissen, wenn er mich nicht den ganzen Tag lang beschimpfen würde, so wie er das früher mit Maharani Indira getan hat. Die verwitwete Maharani war so bezaubert von Malik und seiner Begeisterung für Madho Singh gewesen, dass sie ihm ihren Sittich schenkte, als wir Jaipur verließen (auch wenn ich mich frage, ob das nicht einfach nur ihre Art war, sich ein altes Ärgernis vom Hals zu schaffen).

Jetzt erscheint der Hauch eines Lächelns auf Nimmis Lippen; der Vogel belustigt sie.

Ich hänge meinen Umhang an einen Haken neben der Tür. Dort hängt auch Jays grüne Wollstrickjacke, die er immer zu Hause trägt, ebenso wie unsere Mützen, Regenschirme und Mäntel. Ich sehe, wie Nimmis Blick zum Salontisch wandert, wo wir morgens unseren Tee trinken. Neben den leeren Tassen und Untertassen liegt ein sauber aufgeschlitzter Briefumschlag, mit einem silbernen Brieföffner daneben. Ihre Augen bleiben an dem Umschlag haften, als handelte es sich um ein wertvolles Juwel.

»Möchtest du gerne Tee haben?«, frage ich sie.

Sie schüttelt höflich, aber ungeduldig den Kopf, nein. Sie kann sich kaum davon abhalten, mir zu befehlen, ihr den Brief vorzulesen. Das ist der einzige Grund, warum sie hier ist. Ihr Stamm zieht mit den Jahreszeiten den Himalaja hoch und runter, weshalb die meisten Stammesmitglieder niemals in der Schule gewesen sind oder das Lesen gelernt haben. Ich hatte Malik versprechen müssen, dass ich ihr die Briefe vorlese, die er ihr schreibt.

»Ich habe etwas extra für dich gemacht. Ich gehe es eben holen.« Bevor sie etwas dagegen einwenden kann, gehe ich in die Küche und setze Tee auf. Mag sein, dass sie die Kälte nicht spürt, mein Körper hingegen schon. Während Milch und Wasser zu kochen anfangen, gebe ich Kardamomsamen, eine Zimtstange und ein paar Pfefferkörner dazu, bevor ich die Teeblätter hineinlöffele. Die kandierten Zitronenscheiben und gezuckerten Rosenblätter, die ich vorhin zubereitet habe, liegen auf einer Edelstahlplatte. Nimmi trauert, seit Malik vor einem Monat abgereist ist, und ich weiß, dass die Essenzen von Früchten und Blumen ein natürliches Mittel sind, um Traurigkeit zu lindern. Meine alte Saas hat mir das beigebracht, und ich habe das Rezept verwendet, um viele niedergeschlagene Seelen zu behandeln.

Mit dem Teetablett und den kandierten Früchten kehre ich in den Salon zurück, wo sich Nimmi die Hände am Kamin wärmt. Ich deute auf die Sessel gegenüber vom Kamin, und Nimmi setzt sich in einen, schiebt ihren schweren Rock beiseite und hockt sich auf die Kante, ein unruhiger Vogel, dazu bereit, aus dem Nest aufzufliegen. Ich setze mich in den anderen Sessel. Zwischen uns steht der Salontisch. Ich schiebe die Platte mit den Süßigkeiten zu ihr hin und schenke den Chai in unsere Porzellantassen ein. »Wie geht es deinen Kindern?«

Sie nimmt sich eine Zitronenscheibe und inspiziert sie genau; vielleicht essen ihre Leute keine kandierten Früchte. »Sie sind gesund«, erwidert sie auf Hindi. Ihre Muttersprache ist Pahari, und der Dialekt ist so anders als das, was ich kenne, dass ich kaum ein Wort davon verstehe.

»Das ist wunderbar.«

Mein Ehemann, der als Arzt in der Gemeindeambulanz arbeitet, hatte mir erzählt, dass ihr Sohn und ihre Tochter bei ihrem letzten Besuch bei ihm beide unter Ohrentzündungen litten.

Nimmi nickt geistesabwesend und beißt in das kandierte Obst. Sie reißt die Augen auf. Der süßsaure Geschmack überrascht sie. Sie versteckt ein zartes Lächeln hinter ihrer Tasse, während sie einen Schluck trinkt.

Ich senke den Blick und nippe an meinem Tee. »Bevor ich Maliks Brief vorlese, möchte ich dir noch ein paar Dinge sagen.«

Mühsam hebt sie den Blick. Es ist schwer zu sagen, was in diesen tiefen Augen liegt. Ihre Züge sind scharf geschnitten, hager, aber nicht ohne Schönheit. Ihre Augenbrauen sind markant, ebenso wie ihre Wangenknochen. Jahre in der Höhensonne, kreuz und quer durch den Himalaja ziehend mit dem Stamm ihrer Familie während ihrer jährlichen Wanderung, haben ihre Haut zäh gemacht. Ich bin keine große Frau, trotzdem ist sie noch einige Zentimeter kleiner als ich.

