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Der Handschlag. Die neue Geschichte einer großen Geste

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IST DER HANDSCHLAG NOCH ZU RETTEN?
Über die Bedeutungen des Händeschüttelns und warum wir daran festhalten sollten


Der Handschlag hat ein Imageproblem. Lange Zeit galt er weltweit als universelle Geste der Begrüßung schlechthin, bevor wir ihn im März 2020 schlagartig verbannten. Geht die älteste Geste der Menschheit nun in die Annalen der Geschichte ein?

Die Paläoanthropologin und Komikerin Ella Al-Shamahi weigert sich, in den Abgesang auf den Handschlag mit einzustimmen. Sie selbst hat 26 Jahre ihres Lebens nach den Scharia-Regeln ohne ihn gelebt und musste sich ihn mühsam erarbeiten. Mit ihrem Buch nimmt sie uns mit auf eine Entdeckungsreise – von den Ursprüngen des Handschlags vor mindestens sieben Millionen Jahren, seinen politischen Höhe- und Tiefpunkten, bis zu seinem plötzlichen Verschwinden wegen Corona.

Aus erster Hand zeigt sie, welche Rolle diese freundlichste aller Menschheitsgesten in der Vergangenheit bis heute spielt. Zwischen Bedürfnis nach Berührung, Angst vor Ansteckung und diplomatischem Affront: Wie schafft eine solch simple Geste es, die ganze Welt zu bewegen?


  • Erscheinungstag: 25.04.2023
  • Seitenanzahl: 208
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365002452

Leseprobe

Für meinen Lieblingsmenschen,
meine Omi Halima (Margaret) Muflahi.
Du bist eine wundervolle Seele und der
großzügigste Mensch der Welt.
Ich freue mich darauf, dich bald wieder
in die Arme zu schließen.

PROLOG

Der Handschlag hat momentan ein mächtiges Imageproblem. Lange Zeit galt er weltweit als universelle Geste der Begrüßung schlechthin, bevor wir ihn im März 2020 abrupt aus unserem Leben verbannten, als die COVID-19-Pandemie durch die Welt fegte.

Einem weitverbreiteten Mythos zufolge reicht der Handschlag bis in eine Zeit zurück, in der wir anderen versichern wollten, keine Waffe zu tragen: Die geöffnete Handfläche und das Schütteln, so die Legende, sollten die im Ärmel vermuteten Waffen zu Fall bringen und so die nötige Sicherheit und das Vertrauen liefern. Aber was passiert, wenn die tödliche Gefahr jenseits des Sichtbaren liegt? Oder um Gregory Poland von der Mayo Clinic zu zitieren: »[Was ist], wenn wir mit unserer Hand gewissermaßen eine Biowaffe ausstrecken?« 1

COVID hat all das, was wir unterschwellig mit dem Handschlag verbinden, mit einem Schlag auf den Kopf gestellt. Und selbst wenn der Handschlag an sich niemanden umbringt, zeugt der schnelle Griff zum Desinfektionsmittel, der direkt danach erfolgt, nicht gerade von großem Vertrauen und tiefer Verbundenheit.

Ist der Handschlag damit für immer verschwunden und zum rein historischen Phänomen verkommen? Ist uns allen schlagartig bewusst geworden, was wir schon längst hätten wissen sollen: dass es ganz einfach ein wahnwitziger Leichtsinn ist, wahllos die Schmutzgriffel anderer Leute zu betatschen? Der COVID-19-Beauftragte des Weißen Hauses, der zum amerikanischen Volkshelden gewordene Immunologe Dr. Anthony Fauci zumindest teilte diese Meinung, als er 2020 verkündete: »Ehrlich gesagt sollten wir uns nie wieder die Hände schütteln.« 2

Falls der Handschlag von nun an in die Annalen der Geschichte eingeht – und sozusagen gerade ausstirbt –, dann findet sich bestimmt keine bessere Grabrednerin als eine Paläoanthropologin, die menschliche Evolution erforscht – nur dass ich mich als Paläoanthropologin schlichtweg weigere, einen Abgesang auf den Handschlag anzustimmen.

Nachdem ich mehrere Beweislinien verfolgt habe, bin ich zu dem Schluss gekommen, dass dem Handschlag eine reiche und faszinierende Geschichte innewohnt, die nicht offen und für alle sichtbar auf der Hand liegt. Denn ich halte ihn nicht nur für ein rein kulturelles Phänomen, sondern für ein biologisches, das in unsere DNA einprogrammiert ist. Die wahren Ursprünge des Handschlags reichen weit hinter die Antike zurück. Wahrscheinlich liegen sie so weit in der Vorgeschichte, dass sie sogar älter sind als unsere Spezies. Unsere engsten lebenden Verwandten, die Schimpansen, schütteln sich häufig die Hände. (Oder vielmehr die Finger, was viele positive Funktionen hat, unter anderem ein Versöhnungsangebot.) All das deutet darauf hin, dass die Praxis des Händeschüttelns wahrscheinlich begann, noch ehe sich unsere beiden Spezies auseinanderentwickelten – und zwar vor erstaunlichen sieben Millionen Jahren.

