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Der Pfad des Zorns

Als Buch hier erhältlich:

Detective Sergeant Max Craigie und das Policing Standards Reassurance Team werden auch bei diesem Fall in die Suche nach gewalttätigen Drogendealern verwickelt. Es scheint, dass die Dealer Informationen von einer hochrangigen Quelle in einer der schottischen Strafverfolgungsbehörden erhalten. Es kommt zu zwei Todesfällen, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben. Ein unbedeutender Drogendealer am Ufer des Loch Torridon und ein Selbstmörder auf der Erskine-Brücke über den Fluss Clyde in Glasgow, der kurz vor seinem Sturz in den Abgrund behauptet, er habe »Polizisten verbogen und gemordet«. Als die Untersuchungen beginnen, geraten alle Menschen, denen Max sich nahe fühlt, in Gefahr. Schnell wird klar, dass die beiden Vorfälle nicht nur miteinander zusammenhängen, sondern außerdem in Verbindung mit Tam Hardie stehen, der im Gefängnis schmachtet. Doch wie gelingt es dem Straftäter, aus seiner Zelle heraus zu operieren? Und was noch viel wichtiger ist: Wem aus den eigenen Reihen kann man überhaupt noch trauen?


  • Erscheinungstag: 21.05.2024
  • Aus der Serie: Ds Max Craigie
  • Bandnummer: 2
  • Seitenanzahl: 384
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749906901
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für meine Jungs.
Alec, Richard und Ollie.
Ich bin so stolz auf euch.

1

Das Boot bewegte sich mit leise und gleichmäßig tuckerndem Motor in den Loch Torridon hinein. Das Fehlen gefährlicher Strudel in dem ruhigen Wasser erlaubte es dem Festrumpfschlauchboot, sich geräuschlos auf den kleinen Strand neben der Straße zuzubewegen. Jimmy McLeish hatte seinen Toyota Pick-up mit dem Bootsanhänger dort geparkt, wie er es oft tat, wenn er zum Fischen hinausfuhr oder seine Hummerkörbe einholte. Es würde keine besondere Aufmerksamkeit wecken, also sollte er eigentlich entspannt sein. Aber er war alles andere als das, denn seine Ladung bestand diesmal nicht wie üblich aus Fisch oder Hummer. Das hier war etwas ganz anderes.

Die Nacht war dunkel und mondlos, eine tintenschwarze Dunkelheit, wie es sie nur in den Highlands gab, weit weg von jeder Lichtverschmutzung. Ohne Nachtsichtgerät wäre Jimmy nicht in der Lage gewesen, den Weg zwischen den Felsen hindurchzufinden. Licht wäre heute Nacht zu riskant gewesen, wegen dem, was sich in der schwarzen Tasche zwischen seinen Füßen befand. Die Nacht war seine Verbündete.

Jimmy beobachtete die durch das Nachtsichtgerät mit einem unnatürlichen grünen Schimmer versehene Landschaft. Im Westen waren einige Lichtpunkte erkennbar, wo die kleinen Siedlungen Fasag und Torridon lagen, aber dahinter war nichts als undurchdringliche Schwärze. Dies war die Gegend, in der er lebte. Diese wilde, schöne Küstenlinie war sein Zuhause.

Er holte tief Luft und steuerte das kleine Boot zum Ufer, wo sich die einspurige, parallel zum kalten Wasser verlaufende Straße befand. Er suchte den Strand ab und entdeckte erleichtert seinen Pick-up als Silhouette vor den zerklüfteten Felsen, die eine Begrenzung zur Straße bildeten. Wie erwartet parkte ein anderes Fahrzeug dahinter. Das dreimalige kurze Aufleuchten einer Taschenlampe war das vereinbarte Signal, dass Macca, Scallys rechte Hand, dort auf ihn wartete. Jimmy gab vorsichtig Gas, und das kleine Boot nahm Fahrt auf in Richtung des Pick-ups.

Seine Aufgabe war kinderleicht, daher hätte er wirklich nicht nervös sein müssen. Er griff in seine Jackentasche und holte seinen zerbeulten Flachmann hervor. Seine Hände zitterten, als er den Deckel abdrehte und einen kräftigen Schluck vom rauchigen Whisky trank. Er genoss die Wärme, die sich in ihm ausbreitete, als der Alkohol ihm die Kehle hinunterrann.

Erneut leuchtete die Taschenlampe auf, dreimal, während er den Motor ausstellte und mit dem Bug des Bootes auf den Strand fuhr, nahe genug an seinen Trailer. Mit einem leisen dumpfen Geräusch kam das Boot auf dem steinigen Sand zum Stehen, und er klappte das Nachtsichtgerät am Geschirr hoch. Die plötzliche Stille war vollkommen. Er sah zum Ufer, doch da war alles schwarz. Dort befand sich niemand.

Er wartete und klappte die Linsen des Nachtsichtgerätes wieder hinunter, um die Gegend abzusuchen. Wieder wurde die Landschaft in sanftes grünliches Licht getaucht. Der Schweiß auf seiner Stirn machte die Gummiringe an den Okularen schmierig und rutschig. Er hatte das Taschenlampensignal gesehen, ganz sicher, also wo zum Teufel steckte Macca? Er sprang vom Boot, zog es weiter das Ufer hinauf und fühlte, wie der kiesige Untergrund den Kiel festhielt. Rasch rammte er eine Stange in den Boden und wickelte die Leine darum.

Er sah wieder zu dem anderen Fahrzeug, das sich dunkel und irgendwie bedrohlich vor der Landschaft abhob. Als er das Nachtsichtgerät justierte, in der Hoffnung, etwas erkennen zu können, wurde die Landschaft nach und nach heller. Er sah am Ufer entlang Richtung Torridon, wo seine Frau zu Hause vermutlich vor dem Feuer saß. Mehr denn je bedauerte er den heftigen Streit, den sie vor seinem Aufbruch gehabt hatten. Wie immer war es um Geld gegangen oder das Fehlen desselben. Er war hinausgestürmt, ohne auch nur eine Andeutung zu machen, wohin er ging oder was er vorhatte. Er hoffte, dass genug Bargeld für die offenen Rechnungen und vielleicht ein schönes Essen sie besänftigen würden. Ein wenig wünschte er sich, jetzt bei ihr zu sein, statt hier im Stockfinsteren auf den eindeutig furchterregenden Macca zu warten. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, ob er einen schrecklichen Fehler begangen hatte.

Plötzlich wurde der grelle Lichtstrahl einer Taschenlampe direkt auf ihn gerichtet, was wegen des Nachtsichtgerätes ein überwältigender Schock für die Augen war. Keuchend riss er sich das Gerät vom Kopf. Er sah Sterne nach diesem unvermittelten Anschlag auf seine Sinne. Er blinzelte mehrmals rasch hintereinander und rieb sich die geschlossenen Augen, doch das Flackern blieb.

Als er die Augen aufmachte, wurde er erneut vom hellen Lichtstrahl einer Stirnlampe geblendet, die ein großer Mann trug. Das war nicht der kleine stämmige Macca.

»Jesus, Ihretwegen wäre ich beinahe erblindet«, beschwerte sich Jimmy. »Wer zur Hölle sind Sie? Ich bin mit Macca verabredet.«

»Ich bin Davie, und das ist Callum. Scally schickt uns. Haben Sie die Tasche?« Der Mann war groß und muskulös, mit einem blassen Gesicht und dunklen Haaren. Sein Akzent war reinstes Glasgow, und irgendetwas daran gefiel Jimmy nicht. Das Licht der Taschenlampe machte das Gesicht des Mannes nur teilweise sichtbar und ließ es auf unangenehme Weise geisterhaft erscheinen. Jimmy musste unwillkürlich daran denken, wie sein Bruder ihn früher erschreckt hatte, indem er sich die Taschenlampe von unten gegen das Gesicht hielt. Eine leise Furcht begann sich in ihm zu regen. Das hier fühlte sich nicht gut an.

»Aye, sie ist hier. Haben Sie mein Geld?«

»Natürlich haben wir das, aber zuerst müssen wir die Fracht sehen«, sagte Davie mit einem süffisanten Grinsen.

»Aber Scally hat von Zahlung bei Lieferung gesprochen«, sagte Jimmy und war unsicher, wie sich die Dinge entwickeln würden.

»Zahlung bei Lieferung? Hast du das gehört? Der Kerl will Geld, bevor wir in die Tasche geschaut haben.«

Der Mann namens Callum trat vor. Er war einen ganzen Kopf kleiner als Davie und viel schlanker, obwohl es schwierig war, ihn genau zu erkennen, da die einzigen Lichtquellen Davies Stirnlampe und eine Stablampe in Callums Hand waren. »Oje, mein Freund, ist es Ihr erstes Mal?«, fragte Callum. »Niemand wird bezahlt, bevor wir die Tasche überprüft haben, klar? Seien Sie also kein Spielverderber und geben Sie sie uns. Und dann müssen wir schleunigst Ihr Boot aus dem Wasser holen. Ich weiß, in dieser Gegend wohnt kaum jemand, aber die örtliche Polizeitruppe treibt sich möglicherweise hier herum. Also los, Beeilung.«

Callum sprach mit überraschend leichtem, kultiviert klingendem Akzent, der nach Südengland klang. Allerdings schwang Sarkasmus in der Stimme des Mannes mit, und selbst im schwachen Licht konnte Jimmy das höhnische Grinsen und die weißen Zähne ausmachen. Jimmy stellten sich die Nackenhaare auf. Die zwei schienen richtige Profis zu sein und waren doch ganz anders als die Kriminellen, denen Jimmy bisher begegnet war. Er fühlte sich auf einmal ausgeliefert.

