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Der Himmel ist hier weiter als anderswo

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Unter dem weiten Himmel des Alten Landes

Seit dem Tod ihres Mannes ist die Geigerin Felicitas allein für die gemeinsamen vier Kinder verantwortlich. Als sie ihren Job verliert, folgt der nächste Schlag, denn ihre Wohnung wird ihnen gekündigt. Da setzt sie alles auf eine Karte: Sie investiert ihre letzten Rücklagen in einen leerstehenden Gasthof und zieht mit ihren Kindern ins Alte Land.
Empfangen wird die Familie von einer neugierigen Dorfgemeinschaft und einer Schwalbenkolonie im Garten. Mit Hilfe ihres neuen Nachbarn füllt Fee den Gasthof wieder mit Leben. Doch ein Unfall und unvorhergesehene Kosten bedrohen das fragile Gleichgewicht. Erst als sie sich auf ihre eigene Stärke besinnt, geschieht etwas, womit sie nicht gerechnet hatte: Sie beginnt, zwischen den Flüssen und dem schier unendlichen Horizont des Alten Landes, langsam zu heilen …

»[…]hat gute Chancen der Altes-Land-Roman des Sommers zu werden.« »Pauling schreibt flüssig und elegant.« Anpning Richter,Stader Tageblatt, 14.06.2021


  • Erscheinungstag: 25.05.2021
  • Seitenanzahl: 384
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749950645
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Prolog

Der Bootssteg knarrte. Lichtreflexe tanzten auf dem Wasser. Sanft schlängelte sich der Fluss dahin, auf den Deichen standen Obstbäume und winzige Fachwerkhäuser. Die Elbe war nicht fern.

Felicitas holte tief Luft.

Es duftete nach Frühling. Noch waren die Äste der Bäume kahl, aber die Natur war bereits aus dem Winterschlaf erwacht. Gelbe und violette Krokusse sprenkelten den Boden, und unter den Sträuchern lugten Buschwindröschen hervor. Weidenkätzchen leuchteten vor einem Himmel, der so blau war, dass man sich darin verlieren konnte, und an den Apfelbäumen saßen schwellende Knospen.

Sie schloss die Augen. Die Sonne wärmte ihre Wangen. Sie hörte das Gezwitscher der Vögel, Bienensummen und den Brummton einer Hummel. Geräusche aus dem Dorf, nur schwach.

Fee spürte, wie sie sich entspannte. Wie der Kloß in ihrem Hals sich löste.

Auch die Kinder betrachteten die Umgebung versonnen. Rasmus’ Blick folgte einer Möwe, weit oben, Weiß vor Blau. Martha dagegen hatte sich bäuchlings an den Rand des verwitterten Stegs gelegt und starrte ins Wasser. Selbst Rieke schien zu träumen.

Die Planken knarrten erneut.

Einer fehlte. Fee sah sich nach Golo um, ihrem Jüngsten. Der zerrte gerade eine verbeulte Schubkarre hinter Büschen hervor. Braune Blätter und Äste lagen darin, darauf hatte er Esel gesetzt, sein geliebtes Kuscheltier.

Auch Rieke hatte ihren Bruder entdeckt. Und schon war es mit der Ruhe vorbei.

»Was willst du denn mit der Schrottkarre?«, rief sie.

»Arbeiten, was sonst«, erklärte Golo.

»Was sonst?«, wiederholte Rieke und ahmte dabei sein Lispeln nach. Dann stemmte sie die Hände in die Hüften. »Mama, können wir endlich? Ich muss um fünf zu Hause sein. Sinje wartet.«

Jetzt, dachte Fee, jetzt muss ich mich entscheiden, ob wir hier wohnen möchten oder nicht. Ob wir aus Hannover weggehen und aufs Land ziehen. Oder ob alles ungewiss bleibt.

Rieke tippte jetzt konzentriert auf ihrem Handy herum, sie schob ihre Cap tiefer ins Gesicht und wandte sich von der Sonne ab, damit das Display nicht spiegelte.

Fee sah Rasmus an, ihren Ältesten. Der hob die Schultern. »Ist doch okay.«

»Findest du?«

»Klar.«

»Könnt ihr mal leise sein?«, flüsterte Martha vernehmlich. Sie fixierte einen Frosch, den sie im Uferbereich entdeckt hatte, kaum erkennbar zwischen den braungrünen Gräsern.

Fee drehte sich zum alten Gasthof um, zu dem das verwilderte Grundstück und der Bootssteg gehörten. Zwei Etagen aus leuchtend rotem Backstein, weiße Giebelbretter, eine altmodisch verzierte hölzerne Veranda in der Art eines Wintergartens. Mitten im Dorf lag er da, zwischen den Bäumen am Fluss. Verwunschen und leer stehend.

Hundertzwanzigtausend Euro sollte die Immobilie kosten. Ein Schnäppchen. Ein riesengroßes Haus für Rasmus, Rieke, Martha, Golo und sie selbst. Sie brauchte nur zuzugreifen.

Fünf Tage würde er warten, hatte der Besitzer am Telefon mit knurriger Stimme gesagt, zu verschenken hätte er nichts, nur dem Bückmann, dem würde er es nicht gönnen. Dass er Kinder mögen würde, hatte er noch hinzugefügt. Schwer zu glauben, hatte Fee gedacht.

Hundertzwanzigtausend Euro. Genau die Summe der Lebensversicherung, von der Fee nicht gewusst hatte, dass Jan sie abgeschlossen hatte. Es war eines der vielen organisatorischen Dinge nach seinem Tod gewesen, von denen sie gewünscht hatte, sie wären ihr erspart geblieben.

Diesen Gasthof zu kaufen – es wäre machbar.

Sie wandte sich ab. Der Garten, der sich sanft zum Fluss senkte. Die knorrigen Apfelbäume. Der Pavillon am Wasser, ein Schmuckstück. Die überhängende Weide am Ufer.

In ihren Augen war es ein Paradies.

Golo hatte bereits verkündet, dass er ein Baumhaus bauen wolle, er war immer noch damit beschäftigt, die Schubkarre über die Grasfläche zu bugsieren. Unter Aufwendung aller Kräfte schob er sie auf sie zu. Die Schubkarre mit den Holzgriffen schwankte.

Fee ließ den Blick schweifen. Eine Hängematte zwischen den Apfelbäumen, den Kindern würde es gefallen.

Rieke saß jetzt im Schneidersitz auf dem Steg, aufrecht, auf ihrem Handy tippend, immerhin ruhig.

»Und?«, fragte Fee erwartungsvoll.

Rieke rollte die Augen. »Nee, ist jetzt nicht dein Ernst, oder? Guck dir das doch an! Voll der heruntergekommene Schuppen! Und viel zu weit weg!«

Martha sagte nichts. Hob nur langsam die Hand, um ihnen zu bedeuten, dass sie schweigen sollten. In Zeitlupe erhob sie sich.

Mit einem satten PLOPP sprang der Frosch vom Ufer in den Fluss.

Martha hüpfte hinterher.

»SHIT!«, kreischte Rieke, als sich ein Schwall Wasser über sie ergoss. Rasmus war mit wenigen Schritten bei seiner Schwester, um ihr an Land zu helfen.

Golo war plötzlich zwischen ihnen, neugierig. Fee schnappte nach seinem Arm.

»Hast du was gefunden, Martha?«, fragte Golo aufgeregt und trippelte von einem Bein aufs andere. Er interessierte sich sehr für die Naturerkundungen seiner Schwester.

»Rana esculenta, der gemeine Teichfrosch!«, verkündete Martha stolz und hielt das Tier, das sie sorgsam in Händen barg, in die Höhe.

»Du Bekloppte!« Rieke zeterte und rieb wie besessen ihr Handy trocken.

Fee stöhnte, übergab Golo an Rasmus und zog ihre Jacke aus, um sie Martha umzulegen.

Martha betrachtete den Frosch interessiert durch die Finger. »Rieke, kannst du ihn bitte fotografieren?«

»Was?! Sag mal, hast du überhaupt mitbekommen, dass du mein Handy gerade unter Wasser gesetzt hast?! Wie bescheuert bist du eigentlich?«

»Rieke!«, sagte Fee scharf.

»Ich mach das für dich«, erklärte Rasmus.

Martha lockerte die Hände, während Rasmus mit seiner Handykamera näher herankam. Der Frosch nutzte dies aus. Mit einem riesigen Satz landete er im Wasser und schwamm eilig davon.

Alle bewegten sich plötzlich gleichzeitig.

Eine Planke splitterte.

Dann brach der Steg unter ihnen ein.