Der Handschlag hat natürlich vielfältige Bedeutungen, sowohl historisch als auch geografisch betrachtet: Wir werden ihm nicht gerecht, wenn wir ihn als reine Begrüßungsgeste bezeichnen. Stattdessen sollten wir den Handschlag als Berührungseinheit (wie zum Beispiel eine Umarmung oder einen Kuss) betrachten. Meiner Ansicht nach sind Berührungen für menschliche Wesen von immenser Bedeutung. Sie passieren intuitiv. Der Handschlag, der auf unsere Psyche so wertvoll wie tröstlich wirkt, gehört zu den Goldstandards menschlicher Interaktion.

Vielleicht existieren wir Menschen immer in diesem Spannungsfeld zwischen unserem Bedürfnis nach Berührung und unserer Angst vor Ansteckung, wie ein Beispiel aus meiner eigenen Familie beweist: Mein Vater ist überaus gesundheitsbewusst und ein bisschen übervorsichtig, was Bakterien angeht. Als mein jüngerer Bruder geboren wurde, schrieb er auf Englisch und Arabisch die Worte »Bitte nicht küssen« auf einen Zettel, den er über das Babybettchen hängte. Die Vorstellung, dass unsere riesige Familie – und unzählige Besucher – das Neugeborene küssen würden, war ihm unerträglich. Wir warteten einfach immer so lange, bis Dad das Zimmer verlassen hatte, bis wir uns auf ihn stürzten und ihn knuddelten. Der Kleine war einfach unwiderstehlich (eine Zeit lang zumindest). Zwar teilen wir als Gesellschaft derzeit eher die Einstellung meines Vaters und haben – und das nicht zu Unrecht – sogar Angst vor dem Händeschütteln 3 , aber die Geschichte hat uns gelehrt, dass wir zurückrudern, sobald wir uns wieder sicherer fühlen. Ob nun wegen Pest oder Spanischer Grippe – der Handschlag wurde schon oft verboten, abgeschafft und in Quarantäne gesteckt, wir kehrten aber noch jedes Mal wieder zu ihm zurück.

Ich glaube also nicht, dass der Handschlag im März 2020 gestorben ist, er befindet sich vielmehr vorübergehend im Lockdown. Er befolgt die Abstandsregeln oder bleibt in Quarantäne, geht aber (wie wir anderen auch) letztendlich nirgendwohin. Dieses Buch ist also kein Nachruf, sondern eine Enthüllungsbiografie, welche die Rätsel und Wendungen der Geschichte des Handschlags aus den Blickwinkeln von Anthropologie, kultureller Vielfalt, Religion, Geschichte, Soziologie, Biologie, Psychologie, Archäologie, Gender und Politik betrachtet.

Unsere prähistorischen Vorfahren hinterließen ihre Handabdrücke an Höhlenwänden, als wollten sie uns durch die Zeiten hindurch die Hand reichen. Die alten Griechen gaben sich auf dem Schlachtfeld die Hände, und im antiken Rom wurden Ehen mit einem Handschlag besiegelt. Der diplomatische Handschlag beeinflusste die Schicksale von Millionen, ob er nun im antiken Mesopotamien oder auf dem Rasen vor dem Weißen Haus getätigt wurde, und er erlebte sowohl die Geburt der Demokratie als auch deren Aufstieg im Westen viele Jahrhunderte später. Kolonialismus und Globalisierung haben festgelegt, welche Art Handschlag wir benutzen (und Variationen gab und gibt es einige, unter anderem einen »Penis-Handschlag«). In seiner Geschichte wimmelt es nur so von berüchtigten Abfuhren, Tabubrüchen, exzentrischen Experimenten und nationalem Stolz.

Für mich hat der Handschlag eine ganz persönliche Bedeutung. Ich kenne seinen Wert, weil ich sowohl mit ihm als auch ohne ihn gelebt habe: In den ersten 26 Jahren meines Lebens – die ich liebevoll meine fundamentalistische Periode nenne – hielt ich mich streng an die Gesetze des muslimischen Scharia-Rechts (in dem laut der Mehrheit muslimischer Juristen körperlicher Kontakt zwischen Männern und Frauen verboten ist, also auch das Händeschütteln). Es war eine ziemlich heikle Angelegenheit, und die Taktiken, mittels derer ich in den 2000er-Jahren in Großbritannien Handschläge mit Männern vermied, reichten von genial bis zu absolut lächerlich. (Die besten Handschlag-Ausweichmanöver waren damals in meinem ebenfalls strenggläubigen Freundeskreis häufig Gesprächsthema.) Im Nachhinein stellte sich mein muslimischer Hintergrund als der perfekte Probelauf für das Social Distancing der Pandemiezeit heraus.

Im Laufe der Jahre versuchte ich Folgendes:

  1. Vermeidung: Mit dieser Strategie fühlte ich mich meistens unwohl.

  2. Die rechte Hand aufs Herz legen: Diese Taktik mochte ich, weil ich dadurch ein bisschen exotisch und hippiesk, aber trotzdem freundlich wirkte. Bei COVID-19-Zoom-Gesprächen habe ich diese Geste reaktiviert.

  3. Salutieren: Ich fand mich damit ziemlich hip und cool. Im Nachhinein sehe ich ein, dass eine Muslimin im dunklen, bodenlangen Abaya-Gewand, die in den 2000er-Jahren zur Begrüßung salutierte, wahrscheinlich ziemlich konsternierend wirkte und vielleicht einen falschen Eindruck vermittelte.

  4. Kommunikation: Ich sagte bei der Begrüßung einfach: »Oh, ich gebe nie die Hand.« Im richtigen Tonfall wirkte das ehrlich und entwaffnend, aber den richtigen Tonfall fand ich nicht immer, woraufhin ein unangenehmes Schweigen folgte.