»Nimmi, ich weiß, dass Malik sich um dich sorgt und dich mag. Ich wünsche dir nichts Böses. Ich will nur das Beste für ihn.«

Die Worte kommen wütend aus ihrem Mund geflogen. »Sie sind nicht seine Mutter.«

Ich hole einmal Luft, bevor ich antworte. »Nein«, erwidere ich. »Wir werden möglicherweise nie erfahren, wer seine leibliche Mutter war, aber ich habe auf ihn aufgepasst, seit er ein Junge war. Und als wir hierhergezogen sind, war ich sein Vormund, bis er volljährig wurde.«

Malik hat ihr das wahrscheinlich schon erzählt, aber ich will, dass sie es aus meinem Mund hört. Also erzähle ich ihr, wie Malik, ein verwahrlostes Kind ohne Schuhe, mir durch Jaipur folgte und sich an meine Fersen hängte, als ich dort als Hennakünstlerin gearbeitet habe. In seiner Haltung lag Stolz, aber da war auch Hunger in seinen Augen. Also ließ ich ihn für ein paar Paise Botengänge erledigen. Er erledigte alles, was ich von ihm verlangte, so schnell und so gut, dass ich ihm im Laufe der Zeit mehr Verantwortung übertrug – bis er schließlich Nachschub für mich einkaufte und meine aromatischen Öle und Cremes in der ganzen Stadt auslieferte. Er wurde schnell zu einem Teil meiner kleinen Familie, genauso unverzichtbar in meinem Leben wie meine Hände, mit denen ich die Körper meiner Kundinnen mit Henna bemalte. Zusammen mit meiner jüngeren Schwester Radha, die damals knapp vierzehn und für ihn ebenfalls wie eine Schwester war, waren wir drei vor dreizehn Jahren nach Shimla gekommen, sodass sie beide hier die exzellenten Schulen besuchen konnten, während ich im Krankenhaus arbeitete.

»Wir hatten solch ein Glück, dass ein Wohltäter aus Jaipur Maliks Ausbildung in der Bishop-Cotton-Jungenschule finanziert hat. Es war solch eine Erleichterung, Nimmi. Ich wusste, dass es ihm Türen öffnen würde, wohin auch immer er gehen würde …«

»Können Sie mir bitte einfach nur den Brief vorlesen?« Sie ringt ihre Hände so fest, dass ihre Knöchel weiß geworden sind.

Ich greife nach ihren Händen. Sie wirkt überrascht, lässt es aber zu. Für eine so junge Person wie sie sind es Arbeiterhände. Rau, vernarbt. Ich reibe mit dem Daumen über den Beweis ihres kurzen Lebens voll harter Arbeit: hacken, pflanzen, scheren, Tiere hüten, melken. Ich drehe ihre Hände um, taste nach der Stelle zwischen Daumen und Zeigefinger, wo der Puls zu fühlen ist, und drücke sanft darauf, damit sie sich entspannt. Ich lasse ihr Zeit, um die Hennamalerei auf meinen Händen zu studieren; mir war aufgefallen, wie neugierig sie darauf ist. Für mich ist Henna eine Möglichkeit, mit der eine Frau ein Stück von sich selbst wiederfinden kann, das sie vielleicht verlegt hat.

Als ich mir damals in Jaipur meinen Lebensunterhalt mit der Hennamalerei verdiente, war es so befriedigend gewesen zuzusehen, wie Frauen sich veränderten, nachdem ihre Haut eingeölt und massiert und mit einer kühlenden Hennapaste geschmückt worden war, nachdem sie sich eine halbe Stunde lang die Zeit damit vertrieben hatten, mir Geschichten aus ihrem Leben zu erzählen, nachdem sie den roten Glanz eines individuellen Designs gesehen hatten, während das Henna trocknete und abblätterte. Sie gingen ruhiger, glücklicher, zufriedener daraus hervor.

Ich vermisse diese intimen Momente mit meinen Kundinnen genauso, wie ich die Freude an ihren Verwandlungen vermisse. Ich glaube, das ist der Grund, warum ich jetzt meine eigenen Hände mit Henna bemale. (In Jaipur hätte ich es nie zugelassen, dass meine Hände die Hennamuster auf den Händen meiner Damen in den Schatten stellten; ich hatte meine Hände nur eingeölt, damit sie glatt waren, und meine Fingernägel sauber und ordentlich gehalten.) Aber dieses kostbare Gefühl der Gelassenheit fehlt in Nimmis wachsamer Haltung – das will ich ihr anbieten.

»Hat irgendjemand je deine Hände mit Henna bemalt, außer zu deiner Hochzeit?«

Sie schüttelt, jetzt interessiert, den Kopf.