1

Zwei Wochen zuvor in Hannover

»Da haben Sie sich aber viel Mühe gegeben. Vielleicht würden wir die sogar behalten.« Die Frau mit der zierlichen Handtasche über der Schulter strich über die blau-weiße Küchenfront. Fee hatte sie selbst lackiert. Sie war in den Schnitt der Altbauwohnung eingepasst, sie würden sie nicht mitnehmen können.

Fee spürte, wie ihre Fäuste sich unwillkürlich ballten.

Sie verschränkte die Arme.

»Eigentlich müssen Sie diese Einbauzeile entfernen und den Originalzustand wiederherstellen«, hatte die Vermieterin im letzten Sommer angemerkt, als sie zu ihnen gekommen war, um sich ein Bild vom Zustand der Wohnung zu verschaffen. »Ich wusste ja gar nicht, was Sie hier alles angestellt haben!« Stirnrunzelnd war sie durch die Räume geschritten, ein Klemmbrett in der Hand, auf dem sie sich sorgfältig Notizen machte. »Und hier, der Fleck an der Wand, das sieht ja nach Fett aus. Ich bezweifle, dass der sich so einfach überstreichen lässt.«

Da war die Ketchupflasche explodiert: Rieke hatte sie zu stark geschüttelt, es hatte eine eindrucksvolle Fontäne gegeben. Erst waren sie sprachlos gewesen, dann hatten sie losgeprustet. Nur das Entfernen des Flecks hatte nicht richtig geklappt. Man gewöhnte sich an alles.

»Und was ist das?« Ihre Vermieterin beugte sich nach unten. Die Kerbe in den Fliesen. Da war die Pfanne gelandet, die Rasmus in einem Wutanfall auf den Boden geschleudert hatte. Er hatte schlimme Wutanfälle gehabt, als er klein war, einen ausgeprägten Willen, wie Viola immer sagte. Von dem war derzeit nichts mehr zu spüren.

Die Vermieterin setzte ihre Inspektion fort. Die Küchentür schloss nicht richtig, das Schließblech war verbogen. Jeder in der Familie hatte sie zu irgendeinem Zeitpunkt hinter sich zugeknallt, wenn es wieder einmal zu viel geworden war. Ach ja, die Küchentür.

Über den Rand ihrer Brille hinweg hatte die Vermieterin Fee angeschaut. »In Ihrer Familie ist sicher viel los«, hatte sie verkniffen festgestellt. »Wahrscheinlich ist es … sehr lebendig bei Ihnen.«

Fee fragte sich, was die anderen Mieter ihr erzählt hatten. Die Nachbarn, mit denen es so unkompliziert gewesen war, als Jan noch da war, und von denen die meisten Fee jetzt mieden.

Die ältere Nachbarin mit den drei Katzen, die Jan angehimmelt hatte. Als sie ihr Beileid ausdrückte, waren Tränen geflossen, als wäre sie selbst die Hinterbliebene, was Fee höchst unangenehm gewesen war. Dann das junge Paar mit dem Baby, das erst nach Jans Tod begonnen hatte, sich bei Fee über den Lärm zu beschweren. Und der Mann im Anzug, alleinstehend mit wechselnden Partnerinnen, der immer wieder hastig fragte, ob er helfen könne, und aus der Haustür war, bevor man ihm eine Antwort geben konnte.

Vielleicht war die Kündigung kein Verlust.

Schließlich hatte die Vermieterin in Golos Zimmerhälfte gestanden, durch ein Regal abgetrennt von Marthas Seite. Die Gläser mit teilweise undefinierbarem Inhalt – alle möglichen Fundstücke, Vogelfedern, Schneckenhäuser, Mäuseskelette –, die sich auf Marthas Schrank stapelten, hatte sie noch gar nicht entdeckt. Nein, sie hatte fassungslos den Elefanten betrachtet, lebensgroß an die Wand gemalt. Ein Babyelefant. Mit einem Horn auf der Stirn. Es war ein Einhornbabyelefant. In den Ohren trug er prächtige rosafarbene Blumen.

Die Vermieterin hatte geseufzt.

Die Frau mit der zierlichen Handtasche, sie war die Nichte der Vermieterin, musterte die Küche jetzt und warf Fee einen unsicheren Blick zu.

»Und hier haben Sie all die Jahre zu fünft gewohnt? Ich kann das gar nicht glauben. Schon ein bisschen eng, oder?«

»Zu sechst.« Schroffer als beabsichtigt kam es aus Fee heraus.

Die Frau gab einen erschrockenen Laut von sich. »Oh Gott, natürlich. Sie Arme!« Man sah ihr an, dass sie nicht wusste, wie sie reagieren sollte. Herzliches Beileid, dachte Fee, das würde schon reichen.

Die Idee einer Ablösesumme konnte sie jedenfalls begraben. Sie konnte vermutlich froh sein, wenn die Nichte der Vermieterin und ihr Mann die Wohnung zu übernehmen bereit waren, ohne dass sie aufwendig renovieren musste.

Der Mann erschien jetzt, mit einem Zollstock in der Hand, und nickte Fee gönnerhaft zu. »Wir würden die Wohnung zum Mai übernehmen und erst einmal von einem Fachbetrieb renovieren lassen. Wir wollen sowieso eine neue Küche einbauen. Ein neues Bad übrigens auch.«

Ja, zu diesem Paar passte die Wohnung. Neunzig Quadratmeter Altbau, Stuck, Balkon, in bester Lage und einem lebendigen Viertel, nämlich in der List.

»Es tut mir leid, Frau Henrichs, ich weiß ja, dass Sie es schwer haben. Aber – meine Nichte sucht demnächst eine Wohnung, ihr Mann hat einen neuen Job, sie ziehen von Stuttgart hierher.« Die Stimme der Vermieterin zuckersüß, der Brief als Einschreiben zugesandt. Kündigung wegen Eigenbedarfs, fristgerecht vor neun Monaten zugestellt.

Fee hätte genug Zeit gehabt, etwas Neues zu suchen, aber sie war wie gelähmt gewesen. Wie eine Taucherglocke hatte das Wissen, dass sie ausziehen mussten, über ihr geschwebt. Nicht ständig in Panik zu geraten, das hatte sie nach Jans Tod mühsam gelernt, das Herzrasen, sie hatte es irgendwie in den Griff bekommen. Aber alle anderen Gefühle waren wie abgetrennt. Jeder Handgriff, jeder Gang fühlte sich schwerer an als früher.

Hätte sie es nur getan. Sich rechtzeitig gekümmert.

Ein nervöses Lächeln der Frau, ein suchender Griff nach dem Arm ihres Mannes. Dieser straffte sich unwillkürlich.

Fee konnte nicht lächeln. Sie musste sich zwingen, das Paar mit ein paar Worten zu verabschieden.

Als sich die Wohnungstür hinter ihnen geschlossen hatte, endlich, entrang sich ihrer Brust ein Seufzer. Fee lehnte sich gegen die Wand, langsam rutschte sie mit dem Rücken daran herunter. Auf dem Boden sitzend starrte sie auf die Kinderschuhe, die sich hinter der Tür stapelten. Abgetretene und neue, matschverkrustete und einigermaßen saubere. Alle Größen durcheinander.

Sie musste etwas tun. Und zwar bald.

Eine Woche davor war es gewesen, als der Leiter der Musikschule sie zu einem persönlichen Gespräch einbestellt hatte. Fee hatte ein ungutes Gefühl gehabt. Sie hatte es wie immer nur knapp geschafft, aber dreieinhalb Minuten nach der vereinbarten Zeit, das war noch okay, fand sie.

André kam sofort zur Sache. Er hätte gehört, dass sie ihren Schülern nicht vernünftig vorspielen und keine Duette mit ihnen spielen würde. Er hob den Zeigefinger. Das sei natürlich wichtig. Die Schüler müssten wissen, wie ein Stück am Ende klingen sollte, sie müssten sehen, welches Niveau ihre Lehrerin beherrschte. Die Violine sei schließlich ein anspruchsvolles Instrument, die Bogenführung, das Finden der Töne auf dem Griffbrett, das alles müsse schon souverän demonstriert werden.

Er stand da, aufgerichtet, wippend auf den Zehenspitzen, das Lächeln professionell und wie einstudiert, sie kannte ihn nicht anders.

Fee setzte zu einer Erklärung an. Natürlich zeigte sie ihren Schülern, wie sie spielen sollten. Erläuterte die Technik, die Lagenwechsel, die Bogenführung. Aber selbst spielen, richtig spielen, so wie früher … Sie konnte es nicht mehr. War das ein Problem?

Es war eines, das begriff sie in diesem Moment.

An der Wand hingen Schwarz-Weiß-Fotografien berühmter Musiker. Leonard Bernstein, lässig im Mantel am Klavier, eine Zigarette in der Hand, wirkte wie immer heiter und gelassen.