»Aye, in Ordnung«, sagte Jimmy. »Helft mir, das Boot heraufzuziehen. Aber die Tasche bleibt, wo sie ist, bis wir aus dem Wasser sind.«

»Einverstanden. Geben Sie Davie Ihre Schlüssel, dann fährt er Ihren Pick-up rückwärts heran.«

Jimmy warf dem großen Mann seinen Schlüssel zu. Er fing ihn auf und ging den Strand hinauf.

Jimmy schob die Bootsrampe auf Rädern ins Wasser, und innerhalb von Minuten war das Boot gesichert. Davie fuhr den Pick-up mit dem Anhänger rückwärts auf den Strand. Mithilfe einer Winde zog Jimmy das Boot samt Rampe auf den Trailer. Dann sicherte er das Boot mit Tauen.

»Und jetzt, mein Freund, haben Sie, glaube ich, etwas für uns«, meinte Callum. »Sosehr wir Ihnen auch vertrauen, würden wir es doch gern sehen, bevor wir Sie bezahlen.«

Jimmy griff ins Boot und zog die schwere wasserdichte Kanutasche zu sich. Mit einem angestrengten Laut hob er sie auf den steinigen Sand neben dem Wagen. Davie öffnete rasch die Schnalle der Tasche. Im grellen weißen Licht seiner Stirnlampe wurde der Inhalt sichtbar.

»Okay, alles klar«, sagte Davie mit einer gewissen Zufriedenheit.

»Ausgezeichnet. Wirf sie hinten in den Pick-up, Jimmy«, forderte Callum ihn auf.

Mit wachsendem Unbehagen kam Jimmy dieser Aufforderung nach, verschloss die Kanutasche sorgfältig und hob sie auf die Schulter. Callum leuchtete mit der Stablampe auf die Ladefläche des Pick-ups, und Jimmy hievte die Tasche hinein. Sie landete mit einem dumpfen Aufprall, aber sie lag nicht flach.

»Beweg sie, Mann, sie darf nicht zu sehen sein«, sagte Callum mit seiner seltsam albernen Stimme, in der sich Unaufrichtigkeit und Sarkasmus zu gleichen Teilen mischten.

Plötzlich wurde Jimmy kalt. Er schluckte und zog die Tasche von einem länglichen Gegenstand weg, der verhindert hatte, dass sie flach auf dem Boden lag. Der helle Lichtstrahl fiel auf ein bleiches Gesicht. Jimmy gab einen erschrockenen Laut von sich. Eine Leiche starrte ihn mit leeren Augen an, in der Stirn ein rot gerändertes Loch, tief und schwarz. Trotz seiner Panik erkannte Jimmy Macca, Scallys rechte Hand. Ihm begann das Herz zu rasen, und ein bitterer Geschmack bildete sich in seinem Mund. Die würden ihn übers Ohr hauen oder Schlimmeres.

Voller Entsetzen drehte er sich zu Davie und Callum um. Sie erwiderten seinen Blick, unfreundlich, aber belustigt. Davie trat vor, und die Stirnlampe blendete Jimmy.

2

Die Morgensonne ging am Horizont auf und sandte ihre Strahlen auf die weitläufige Skyline Glasgows. PC Hamish Beattie gähnte, während er seinen Streifenwagen zum hoffentlich letzten Einsatz in dieser Nacht lenkte. Ein Streit auf der Straße in Erskine zwischen zwei betrunkenen Clubbesuchern war leicht zu schlichten gewesen; ein strenges Wort und eine leere Drohung hatten genügt, und die beiden Männer waren heimwärts gewankt.

Den Streifendienst ohne Partner zu versehen, hatte Nachteile, aber er arbeitete gern allein und war niemandem verpflichtet. Hamishs achtundzwanzig Jahre an Erfahrung bedeuteten, dass er nur selten per Funk Verstärkung anfordern musste und sich stattdessen auf seine Fähigkeiten verlassen konnte. Er war stets der Ansicht gewesen, dass es einem Versagen gleichkäme, wenn er sich eines Tages mit einem Kriminellen prügeln musste. Hamish war nicht groß und ganz sicher kein Kämpfer, aber er war gut im Verhandeln und ein Friedensstifter, der kaum je über seine Überzeugungsfähigkeiten hinausgehen musste.

Nach einer langen und frustrierenden Nacht, in der er von Notruf zu Notruf geeilt war und Glasgower Probleme gelöst hatte, konnte Hamish es kaum erwarten, nach Hause ins Bett zu kommen. Er hatte vier freie Tage und wollte am Haus arbeiten. Blinzelnd blickte er in die aufgehende Sonne, als er die Erskine Bridge überquerte, die moderne zweispurige Konstruktion über dem River Clyde. Licht tanzte auf der glatten Wasseroberfläche. Gähnend klappte er die Sonnenblende herunter, während er über den ebenen Asphalt fuhr und hoffte, dass es auf der Clydebank Police Station nichts mehr zu tun gab. Sein Sergeant war ein Überflieger, der bestimmt irgendeine unsinnige Aufgabe für ihn hätte, wenn er nur zehn Minuten zu früh käme. »Ist dieses Eigentumsdelikt geklärt? Was ist mit der Vermisstenmeldung?« Aus dem Grund versuchte Hamish meistens pünktlich zum Feierabend aufs Revier zurückzukehren. Ein Mann mit seinen Dienstjahren arbeitete nicht umsonst, das war mal klar.

Hamish blinzelte erneut und rieb sich die Augen. Ein unbehagliches Gefühl erfasste ihn. Irgendetwas stimmte nicht. Zuerst kam er nicht dahinter, was es war, da sein müder Verstand nicht verarbeiten wollte, was er sah. Eine Silhouette hob sich am Brückengeländer auf der Beifahrerseite ab. So früh am Sonntagmorgen waren normalerweise keine Fußgänger auf der Brücke unterwegs. Andererseits war es nicht ungewöhnlich, dass Leute stehen blieben, um die Aussicht zu genießen.

Aber hier handelte es sich nicht um einen Fußgänger. Er oder sie befand sich auf der falschen Seite des Geländers, nah an der Brückenkante, beide Arme nach hinten gestreckt. Hamish gab ein verärgertes Seufzen von sich, und jeder Gedanke an sein gemütliches Bett verschwand.

Ein Brückenspringer. Ein weiterer verdammter Springer. Er war nicht der erste, mit dem Hamish es zu tun bekam, und so sicher, wie die Sonne im Osten aufging, würde es auch nicht der letzte sein. Im vergangenen Jahr waren fünfzehn Personen von der Brücke in den Tod gesprungen, und noch viel mehr hatten damit gedroht, es zu tun.

»Charlie sieben neun, wir haben einen Springer, falsche Seite der Barriere, östliche Fahrbahnseite. Ich kümmere mich darum. Verstärkung, bitte«, sagte er in das an seiner Brust befestigte Funkgerät.

»Charlie sieben neun, verstanden. Einheiten werden angefordert.«

Er hielt den Wagen am Seitenstreifen und schaltete Warnblinkanlage sowie Blaulicht ein. Die Person drehte sich nicht zu ihm um, als er die Wagentür zuwarf und ohne zu zögern über die Leitplanke auf den Fußweg kletterte. Er war der Ansicht, dass ein ruhiges und gefasstes Auftreten in solchen Fällen am besten funktionierte.

»Alles okay, Kumpel?«, erkundigte sich Hamish mit sanfter Stimme. Er konnte jetzt deutlich erkennen, dass es sich um einen Mann handelte, der einen zerknitterten Anzug und abgewetzte Schuhe trug.

Der Mann antwortete nicht, warf aber einen Blick über die Schulter, um Hamish anzusehen. Er schüttelte kaum merklich den Kopf, ehe er sich wieder abwandte und auf den glitzernden Fluss hinunterstarrte. Es war ein langer Weg bis nach unten, fast fünfzig Meter, wie Hamish sich von der letzten gerichtlichen Untersuchung nach einem solchen Vorfall erinnerte. Der Mann war noch ziemlich jung, vielleicht Anfang dreißig, mit gepflegter Frisur und von schlanker Gestalt. Hamish schätzte, dass er ihn über das Geländer zerren könnte, wenn er nahe genug an ihn herankäme. Doch zunächst einmal musste er den Mann dazu bringen, seine Anwesenheit zu akzeptieren.