  5. Meine Hände mit einem Handschuh oder dem Stoff meines Ärmels zu bedecken: Ich hielt es für ein akzeptables Schlupfloch, meine Hände in meinen Ärmeln zu verstecken, aber wenn ich daran denke, wie ich eines Tages dem Aufseher eines bewachten Parkplatzes die Autoschlüssel reichte und mir vorher schnell den Stoff meiner Jacke über die Finger zog, ist mir das noch heute peinlich. Damals war ich nur erleichtert, weil ich mich an die Regeln gehalten hatte! Aber dann sagte meine Freundin mir, wie auffällig das Ganze gewesen sei. Ich habe immer noch ein schlechtes Gewissen, dass er gedacht haben könnte, ich hätte ihn für schmutzig gehalten. Seine Hände waren nicht das Problem – schon eher mein Fundamentalismus.

Sehr, sehr selten fügte ich mich auch in mein Schicksal. Wenn die Situation sonst zu peinlich geworden wäre oder zu viel auf dem Spiel stand, gab ich Männern die Hand und folgte damit der Minderheit muslimischer Juristen, die Handschläge erlaubt – solange sie nicht als Flirt ausgelegt werden können. Inzwischen habe ich gelernt, dass es einen großen Unterschied zwischen Händeschütteln und Händchenhalten gibt.

Als ich begann, säkular zu leben, lernte ich auch den Handschlag schätzen. Aber noch lange danach war ich über alle Maße sensibel: Sobald ich eine männliche Hand in meiner spürte, ihre ungewohnte Größe und seltsam raue Haut, war das Neuland für mich, und ich war mir dessen immer überaus bewusst. Konservative Gläubige hielten Berührungen der Hände für eine Einstiegsdroge zu heikleren Intimitäten, und damit hatten sie durchaus nicht unrecht: Während ich mich noch vorsichtig ans Händeschütteln herantastete, wollte die säkulare Welt, dass ich mich mit Umarmungen anfreundete. Und darauf, Männer zu umarmen, war ich nun ganz und gar nicht vorbereitet.

Heute schätze ich Umarmungen sehr, aber damals bereiteten sie mir große Schwierigkeiten. Jedes Mal, wenn mein neuer bester Freund Rich mich umarmen wollte, führte ich neurotische Selbstgespräche dabei, wie etwa: »Das ist in dieser Kultur normal, das machen alle so, denk nicht zu viel darüber nach.« Das war im Grunde genommen mein Mantra. Ein oder zwei Jahre später erzählte ich Richard davon, und er war natürlich entsetzt: Ihm war absolut nicht bewusst gewesen, welchem Kulturschock er mich damit ausgesetzt hatte. Interessanterweise stellte sich heraus, dass Richard Umarmungen ebenfalls nicht mochte. Er zwang sich dazu, weil alle anderen es auch so machten.

Gleichzeitig arbeitete ich an meiner Karriere als Akademikerin und forschte dabei hauptsächlich in unwirtlichen, abgelegenen und politisch instabilen Gebieten. In einem meiner ersten Interviews für den National Geographic wurde ich gefragt: »Welchen überraschenden Gegenstand haben Sie immer im Expeditionsrucksack?« Meine Antwort war: »Tonnenweise Desinfektionsmittel.« Schon lange vor COVID-19 sprühte ich Toilettensitze mit Sagrotan ein, bevor ich mich darauf niederließ, und ich warte nach dem Händewaschen auf öffentlichen Toiletten manchmal an der Tür, bis jemand hereinkommt, damit ich die Türklinke nicht anfassen muss. Manchmal übertrieb ich es mit der Hygiene ein bisschen, und bei der Feldforschung war das ein Riesenaufwand. Einmal befand ich mich in einer Höhle in einer eher ungemütlichen Gegend, in einem Dauerregen aus Dreck und Fledermauskot. Wenn wir essen wollten, gab es kein Wasser dort, nur antibakterielles Reinigungsgel. Damit wischte ich im Grunde genommen den Schlamm, die Mikroben und den Guano nur auf meinen Händen herum, was im besten Fall eine Umverteilungsübung darstellte. Ich hatte es satt, und im Januar 2020 nahm ich mir fest vor, in Zukunft weniger zwanghaft auf Handhygiene zu achten. Und das tat ich auch. Als Dank dafür beschloss das Universum daraufhin, mir und dem Rest der Welt eine Jahrhundertpandemie zu schicken.

Aber obwohl alles anders kam, als ich erwartet hatte, bin ich froh darüber, meine Angst vor Kontaminierung überwunden zu haben. Ich bin froh, das Händeschütteln gelernt zu haben, und dass Richard und ich nicht aufhörten, uns zu umarmen. Ich bin froh, dass ich es geschafft habe, all das zu normalisieren, weil ich verstanden habe, wie wichtig körperlicher Kontakt für menschliches Miteinander ist. Muslimisches Recht ist in diesem Bereich so streng, weil es speziell dafür entworfen wurde, Barrieren zwischen den Geschlechtern zu errichten, aber heute weiß ich diese einfache zwischenmenschliche Annäherung sehr zu schätzen. Ich halte die Berührung für den besten Weg, um Verbundenheit herzustellen. Sie vereint uns auf eine Art und Weise, wie es uns aus der Distanz niemals gelingen kann – ironischerweise ist die ausgestreckte Hand, das Ergreifen der Haut des Gegenübers, die Verkörperung dessen, was die Hand auf dem Herzen symbolisieren soll.