Erneut vernahm sie Andrés Stimme. »Du hast es nicht leicht, das weiß ich. Und trotzdem denke ich, du solltest dich …«

Was sollte sie? Sich zusammenreißen? Ja, alle erwarteten, dass sie sich zusammenriss, endlich. Ein Jahr der Trauer wurde einem zugestanden, aber Jans Tod war rund zwei Jahre her. Für alle anderen eine Ewigkeit.

Für Fee, als wäre es gestern gewesen.

Sie hatte auf der Bühne gestanden und Geige gespielt. Während die Kinder den Notarzt gerufen hatten und Jan ins Krankenhaus gebracht worden war, hatte sie mit dem Orchester den Auftritt im Konzertsaal gehabt. Schubert, Rondo A-Dur für Violine und Orchester, und sie, Stimmführerin der zweiten Violinen, spielte das Solo.

Sie hatte gespielt und es nicht gewusst.

Jan hatte sich schlecht gefühlt an dem Abend, er hatte entschieden, zu Hause zu bleiben, obwohl er eigentlich im Publikum hatte sitzen wollen. Fee hatte ihre Enttäuschung nicht verbergen können und war ohne Abschied aufgebrochen.

Sie hatte es erst nach dem Konzert erfahren. Jemand hatte im Dunkel am Bühnenrand gestanden und gewartet, bis der Applaus vorbei war. Dann hatte man ihr ein Telefon gereicht. Rasmus war dran gewesen, ganz leise und wie erloschen. »Mama – Papa ist tot.«

Blind vor Verzweiflung hatte Fee dem Inspizienten später Vorwürfe gemacht, dass man sie nicht rechtzeitig benachrichtigt hatte. Das Konzert hätte abgebrochen werden müssen. Sofort!

An dem Abend war sie ins Krankenhaus gerast, aber es war zu spät gewesen. Ein Herzinfarkt. Mit neununddreißig Jahren. Fee hatte geweint, sie hatte geschrien und gebrüllt, dann war sie zusammengebrochen.

Ihre Schwiegereltern waren angereist und hatten sich um die Kinder gekümmert, Fee war zunächst ein paar Tage, dann mehrere Wochen, im Grunde über Monate zu nichts zu gebrauchen gewesen. Auch nicht mehr zum Geigespielen.

Um die Stelle als Musiklehrerin hatte sie sich beworben, als sich abzeichnete, dass sie nicht ins Orchester zurückkehren würde. Es war ein Kompromiss gewesen, von Anfang an, eine Anpassung an die neue Situation, notgedrungen.

André legte seine Fingerspitzen aneinander. Aus den Räumen in der Musikschule erklangen gedämpft verschiedene Tonleitern und Übungsstücke. Klavier, Querflöte, Cello – Fee mochte dieses Potpourri aus Klängen. Die Stimme einer einzelnen Geige klang heraus, begleitet von einer Lehrerin am Klavier. Das musste Niklas sein, der vor einem Jahr bei ihr angefangen und den Lehrer vor Kurzem gewechselt hatte. Die Töne traf er inzwischen sehr genau.

Sie holte Luft. »Ich …«

André unterbrach sie. »Felicitas, wir sind die beste Musikschule der Stadt. Unsere Schüler bestehen regelmäßig die Aufnahmeprüfung an der Hochschule. Und Stunden, die ausfallen, schaden unserem Ruf.«

Aha, davon hatte er also auch gehört. Fee hatte es auszugleichen versucht, sie hatte den Schülern Ersatzstunden angeboten und bei den Eltern um Verständnis gebeten. Tatsache war, dass sie ihre Stunden gelegentlich absagen musste.

Golo vom Kindergarten abholen, mit Rieke diskutieren, Wäsche waschen. Auch wenn sie es aufteilten, aber Rieke gelang es zuverlässig, nur ihre eigenen bunten Fetzen in die Maschine zu stecken, Marthas Stinkesocken würde sie nicht anfassen, erklärte sie, und Martha hatte Wichtigeres zu tun, als sich um ihr Äußeres zu kümmern. Dazu kochen, einkaufen, sauber machen. Rasmus staubsaugte bereitwillig, wenn sie ihn darum bat, gründlich, in jeder Ecke, seine Matheaufgaben aber »vergaß« er und schaute sie nur zerknirscht an, wenn sie sich abends danach erkundigte.

Martha, derzeit in der vierten Klasse, hatte Bestnoten und keine Freundinnen; Rieke, in der neunten auf der Gesamtschule, schlug sich durch, sie schaffte es immer wieder, im letzten Moment genau so viel zu lernen, wie sie brauchte. Nur Rasmus, der spielte Basketball und ging Skaten, zog aber wie eine Schnecke den Kopf ein, wenn es um Schulisches ging. Zweites Halbjahr, zehnte Klasse Gymnasium. Dass er einmal auf Hochbegabung getestet worden war, daran erinnerte sich keiner mehr. Auf dem letzten Zeugnis hatten zwei Fünfen gestanden, ausgerechnet in Mathe und Musik.

André hatte keine Kinder.

»André. Gib mir noch eine Chance.«

Sie würde sich an einen strengen Zeitplan halten, ab jetzt rechtzeitig hier sein, sie würde den Schülern etwas vorspielen. Irgendwie würde sie es schaffen, vielleicht würde keiner merken, dass ihre Seele beim Spielen nicht mehr dabei war. Dass sie sich am liebsten unter der Bettdecke vergraben hätte, jeden Morgen. Dass jedes Aufstehen ein Kampf war. Immer wieder, jeden Tag.

»Ich kann das nicht mehr verantworten, Felicitas.«

Mir wird gekündigt, dachte Fee, ich verliere gerade meinen Job. Ein Klang in ihr wie der metallische Schlag eines Beckens. Stille. Sie wusste, dass darauf meist der Paukendonner folgte.

Was sollte sie sagen? Sich empören?

Sie hatte nicht genug Energie, um zu kämpfen. Und für André war die Sache längst erledigt. Sein Lächeln, professionell wie zu Beginn.

Fee nahm ihre Tasche und stand auf.

An der Tür drehte sie sich noch einmal um.

Leonard Bernstein, er kannte das Leben, zwinkerte ihr von der Wand aus zu.

2

Am Abend saß Fee an ihrem Laptop und rief Immobilienportale auf. Die Kinder waren von der Eisdiele zurückgekehrt. Den Blick fremder Leute auf die Zimmer, die über zehn Jahre ihr Zuhause gewesen waren, hatte Fee ihnen ersparen wollen, also hatte sie ihnen Geld in die Hand gedrückt und sie losgeschickt.

»Wie viele Kugeln?«, hatte Rieke gefragt.

»So viele ihr wollt.«

»Echt jetzt?«

»Passt einfach auf, dass euch nicht schlecht wird«, hatte Fee gesagt.

»Und, wie fanden sie meinen Einhornelefanten?«, krähte Golo später, sein Mund war schokoladeverschmiert, bunte Streusel klebten an seiner Lippe.

»Den fanden sie super, mein Schatz! Sie sagten, sie hätten noch nie einen so fabelhaften Elefanten gesehen.«

Golo nickte zufrieden.

Martha prüfte ihre Schraubgläser auf Vollständigkeit. »Mama, wenn wir umziehen, müssen wir aber Platz für meine Sammlung haben.«

»Platz für deine Sammlung gibt es immer.«

Ein Kellerraum oder Schuppen würde sich schon finden, auch wenn es Fee manchmal schüttelte, wenn sie sah, was Martha anschleppte. Aber Martha war eigen, und Fee entging der Eifer nicht, mit dem ihre Tochter ihre »Forschungen«, wie sie es nannte, betrieb. Außerdem lebte ihr Vater nicht mehr, wie konnte sie ihr das nehmen, an dem sie so leidenschaftlich hing?

»Wirf das Ekelzeug einfach weg«, bemerkte Rieke, wie so oft mit ihrem Handy beschäftigt. Wie schafft sie es, sich auf alles gleichzeitig zu konzentrieren, fragte sich Fee, auf die Chats mit ihren Freundinnen und auf das, was um sie herum geschieht?

»Wirf du deinen Schminkschrott weg«, sagte Martha. »Da sind sowieso nur Tierversuche drin.«

Meistens prallten die Sticheleien ihrer Schwester an Martha ab. Nur manchmal, da lief sie knallrot an und verfolgte Rieke mit ihren Vorträgen durch die ganze Wohnung.

»Fang du erst mal an, dich zu schminken. Oder dir wenigstens was Vernünftiges anzuziehen. So abgerissen wie du läuft ja kein Mensch rum!«

»Könnt ihr mal leise sein.« Fee raufte sich die Haare und starrte wieder auf den Bildschirm.