»Hey, Kumpel, sehen Sie mich noch einmal an, ja? Ich bin Hamish, und ich will Ihnen helfen. Wie schlimm es auch sein mag, dies ist nicht der richtige Weg. Es gibt bessere Optionen.«

Der Mann drehte sich um und sah Hamish mit Tränen in den Augen an. Sein Gesicht war kreideweiß, sein Mund zitterte. Er war das Inbild tiefer, anhaltender Angst. Keine Traurigkeit, keine Depression, nur nackte Angst.

»Sie haben keine Ahnung. Mir bleibt keine andere Option«, sagte er mit leichtem, beinahe kultiviertem Akzent.

»Es gibt immer eine andere Möglichkeit. Reden Sie mit mir, ja? Wie heißen Sie?«, fragte Hamish und näherte sich dem Mann.

»Bleiben Sie da, sonst springe ich, das versichere ich Ihnen. Ich bluffe nicht. Versuchen Sie bloß nicht, mich zu packen«, warnte der Mann ihn mit weit aufgerissenen Augen.

»Hey, langsam, ich bleibe hier, okay?« Hamish setzte sich auf die Leitplanke und versuchte so wenig bedrohlich wie möglich zu wirken. »Wie heißen Sie?«, wiederholte er seine Frage mit sanfter Stimme.

»Murdo Smith«, antwortete der Mann leise und traurig, den Blick wieder auf das Wasser unter ihm gerichtet.

»Woher kommen Sie, Murdo?«

»West End«, sagte er, ohne Hamish anzusehen.

»Alleinstehend?«, fragte Hamish, um die Unterhaltung auf andere Themen zu lenken. In der Vergangenheit hatte er gelernt, dass mit Selbstmord drohende Menschen daran erinnert werden mussten, wen sie zurücklassen würden.

»Nein, ich bin verheiratet und habe einen kleinen Sohn«, antwortete er und sah wieder zu Hamish, mit frischen Tränen in den Augen und einem verzweifelten Ausdruck. Sein Gesicht war fein geschnitten.

»Wie heißt er?«, erkundigte sich Hamish.

»Auch Murdo, der arme kleine Mann. Die beknackte Familientradition hat ihm diesen beschissenen Namen beschert.« Er schüttelte den Kopf und schaute nach unten.

»Es gibt einen anderen Weg, immer. Der kleine Murdo braucht Sie, genau wie Ihre bessere Hälfte. Das verstehen Sie, oder?«, sagte Hamish.

Das entfernte Heulen von Sirenen erreichte sie. Murdo erschrak, und ein gehetzter Ausdruck erschien auf seinem Gesicht.

Hamish griff an sein Funkgerät und flüsterte ins Mikrofon: »An alle Einheiten, bitte still nähern. Bleibt zurück, bis ich euch anfordere, sonst springt er.« Verdammte Amateure, dachte er.

»Es ist nichts«, sagte er laut. »Die Cops sind irgendwo anders hin unterwegs. Es ist alles in Ordnung, Kumpel, hier sind nur wir beide. Na los, kommen Sie zurück über das Geländer. Sie machen mich ganz nervös.«

Murdo blickte wieder wie hypnotisiert auf das funkelnde Wasser unten ihm. »Sie haben keine Ahnung, nicht die geringste. Ich muss es wegen meiner Familie tun. Wenn ich es nicht tue, werden sie niemals in Sicherheit sein, und ich könnte es mir nie verzeihen, wenn ihnen etwas passiert. Er meinte, so sei es besser und alles wäre dann gut. Aber er hat gelogen. Er hat verdammt noch mal gelogen, und jetzt gibt es keinen Weg mehr zurück.« Der Mann zitterte, während er sprach.

»Warum ist Ihre Familie in Gefahr? Kumpel, wir können Ihnen helfen. Wer will Ihrer Familie etwas antun?«

»Sie verstehen das nicht. Wie könnten Sie auch? Cops können da nicht helfen. Er tritt auf wie ein gebildeter vornehmer Typ, aber in Wahrheit ist er ein bösartiger Bastard. Er würde jeden töten, wenn es zu seinem Vorteil wäre oder zu seinem Schutz. Er würde meine Familie ohne zu zögern umbringen. Er hat mir sogar ein Foto meines Sohnes in seiner Schuluniform geschickt.« Er schluckte und kämpfte gegen die Tränen an.

»Wir können Sie beschützen«, versicherte Hamish ihm, fragte sich jedoch, ob das stimmte.

Murdo lachte bitter. »Diesem Dreckskerl gehören die Cops, die Kripo und der Zoll. Ich bin erledigt, aber ich kann meine Familie retten durch diese Tat. Nur ein Sprung, und alles ist vorbei, dann wären sie in Sicherheit. Ich dachte, ich kriege das in den Griff, wissen Sie? Aber dann killte er diesen armen Kerl in Torridon. Ich war so ein verdammter Idiot. Mir bleibt keine Wahl.« Die Verzweiflung in seiner Miene wich Entschlossenheit, und er schloss die Augen.

»Nein, tun Sie’s nicht. Es gibt immer eine Lösung. Reden Sie mit mir, erzählen Sie mir von diesem Kerl. Wir sind die Cops, Mann, wir können Sie beschützen.« Trotz seiner Absicht, beruhigend auf den Mann einzuwirken, fühlte er Panik in sich aufsteigen. Dieser Blödmann würde es tun, davon war er inzwischen überzeugt. Er schätzte die Entfernung ab, kam jedoch zu dem Schluss, dass er nicht nah genug war, um ihn sich zu schnappen. Der Typ würde gesprungen sein, bevor er bei ihm wäre. Und das wollte Hamish auf keinen Fall auf dem Gewissen haben.

»Tut mir leid, dass Sie das mitansehen müssen.«

»Nein!«, rief Hamish und stieß sich mit ausgestreckten Armen von der Leitplanke ab, um den Mann festzuhalten.

Er kam zu spät.

Murdo breitete die Arme aus, sodass sein Körper ein Kreuz bildete, lehnte sich mit angespanntem Körper nach vorn. Dann ließ er sich in die Tiefe kippen wie ein gefällter Baum. Hamish erreichte das Geländer einen Tick zu spät, gerade als Murdo verschwand. Er schaute nicht nach unten. Er hatte einmal jemanden fallen gesehen und wollte das nicht noch einmal. Das war eine weitere Erinnerung, auf die er gut verzichten konnte.

Hamish kehrte zur Leitplanke zurück, atemlos und mit wild pochendem Herzen. Einen Moment lang saß er da, von Trauer überwältigt.

Dann griff er an sein Funkgerät. »Charlie sieben neun, er ist gesprungen. Kann ich bitte einen Vorgesetzten sprechen?«

Im Funk herrschte Durcheinander, und die Sirenen ertönten von Neuem, sodass die Antworten untergingen. Hamish dachte an Murdos Familie und alles, was er zurückgelassen hatte. Seine Gedanken waren bei dem kleinen Jungen, der ohne seinen Vater aufwachsen würde. Und er dachte an die Hoffnungslosigkeit und Furcht in den Augen des Mannes. Murdo hatte Angst gehabt. Aber wovor? Und Mord? Ein Mord in Torridon? Das musste er zu Protokoll bringen. Es würde eine Untersuchung und Fragen geben.

Das hier war Selbstmord, so viel stand fest. Murdo war gesprungen, doch irgendwer hatte ihm eine solche Angst eingejagt, dass er Suizid als einzigen Ausweg sah.

Für Hamish machte es das zu einem Mord.

3

Hamish saß auf dem Rücksitz eines Polizeiwagens, der auf der Erskine Bridge stand. Die Straße war in beiden Richtungen gesperrt, und die einzigen anderen Fahrzeuge in der Nähe waren der Kripo-Van, der Wagen des diensthabenden Inspektors und ein ziviler Astra, in dem drei Ermittler von der Police Investigations Review Commission gekommen waren. Der Suizid wurde behandelt wie Tod durch Polizeikontakt, deshalb wollte jeder daran beteiligt sein. Hamish war nicht nervös, er hatte nichts falsch gemacht, wie die Videoüberwachung der Brücke ergeben würde. Dennoch würden die Mühlen der Bürokratie mahlen.

Noch immer war er schockiert, überdies hundemüde und traurig. Er konnte Murdos Gesichtsausdruck nicht vergessen, kurz bevor er vom Brückenvorsprung in die Tiefe gesprungen war. Das war sehr beunruhigend gewesen. Ein junger Mann, der das ganze Leben noch vor sich, eine Familie und ein Zuhause hatte, war dazu getrieben worden, sich von einer Brücke zu stürzen.

Hamish wusste, dass dieser Vorfall sich zu den vielen anderen schrecklichen Szenen gesellen würde, die er im Lauf seiner Karriere gesehen hatte und ihn immer wieder verfolgten. Aber nicht jetzt. Jetzt hatte er eine Aufgabe zu erledigen, und momentan bestand diese darin, dem Ermittler aus der Abteilung des Commissioners, der neben ihm im Auto saß, ein Clipboard auf dem Schoß, eine Erklärung abzugeben.