»Möchtest du, dass ich das mache?« Ich werfe einen Blick auf meine Armbanduhr. Ich habe Arbeit zu erledigen, aber das hier ist wichtiger. »Ich muss erst in zwei Stunden in der Ambulanz anfangen. Wir haben jede Menge Zeit.«

Sie blickt noch einmal voller Staunen auf meine Hände und dann auf ihre eigenen, ungeschmückten.

»Vielleicht könnte ich die Wildblumen zeichnen, die du erntest? Oder etwas, was deine Kinder besonders lieben? Wie wäre es mit der Grille, die Malik ihnen mitgebracht hat?«

Als ich Maliks Namen erwähne, zieht Nimmi rasch ihre Hände zurück. Sie reibt sie aneinander, als hätte ich sie verbrüht.

Sie ist noch nicht bereit für diese Art von Trost.

Ich nehme den Umschlag hoch, ziehe die gefalteten Florpostpapierblätter heraus und streiche sie mit einer Handfläche in meinem Schoß glatt. Ich möchte sie so gerne erreichen. Ich weiß, dass sie ein schwieriges Leben gehabt hat. Ich weiß, wie hart sie immer noch arbeitet, um ihre Kinder zu ernähren. Aber schon lange bevor sie auf der Bildfläche erschien, habe ich über Maliks Zukunft nachgedacht. Ich presse die Lippen zusammen, fast so, als versuchte ich, jegliche harschen Worte daran zu hindern, meinen Mund zu verlassen.

»Ich habe Malik nicht nach Jaipur geschickt, um ihn von dir fernzuhalten, Nimmi. Ich wollte nur verhindern, dass er hier in Schwierigkeiten gerät«, sage ich. Ich suche nach den richtigen Worten. Ich will nicht, dass sie mich verabscheut; das würde eine Kluft zwischen Malik und mir aufreißen, und das könnte ich nicht ertragen. »Er ist ein unternehmungslustiger junger Mann, und ich bin sicher, dass er erkennt, wie viel Geld sich über die nepalesische Grenze hinweg machen lässt. Dein Stamm hat doch bestimmt einiges von diesen Aktivitäten gesehen, während ihr durch die Berge zieht. Die Unruhe an Indiens nördlichen Grenzen hat anscheinend viele illegale Geschäfte entstehen lassen – zum Beispiel Waffenschmuggel und Drogenhandel.« Ich studiere Nimmis Gesicht, auf der Suche nach Zeichen, dass sie meine Worte verstanden hat. Ich glaube ein leichtes Nicken zu erkennen, während sie ein weiteres Stück kandierte Zitrone nimmt. »Natürlich will ich damit nicht sagen, dass Malik tatsächlich so etwas tut. Ich habe ihn nach Jaipur geschickt, damit er mit einem Freund der Familie, Manu Agarwal, zusammenarbeitet, weil mir das der beste Weg zu sein schien, um ihn zu schützen und mit der Berufswelt dort in Kontakt zu bringen. Manu kümmert sich als leitender Direktor um die Liegenschaften im Palast von Jaipur. Er kann Malik vielen Menschen vorstellen, Menschen, die ihm dabei helfen können, seine Zukunft zu gestalten.«

In meinen eigenen Ohren klinge ich wie eine Mutter, die sich zu sehr einmischt. Sieht Nimmi mich so? Ich greife nach meiner Tasse und trinke meinen Chai aus. Malik ist einundzwanzig, ein erwachsener Mann. Aber ich sehe in ihm immer noch den eifrigen, unternehmungslustigen Jungen, der er einmal war. Er hat seine Risikobereitschaft nicht abgelegt.

Ich weiß, dass Nimmi verärgert ist, weil ich ihn weggeschickt habe, aber ich muss das tun, was für Malik am besten ist. Ich nehme das Teetablett mit der Kanne und den nicht benutzten Tassen vom Tisch hoch und bringe es in die Küche. Nachdem ich so viele Menschen der Elite in Jaipur bedient habe, räume ich lieber selbst hinter mir auf, als eine Dienerin einzustellen. Einmal die Woche kommt eine Einheimische, Moni, vorbei, um das Haus zu putzen. Monis Mann räumt im Winter unsere Gehwege.

Als ich ins Zimmer zurückkehre, starrt Nimmi ins Feuer. Sie hat die Hände unter dem Kinn gefaltet, unter ihrer Stammestätowierung; ihre Ellbogen ruhen auf ihren Oberschenkeln. Ich setze mich wieder hin.

»Wenn Malik das Baugewerbe nicht gefällt, wird er zurückkommen, Nimmi. Aber ich will, dass er es ausprobiert. Hier in Shimla weiß er nicht, was er tun soll. Und ich fürchte, dass er meinetwegen hierbleibt.« Das bringt mir einen scharfen Blick von ihr ein. Was ist mit mir, höre ich sie denken. Ich weiß, dass er mich auch gernhat.

»Meine Kinder haben sich an ihn gewöhnt. Sie fragen pause...

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