Kurz hatte sie daran gedacht, sich juristisch zu wehren, und einen Anwalt aufgesucht. Aber der hatte ihr wenig Hoffnung gemacht, dass sie einen Rechtsstreit gewinnen könnte. Die Kündigung war legal, er hatte ihr empfohlen, sich um eine Sozialwohnung zu bewerben, und ihr gleichzeitig eine saftige Rechnung ausgestellt.

Ah, hier, das sah doch gut aus, eine Fünfzimmerwohnung in der Nähe von Rasmus’ und Riekes Schule. Fee schickte die Anfrage für eine Besichtigung ab, dann scrollte sie weiter durch die Angebote. Die Wohnung brauchte ja nicht riesig zu sein. Wichtiger war die Lage, damit die Kinder nicht die Schule wechseln mussten. Fünf Zimmer wären schön, aber auch vier Zimmer waren okay. Martha und Golo konnten sich ein Zimmer teilen, Rasmus zog irgendwann aus, im Wohnzimmer würde sie eine Schlafcouch für sich selbst aufstellen.

Fee studierte den Stadtplan, notierte sich Adressen, schrieb weitere Vermieter an, um Besichtigungstermine zu vereinbaren, unterschlug vorsichtshalber die Anzahl ihrer Kinder und ging gegen Mitternacht ins Bett.

Die Ernüchterung folgte in den Tagen darauf. Einige Vermieter hatten sie zur Besichtigung eingeladen. Fee warf sich in weiße Bluse, Jeans und Pumps, brachte Golo zu einem Spielfreund aus dem Kindergarten, stellte Martha unter Riekes Aufsicht und zog los. Sie wirkte jung für ihre zweiundvierzig Jahre, das wusste sie, und weitaus frischer, als sie sich fühlte.

Dann kam der Moment, in dem sie einen Gehaltsbogen ausfüllen sollte, alle Vermieter und Makler hatten ihn parat. Fee setzte den Stift an, begann die Zeilen auszufüllen, dann legte sie ihn beiseite. Es hatte keinen Sinn. Sie hatte keinen Job mehr. Sie verlegte sich darauf, dies im persönlichen Gespräch zu klären und für ihre Situation zu werben. Wenn die Vermieter Witwe hörten, arbeitssuchend, flackerten die Blicke allerdings unruhig. Das sei eigentlich kein Problem. Aber vier Kinder, das sei dann doch »sagen wir so, ungewöhnlich«. Sie blieben freundlich, erklärten jedoch, dass sie das den anderen Mietern nicht zumuten könnten.

Zumuten. Fee biss die Zähne zusammen. Ein oder zwei Kinder, das war die Norm. Oder gar keins. Eine Diskussion darüber war allerdings unter ihrer Würde. Sollten die Makler ihre genormten Wohnungen doch an genormte Familien vermieten. Von ihr aus, bitte sehr.

»Danke«, sagte sie kühl und ging.

Viola hatte es ihr prophezeit, als Golo geboren wurde. »Mit vier Kindern bist du in den Augen der Leute asozial. Gewöhn dich besser gleich daran!« Dabei hatte sie sich scheckiggelacht, sodass man die Lücke zwischen ihren Schneidezähnen sah.

Viola, Fees Freundin seit der Grundschule, liebte Kinder und war Taufpatin von Rasmus und Rieke. Sie konnte keine eigenen Kinder bekommen und war für eine Entwicklungshilfeorganisation in Uganda tätig. Dort baute sie Schulen auf, stellte mit den Kindern vor Ort Theaterprojekte auf die Beine, unterrichtete Französisch.

Als Jan gestorben war, hatte Viola sofort einen Flug gebucht und war nach Deutschland gekommen. Aber irgendwann musste sie wieder weg. »Zu meinen Kids, an denen hänge ich.«

Manchmal wäre auch Fee gern nach Afrika gegangen. Oder nach Kanada, in die Wälder. Einfach weit weg. Aber wie sollte das gehen?

Als Jan noch lebte, waren sie als lebendige, kreative Familie angesehen worden. Fee wusste, dass viele Bekannte sie beneidet hatten, sowohl um ihren Erfolg als Geigerin als auch um ihre liebevolle Ehe. Jetzt war sie eine alleinerziehende Mutter mit vier Kindern, leer und niedergeschlagen, die ihre berufliche Karriere an den Nagel gehängt hatte.

Darüber lachte auch Viola nicht mehr.

Einige Tage später, die Kinder waren bereits im Bett, saß Fee wieder am Laptop, ein Knäckebrot neben sich. Nur Rasmus hielt sich noch in der Küche auf und bemühte sich offensichtlich, für die Schule zu lernen. Er versteckte ein Gähnen.

»Wofür arbeitest du denn?«, wollte Fee wissen.

»Für die Physikarbeit morgen.«

»Das hat jetzt keinen Sinn mehr. Geh lieber schlafen.«

Sie war selbst todmüde, die Wohnungen auf dem Immobilienportal verschwammen vor ihren Augen. Sollten sie doch in ein Randgebiet ziehen, mit günstigeren Mieten? Sie hätte sich gewünscht, dass die Kinder im gewohnten Viertel bleiben konnten. Mit dem Rad zur Schule fahren, ihre Freunde treffen, sich zu Hause fühlen, gerade jetzt. Aber da war anscheinend nichts zu machen. Aufgehängte Zettel, Suchanzeigen, Anfragen an alle Leute, die sie kannte – nichts hatte geholfen.

Jans Eltern hatten ihr angeboten, sie bei der Betreuung der Kinder zu unterstützen. »Unter der Bedingung, dass ihr hierherzieht und die Kinder bei uns zur Schule gehen! Die Schulen, die wir in München haben, sind sehr gut!« Kurz hatte Fee darüber nachgedacht. Aber München, nein. Und die Einmischung ihrer Schwiegereltern – besser nicht. Jans Vater war Arzt, und seine Mutter übernahm die Rolle der Arztgattin, in München hielt man etwas auf sich. Jan hatte immer weggewollt, seine Eltern waren ihm fremd gewesen. Es reichte, wenn die Kinder dort die Ferien verbrachten. Außerdem hing eine Bemerkung von Jans Mutter zwischen ihnen. Er hätte sich ja restlos für seine Familie aufgeopfert, hatte sie nach der Beerdigung geäußert. Das anklagende Gesicht hatte Bände gesprochen. Als ob Fee die Schuld daran trüge.

Fee war es gerade gelungen, sich wieder auf die Anzeigen zu konzentrieren, da knarrte die Tür. Golo kam herein, taumelnd vor Müdigkeit, sein Stofftier Esel im Arm.

»Hey, mein Süßer, du musst doch längst schlafen!«

Seit Jans Tod litt ihr Jüngster immer wieder unter Albträumen. Er schreckte aus dem Schlaf hoch und kam an ihr Bett, etwas, was er früher selten getan hatte. Manchmal brauchte er eine Stunde, bis er wieder einschlief, während Martha am anderen Ende des Zimmers – sie hatte einen robusten Schlaf – längst schnarchte.

Golo schob sich auf ihren Schoß, und Fee drückte ihre Nase in sein Haar.

»Mama?«

»Ja?«

»Ich hab eine Frage.«

»Schieß los!«

Fee erwartete, dass er wissen wollte, ob sie Jan vermisste, wie so oft. Aber diesmal war es etwas anderes.

»Ich will … also, ich will wissen, ob du noch mal Geige spielst, irgendwann.«

Fee versteinerte. Mechanisch streichelte sie Golos Rücken.

»Es ist lange her, aber ich weiß noch, dass ich es mochte.«

Golo erinnerte sich an ihr Geigenspiel. Eigentlich kein Wunder. Schon während der Schwangerschaft hatte er die Töne im Bauch gehört. Die Geige, die jetzt im Koffer auf dem Schrank lag, eine feine Staubschicht darauf.

Fee schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht, Golo.«

»Ich weiß. Rieke sagt, du wirst nie mehr spielen, und Martha sagt, du wirst irgendwann wieder anfangen. Was ist richtig?«

Sie hatte keine Antwort.

»Willst du mal ein Instrument lernen, Golo?«, versuchte sie abzulenken.

Er sah sie ernsthaft an. »Schlagzeug.« Aus seinem Mund klang es wie »Slagsseug«. Fee strubbelte ihm durchs Haar. Im Moment spielte keines der Kinder ein Instrument. Rieke hatte ihre Querflöte, die sie eigentlich ganz passabel gespielt hatte, erst kürzlich in die Ecke gepfeffert – »Absolut uncool!« –, Martha hatte überhaupt kein Interesse an Musik, und Rasmus, der talentiert war, hatte seine Trompete beiseitegelegt, als Fee aufgehört hatte zu spielen. Sie hatte ihn zu ermuntern versucht und sich doch zu leer gefühlt, um ihn ernsthaft zu überreden. Sie hatte es dann auf das Alter geschoben. Mit sechzehn traf man seine eigenen Entscheidungen.