Es handelte sich um einen Mann mittleren Alters, mit grauen Haaren und faltigem Gesicht, der eine blaue Windjacke mit dem Aufdruck PIRC vorn und hinten trug. Die anderen beiden viel jüngeren Ermittler gingen wichtigtuerisch auf der Brücke umher und versuchten den Eindruck zu erwecken, sie wüssten, was sie tun.

»Ich bin Lenny Farquharson, der leitende PIRC-Ermittler. Nur damit Sie es wissen, Mann, ich habe Ihren Job früher auch gemacht, und niemand will Sie kritisieren oder Sie in irgendeiner Weise beschuldigen, okay?«

»Okay«, sagte Hamish, ein Gähnen unterdrückend. Es war keine Überraschung, dass Farquharson ein Ex-Cop war. Das traf auf viele PIRC-Ermittler zu, trotz der Zusage, dass die Dinge sich ändern würden, und des Drucks, Leute aus den eigenen Reihen zu rekrutieren. Niemand mochte Cops, die gegen Cops ermittelten, und die Öffentlichkeit misstraute diesem Verfahren.

»Es ist alles auf den Bildern der Überwachungskameras, und wir können sehen, dass Sie sich ihm nicht genähert haben. Niemand kann also etwas Negatives behaupten, falls Ihr letztes Wort an ihn nicht ›Spring!‹ gewesen ist.« Der Ermittler lächelte.

»Ich habe seine letzten Worte notiert, während ich auf die Ankunft der anderen wartete. Er schien eine Todesangst vor irgendwem zu haben. Meinte, ihm bliebe keine andere Wahl, weil jemand ihn dazu zwinge. Solche Sachen.«

»Haben Sie seinen Namen erfahren?«

»Murdo Smith. Er sagte, er wohne im West End, sei verheiratet und habe ein Kind«, berichtete Hamish.

»Darf ich Ihr Notizbuch sehen?«

Hamish gab ihm das kleine, in Leder gebundene Buch. Farquharson betrachtete es mit ausdrucksloser Miene und las still die Notizen.

»Okay. Sind Sie überzeugt von der Richtigkeit dieser Aufzeichnungen?«

»Natürlich«, erwiderte Hamish.

»Schön zu sehen, dass jemand alles ordentlich aufschreibt. Sehr viele tun das nicht. Soll ich Sie mit aufs Revier nehmen, wo Sie Ihre Aussage machen und dann verschwinden können? Es wäre besser, ich bekomme die vorher zu sehen, sonst wird der Staatsanwalt Fragen haben.«

»Das wäre großartig, vor allem, da die Frühschicht sich längst meinen Wagen genommen hat. Aber was ist mit der Leiche?«

»Noch nichts zu sehen. Die Küstenwache und die Bergungseinheit sind draußen mit ein paar von unseren Leuten. Taucher werden bald mit der Suche beginnen. Wegen der Strömungen kann es eine Weile dauern, also gehen Sie am besten nach Hause. Er hat auf keinen Fall überlebt. Das ist Ihnen klar, oder?«

»Aye, natürlich, ich hatte schon mit solchen Fällen zu tun. Letztes Jahr waren es fünfzehn.«

»Tragisch. Zu unserem Job gehört es, Empfehlungen auszusprechen, und mehr als einmal haben wir Verbesserungen der Absperrung und derartige Dinge vorgeschlagen.«

Hamish war überrascht davon, wie mitgenommen er von diesem sinnlosen Tod war. Der Tod war allen Cops vertraut. Manchmal ging es einem nahe, manchmal nicht so sehr. Hamish hatte das Gefühl, dass dieser Fall zur ersten Kategorie gehörte.

Zurück in der Polizeistation, verbrachte Hamish eine Stunde mit dem sorgfältigen Tippen seiner Aussage, die er so detailliert und exakt formulierte, wie er konnte. Aus Erfahrung wusste er, dass die korrekte Ausführung ihm bei der folgenden Untersuchung erheblich helfen würde. Die Staatsanwaltschaft war berüchtigt dafür, keinerlei Nachsicht mit Cops zu haben, die ihren Job nicht ordentlich erledigten.

Er dachte wieder an die Erwähnung eines Mordes in Torridon. Konnte es wahr sein, und was, wenn ja? Er hatte nichts darüber gehört, aber Murdo hatte überzeugend geklungen.

Aus einem Impuls heraus loggte er sich in die Polizeiakten von Torridon ein. Das war eine sehr ruhige Gegend, in der fast nie etwas passierte, doch er wollte sichergehen. Der einzige Vorfall, der ihm angezeigt wurde, war eine Vermisstenanzeige. Ein Mann aus der Gegend namens Jimmy McLeish war vor einigen Tagen verschwunden. Der Fall war als weniger dringlich eingestuft worden, da der Mann oft einfach verschwand. Allerdings waren sein Wagen und Boot ebenfalls nicht mehr aufgetaucht, daher sah die Angelegenheit ein bisschen seltsam aus. Die Polizei hatte bisher nicht einmal seine Frau aufgesucht, was Hamish nicht überraschend fand, angesichts der knappen Ressourcen.

Eine Welle der Erschöpfung überrollte ihn, daher notierte er sich die Fall-Nummer auf einem Stück Papier und loggte sich aus.

Als er mit seiner Aussage zufrieden war, suchte er Lenny im vorderen Büro auf, wo dieser auf seinem Laptop tippte. Er sah auf, als Hamish eintrat. »Alles erledigt?«

»Aye. Wollen Sie jetzt eine unterschriebene Kopie?«

»Wann haben Sie wieder Dienst?«

»Ich habe vier Tage frei.«

»Dann schaue ich es mir lieber gleich an. Es muss alles stimmen, sonst wird die Staatsanwaltschaft sauer. Die Erskine Bridge ist ein verdammter Albtraum, und diese Geschichte wird jede Menge Aufmerksamkeit erregen. Können Sie sich hier einloggen, für den Fall, dass irgendwelche Änderungen nötig sein sollten, bevor Sie aufbrechen?«

Hamish seufzte und loggte sich in den Computer neben Lenny ein. Er rief die Aussage auf, schob den Bürostuhl zurück und nickte Lenny zu, der seine Brille aufgesetzt hatte und zu lesen anfing.

»Für mich sieht das gut aus«, sagte er schließlich. »Wie sicher sind Sie sich dessen, was Murdo gesagt hat? Es könnte wirklich wichtig sein.«

»Ziemlich sicher. Neunzig Prozent, würde ich sagen.«

»Können Sie das noch einfügen? Abgesehen davon macht die Aussage einen guten Eindruck. Schicken Sie sie mir per E-Mail und dann fahren Sie nach Hause.«

»Was ist mit der unterschriebenen Kopie?« Hamish schaute auf die Uhr und sehnte sich verzweifelt nach seinem Bett.

Lenny seufzte und schüttelte leicht den Kopf. »Normalerweise bestehen wir auf unterschriebene Aussagen, bevor wir die Leute gehen lassen.«

»Tja dann.« Hamish gähnte.

Lennys harte Züge wurden ein wenig weicher. »Erledigen Sie es, sobald Sie wieder hier sind und schicken Sie sie jetzt los. Meine E-Mail-Adresse steht auf der Karte.« Lenny gab ihm eine PIRC-Visitenkarte.

»Wie wäre es, wenn ich die Aussage dem Untersuchungsteam hier gebe?«

»Überlassen Sie das mir. Ich werde ohnehin mit der Person sprechen, die sie erhält, bevor ich gehe.«

»Sehr gut, danke.« Hamish gab die E-Mail-Adresse von der Karte ein, und es folgte ein Zischen, als die E-Mail abgeschickt wurde.

»Keine Sorge, ich bin nicht so alt, dass ich mich nicht daran erinnern könnte, wie die Nachtschichten waren.«

»Ich verstehe.« Hamish gähnte und schaute erneut auf seine Uhr. Erstaunt stellte er fest, dass es fast elf war. Er hätte schon vor vier Stunden Feierabend haben sollen.

»Eines noch – haben Sie Ihr Notizbuch kopiert? Das brauche ich für meinen Bericht.«

»Es liegt in meiner Postablage. Ich kann es holen und jetzt kopieren«, bot er an, ein weiteres Gähnen unterdrückend.

»Schicken Sie es zusammen mit dem Ausdruck. Es kann warten. Sie sehen kaputt aus.«

»Danke«, sagte Hamish, froh, sich darum nicht mehr kümmern zu müssen. Er zögerte jedoch, da ihm die Vermisstenanzeige einfiel. »Da wäre noch eine Sache.« Er machte eine Pause.

»Ja?« Lenny sah von seinem Laptop auf.