Deshalb steht der Handschlag durch Zeit und Raum hindurch für so viele positive Dinge: Zustimmung, Zuneigung, Gastfreundschaft, Akzeptanz und Gleichheit. Ich habe viel durchgemacht, um eine Alternative zum Handschlag zu finden – und ich kann Ihnen sagen, es gibt nichts, was an ihn heranreicht. Viele von uns brauchen eine lange Zeit, um anderen Menschen befreit die Hand zu geben; ich für meinen Teil will das auf keinen Fall wieder aufgeben.

1
ENTSTEHUNGSGESCHICHTE:
WOHER KOMMT DER HANDSCHLAG?

Isoliert

Die Sentinelesen leben auf North Sentinel Island im Indischen Ozean. Offiziell gehört die Insel zu Indien, aber tatsächlich verwalten die Menschen, die dort leben, sich selbst. Die Außenwelt weiß fast nichts über sie, und ebenso wenig Ahnung haben sie von der Außenwelt, weshalb sie auch als »isoliertes Volk« gelten. In unserer globalisierten Welt ist dies keine Kleinigkeit, denn in einer Zeit, in er die meisten Bevölkerungsgruppen der Erde in Kontakt zueinander stehen, dieser Kontakt oft ohne Zeitverzögerung stattfindet und unsere Gesellschaften und Kulturen immer homogener werden, sind isolierte Völker die letzten Verweigerer. Sie haben sich einfach ausgeklinkt. Wenn ich daran denke, was uns das Jahr 2020 so alles eingebrockt hat, neige ich dazu, ihnen zu ihrer Voraussicht zu gratulieren. Es ist genau diese Isolation von dem gewaltigen Informationsstrom, der den Rest von uns tagtäglich bewegt, die sie für Menschen, die sich wie ich der Anthropologie verschrieben haben und menschliches Verhalten studieren, so faszinierend macht.

Dass Sentinelesen Fremden gegenüber traditionell feindselig eingestellt sind, liegt auf der Hand, wenn man bedenkt, dass ihr bedeutendster nachgewiesener Kontakt mit der Außenwelt zu einem britischen Marineoffizier namens Maurice Vidal Portman bestand, der im 19. Jahrhundert zahlreiche Angehörige des Stammes kidnappte. Einige starben sofort, wahrscheinlich weil sie gegen die Infektionskrankheiten der Außenwelt keine Immunität entwickelt hatten, und die anderen wurden ein paar Wochen später auf ihre Insel zurückgebracht – vermutlich nachdem Vidal grausame Experimente an ihnen durchgeführt hatte, was seine übliche Methode war.

Bevor ich mit der Recherche für dieses Buch begann, stieß ich zufällig auf äußerst seltenes Videomaterial von den Sentinelesen, das 1991 von dem Anthropologen Triloknath Pandit aufgenommen worden war. Er hatte damals mit einigen Kollegen seines Forschungsinstituts vorsichtig versucht, mit ihnen Kontakt aufzunehmen. In dem Video, das ich mir ansah, waren die Anthropologen in ihrem Boot geblieben und hatten den Sentinelesen, die sich am Ufer versammelt hatten, als Geschenk Kokosnüsse ins Wasser gelegt, die mit den Wellen ans Ufer gespült wurden. Es lief deutlich besser als bei den vorherigen Zusammentreffen, von denen ich gelesen hatte: Niemand war von einem Pfeil getroffen worden, und die Sentinelesen gingen ins Wasser, um sich die Kokosnüsse zu holen. Dann erklärte der Sprecher des Films, die Sentinelesen hätten den Anthropologen aufgefordert, jetzt wieder zu gehen. Der Sprecher führt dies nicht genauer aus, aber als ich sah, was sich dort abgespielt hatte, wäre ich fast vom Stuhl gekippt. Als Paläoanthropologin wusste ich um die Implikationen dessen, was ich gerade gesehen hatte, und auch als Stand-up-Komikerin war mir die Geste leider nur allzu vertraut – sie war bei einigen meiner männlichen Stand-up-Kollegen äußerst beliebt.

Ein Sentinelese packte seinen nackten Penis und bewegte seine Hand dann wiederholt ruckartig daran auf und ab. (Meine Stand-up-Freunde belassen es auf der Bühne zum Glück nur bei der Andeutung.) Dies war ein ausdrückliches und buchstäblich gemeintes »Fuck off« an die Anthropologen und den Kameramann. Vor Kurzem habe ich gesehen, wie in London der Radfahrer vor mir diese Geste einsetzte, um einem Autofahrer exakt dieselbe Botschaft zu vermitteln. Bis dato hatte ich sie für eine relativ moderne Errungenschaft gehalten.

Doch eine mögliche Konsequenz dieser Beobachtung ist außergewöhnlich: Wenn isolierte Menschen diese universelle und überall auf der Welt verstehbare Geste vollziehen, weist das darauf hin, dass dieses Zeichen oder dieses Verhalten keine Neuentwicklung ist.