»Geh ins Bett, mein Schatz. Morgen unternehmen wir etwas zusammen, ja?«

Golo rutschte von ihrem Schoß. Bevor er verschwand, drehte er sich an der Tür um. »Aber es wäre schön.«

Sie brauchte nicht zu fragen, was er meinte.

Sie war eine Versagerin, als Mutter, als Musikerin und selbst in ihrem Job. Verzweiflung erfasste sie. Ihre Augen schmerzten vom vielen Starren auf den Bildschirm. Aber sie wollte, sie musste diese Wohnungssuche abschließen, bevor sie zu Bett ging. Sie brauchten ein Dach über dem Kopf.

Oder auch gerade keins. Freien Himmel, einen Garten. Wäre das schön. Vielleicht sollte sie außerhalb der Stadt suchen? Fee klickte herum. Ihre Schwiegereltern hatten immer etwas von Kauf erzählt, davon, dass man in einem bestimmten Alter etwas Eigenes haben sollte. Für Jans Eltern waren sie so etwas wie Bohemiens geblieben, Künstler, die nicht vorsorgten, kopfschüttelnd beäugt. Dabei wussten sie genau, dass sie sich das nicht leisten konnten. Fee wurde nachdenklich. Warum eigentlich nicht? Vielleicht hatten ihre Schwiegereltern ausnahmsweise recht. Warum sollte sie immer weiter abhängig sein von schmallippigen Vermieterinnen und ausweichenden Maklern?!

Sie wechselte die Kategorie. Eine Villa würde sie sich jetzt aussuchen, mit Park, und dann fragen, ob sie dort mit den Kindern ihr Zelt aufschlagen könnte. Obdachlose mit vier Kindern nächtigt in Privatpark, sie sah schon die Schlagzeile vor sich, haha. Umgebungsradius zu Hannover: egal.

Es war kein Tippfehler. In einem Anfall von Verzweiflung hatte sie der gewünschten Wohnfläche in der Suchmaske eine Null hinzugefügt. Und da stand er ihr vor Augen, der leer stehende Gasthof, ploppte groß auf dem Bildschirm auf, ein markantes Backsteingebäude mit weißer Giebelverzierung, Obstbäume dahinter, ein kleiner Fluss. 150 Kilometer von Hannover entfernt, Landkreis Stade, im Alten Land. Zu besichtigen ab sofort.

Fee starrte auf die Bilder. Es war wie ein Traum. Die Schönheit dieses Hauses, auch wenn es alt war. Der Bootssteg, der zum Grundstück gehörte. Die Weide daneben. Platz, viel Platz. Bootsmusik, man müsste sie mal schreiben. Eine Geigenmelodie kam ihr in den Sinn. Stopp. Nein. Keine Geige. Nie wieder.

3

Am nächsten Tag zog Fee erneut los und besichtigte drei weitere Wohnungen. Ohne Erfolg. Entnervt zog sie die Pumps von den Füßen und schleuderte die Handtasche in die Ecke, als sie zurückkam. Warum war alles so schwer?!

Die Anzeige von gestern Abend kam ihr wieder in den Sinn, der leer stehende Gasthof im Alten Land. Sie brauchte eine Weile, bis sie die Seite wiederfand. Altes Land. Wie romantisch das klang. Und Hamburg war nah, kleine Städte gab es auch, sie studierte die Karte. Aber – durfte sie Hannover einfach verlassen? Die Stadt, in der sie mit Jan glücklich gewesen war?

Per Skype bat sie Viola um Rat.

Die Freundin war begeistert. »Ja, super, Fee, wenn ich das so höre, glaube ich, es tut euch gut! Einfach mal woanders hin. Einen echten Neuanfang. Wie klasse! Mach’s doch einfach. Wenn es nicht klappt, ziehst du wieder zurück in die Stadt. Aus eurer Wohnung müsst ihr sowieso raus. Wo liegt der Unterschied?«

»Na ja, die Kinder haben hier ihre Freunde, ihre Schulen …«

»Na und? Bist du aus der Welt? Willst du nach Afrika gehen? Eben. Es gibt ganz andere Leute, die aufs Land ziehen. Wo, sagst du, liegt das? Südlich von Hamburg? Ich bitte dich. Schulen gibt es dort garantiert auch. Das ist anders als in Uganda, wo nicht jedes Kind die Chance hat, zur Schule zu gehen. Wenn ich an die Entfernungen denke, die die Kinder hier täglich zurücklegen müssen, gerade in dieser Gegend …«

Viola mit ihrer Unbekümmertheit. Wenn sie Bilder übers Handy schickte, sah sie abenteuerlich aus: um den Kopf gewundene bunte Tücher, kurze Hosen. Und immer Kinder um sie herum, neben ihr, im Hintergrund.

Aber sie arbeitete hart, das wusste Fee. Hinter ihrer bunten Erscheinung verbarg sich eine Entschlossenheit, von der Fee sich insgeheim gern ein Stück abgeschnitten hätte. Damit die Kinder an dem Ort, an dem Viola arbeitete, dort im ländlichen Uganda, überhaupt Unterricht erhielten, musste sie Mittel einwerben und über neue verhandeln, Schulungen für die Lehrer vor Ort durchführen, Kontakt zu den Unterstützern in Deutschland halten, für Materialtransporte sorgen und selbst an den Schulen vor Ort unterrichten. Viola verfügte über diese scheinbar unerschöpfliche Energie, von der sie genau wusste, wofür sie sie einsetzen wollte, und behielt trotzdem ihren Optimismus. Ja, es war diese unerschütterliche Ausstrahlung, ihre Stärke, um die Fee sie beneidete, diese Unbeschwertheit, die sie manchmal aufbrachte und der sie sich doch nicht entziehen konnte.

Fee brachte ein anderes Argument in Stellung. »Die Kinder sind ihr Leben lang hier gewesen. Sie hängen an diesem Ort. Sie verbinden ihn mit Jan. Er ist das Letzte, was sie mit ihrem Vater verbinden.«

»Da gibt es hoffentlich noch mehr, was sie mit ihm verbinden«, bemerkte Viola trocken. »Fee, mal im Ernst«, ihr Blick bohrte sich streng in den Bildschirm, »du musst nach vorne schauen. Die Kinder kommen schon klar, die wuppen das. Du brauchst sie nicht in Watte zu packen.«

»Das tue ich doch gar nicht!«

»Nein, das tust du nicht. Aber du verhinderst, dass es weitergeht. Ich meine, wirklich weiter.«

»Wenn wir hier wegziehen: Nehme ich ihnen dann nicht alles, was sie noch haben?«

»Quatsch. In einem Hochhaus am Rand von Hannover nimmst du ihnen mehr. Auf dem Land hätten sie Luft und Licht, könnten draußen sein, Neues kennenlernen. In Afrika sind die Kinder den ganzen Tag draußen, du glaubst nicht, wie gut es ihnen tut …« Fees Gedanken schweiften ab.

Viola klopfte gegen den Bildschirm. »Du hörst mir nicht zu. Okay, ich spar mir meine Ausführungen. Aber, Fee, einen Rat gebe ich dir: Kümmer dich mal wieder um dich selbst.«

»Danke, aber das tue ich bereits.«

»Du könntest dich auch mal mit einem Mann treffen.« Viola machte eine schwungvolle Geste. »Dich verlieben!«

»Nein«, sagte Fee scharf.

»Aber langsam dürftest du …«

»Viola. Ich kann nicht.«

Die Freundin sah sie vom Bildschirm her nachdenklich an. »Okay. Lass uns ein anderes Mal weiterreden, ja? Aber ich sage dir: Ich glaube, du kannst.« Damit beendete sie das Gespräch.

Abends rief Fee die Anzeige noch einmal auf. Der Fluss, sanft mäandernd. Die Bäume, deren Äste übers Ufer hingen. Das pure Idyll. Ein Ort für Golo, um seine Albträume zu vergessen. Für Martha, um nach Herzenslust ihren Forschungen nachzugehen. Und für Rieke, um nicht endgültig abzuheben. Alle hätten ein eigenes Zimmer. Und Rasmus? Ihm gegenüber hatte sie ein schlechtes Gewissen. Er verzichtete sowieso auf Freizeitaktivitäten, wenn sie ihn bat, Golo abzuholen oder sich um Martha zu kümmern. Er war immer für sie da. Für sie und für seine Geschwister. Rasmus. Es wurde Zeit, dass sie ihn entlastete.

Der Gasthof. Schauen könnte man natürlich mal.