»Es gab vor einigen Tagen eine Vermisstenanzeige. Ein Typ aus Torridon ist verschwunden. Vielleicht sollte man sich das mal ansehen, nach dem, was Murdo gesagt hat.«

»Aye, vollkommen richtig. Habe ich bereits veranlasst. Und jetzt fahren Sie nach Hause und legen sich hin.«

Kurz darauf war Hamish im Umkleideraum, wo er seine Uniform wie üblich ordentlich in den Spind hängte. Eine plötzliche Traurigkeit überkam ihn, als er sich fragte, ob Murdos Frau bereits vom Tod ihres Mannes informiert worden war. Und dann fielen ihm Murdos letzte Worte wieder ganz genau ein: »Diesem Dreckskerl gehören die Cops, die Kripo und der Zoll.«

Hamish hatte Murdo die Verzweiflung abgenommen. Da stimmte etwas nicht. Wer konnte einem Mann so viel Angst einjagen, dass er Selbstmord für die einzige Option hielt? Dies war kein Tod, den eine Depression ausgelöst hatte, sondern schierer Terror.

Aus einer Eingebung heraus griff er nach seinem Telefon und wählte. Er kannte jemanden, der möglicherweise mehr wusste. Er konnte Murdos Tod nicht einfach ad acta legen, ohne es zumindest jemandem erzählt zu haben, dem er vertraute.

Eine Stimme mit leichtem Highland-Akzent meldete sich: »Max Craigie.«

»Max, hier ist Hamish.«

»Hamish, wie geht es dir, mein Freund?«

»Mir geht’s gut, Mann. Ein bisschen müde. Hat dir das Segeln neulich Spaß gemacht?«

»Ja, das war klasse, aber ich habe gemerkt, dass ich noch viel lernen muss. Will ich unbedingt wiederholen. Aber ich nehme an, dass ist nicht der Grund deines Anrufs.«

»Stimmt. Ich hatte heute Morgen einen Selbstmord auf der Erskine Bridge, am Ende meiner letzten Nachtschicht. Ich mache mir ein paar Gedanken darüber. Unternimmst du eigentlich gerade deinen Roadtrip, wie du es vorhattest?«

»Aye, ich sitze gerade in meinem Zelt in Gairloch, aber ich fahre heute nach Hause.«

Hamish seufzte und wartete einen Moment. »Er hat etwas zu mir gesagt. Du bist bei der Anti-Korruption, richtig?«

»Ja, so ähnlich«, antwortete Max.

»Also, der Typ, Murdo Smith, erzählte mir, er sei gezwungen zu springen, um seine Familie zu schützen. Sprach davon, dass ihm jemand eine Heidenangst eingejagt hat, erwähnte die NCA und den Zoll, solche Sachen. Außerdem erwähnte er, jemand sei oben im Norden an einem der Seen umgebracht worden.«

»Gibt es Berichte darüber?«

»Das Einzige, was ich finden kann, ist ein vermisster Fischer in Torridon. Da du in der Gegend bist, könntest du vielleicht mal hinfahren. Bisher hat niemand mit der Frau des Vermissten gesprochen. Es scheint sich überhaupt niemand um die Sache zu kümmern, bis auf die Klassifizierung.«

»Na, es ist weniger als eine Stunde Fahrtzeit, daher könnte ich wohl mal vorbeischauen. Wie lauten die Einzelheiten?«

»Ich kann dir die Kennnummer per SMS durchgeben. Sorry, aber ich sitze gerade nicht am Rechner.«

»Macht nichts, ich finde jemanden, der mir die Infos besorgt. Bist du okay, Hamish?«

»Aye, ich komme klar. Aber irgendwie habe ich ihm geglaubt,«

»Okay, ich werde mal nachhaken. War PIRC da?«

»Ja, ein Typ namens Lenny war der leitende Ermittler.«

»Ich werde mir das mal genauer ansehen, ob es da irgendwelche Red Flags gibt. Hast du alles aufgeschrieben?«

»Aye. Alles in meinem Notizbuch, außerdem habe ich eine Aussage gemacht, die der PIRC hat.«

»Gut. Wie sieht dein Dienstplan für die nächsten Tage aus?«, erkundigte sich Max.

»Zum Glück habe ich die nächsten vier Tage frei.«

»Irgendwas geplant?«

»Jede Menge Heimwerkerarbeiten. Ich verlege eine neue Terrasse. Da sind einige Sachen am Haus angefallen, seit Jenny weg ist«, sagte Hamish und versuchte neutral zu klingen.

»Kommst du zurecht?«

»Ach, passt schon, ich bin ja selbst schuld. Außerdem gibt’s ja noch Internet-Dating.« Er versuchte zu lachen.

»Na ja, es heißt, für jeden gibt es jemanden, Hamish, selbst für einen hässlichen Vogel wie dich«, sagte Max.

»Du warst schon immer charmant. Vielleicht fahre ich in den nächsten Tagen mit dem Boot raus, falls du Lust auf einen Segeltörn auf dem Bardowie Loch hast.«

»Gern. Ich schaue mal nach, ob ich’s einrichten kann und melde mich dann bei dir«, meinte Max.

Hamish besaß ein kleines Segelboot in einem Club außerhalb der Stadt. Er und Max waren erst vor wenigen Tagen unterwegs gewesen, und es hatte Spaß gemacht.

»Okay, ich bin meistens hier, also ruf mich an.« Hamish verkniff sich wieder ein Gähnen.

Max lachte. »Leg dich hin, du klingst müde.«

Hamish legte auf und war auf einmal beruhigt. Max Craigie gehörte zu den Besten. Sie hatten bei der Metropolitan Police zusammengearbeitet, vor langer Zeit. Max war ihm Jahre später in den Norden gefolgt. Wenn es irgendwelche Ungereimtheiten gab, würde Max sie finden.

Hamish streckte sich ausgiebig und kratzte sich am Kopf. Er schloss den Spind ab und machte sich auf den Weg, in Gedanken schon bei seinem Bett. Auch wenn es ein leeres Bett war.

4

Detective Sergeant Max Craigie lehnte sich zurück und dachte über das Gespräch nach. Hamish hatte besorgt geklungen, und normalerweise grübelte er nicht groß über die Polizeiarbeit. Vor einigen Tagen auf dem Boot war er der Inbegriff von Ruhe gewesen, aber dieser Suizid beunruhigte ihn offenbar. Max schaute auf seine Uhr und sah, dass es ohnehin an der Zeit war, sich auf den Weg zu machen. Er hatte Katie versprochen, dass er heute zu Hause sein würde, nachdem er in den vergangenen Tagen die Nordküste auf seinem Motorrad entlanggefahren war, einer großen KTM 1300cc Adventure. Bisher hatte er Glück gehabt mit dem Wetter, aber der auf sein kleines Zelt prasselnde Regen war ein deutliches Zeichen, dass sich das nun änderte. Die Westküste hatte beschlossen, dass er genug Sonne gehabt hatte, und nun war der typische Regen wieder an der Reihe.

Er zog seine Gore-Tex-Hose und -Jacke an, was schwierig genug war auf dem beengten Raum. Zum Glück hatte er an dem gestrigen schönen Abend das Regenzeug nicht draußen auf dem Motorrad hängen lassen.

Max zog den Reißverschluss des Zeltes auf, und der Wind, der den Regen direkt vom Atlantik her wehte, peitschte ihm ins Gesicht. Er spähte über das hügelige Grasland, hinunter zum weitläufigen Gairloch Beach und auf das kabbelige Meer hinaus.

Nur in den Highlands änderte sich das Wetter so schnell. Gestern glichen der weiße Sand und der funkelnde blaue Ozean einem tropischen Paradies und nicht dem hohen Norden Schottlands. Jetzt tanzten Schaumkronen auf der grauen See, deren Wellen sich an den Felsen brachen. Dunkle Regenwolken trieben bedrohlich näher.

Max holte tief Luft und kniff die Augen wegen des Windes und des Regens zusammen. Er liebte das schottische Wetter, in welcher Form auch immer. In der Ferne erkannte er vage die Umrisse der Isle of Skye, die sich düster vor den Wolken abzeichnete.

Das würde ein übler Schlechtwettertag werden, so viel stand fest. Oder? Hier konnte man nie wissen.

Max packte rasch seinen Schlafsack und das Zelt zusammen und verstaute beides in den Satteltaschen. Er entschied sich dagegen, noch Tee zu kochen. Glücklicherweise war bis auf das Zelt und den Schlafsack alles längst in den wasserdichten Taschen an seinem Motorrad verstaut. Er würde später eine Pause einlegen, um zu frühstücken.

Er zog sein Handy hervor und wählte.

»Maxielein«, meldete sich Detective Constable Janie Calder.

Max seufzte. »Nenn mich nicht so.«

»Ich dachte, du bist auf der Touristenroute unterwegs. Wow, das hört sich aber windig an bei dir.«

»Bist du bei der Arbeit?«

»Na ja, so ähnlich. Ich sitze zu Hause am Laptop und recherchiere zu Ross’ neuestem Spleen.«

»Großartig, kannst du etwas für mich klären? Suizid auf der Erskine Bridge gestern Morgen.«

Im Hintergrund waren Tippgeräusche zu hören, und Max drehte sich mit dem Handy aus dem zunehmenden Wind.