Nicht etwa deshalb, weil diese isolierten Völker »primitiv« oder »ursprünglich« wären – sie haben es wie wir anderen ins Jahr 2021 geschafft und sind deshalb genauso modern wie wir. Aber ihre freiwillige Isolation ermöglicht uns einen Einblick in eine Welt vor der Globalisierung in all ihren Formen. Sie haben sich ihr Verhalten, ihre Traditionen und Manierismen nicht von einer populären Sitcom oder Boyband abgeschaut, und ihre Vorfahren haben dieses Verhalten auch nicht von einem Missionar, einem Entdecker oder einem Ölsucher übernommen. Es ist sogar durchaus möglich, dass dieses Verhalten überhaupt nicht »erlernt«, sondern in ihre DNA eingebettet ist, dieselbe DNA, die sie mit meinem wütenden britischen Radfahrer teilen.

Die Sentinelesen hatten mich derart beeindruckt, dass sich mir, als ich begann, über den Handschlag zu schreiben, als Erstes eine Frage stellte: Gibt man sich bei isolierten Völkern die Hand oder nicht? Da Erstkontakte nur sehr selten stattfinden, lässt sich das nur schwer ermitteln. Die wenigsten dieser Kontakte wurden aufgezeichnet, und selbst wenn Kameras dabei gewesen wären, hätten die Stammesmitglieder wahrscheinlich schreckliche Angst vor ihnen gehabt – also wäre es eher unwahrscheinlich, dass die Begegnung zu einer höflichen Einladung auf einen Earl Grey und ein paar Schnittchen geführt hätte. Dennoch gibt es erstaunlicherweise Beweise dafür, dass bei Erstkontakten mit isolierten Stämmen Handschläge stattgefunden haben. Es existieren ein Foto und Stummfilmmaterial des National Geographic von einem Handschlag, der sich 1928 in Papua-Neuguinea abspielte: Die Aufnahmen zeigen Ivan Champion, einen Teilnehmer der amerikanischen Zucker-Expedition von 1928, mit einem Mann, der (vermutlich) einem isolierten Stamm angehört. Er hält ein Ruder in seiner linken Hand, die rechte Hand hat er Champion gereicht. 1

David Attenborough hat davon erzählt, dass er 1957, ebenfalls in Papua-Neuguinea, nach Paradiesvögeln suchte und dabei in eine potenziell heikle Situation mit einem Stamm geriet, der seiner Beschreibung nach möglicherweise auch keinen Kontakt zur Außenwelt hatte. Die ganze Episode wurde mit der Kamera festgehalten. Die Männer stürmten mit Speeren und Messern auf ihn zu, und er entschärfte die Situation, indem er ihnen einfach die Hand entgegenstreckte und ihnen einen »schönen guten Tag« wünschte. Sie packten seine Hand und schüttelten sie energisch. 2 Ich habe in London schon Nachbarn gehabt, die das weniger gut beherrschten.

Diese Handschläge sind faszinierend und deuten darauf hin, dass manche isolierten Völker instinktiv zu wissen scheinen, was ein Handschlag ist, auch wenn sie der Geste bisher noch nie in der Außenwelt begegnet sind – eine bemerkenswerte Erkenntnis, die aber natürlich mit Vorsicht zu genießen ist. Der Handschlag könnte durchaus auch eine Spiegelung sein, bei der Menschen unbewusst das Verhalten und die Bewegungen ihres Gegenübers imitieren, oft um ein harmonisches Verhältnis herzustellen, oder es handelte sich in Wahrheit nicht um isolierte Völker. Vielleicht hatten sie das Verhalten auch von benachbarten indigenen Gruppen übernommen, die bereits in Kontakt mit der Außenwelt standen.

Der österreichische Ethnologe Irenäus Eibl-Eibesfeldt beschreibt allerdings, dass er dem Händeschütteln in Papua-Neuguinea bei Stämmen begegnet sei, die erst sieben Monate zuvor Kontakt zur Außenwelt hergestellt hatten. Angehörige der Kukuku und der Woitapmin – und lokale Polizeibeamte – bestätigten ihm, dass die Stämme schon immer das Händeschütteln praktiziert hätten und es nicht erst nach dem Erstkontakt aufgetreten sei. 3 Zusätzlich gibt es Berichte aus den 1970er-Jahren über Handschläge mit neu kontaktierten Stämmen aus einem völlig anderen geografischen Gebiet, dem Amazonas. Uns liegen also ähnliche Berichte aus zwei verschiedenen Gebieten vor: Zufällig die beiden Regionen der Welt, in denen es die größte Anzahl von isolierten Völkern gibt.

Gaben sich Neandertaler die Hände?

Mir als Anthropologin genügte das, um die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass der Handschlag viel älter sein könnte als bisher angenommen.

Beliebte Entstehungsgeschichten des Handschlags erwähnen meistens die Quäker, das mittelalterliche Europa oder – wenn wir ein bisschen weiter in die Vergangenheit blicken – die Römer, die Griechen der Antike oder sogar die Mesopotamier.

Einige erweisen dem Handschlag einen Bärendienst (denn wie die gerade erwähnten Geschichten zeigen, ist er eine wahrhaft internationale Geste), indem sie seine weltweite Verbreitung westlichen Missionaren zuschreiben. Aber den Handschlag irgendeinem dieser Zeitpunkte oder Regionen zuzuordnen ist meiner Meinung nach in etwa so, wie eine Geschichte der Popmusik mit den Sugababes zu beginnen: Man hat ein bisschen was ausgelassen. Aber wie alt ist der Handschlag denn nun wirklich? Haben zum Beispiel unsere Vettern, die Neandertaler, sich die Hände gereicht – oder vielleicht sogar uns? Dass Neandertaler-DNA in unserem eigenen Genom auftaucht, sollte Beweis genug dafür sein, dass wir uns definitiv gepaart haben … was den Handschlag eher zweitrangig erscheinen lässt.