Am nächsten Morgen wählte Fee die angegebene Telefonnummer, eine E-Mail-Adresse gab es nicht. Ein Mann meldete sich, er unterbrach sie, als sie ihre Situation schilderte. Seine Stimme klang alt, eine Spur zu barsch, mit ausgeprägt norddeutschem Tonfall. »Kommen Sie einfach her, schauen Sie sich den Gasthof an, und sagen Sie mir, ob Sie ihn überhaupt wollen. Dann sehen wir weiter.«

»Gibt es viele Interessenten?«, wollte Fee wissen.

»Es gibt einen Interessenten hier im Ort, das ist der werte Herr Bückmann. Der kriegt die Bude allerdings nur über meine Leiche. Sonst: ein paar Hamburger. Wenn Sie wollen, kommen Sie heute Nachmittag vorbei. Ich lege den Schlüssel unter den Stein neben dem Eingang. Wer zuerst kommt, mahlt zuerst.«

Er hatte nicht einmal gefragt, woher sie kam.

Sie musste schnell sein.

Fee überlegte, was Jan wohl dazu gesagt hätte. Zusammen hätten sie das nicht gemacht. Der Weg in den Verlag, zu seiner Arbeit, wäre für Jan zu weit gewesen. Und sie selbst hatte ja ihre Anstellung im Orchester gehabt. Zusammen hatten sie sich in der Stadt wohlgefühlt. Gleichzeitig hatten sie immer davon gesprochen, dass die Kinder eigentlich in der Natur aufwachsen sollten. Sie waren ins Grüne gefahren, wann immer sie konnten. Sogar im Alten Land waren sie einmal gewesen, vor ein paar Jahren. Eine kurze Spritztour, um Äpfel zu kaufen, nachdem sie die Elbphilharmonie besichtigt hatten. Fee hatte das Gebäude, das damals noch eine Baustelle war und wie ein Schiff mit glänzenden Segeln immer weiter in den Himmel wuchs, unbedingt mit eigenen Augen sehen wollen. Doch, vielleicht wären sie auch zusammen dorthin gezogen. Vielleicht hätte Jan öfter zu Hause gearbeitet oder wäre zu einem Hamburger Verlag gewechselt.

Fee wusste es auf einmal ganz genau.

Verrückte Idee, hätte er gesagt und gelacht. Verrückt, aber wenn du meinst, dann machen wir das.

***

Sie fuhren auf der Autobahn Richtung Norden. Rasmus, auf dem Beifahrersitz, klopfte einen Rhythmus auf das Armaturenbrett des VW-Busses. Martha, dahinter, blickte auf die Straße und kommentierte jeden Überholvorgang. Golo hatte Esel im Arm und hörte ein Hörspiel, Rieke sah ungeduldig aus dem Seitenfenster. »Warum müssen wir überhaupt mit? Ich bin verabredet!«

»Damit ihr euch ein Bild macht«, erklärte Fee ruhig und überholte einen Lkw mit Seitenschlitzen, hinter denen man Schweineschnauzen erkannte.

»Igitt, ein Tiertransporter«, stellte Rieke fest, »ist ja voll eklig!«

»Über zweihundert Millionen Tiere werden im Jahr quer durch Europa transportiert, sechzig Kilo Fleisch essen die Deutschen, vor allem Schweine. Die Tiere kommen aus Mastbetrieben und werden im Ausland geschlachtet. An der Grenze enden die Tierschutzbestimmungen und viele der Tiere verenden.« Martha zählte die Punkte auf wie ein Lexikon.

»Ich wusste gar nicht, dass du dich mit etwas anderem als mit Insekten auskennst«, sagte Rieke giftig.

»Das sollte jeder wissen«, erwiderte Martha und sah wieder nach vorne. »Vor allem wenn man, wie du es mit Sinje tust, ständig irgendwelche Fast-Food-Burger isst.«

Rieke schnaubte und setzte ihre Kopfhörer auf.

Schließlich fuhren sie an Buxtehude vorbei ins Alte Land. Die Straßen wurden schmaler und wanden sich an einem Deich entlang. Sie passierten reetgedeckte Bauernhäuser, bis zu vier Stockwerke hoch. Dahinter die Obstplantagen. Und dazwischen: der alte Gasthof, mitten in Kirchenfleth. Fee parkte, sie stiegen aus, und sie streckte sich.

Ein laues Lüftchen wehte. Sogar Rieke schien für einen Moment verzaubert. Dies wäre also ihr neues Zuhause. Vielleicht. Das Gebäude wirkte harmonisch, es strahlte Ruhe und Behaglichkeit aus. Ja, ein wenig müsste man daran machen, das war offensichtlich. Der Besitzer hatte sie am Telefon fast drohend darauf hingewiesen. Auf seine unverblümte Frage, ob sie Rücklagen habe und das finanziell überhaupt bewerkstelligen könne, war Fee ausgewichen. So von oben herab, darauf reagierte sie allergisch. Streichen und renovieren, das war ja kein Hexenwerk. Die Fensterscheiben hatten Generationen von Fliegen mit ihrem Dreck verunziert, dafür waren die Wände frei von Graffiti, immerhin.

Ein dröhnendes Motorengeräusch lenkte Fee ab. Kurz darauf bog ein riesiger Traktor um die Kurve. Er nahm die gesamte Breite der Straße ein, seine Räder waren so hoch wie ein fünfjähriges Kind.

»GOLO!« Sie riss ihren Jüngsten, der neugierig am Straßenrand stand, zurück. Der Fahrer hob grüßend die Hand und donnerte ungerührt weiter.

»Mama, hast du den Trecker gesehen?! Sooo groß!« Golo breitete die Arme aus.

Fee sprang das Herz fast aus dem Hals. »Hab ich gesehen, mein Schatz.« Sie kniete sich zu ihm und sah ihm in die Augen. »Aber du darfst nie, niemals, auf die Straße laufen, wenn so ein Trecker kommt. Du bleibst immer am Rand stehen, hörst du?«

Golo nickte heftig. Doch schon im nächsten Moment reckte er den Hals, um dem Traktor hinterherzuschauen. Fee seufzte, umschloss seine Hand und ging den anderen hinterher, die bereits im Garten verschwunden waren.

Das Grundstück: traumhaft. Hier den Alltag verbringen. In Fees Bauch kribbelte es. Den Bootssteg, es gab ihn wirklich.

***

Mit triefend nassen Hosenbeinen, aber unversehrt kamen sie bei der Haustür an. Der Schreck hatte sich, nachdem sie aus dem Fluss gestiegen waren, in Gelächter aufgelöst. Das Wasser am Ufer war nur knietief gewesen, und ein paar Ersatzsachen lagen immer im Auto.

Fee holte den Schlüssel aus dem Versteck hinter der Regentonne. In ihr erhob sich eine Melodie, als sie über die Schwelle trat, ein Tango, schwebend und gleichzeitig energisch, voller Erwartung und einer Spannung, die anschwoll, um sich dann wieder zu lösen. Fee hatte immer wieder Melodien im Kopf, von denen sie nicht wusste, woher sie kamen. Manchmal dachte sie, dass es schön gewesen wäre, diese Melodien festzuhalten, aber sie war viel zu erschöpft, um das zu tun. Irgendwann einmal. In einem neuen Leben.

Unten befanden sich die Gaststube und die große Küche mit der Veranda, im oberen Stockwerk eine Reihe von Zimmern und ein riesiges Bad. Überall lagen Holzdielen. In einigen der Gästezimmer standen noch Betten. Golo juchzte und sprang auf eines, eine Staubwolke stieg auf. Gleichzeitig fiel plötzlich ein Sonnenstrahl ins Zimmer und ließ seine weizenblonden Haare leuchten.

Die Fenster gewährten Ausblick in alle Himmelsrichtungen. Fee ließ Golo hüpfen, ging weiter und öffnete die Tür am Ende des Flurs.

Sie betrat ein Giebelzimmer mit Blick auf den Fluss und in die Bäume. Weit dort hinten war die Elbe. Fee blieb am Fenster stehen. So viel Himmel. Hier zu wohnen, wie schön das wäre. Sie öffnete die Fensterflügel und streckte den Kopf hinaus. Über ihr klebten ein paar Schwalbennester unter dem Giebel. Einzelne Schwalben flitzten umher.

Auf der anderen Seite des Flusses standen einige kleine Häuser auf dem Deich. Eines wirkte besonders urig, so winzig war es, mit seinem Reetdach und einer bunten Bank im Garten, gelb blühenden Sträuchern davor. Auf dem Dach balancierte ein Mann, ungefähr so alt wie sie selbst. Er verlor fast das Gleichgewicht, als er zu ihr herübersah und grüßte. Konnte das sein, war sie überhaupt gemeint? Verwirrt hob Fee ebenfalls die Hand. Dann drehte sie sich rasch um, um weiter den Gasthof zu erkunden.