»Okay, ich habe den Bericht vor mir. Viel sehe ich nicht, weil ich nur eingeschränkten Zugang habe. Anscheinend ermittelt PIRC wegen der Anwesenheit von PC Hamish Beattie. Der Name des Verstorbenen wird momentan zurückgehalten, vermutlich bis die Angehörigen informiert sind. Die Ermittlungen laufen.«

»Das ist alles?«

»Aye. Nicht ungewöhnlich, oder? Das übliche Verfahren, wenn es sich um einen Tod in Gewahrsam oder während eines Polizeikontaktes handelt. Mensch, das bläst ja ganz ordentlich bei dir.«

»Kann man wohl sagen. Kannst du dir außerdem mal eine Vermisstensache ansehen, irgendwo in der Nähe von Torridon, während der letzten paar Tage?«

»Du weißt schon, dass du nicht im Dienst bist?«

»Ist mir klar, aber Hamish ist ein Freund, und ich habe ihm versprochen, mal nachzuhaken. Er ist ein bisschen aufgewühlt.«

Wieder war das Tippen zu hören. »Aye, vor zwei Tagen verschwand ein Fischer namens Jimmy McLeish. Er und seine Frau hatten einen heftigen Streit. Er stürmte hinaus und fuhr mit dem Pick-up samt Bootsanhänger weg. Seitdem hat sie nichts mehr von ihm gehört. Scheint eine turbulente Beziehung zu sein, und er hat sich nicht zum ersten Mal wütend aus dem Staub gemacht. Niemand hat sich bisher des Falls angenommen, man riet ihr lediglich, sich wieder zu melden, falls er nicht wieder auftaucht.«

Max blickte zu den fernen Hügeln. Der Regen wühlte das Wasser auf, über das sich eine schwarze Wolkenwand näherte. In Fällen wie diesem war eine eingeschränkte Ermittlung nicht unüblich, besonders in den abgelegenen Gegenden Schottlands, wo Personal knapp war. Aber irgendetwas stimmte da nicht. Der Typ war wütend mit seinem Boot weggefahren?

»Kannst du einen Screenshot von den relevanten Seiten machen und mir schicken? Ich habe mein Diensthandy dabei.«

»Warum überrascht mich das nicht? Es ist ein Wunder, dass du deinen Laptop nicht dabei hast. Du bist von deinem Job besessen, jawohl.«

»Ich bevorzuge den Begriff ›engagiert‹. Wo wohnt die Ehefrau?«

»In Torridon, einem winzig kleinen Ort direkt am See.«

»Ich fahre jetzt los und schaue mir die Details an, wenn ich dort bin. Hier schüttet es.«

»Typisch Westküste. Fahr vorsichtig.«

Max verstaute sein Handy wieder in der Tasche und zog den Reißverschluss zu, die Augen zusammenkneifend, da der Westwind ihm den Regen ins Gesicht peitschte. Er setzte sich den Helm auf und streifte sich die Handschuhe über, stieg auf sein Motorrad und drückte den Zündschalter. Der große Motor dröhnte, als er losfuhr. Er rollte über das büschelige Gras auf die leere Straße zu und gab auf dem Asphalt Gas.

Fünfundvierzig Minuten später traf er in der kleinen Siedlung Torridon ein, am Ufer des sich weit erstreckenden Loch gelegen, dem der Ort seinen Namen verdankte. Der Regen war strahlendem Sonnenschein gewichen, der sich auf der Wasseroberfläche widerspiegelte. Max hielt an und schaute auf sein Handy. Janie hatte ihm Namen und Adresse des Fischers geschickt. Rasch überflog er die Vermisstenmeldung.

Das Haus war nicht schwer zu finden, da Janie es auf der Karte markiert hatte. Max stoppte vor einem kleinen getünchten Cottage, das von der schmalen Straße ein Stück zurück lag. Er nahm den Helm ab und betrachtete den gepflegten Garten. Die sauberen Fenster glänzten im Sonnenlicht.

Max atmete die salzige Luft ein und sah sich die beeindruckende Landschaft vor dem Haus an. Er und Katie hatten diese Gegend erkundet, nachdem sie zu ihm nach Schottland gezogen war. Der See erstreckte sich meilenweit bis ins Meer. Umrahmt von den Torridon Hills, den Bergen Liathach, Beinn Alligin und Beinn Eighe, stellte es eine Landschaft der Extreme dar: wunderschön, aber auch einsam.

Max stieg von seinem Motorrad, ging den schmalen Weg zum Cottage entlang und klopfte an die Tür. Sie wurde geöffnet von einer Frau um die vierzig, mit einer kastanienbraunen Mähne und einem freundlichen Lächeln. Die Sorge war ihr allerdings deutlich anzusehen.

»Mrs. McLeish?«, erkundigte sich Max lächelnd.

»Aye?«

Er zeigte ihr seinen Dienstausweis. »DS Max Craigie von der schottischen Polizei. Darf ich einen Moment Ihrer Zeit in Anspruch nehmen?«

»Selbstverständlich, ich habe mich schon gefragt, wann endlich jemand auftaucht. Kommen Sie rein, sonst werden Sie bei lebendigem Leibe aufgefressen. Die Mücken sind eine Plage heute«, sagte sie und machte die Tür weiter auf.

Max betrat das aufgeräumte Cottage und folgte ihr in eine winzige Küche. Er zog den Kopf ein, als er über die Schwelle trat. Ein einzelner Becher stand auf dem zerschrammten Holztisch, neben einem Teller mit einer halb gegessenen Scheibe Toast. Das Innere des Hauses glänzte wie geschrubbt.

»Habe ich Sie bei Ihrem Frühstück gestört?«, fragte Max.

»Nein, ist schon okay. Ich habe ohnehin keinen Appetit. Darf ich Ihnen einen Kaffee kochen?«

»Aye, das wäre toll, danke«, sagte Max.

»Gibt es irgendwelche Neuigkeiten? Ich bin krank vor Sorge«, sagte sie, während sie einen antik aussehenden, aber fleckenlos sauberen Wasserkessel aufsetzte und mit einem Löffel frischen Kaffee in eine Cafetière gab.

»Nein, nichts. Können Sie mir schildern, was genau passiert ist, Mrs. McLeish?«

»Bitte nennen Sie mich Leah. Nun, da gibt es nicht viel zu erzählen. Wir hatten ein paar Probleme, hauptsächlich drehte es sich um Geld. Seit dem Brexit läuft die Fischerei schlecht, er wird seinen Fang nicht mehr los, vor allem auch, weil die Touristensaison zu Ende geht. Vor zwei Tagen spitzte sich alles zu, und wir hatten einen üblen Streit. Die Miete ist überfällig, und wir brauchen Öl für die Heizung. Er fuhr einfach mit seinem Pick-up samt Bootsanhänger los, ohne mir zu sagen, wohin er wollte. Seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen.«

»Sehr gut, danke.« Sie reichte ihm einen Becher Kaffee, und er trank einen Schluck. »Schmeckt ausgezeichnet. Irgendetwas Ungewöhnliches im Vorfeld?«

»Nein.« Allerdings sah sie ihm bei dieser Antwort nicht in die Augen.

Max betrachtete ihr Gesicht, während sie aus dem Fenster sah. Ihre Fingerknöchel traten weiß hervor, als sie die Kante der Arbeitsfläche umfasste. Das einzige Geräusch war der Wind, der um die Steinmauern des Cottage wehte.

»Leah?«, sagte Max schließlich.

Sie seufzte, und Tränen schimmerten in ihren blauen Augen; sie wischte sie fort. »Er war in letzter Zeit ein bisschen seltsam.«

»Inwiefern?«

»Geflüsterte Telefonate, von denen er glaubte, ich bekomme sie nicht mit. Er hat ein zweites Handy. Er hat sein Samsung, benutzt aber gleichzeitig ein beschissenes Nokia. Ich nahm an, dass er eine Affäre hat, was einen heftigen Streit auslöste. Aber jetzt bezweifle ich, dass es das war. Dann wurde er noch mit einem Fremden gesehen.«

»Jemand aus der Gegend?«

Sie schüttelte vehement den Kopf. »Definitiv nicht. Dies ist ein sehr kleiner Ort. Ein Freund sah ihn mit einem Typen in einer Ecke der Bar im Kinlochewe Hotel quatschen. Unser Freund fand, es sah zwielichtig aus, aber Sie wissen ja, wie kleine Dörfer sind.«

»Gibt es eine Beschreibung?«

»Aye, stämmiger, kahl rasierter Kerl, teuer gekleidet und ganz sicher nicht von hier.«

»Wie konnte die Person, die diesen Mann gesehen hat, sich so sicher sein?«

»Weil der Kerl einen Liverpool-Akzent hatte und sein Angeberschlitten draußen stand. Ein Range Rover.«

Max dachte einen Moment darüber nach. »War Jimmy je in irgendetwas Illegales verstrickt, soweit Sie wissen?«

Leah stieß einen tiefen Seufzer aus. »Jimmy ist ein guter Mann. Er ist freundlich und arbeitet hart. Aber in schweren Zeiten würde er tun, was nötig ist, um für Essen auf dem Tisch zu sorgen.«

»Zum Beispiel?«

»Ich weiß nicht, ehrlich. Aber er kommt von hier und kennt die Gewässer besser als jeder andere …« Sie beendete den Satz nicht, aber die Tränen stiegen ihr erneut in die Augen.