Es dürfte niemanden überraschen, dass archäologische und fossile Funde in diesem Bereich einiges zu wünschen übrig lassen. Fels- und Höhlenmalereien beweisen zwar, dass Frühmenschen von Händen geradezu besessen gewesen sein müssen, aber ein Handschlag findet sich nirgendwo. Trotzdem möchte ich behaupten, dass der Handschlag nicht nur prähistorisch ist, sondern noch viel tiefer in unsere evolutionäre Geschichte reicht: dass er älter ist als unsere Spezies und dass die Neandertaler sich tatsächlich die Hände geschüttelt haben. Meiner Ansicht nach ist der Handschlag mindestens sieben Millionen Jahre alt. Was um alles in der Welt gibt mir die Gewissheit, obwohl es dafür weder archäologische noch fossile Beweise gibt? Es ist die gute alte Evolutionsbiologie.

Wenn Sie und all Ihre zahlreichen Geschwister rote Haare, blaue Augen oder beispielsweise Sichelzellenanämie hätten, wäre es leicht nachvollziehbar, wenn Sie daraus Schlüsse auf die Haarfarbe, Augenfarbe oder die genetischen Mutationen Ihrer Eltern ziehen würden. Aber wenn wir den Blick nicht mehr nur auf Geschwister richten, sondern viel größere Abschnitte des Stammbaums zu erforschen beginnen, erhalten wir faszinierende Einblicke in die DNA. Die Sache ist die: Wenn eine Morphologie oder eine Verhaltensweise in ein paar eng verwandten Spezies auftritt, tendieren wir zu der Annahme, dass der letzte gemeinsame Vorfahre dieser Spezies dieses Verhalten ebenfalls gezeigt haben muss. (Das ist allerdings nicht immer zutreffend. Manchmal kommt eine sogenannte konvergente Evolution ins Spiel, was bedeutet, dass die Evolution unterschiedlicher, nicht miteinander verwandter Spezies auf das gleiche Endresultat hinausläuft: Beispielsweise haben sowohl Vögel als auch Fledermäuse Flügel, die sie zum Fliegen benutzen, obwohl Erstere technisch betrachtet Dinosaurier und Letztere Säugetiere sind.) Unsere engsten lebenden Verwandten sind Schimpansen (der Gemeine Schimpanse Pan troglodytes und der Bonobo oder Zwergschimpanse Pan paniscus) 4 , und siehe da, die Primatologin Dr. Cat Hobaiter konnte nachweisen, dass Schimpansen und Bonobos sich tatsächlich die Hände geben. Die Handschläge der Schimpansen und Bonobos sind normalerweise eher ein Übereinanderlegen der Finger, also wäre »Fingerschütteln« passender, obwohl auch ein Übereinanderlegen der Handflächen beobachtet wurde. 5

Aber nicht nur das: Durch lange und sorgfältige Beobachtungsstudien konnte Dr. Hobaiter zeigen, dass der Handschlag immer mit einer positiven sozialen Interaktion verknüpft war, deren genaue Funktion aber ziemlich flexibel und schwer zu definieren ist, genau wie für uns Menschen heute. Offenbar wurde er in verschiedenen freundlichen Kuschelszenarien ebenso angewendet wie bei Begrüßungen von Tieren unterschiedlicher Rangordnungen, bei denen das ranghöhere Individuum manchmal einen Handschlag anbot, um das rangniedrigere Individuum zu beruhigen und ihm die Nervosität zu nehmen. Erstaunlicherweise beschreibt Hobaiter auch zwei Schimpansen, die nach einem wütenden Zweikampf aufeinander zugingen und sich verlegen die Hände schüttelten: Als ich mit ihr sprach, entschuldigte sie sich für ihre anthropomorphisierende Einschätzung der Situation, sagte aber, sie hätte sich extrem an zwei Teenager erinnert gefühlt, die sich nach einer Prügelei widerwillig die Hände gaben.

Auf eine sehr liebenswerte Weise scheint der Handschlag also auch bei unseren engsten Verwandten im Tierreich den Zweck zu erfüllen, sich nach einem Konflikt wieder zu versöhnen. Der letzte gemeinsame Vorfahre von Schimpansen, Bonobos und Homo sapiens lebte vor ungefähr sieben Millionen Jahren; wir können also mit recht hoher Wahrscheinlichkeit annehmen, dass nicht nur dieser gemeinsame Vorfahre den Handschlag praktizierte, sondern auch alle Nachfahren dieses Urahns – also auch die Neandertaler. Nach meinem Sachstand ist der Handschlag also … steinalt.