Der große Saal hatte eine Bühne, auf die Rieke mit einem Satz sprang und ein Lied anstimmte. Rieke sang gern und hatte eine schöne Stimme. Sie hielt die Faust vor den Mund und gab den Popstar. »Hier kannst du spielen, Mama!«, rief sie. »Wir könnten Konzerte geben! Das ist krass groß hier!«

»Du weißt doch, dass Mama nicht mehr spielt«, sagte Martha.

Alle drei Kinder sahen sie an. Die Stille dehnte sich wie eine Kaugummiblase.

Die Musik in Fee erstarb.

»Das sehen wir dann, ja?« Sie musste alle Kraft zusammennehmen, damit ihre Stimme überhaupt einen Klang hatte.

Rieke zog die Mundwinkel nach unten und wandte sich ab. »War ja klar«, meinte Fee zu hören.

Martha griff tröstend nach ihrer Hand und sah sie mit ihrem geraden Blick an.

Rasmus strich sacht über die Schnitzereien der Haustür. »Die ist richtig alt, oder?«

»Vermutlich. Gefällt sie dir?«

»Ja, die Verzierung ist echt schön.«

Als sie abgeschlossen hatten und sich wieder in ihren VW-Bus setzten, stand ein Mann im Jackett auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Er grüßte. Fee grüßte ratlos zurück. Ein Stück weit folgte er ihnen mit seinem mächtigen schwarzen SUV, Fee sah es im Rückspiegel, dann bog er in eine Seitenstraße ab.

***

Jesko war aufs Dach gestiegen. Heftig gestürmt hatte es die letzten Tage, jetzt nutzte er das Frühlingswetter, um die verstopfte Regenrinne von altem Laub und Moos zu reinigen. Das Dach müsste bald neu gedeckt werden. Ob er das selbst erledigen sollte? Nein, er würde einen Fachbetrieb bestellen, das Decken mit Reet war ein spezielles Handwerk. Als Jesko sich gerade zur Regenrinne beugte, sah er aus dem Augenwinkel einen hellen Fleck. Das Giebelfenster des Gasthofs auf der anderen Seite der Lühe wurde von einer Frau geöffnet. Sie hielt das Gesicht der Sonne entgegen, als hätte sie seit Monaten keine Sonnenstrahlen gespürt. Was machte sie dort? Soweit er wusste, hing ein Betreten-verboten-Schild am Gasthof seines Onkels, die unteren Fenster waren teilweise vernagelt, um Vandalismus zu vermeiden. Wie eine Vandalin sah sie allerdings nicht aus. Eine Hamburgerin? Nein, wie eine Hamburgerin auch nicht. Einfach wie … eine Frau, die dringend Frühling brauchte. Und ein bisschen sah sie selbst aus wie der Frühling. Schlank und gleichzeitig kräftig, als spürte sie, dass bald etwas Neues geschehen würde, mit verhaltender Energie.

Dann hatte sein Onkel also doch jemanden für den Gasthof gefunden? Heinrich hatte sich schwer damit getan, den Gasthof online auf ein Immobilienportal zu stellen. Eigentlich wollte er ihn nicht hergeben, er hatte Sorge, dass auch andere Interessenten dasselbe tun würden wie Boris. Der wollte abreißen und dort Mehrfamilienhäuser errichten, mitten im Ort, in begehrter Lage am Wasser. Hamburg wurde immer teurer, das Umland war für die Hamburger zunehmend interessant. Und Boris fackelte nicht lange; wo er baute, war alles Alte im Nullkommanichts verschwunden.

Nur dass es nicht wiederkam.

Die Frühlingsfrau sah ihn an, jetzt war er sich sicher.

Jesko grüßte.

Sie hob die Hand und drehte sich dann, als wäre sie von ihrer Geste überrascht, mit Schwung weg. Ein Wimpernschlag, dann war sie verschwunden.

***

Am Abend nahm Fee Bleistift und Papier und versuchte ihre Optionen aufzulisten. Was die Arbeit betraf, so sah sie folgende:

a) Sie konnte sich an einer anderen Musikschule bewerben.

Ohne Empfehlungen und gutes Zeugnis? Fee ahnte, dass sich ihre Unpünktlichkeit längst herumgesprochen hatte. Außerdem waren da die Kinder. Golo, der immer wieder krank wurde, wer sollte sich um ihn kümmern? Eine Kinderfrau? Jemand, der ins Haus kam? Der sich mit Riekes Launen herumschlug? Der herausfand, was Rasmus für die Schule zu erledigen hatte, während dieser selbst verdrängte, dass es so etwas wie Hausaufgaben überhaupt gab? Und woher sollte das Geld kommen, um jemanden dafür zu bezahlen?

b) Sie konnte versuchen Privatschüler zu finden.

Die würden es allerdings akzeptieren müssen, dass sie gelegentlich eine Stunde verschob, und zu ihr nach Hause kommen. Würde sie genug finden, dass es für ein vernünftiges Gehalt reichte?

Was das Wohnen betraf, so konnte sie:

a) In Hannover bleiben und weitersuchen, bis sie eine neue Mietwohnung fand. Aber was war, wenn es ihr nicht gelang? Ob sie eine Wohnung kaufen sollte? Aber dafür reichte die Summe der Lebensversicherung nicht aus, und mit Arbeitslosengeld war sie kaum kreditwürdig, um den Rest zu finanzieren.

b) Ins Umland ziehen, irgendwohin, wo die Mieten günstiger waren, an den Rand von Hannover. Sie wusste nicht, warum das in ihr eine solche Bedrückung hervorrief.

Oder …? Oder sie konnte das Abenteuer wagen.

Es war Mitte März. Ihre Wohnung mussten sie Ende April verlassen.

Der Gasthof war frei. Ab sofort.

Die Summe der Lebensversicherung reichte.

In Fees Ohren brauste es. Sie griff zum Telefon.

»Herr Feindt. Ich …« Ihre Stimme versagte. Sie räusperte sich.

»Sie wollen ihn«, kam es vom anderen Ende. Und dann, mit einem befriedigten Brummen: »Hebb ik doch glieks dacht.«

4

Fee stand auf der Bühne. Sie drückte die Saiten herunter, führte den Bogen. Die letzte Solopassage, leicht und tänzerisch, die Töne schraubten sich in die Höhe, fielen ab, um kurz vor dem Abschluss des Konzerts erneut immer höher zu steigen. Ihr Kinn lag auf der Geige, sie verschmolz mit ihrem Instrument, wolkig und luftig fühlte sich das an, die zarten und doch so klaren Töne – und auf einmal ein Knall, als ob eine Saite gerissen wäre. Der Zuschauerraum, in dem sich ein Raunen erhob, der Cellist, der sie panisch ansah, ihr Spiel, das abbrach, der Bühnenboden, der sie verschlang. Ein schwarzes Loch. Das Nichts.

Ein dumpfer, kehliger Schrei entrang sich ihrer Brust.

Fee erwachte. Ihr eigener Schrei hallte ihr noch in den Ohren, ihr Herz raste. Sie kämpfte darum, die Augen aufzuschlagen, öffnete sie, schlug die Bettdecke zurück – sie brauchte Luft! – und versuchte zu begreifen, wo sie war. Sie war allein. Die Vorhänge wehten leicht, das Fenster stand offen, der Morgen dämmerte, von draußen erklang bereits ein Zwitschern und Trällern, so laut, als hätten die Vögel sich zu einem Wettsingen verabredet. Sie lag in ihrem Schlafzimmer, oben unter dem Giebel, im Gasthof, ihrem neuen Zuhause, im Alten Land.

Fee sank zurück und strich sich über die Stirn. Ein Traum. Nur ein Traum. Wiederkehrend seit jenem Moment, da sie tatsächlich auf der Bühne gestanden hatte und das Entsetzliche, das Unaussprechliche passiert war.

Ihr Blick streifte unwillkürlich den Schrank. Dort oben lag sie, ihre Lazzaro, das Instrument, das sie unbedingt hatte besitzen wollen, nachdem sie es in einer Geigenwerkstatt in Ulm entdeckt und ausprobiert hatte. Es war ein magischer Moment gewesen. Es war, als wäre die Geige zu ihr gekommen und nicht sie zur Geige, schicksalshaft. Ihr gereifter, warmer Klang, die Fülle, die sie zu erzeugen vermochte, die Eleganz der hohen Töne. Ihre ganzen Ersparnisse hatte sie dafür gegeben, einen Fonds aufgelöst, den ihre Eltern ihr überschrieben hatten. Durch das Musikstudium und in all den Orchesterjahren hatte das Instrument sie begleitet. Dein fünftes Kind, hatte Jan manchmal gescherzt.