»Alles, was Sie mir berichten können, könnte hilfreich sein«, sagte Max.

»Ein oder zweimal in der Vergangenheit verschwand er mit dem Boot, ohne mir zu sagen, warum und wohin. Aber danach waren plötzlich alle unsere Rechnungen bezahlt. Ich bekam ein Geschenk, und er brachte Steaks und Champagner mit nach Hause. Ich stellte keine Fragen, und er erklärte nichts.« Die Tränen liefen ihr jetzt über die Wangen, und sie zupfte ein Taschentuch aus der Box neben ihr.

»Was glauben Sie, was er gemacht hat? Wir wollen ihn jedenfalls nur finden, das ist alles.«

»Ich weiß es nicht, aber er ist ein Mann mit einem schnellen Boot. Er verfügt über Fähigkeiten, die bestimmten Leuten nützlich wären. Ich habe einfach die verdammten Rechnungen bezahlt mit dem Geld, das er nach Hause brachte, ob er es nun mit Hummer oder sonst was verdient hatte. Ich habe nicht gefragt, und er hat nichts erzählt.« Sie machte eine Pause und tupfte sich erneut die Tränen ab. Max beobachtete sie und wusste, dass da noch etwas war. Er blickte ihr unverwandt in die Augen, während sich angespannte Stille ausbreitete. Max blieb ungerührt und zeigte keinerlei Unbehagen. Sie wollte reden, das merkte er. Er lehnte sich bequem zurück. Menschen sind soziale Wesen, und Schweigen in einer solchen Situation passte nicht. Er wusste, dass sie das Schweigen als Erste brechen würde.

Sie wich seinem Blick aus und rieb sich die Wange. Ein klassisches verräterisches Zeichen.

»Da war eine Sache.« Sie zögerte, als überlegte sie, wie sie weitermachen sollte.

Max hielt den Blick fest auf sie gerichtet.

»Einmal habe ich sein Handy gecheckt«, gestand sie. »Das Nokia, meine ich. Er hatte es auf dem Nachttisch liegen lassen und war unterwegs, Milch holen. Da war nur eine einzige Nachricht. Er hat es nicht so mit Pin-Codes, deshalb wusste ich, dass der aus lauter Nullen bestehen würde.« Sie machte erneut eine Pause.

»Erzählen Sie weiter«, ermutigte Max sie.

»Ich erinnere mich daran, Wort für Wort. Sie kam von jemandem namens Macca. Sie lautete einfach nur: ›Zehn k für eine Fahrt, und danach kommen noch jede Menge. Bescheißt du uns, bist du dran.‹«

Max blieb nur noch fünfzehn Minuten, aber Leah McLeish hatte nichts weiter anzubieten, als ganz allgemein ein ungutes Gefühl. Nichts jedenfalls, was eine Mordermittlung rechtfertigen würde.

Max stieg wieder auf sein Motorrad. Er wollte sich gerade den Helm aufsetzen, als er innehielt und sein Handy hervorholte. Er wählte.

»Max?«, meldete sich Janie, deren Stimme wegen der lauten schnellen Musik kaum verständlich war.

»Was zur Hölle ist das für ein Lärm?«

»Bleib dran«, sagte sie, und dann verstummte die Musik.

»Das ist Mist, selbst für deine Verhältnisse. Was ist es?«

»Chase and Status.«

»Ist das Jazz?«

Janie lachte. »Es ist Drum and Bass, Grandpa.«

»Was auch immer, ich komme gerade von Leah McLeish. Offenbar steckte Jimmy bis zum Hals in irgendetwas drin.« Er gab Janie den Inhalt der Nachricht wieder.

»Aha.«

»Es ist seltsam, aber es reicht nicht für eine Mordermittlung. Ist der Zugang zum Fall des Brückenspringers immer noch eingeschränkt?«

Max hörte das Tippen auf der Tastatur. »Jep. Die Ermittlungen laufen noch. Keine Details über den Toten oder sonst irgendetwas Bedeutsames. Wenn PIRC beteiligt ist, werden sie erst wollen, dass sämtliche Angehörige informiert sind, ehe es eine Freigabe des Zugangs zur Akte gibt. Das kann dauern. Wie sieht dein Plan aus?«

»Ich fahre erst mal nach Hause.«

»Bist du morgen da?«

»Ja. Wie lief es mit Ross?«

»Nicht so schlimm wie sonst«, erwiderte Janie.

»Das ist ein wenig beunruhigend. Was ist geschehen?«

»Keine Ahnung, aber er war gestern richtig nett zu mir und hat mir Tee gekocht.«

»Muss was mit seiner Mrs. Right zu tun haben. Ich mache mich auf den Heimweg und schaue mir die Sache morgen in Ruhe an. Irgendwas stimmt da nicht.«

»Ich mag es nicht, wenn du das sagst. Normalerweise bedeutet es, dass etwas passieren wird.«

»Vielleicht ist es nichts. Wir reden morgen«, sagte Max und beendete das Gespräch.

Er saß auf seinem Motorrad, nahm die Aussicht wahr und sah verdächtige Wolken vom Westen aufziehen und sich am Himmel ausbreiten. Es würde eine nasse vierstündige Fahrt zurück nach Culross werden.

Max setzte sich den Helm auf und drückte den Zündknopf. Der große Motor sprang an. Er drehte am Gashebel und fuhr los.

Schon bald vergaß er seine Sorgen beim Anblick der Landschaft in den Highlands, während er Gas gab und sich an der Kraft seines Motorrades erfreute. Motorradfahren war wie Therapie für ihn; das Adrenalin vertrieb die Düsternis. Max lächelte unter seinem Helm, als ein Hirsch neben ihm aufsprang und auf die fernen Hügel zurannte. Alle Gedanken an Suizide und verschwundene Fischer lösten sich auf. Die konnten bis morgen warten.

5

Max sprintete die letzten fünfhundert Meter des unbefestigten Weges hinauf zu seinem halb frei stehenden Farmhaus, und sein schwerer Atem bildete Dampfwölkchen in der kühlen Luft des frühen Morgens. Nutmeg, die kleine Cockapoohündin, lief hechelnd und mit heraushängender Zunge neben ihm her. Max verlangsamte sein Tempo und trat durch die offene Gartenpforte.

Er blieb stehen und wischte sich den Schweiß vom rasierten Schädel, dann ging er ins Haus.

»Puh, du stinkst. Sieh dich nur mal an«, meinte Katie, seine Frau. Sie saß am Frühstückstresen im eleganten Businesskostüm, die Brille tief auf der Nase. Vor ihr lag die aufgeschlagene Zeitung, und in der Hand hielt sie einen Becher mit dampfendem Kaffee.

»So liebst du mich, Schnuckelchen«, sagte Max mit gespieltem Cockney-Akzent und näherte sich ihr, einen übertriebenen Kussmund formend.

»Denk nicht mal dran. Erst wenn du geduscht hast. Kaffee? Ich habe frischen gekocht.«

»Du bist ein Schatz. Ich wusste doch, es gab einen Grund, weshalb ich dich geheiratet habe«, sagte er lachend und trat an die Spüle, wo er ein Bierglas mit Wasser füllte. Er trank es in wenigen Zügen aus, dann nahm er dankbar den Kaffeebecher von Katie entgegen.

»Fährst du heute zum Tulliallan?«, fragte sie, auf das Polizeicollege und Hauptquartier in Kincardine anspielend, zwanzig Minuten entfernt. Max hatte ein kleines heruntergekommenes Büro dort, das er sich mit seinen Kollegen DI Ross Fraser und DC Janie Calder teilte. Alle drei frequentierten es nur gelegentlich, denn sie zogen es vor, von zu Hause aus zu arbeiten und sich außerhalb des weitläufigen Polizeikomplexes zu treffen. Angesichts ihrer Rolle bot sich das Arbeiten im Verborgenen an.

»Nicht, wenn ich es verhindern kann. Ich muss zuerst noch hier ein bisschen am Laptop arbeiten, danach gehe ich vielleicht raus. Das hängt davon ab, was ich finde.«

»Und was glaubst du, wirst du finden?«

»Wer weiß? Da war dieser Selbstmord auf der Erskine Bridge, über den Hamish gar nicht glücklich ist«, sagte Max, einen weiteren Schluck Kaffee trinkend.