Hierfür können wir einen sogenannten phylogenetischen Beweis anführen: Phylogenetik ist die Forschung evolutionärer Beziehungen, und ein »phylogenetischer Baum« ist eine Art gigantischer Stammbaum, der diese Beziehungen repräsentiert. Man darf sich durchaus fragen, ob der Handschlag vielleicht noch weiter zurückgeht und eventuell noch älter sein könnte als sieben Millionen Jahre. Gorillas spalteten sich vor ungefähr zehn Millionen Jahren von der Evolutionslinie ab, die schließlich zu Schimpansen, Bonobos und uns führte. Wenn wir nachweisen könnten, dass auch Gorillas sich die Hände geben, würde das darauf hindeuten, dass der Handschlag mindestens bis zum letzten gemeinsamen Vorfahren zurückreicht, den wir mit ihnen teilen. Bisher wurde dieses Verhalten bei Gorillas zwar noch nicht beobachtet, aber das bedeutet nicht, dass sie es nicht kennen, sondern nur, dass Primatologen sie bislang noch nicht dabei gesehen (oder zumindest noch nicht ausführlich darüber berichtet) haben. Die Beobachtungsstudien, die erforderlich sind, um Gesten bei Primaten zu erforschen, sind besonders in freier Wildbahn nur äußerst schwierig durchzuführen, denn es kann schon Jahre dauern, bis sich die Primaten komplett an die Gegenwart von Menschen gewöhnt haben. Bei dieser evolutionären Detektivarbeit darf nie vergessen werden, dass das Fehlen von Beweisen nicht automatisch den Beweis für das Fehlen eines Verhaltens bedeutet.

Menschenaffen, Hände, Umarmungen und Küsse

Im Königreich der Tiere wimmelt es nur so von Beispielen von Geschöpfen, die ihre Hände oder Gliedmaßen sowohl zu praktischen Zwecken als auch zur Kommunikation einsetzen: Von den aus niedlichen Memes bekannten Ottern, die Händchen halten und so ihre Freundschaft festigen (beziehungsweise sich unterstützen und ihre Körpertemperatur regulieren, wenn man den Skeptikern – auch Wissenschaftler genannt – glauben mag), bis zu Elefanten, die mithilfe ihrer Rüssel miteinander sprechen. 6 Kein Wunder, finden sich neben Artikeln zum Thema Bindung und Kommunikation so häufig Abbildungen von Primatenhänden. Primatenhände sind geschickt, hochfunktionell und von hoher Bedeutung. Sicherlich werden sie auch ganz profan zur Fortbewegung eingesetzt, aber sie dienen auch der Manipulation und der Nutzung von Werkzeugen. Im Gegensatz zu anderen Tieren benutzen wir Primaten beinahe immer unsere Hände, wenn wir essen, und oft auch, wenn wir trinken, und wir weisen darüber hinaus zahlreiche spezifisch handzentrierte Verhaltensweisen auf. Der Plumplori zum Beispiel produziert ein Sekret in seinen Achselhöhlen und benutzt seine Hände, um seinen gesamten Körper und seine Zähne damit einzureiben. 7 In manchen Schimpansen- und Bonobopopulationen treffen sich Affen zum sogenannten »Hand-clasp-Grooming«, bei dem sich zwei gegenübersitzende Partner die Hand geben, die umklammerten Hände in die Luft halten, während sie sich mit den freien Händen gegenseitig das Fell pflegen. 8

Schimpansen und Menschen haben eine Reihe von Gesten gemeinsam, von Umarmungen bis zu Bittgesten (eine ausgestreckte Hand mit nach oben gerichteter Handfläche). Wir wissen, dass Bonobos, Schimpansen, Gorillas und Orang-Utans ihre Hände zur Kommunikation nutzen, auch wenn wir noch vieles über die Bedeutung ihrer Gesten und Zeichen lernen müssen. Auch im Begrüßungsverhalten von Menschenaffen stehen enge, intime Berührungen im Mittelpunkt, was uns sehr vertraut erscheint. Je nachdem, wie nahe sich Schimpansen stehen, ist es durchaus üblich, dass ein Kontakt durch das Berühren der Hände initiiert wird oder eine Begrüßung durch eine Umarmung erfolgt: Eine Schimpansen-Matriarchin streckte dem Primatologen Frans de Waal zum Beispiel immer die Hand entgegen, wenn sie ihn sah. 9 Die Weibchen unserer anderen engen Verwandten, den Bonobos, die für ihr freundliches, sexpositives Hippie-Image berühmt sind, begrüßen sich, indem sie sich umarmen und ihre Klitoris aneinanderreiben, was mir aus unserer eigenen Spezies doch eher weniger bekannt vorkommt.

Evolutionär betrachtet, führt uns das Studium der Menschenaffen auf eine Zeitreise: Die Wichtigkeit, die alle vier Spezies Händen und Berührungen zuschreiben, vor allem im Begrüßungsverhalten, deutet darauf hin, dass sich diese Dinge auch in unseren Teil des Familienstammbaums eingeschrieben haben, und das schon seit Millionen von Jahren. Vielleicht sollten wir den Handschlag als Basiseinheit der Berührung betrachten 10 : ein praktisches, funktionales und ausdrucksstarkes Mittel, um einem tief in uns verwurzelten Drang zu folgen.

Nachdem wir nun über das Wann gesprochen haben, ist es an der Zeit, das Warum zu untersuchen.

Es gibt eine Menge Theorien über die Ursprünge unseres Begrüßungsverhaltens: Eine postuliert, es seien Infantilismen 11 (Imitationen von Jungtieren, zum Beispiel die ausgestreckte Hand der Schimpansenmutter als Aufforderung an das Jungtier, ihr auf den Rücken zu klettern), und eine andere vermutet seinen Ursprung in der Spiegelung (die für uns Menschen enorm wichtig ist; wer dieses Verhalten nicht beherrscht, begeht damit einen gesellschaftlichen Fauxpas und wird oft aus Gemeinschaften ausgeschlossen). Es gibt noch zahlreiche weitere Theorien, aber keine, die mir voll und ganz einleuchtet. Manche wagen sich so weit auf das Gebiet unbeweisbarer Evolutionspsychologie vor, dass sie wie austauschbar erscheinen. Für mich besteht kein Zweifel, dass dem Handschlag eine funktionale biologische Bedeutung zukommt. Er ist weder ein Echo eines anderen Verhaltens noch ein Artefakt – seine Funktion kommt auch in unseren heutigen Interaktionen noch zum Tragen. Also lüfte ich den Vorhang und präsentiere: Geruch und Berührung. In dieser Reihenfolge.