Jan war unmusikalisch gewesen. Zumindest hatte er das behauptet. Als Lektor hatte er sich in Texte vertieft, der Rhythmus von Wörtern und Sätzen auf Papier, damit kannte er sich aus, aber singen tat er nicht, und er spielte auch kein Instrument. Zugehört hatte er allerdings. Und wie. Jan hatte sie angeschaut, wenn sie spielte, mit seinen klugen Augen, die oft klein waren vom vielen Lesen, hinter der Brille gezwinkert und sich zurückgelehnt. Dabei hatte sich ein Lächeln auf seinem Gesicht ausgebreitet, zufrieden und vollkommen entspannt.

Wenn Jan zuhörte, hatte Fee sich eins gefühlt mit der Musik und mit der Welt. Manchmal war er beim Zuhören eingeschlafen, aber das machte nichts. Es waren friedliche Momente, und Schlaf bekam man mit vier Kindern sowieso viel zu selten.

Und jetzt verstaubte das kostbare Instrument.

Seit Jans Tod hatte Fee die Geige nicht mehr angerührt. Es ging nicht. Zu stark war das »Wenn, dann ...«.

Wenn sie Jans Beschwerden ernst genommen hätte, hätte sie sich an dem Abend wenigstens von ihm verabschiedet.

Wenn ihr der Auftritt nicht so wichtig gewesen wäre, hätte sie ihn absagen und Jan rechtzeitig zum Arzt bringen können.

Wenn sie dieses Solo nicht gespielt hätte, wäre sie bei ihm gewesen im Krankenhaus.

Wenn ihr dieses verdammte Solo nicht so wichtig gewesen wäre, wäre er nicht gestorben.

Wie sie sich nach ihm sehnte.

Jan.

Jan. Jan. Jan.

Sie musste wieder eingeschlafen sein, denn als Fee das nächste Mal erwachte, tanzten Sonnenstrahlen durchs Zimmer.

Es klopfte zaghaft an der Tür. Und schon wurde sie aufgerissen.

»Sei doch leise!«, zischte Rieke, als Golo sich bereits an ihr vorbeizwängte und zu Fee ins Bett hüpfte.

»Happy birthday to you, happy birthday to you …!« Lauthals stimmte Rieke das Geburtstagslied an, Martha balancierte einen Kuchen mit brennenden Kerzen, Rasmus stand hoch aufgeschossen hinter ihr.

Fee hatte ihren Geburtstag schlicht vergessen, so unwichtig war er gewesen neben dem Umzug, den sie eine Woche zuvor, Ende April, mit Ach und Krach bewältigt hatten.

Golo küsste sie mit der Inbrunst eines Fünfjährigen, Martha stellte vorsichtig den Kuchen ab, alle wollten Fee umarmen – und kurz darauf lagen sie zusammen im großen Bett, alle kugelten durcheinander und gratulierten ihr. Wie wunderbar ihre Kinder waren, so besonders und einzigartig, jedes von ihnen.

»Mama, komm mit nach unten, du musst Geschenke auspacken«, rief Golo, »ich will sehen, was darin ist!« Gessenke. Sie lachte, die Kinder rappelten sich auf und verließen das Zimmer.

Fee zog die Vorhänge auf. Der Fluss glitzerte in der Sonne, und die Häuser leuchteten ebenso wie die weißen Blüten der Kirschbäume, die sich vor wenigen Tagen entfaltet hatten. Wie herausgeputzt lag das Dörfchen da, so friedlich an diesem Samstag Anfang Mai.

Ihr Nachbar von gegenüber, der Bewohner der Reetdachkate auf dem Deich, saß schon in der Sonne, mit einem Kaffeebecher in der Hand. Etwas an ihm zog sie an, machte sie neugierig. Sie verspürte eine Verbundenheit und wusste nicht, wieso. Bisher hatte sie ihn nur allein gesehen, niemanden sonst am Haus. Gab es keine Familie?

Egal. Fee eilte die Treppe hinunter.

Die Kinder hatten das Frühstück vorbereitet, sogar eine Vase stand auf dem Tisch, mit ein paar Fliederzweigen darin. Die Kinder wussten, wie sehr Fee Flieder liebte. »Jeder hat seine Geburtstagsblume«, erklärte Fee immer. »Für dich, Rieke, sind es Sonnenblumen. Für Rasmus Schneeglöckchen und für Golo Astern.«

Und für Jan war es Rittersporn gewesen.

»Und bei mir?«, wollte Martha wissen.

»Bei dir blüht nichts«, stellte Rieke fest. »Alles von Schnee bedeckt.«

»Bei dir ist es die Christrose.« Fee lächelte, und Martha schob sich das Brötchen in den Mund. »Außerdem«, sagte sie, »gibt es im Dezember gar keinen Schnee mehr wegen dem Klimanotstand.«

»Des Klimanotstands«, murmelte Rieke, »Genitiv.«

»Was?« Martha hielt mit Kauen inne.

»Nichts«, sagte Fee. »Was also machen wir heute? Ich habe Geburtstag, ich finde, wir machen einen Ausflug. Wozu habt ihr Lust?«

»Eis essen«, sagte Golo.

»Schwimmbad?«, fragte Martha.

»Nee, dann lieber Heidepark«, war Riekes Meinung. »Oder nach Hamburg.«

Sie einigten sich auf eine Fahrradtour. Rasmus ging hinaus, um zu prüfen, ob die Reifen noch Luft hatten. Den aufgeregten Golo, der ebenfalls unbedingt Werkzeug benutzen wollte, nahm er mit.

Fee umrundete einen Stapel mit Umzugskartons. Das Nötigste hatten sie geschafft, sie konnten schlafen, sich die Zähne putzen und kochen. Die Kinder hatten ihre ersten Tage in Schule und Kindergarten bereits hinter sich, alles war unproblematisch verlaufen. Jetzt mussten sie Lampen anbringen und Regale zusammenschrauben. Im Garten wuchs alles wie wild, auch da musste man etwas unternehmen. Egal, dachte sie, es war Wochenende, sie waren alle beisammen, diesen Tag musste sie den Kindern zuliebe feiern.

Langsam machte sich auch in ihr ein Geburtstagsgefühl breit.

Rieke fuhr an der Spitze, dann folgten Martha und Golo auf seinem Kinderfahrrad, Fee selbst blieb hinter ihrem Jüngsten, Rasmus bildete das Schlusslicht. Vom Haus aus waren sie erst ein Stück durchs Dorf gefahren, am Deich entlang, dann weiter durch die Felder.

Die Kirschbäume zauberten eine heitere Pracht, es war frühlingshaft warm. Fahrradfahrer kamen ihnen entgegen, grüßten, es war ein Ausflugstag, schließlich erreichten sie die Elbe. An einem Fähranleger, dem Lühe-Anleger, tummelten sich nicht nur die Fahrrad-, sondern auch Motorrad- und Autofahrer vor einigen Imbissbuden.

Sie waren noch satt vom Frühstück. Außerdem, so stellte Martha kritisch fest, landeten hier die zerkleinerten Schweine, die mit dem Transporter auf der Autobahn unterwegs gewesen waren. Rieke rollte mit den Augen.

Ein Stück weiter legten sie die Fahrräder ins Gras, um an einem Sandstrand eine Pause zu machen. Golo juchzte, zog sofort Schuhe und Strümpfe aus und watete ins Wasser.

Fee seufzte. Wann würde sie sich einfach mal wieder zurücklehnen und die Augen schließen können, ohne auf ein Kind aufpassen zu müssen? Als hätte er ihre Gedanken gelesen, versicherte Rasmus: »Ich behalte ihn im Blick.«

Fee legte sich dankbar auf ihre Jacke. Die Sonne wärmte ihr das Gesicht, sie hörte das Geplapper von Golo und Martha. Um Rieke und Rasmus musste sie sich, was Wasser betraf, keine Sorgen mehr machen.

Ein tiefes Stampfen näherte sich. Fee legte den Kopf zur Seite und beschattete die Augen mit der Hand. Es war ein Containerschiff, das sich Richtung Hamburg schob, die Kräne des Hafens konnte sie aus der Entfernung sehen. Es war voll beladen. Ein anderes, leeres, Schiff kam ihm entgegen, die beiden kreuzten sich auf dem Strom.

Fee schloss wieder die Augen. Noch ein paar Minuten nichts tun.

Plötzlich kreischte Golo. Rasmus brüllte. Und Fee spürte Nässe an ihren Füßen.

Sie sprang auf.

Rasmus, eben noch auf dem Trockenen, stand jetzt bis zu den Knien im Wasser und hielt Golo gepackt, der sich entsetzt an ihn klammerte. Eine riesige Welle rollte auf den Strand und erreichte fast ihre abgelegten Schuhe, es fehlten nur wenige Zentimeter.

Wo war Martha?

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