»Ich habe davon in der Zeitung gelesen. Kann man über einen Selbstmord jemals glücklich sein?«

»Natürlich nicht, aber Hamish gefiel etwas an der Sache nicht. Er hat keine Beweise, aber er braucht ein paar Informationen.«

»Na dann viel Glück. So, ich kann nicht länger hier herumstehen und plaudern. Ich bin eine viel beschäftigte Frau und habe zu tun.« Katie trank ihren Kaffee aus und lehnte sich über den Tresen, um Max flüchtig auf die Wange zu küssen, wobei sie die Nase rümpfte. »Puh, du stinkst wirklich. Geh duschen. Ich fahre zur Arbeit, schönen Tag noch.« Ihre Augen leuchteten, als sie lächelte.

Und dann war sie auch schon fast aus der Tür, einen angenehmen Blumenduft zurücklassend.

Max betrachtete ihre schlanke Figur und ihre verwuschelten aschblonden Haare. Sie rauschte aus der Küche ins Wohnzimmer und zur Terrassentür hinaus. Kurz darauf fuhr sie in ihrem Wagen langsam an den Fenstern vorbei, auf dem Weg nach Glasgow, wo sie als Anwaltsassistentin in einer Kanzlei arbeitete.

Max war froh, Katie wiederzuhaben. Es war eine schwierige Zeit während ihrer Trennung auf Probe gewesen, aber jetzt versuchten sie es noch einmal, und bis jetzt lief es großartig. Katie liebte das Farmhaus und Schottland; noch wichtiger aber war, dass sie ihn zu lieben schien, wieder. Und natürlich Nutmeg; alle liebten Nutmeg.

Max nahm die Zeitung, die seine Frau dagelassen hatte. Der Selbstmord hatte es nicht einmal auf die Titelseite geschafft. UNBEKANNTER SPRANG VON BERÜCHTIGTER SELBSTMORDBRÜCKE IN DEN TOD. Max las den Artikel, der nur mit wenigen Details aufwarten konnte und lediglich erwähnte, dass es sich bei dem einunddreißigjährigen Opfer um einen verheirateten Vater handelte und seine Leiche von Tauchern gefunden worden war. Dazu ein knappes Statement des zuständigen Chief Superintendent, der eventuelle Zeugen bat, sich zu melden, und versicherte, es gebe keinen Hinweis auf Fremdeinwirkung. Max zog die Brauen zusammen. Es war ein bisschen zu früh für eine derartige Behauptung. Im polizeilichen Sprachgebrauch handelte es sich um eine ungeklärte Todesursache, die weitere Untersuchungen erforderte.

Max trank seinen Kaffee aus und ging unter die Dusche. Er hatte Arbeit vor sich.

Max saß auf seinem Sofa und aß eine Scheibe Toast, einen Becher mit frischem Kaffee stand vor ihm auf dem Tisch. Er klappte seinen Laptop für Polizeiangelegenheiten auf und scrollte zu den Daten und dem Protokoll des Suizids auf der Brücke. Er sah sich den Verlauf der Ereignisse an, von Hamishs erstem Funkspruch bis zum Fund der Leiche Murdo Smiths durch Taucher. Er fand nichts Ungewöhnliches, und es gab keine unmittelbaren Red Flags. Max sah, dass PIRC frühzeitig durch den diensthabenden Officer eingeschaltet wurde, was üblich war. Hier handelte es sich um einen Tod während eines Polizeikontaktes, daher war die Einbeziehung obligatorisch. Max schrieb sich den Namen und die Nummer des leitenden Ermittlers Lenny Farquharson auf.

Offenbar wurden die Ermittlungen von den örtlichen Kräften unter Aufsicht von PIRC durchgeführt. Das war hilfreich, denn obwohl der Chief Constable Max’ kleinem Team uneingeschränkten Zugang zu allen Daten der schottischen Polizei gewährte, gehörten die PIRC-Akten nicht dazu. Ihr Aufgabenbereich erforderte, dass sie alles sehen mussten. Sie wurden das Policing Standards Reassurance Team genannt, was irreführend war. Denn erstens gehörten nur sie drei dazu, und ihre Aufgaben waren vielfältig, es ging nicht nur um die Absicherung polizeilicher Standards. Sie sollten Korruption aufdecken und bekämpfen, wo andere es nicht konnten.

Max scrollte weiter.

Es schien alles geklärt zu sein, und der Bericht an die Staatsanwaltschaft war vom verantwortlichen DS Charlie Finn erstellt worden. Und wieder kam Max das ein wenig schnell vor. Er machte einen Screenshot vom Bild der Person, dann sah er sich die Details an. Je weiter er las, desto interessierter wurde er.

Name: Murdo Smith

Alter: 31

Anschrift: 46 Westhaughton Road, Glasgow

Nächste Angehörige: Leanne Smith

Beruf: Nachrichtenoffizier bei der National Crime Agency

Als er las, was Murdo Smith von Beruf gewesen war, zuckte er ein wenig zusammen.

Ein Intelligence Officer bei der obersten Kriminalbehörde des Landes.

Hamishs Worte fielen ihm wieder ein: »Hatte Angst vor jemandem, erwähnte die NCA und den Zoll, solche Sachen. Er erwähnte außerdem, irgendwo im Norden, an einem der Seen, sei jemand ermordet worden.«

Max trank einen großen Schluck von seinem Kaffee und verzog das Gesicht, weil das Getränk so bitter war. Er sah auf den Bildschirm und ging gedanklich die Möglichkeiten durch und was er, falls überhaupt, tun konnte.

Ein NCA-Officer, der Selbstmord beging, nachdem er Anschuldigungen wegen korrupter Polizisten erhoben und von einem Mord gesprochen hatte. Ein vermisster Fischer, der ganz offensichtlich bis zum Hals in einer üblen Sache steckte.

Max kannte Hamish seit Jahren, der neigte nicht zu Übertreibungen und war ganz sicher kein Verschwörungstheoretiker. Er war ein erfahrener, abgebrühter Straßen-Cop und ganz bestimmt nicht leichtgläubig. Hamish beherrschte das Abc der Polizeiarbeit aus dem Effeff, und dazu gehörte, nichts als gegeben zu akzeptieren, niemandem zu glauben und alles gründlich zu prüfen.

Aber da waren Hamishs Worte über Murdo: »Irgendwie habe ich ihm geglaubt.«

6

Tam Hardie streckte sich auf dem rauen Laken der schmalen Pritsche in seiner Zelle im HMP Edinburgh aus, allgemein auch Saughton Jail genannt. Er versuchte die aus den Nachbarzellen dröhnende Musik auszublenden. Der süßlich-widerliche Geruch von Spice, einem synthetischen Cannabis, überlagerte alles, selbst den Duft der Lufterfrischer, die er in seiner Zelle aufgestellt hatte.

Seufzend betrachtete er die abblätternde Farbe auf den Backsteinwänden und das gesprungene Glas in dem kleinen Fenster, das die einzige natürliche Lichtquelle war. Für einen kurzen Moment dachte er an sein palastartiges Zuhause, das er mit seiner Frau und seinen Kindern bewohnt hatte, bevor er eingesperrt worden war. Hardie gähnte und schaute zum Fernseher in der Ecke, ohne etwas wahrzunehmen.

Er hatte sich ganz gut in die Gefängnishierarchie eingefügt; sein Ruf sorgte dafür, dass er sowohl von den Mithäftlingen als auch vom Aufsichtspersonal mit Respekt behandelt wurde. Niemand verspürte das Bedürfnis, dem Anführer von Schottlands gefährlichster und berüchtigtster Gang Kummer zu bereiten. Schließlich wollte keiner seine Testikel einbüßen.

Ein kleiner Mistkerl hatte es zu Beginn seiner Haftzeit versucht. Ein »Napalm«, ein Topf mit kochendem Wasser und Zucker, der dafür sorgte, dass das heiße Wasser auf der Haut klebte, stellte rasch klar, dass man sich mit Tam Hardie lieber nicht anlegte. Der kleine Scheißkerl hatte nicht gesungen und würde es auch nicht tun. Hardies Haftzeit würde anders verlaufen als die der meisten Häftlinge. Niemand würde versuchen, die Oberhand über ihn zu gewinnen, und ihm würde es nie an dem mangeln, was die Mitinsassen als Luxus aus der Kantine bezeichneten. Na wow, dachte er. Instant-Nudeln, Saft, Chips und Toilettenartikel im Überfluss, aber er steckte trotzdem noch in diesem Höllenloch, und nichts konnte ihm die Zeit hier drinnen wirklich angenehmer machen.

Hardie hatte seinen Ruf, das schon, aber ansonsten hatte er herzlich wenig. Er streckte eine Hand nach seinem Nachtschränkchen aus und nahm den jüngsten Brief seiner Frau heraus, um ihn zum wahrscheinlich vierzigsten oder fünfzigsten Mal zu lesen. Seine Familie kam zurecht in der Villa in Nordzypern, und die Kinder besuchten eine internationale Schule. Er und seine Frau hatten für diese Eventualität vorgesorgt, und als seine Probleme überhandnahmen, hatten sie sich abgesetzt, glücklicherweise außerhalb der Reichweite der britischen Polizei.

Hardie kratz...

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