Geruch

Die meisten Menschen wissen, wie wichtig der Geruchssinn für Tiere ist. Zahlreiche Spezies, von Hunden bis zu Ameisen, beschnüffeln sich beim ersten Kontakt, ein Verhalten, das von unangenehm indiskret – sich gegenseitig den Hintern beschnuppern – bis zu liebenswert bescheuert reicht, zum Beispiel wenn ein Pferd seine Oberlippe zurückfaltet und grinsend seine Zähne präsentiert. Letzteres nennt man Flehmen, und es lässt sich bei vielen Säugetierarten beobachten. Tatsächlich ist es ein Riechvorgang, denn es hilft dabei, Pheromone und Düfte zum Jacobson-Organ zu transportieren, das über dem Gaumen liegt. Wir wissen, dass dieses sensible Geruchsvermögen sogar zwischen verschiedenen Spezies zum Einsatz kommt: Hunde können zum Beispiel darauf trainiert werden, bestimmte Krankheiten an Menschen zu riechen 12 , darunter auch COVID-19 13 , und sie sind sogar in der Lage, bestimmte Emotionen wie zum Beispiel Angst oder Glück anhand unserer Chemosignale (chemische Signale, die Tiere aussenden, um Informationen an andere Tiere zu vermitteln) zu identifizieren. 14

Aber wir Homo sapiens mit unseren Universitäten, unserer Internationalen Raumstation, unseren Guggenheims, Sinatras und Steve Jobs – wir haben uns doch mit Sicherheit über den Geruch hinaus entwickelt. Natürlich ist uns der Gedanke an sexuelle Chemosignale (die wir meistens Pheromone nennen) und die Rolle, die sie für uns bei der Partnerwahl spielen, vertraut. 15 Vielleicht haben einige von Ihnen genau wie ich einen überaus sensiblen Geruchssinn, der mehr Fluch als Segen ist. Es gab eine Zeit in meinem Leben, in der ungefähr ein Drittel der Männer, deren Avancen ich ablehnte, aufgrund ihres Geruchs nicht bei mir landen konnte (zugegebenermaßen bin ich allerdings auch ein Outdoor-Typ – und ein paar von ihnen schienen geradezu stolz darauf zu sein, dass sie sich nicht wuschen). Aber zu mehr ist der Geruchssinn für uns Homo sapiens doch bestimmt nicht nütze, richtig? Geruch hängt möglicherweise mit sexueller Anziehung zusammen, und damit hat es sich. Wir sind ja schließlich keine Tiere, oder? Doch, das sind wir.

In einer der vielen Studien, die beweisen, wie wichtig (und empfindlich) unser Geruchssinn ist, wickelten die Wissenschaftler Mullbinden um die Armbeugen der Teilnehmer und ließen sie dann Filme anschauen, die starke Emotionen wie Glück oder Angst in ihnen auslösten. 16 Diese Binden wurden dann anderen Teilnehmern präsentiert, und nachdem sie an ihnen gerochen hatten, spiegelten sie durch ihre eigenen Mikroexpressionen, durch winzige Veränderungen ihrer Gesichtsmuskeln, genau die Emotionen wider, die der Film bei den Betrachtern ausgelöst hatte. Experimente wie dieses sind reproduzierbar, was bedeutet, dass sie oder Variationen von ihnen mehr als einmal von verschiedenen Wissenschaftlern durchgeführt wurden und jedes Mal ähnliche Ergebnisse erbrachten: Sie zählen zum Goldstandard der Wissenschaft.

Was mich an der Reaktion der riechenden Teilnehmergruppe besonders verblüfft hat: Sie spiegelten die Emotionen einer anderen Person, ohne dass es ihnen bewusst war. In einem anderen Experiment, das von Wissenschaftlern des Monell Chemical Senses Center in Philadelphia durchgeführt wurde, bat man Teilnehmer, »den Geruch glücklicher Menschen zu bestimmen«. Die Teilnehmer lagen viel häufiger richtig, als es durch reinen Zufall zu erklären gewesen wäre. 17

Und die Wahrheit liegt nicht nur im Schweiß: Forscher haben gezeigt, dass auch menschliche Tränen Chemosignale enthalten. In einer bizarren Studie sammelten sie »negativen Emotionen zugeordnete geruchlose Tränen« von Frauen (ich freue mich schon auf den gleichnamigen Country-Song), ließen Männer daran riechen und zeigten ihnen und einer Kontrollgruppe dann Fotos von Frauen. Die Männer, die den mit negativen Emotionen besetzten Tränen ausgesetzt worden waren, maßen den abgebildeten Frauen einen geringeren Sex-Appeal zu und gaben vor, sich weniger hingezogen zu ihnen zu fühlen (was physiologisch bestätigt wurde, unter anderem mit MRT-Scans.) 18 Ich persönlich war natürlich schwer begeistert, dass all diese Forschungsgelder darauf ver(sch)wendet wurden, um ganz wissenschaftlich die Frage zu beantworten: »Sind weinende Frauen sexy?«

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