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Der Tag, als ich die Welt umarmte

Die Welt ist eine Nussschale - und immer noch zu groß für dich?

Schon ihr ganzes Leben lang träumt Harriet Langton von der großen weiten Welt, von exotischen Ländern - und besonders von dem romantischen Zauber Venedigs! Durch ihren Job in einem Reisebüro ist sie diesem Traum ein klitzekleines Stückchen näher. Aber selbst reisen? Fehlanzeige. Ihr Fast-Verlobter will immer nur campen. Da tritt Alex ins Reisebüro - und in Harriets Leben. Er reist gern, fotografiert gut, kocht toll. Mit ihm scheint die Welt auf einmal nicht mehr so unerreichbar groß. Kein Wunder, dass sie schnell beste Freunde werden. Aber erst, als Alex sich mit einer anderen verloben will, erkennt Harriet, was sie wirklich fühlt.

"Eine hinreißende Lovestory für alle Fans von Sophie Kinsella."

www.goodreads.com

"Exzellenter Schreibstil, reale Situationen und eine großzügige Prise Humor."

Blogcritics.org


  • Erscheinungstag: 18.07.2016
  • Seitenanzahl: 448
  • ISBN/Artikelnummer: 9783956495656
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Wie alles seinen Anfang nahm

Zu Beginn der Geschichte sollte man zwei Dinge über Harri wissen: Erstens: Normalerweise schließt sie sich auf Partys nicht auf der Toilette ein. Und zweitens: Normalerweise gehört sie zu den vernünftigsten und gelassensten Menschen, die man sich nur vorstellen kann.

Aber an diesem Abend ist alles anders.

Denn an diesem Abend – um genau 22:37 Uhr – ging die Welt, die Harri kannte, unter, und zwar in einer Katastrophe. In nur dreieinhalb Minuten gingen sich alle Menschen, die sie liebte, in einem verbalen Armageddon gegenseitig an die Kehle. Das hatte ein wahres Gemetzel zur Folge: schluchzende Frauen, Männer, die sich gegenseitig anschrien, und zermatschte Blätterteigpastetchen, so weit das Auge reichte. Da sie gegen die Verwüstung nichts ausrichten konnte, beschritt sie den einzig sinnvollen Ausweg, der ihr geblieben war: Sie rettete sich in den ergrauten Zufluchtsort aus Vinyl – die mittlere Kabine der Damentoilette im Gemeindezentrum von Stone Yardley.

Hier ist sie nun also. Sitzt auf dem wackeligen schwarzen Kunststoffdeckel der Toilettenschüssel, den Kopf in die Hände gestützt. Ihr Leben ist ganz offiziell vorbei. Und sie hat nicht die geringste Ahnung, was sie jetzt tun soll.

Ursprünglich war das Ganze Vivs Idee gewesen. Harri hätte sofort Nein sagen sollen, aber Harri ist nun mal Harri. Also entschied sie, den Vorschlag ihrer ersten Sonntagsschullehrerin trotz ihrer Zweifel nicht von vornherein abzulehnen, sondern darüber nachzudenken.

„Du weißt doch, wie ungeschickt Alex darin ist, eine passende Freundin zu finden“, erklärte Viv. Nebenher holte sie einen dampfenden Apfelkuchen aus dem Backofen und bot dabei ungewollt ein friedlich-heiteres Bild wie aus der Zeitschrift Country Life. „Er ist ein hoffnungsloser Fall! Allein im letzten Jahr zwölf Freundinnen und insgesamt keine zwei Gehirnzellen. Danielle, Renée, Georgia, Saffron, zwei Marys, drei Kirstys, eine India – man muss sich das nur mal vorstellen! –, und an die Namen der letzten beiden kann ich mich nicht mal erinnern …“

Harri lächelte, den Blick auf ihre Teetasse gesenkt. „Wetterfee Lucy und Bumerang Sadie.“

Viv blickte verdutzt von ihrem mehlbestäubten Backbuch auf. „Bumerang?“

„Ja, du weißt doch: die Dinger, die immer zu dir zurückkommen, egal, wie oft du sie fortwirfst“, gab Harri grinsend zurück.

„Harriet Langton, für einen allgemein unglaublich netten Menschen kannst du furchtbar spitze Bemerkungen machen.“

Harri verneigte sich spöttisch. „Danke, Viv.“

„Egal. Zurück zu Alex …“ Viv lächelte, und dann erzählte sie, was ihr Großartiges eingefallen war. Zuerst einmal hörte es sich nach einer völlig unverfänglichen Idee an. Niemand hätte vorhersagen können, was für eine Katastrophe daraus erwachsen würde.

Es begann mit einer neuen Kolumne in Juste Moi, Vivs Lieb-lings-Frauenzeitschrift. Zwischen Artikeln über den neuesten Modetrend bei Hollywoods Sternchen und erschreckend betitelten Aufmachern wie „Der Horror vor der Fünfzig plus“ versteckte sich eine kleine Kolumne mit der Überschrift: „Gutes Zuhause gesucht“.

„Die Leute schreiben an die Redaktion“, erläuterte Viv, „und nominieren einen Mann, den sie kennen, damit er recycelt wird.“

„Recycelt?“, fragte Harri ungläubig zurück. „Zu was? Das klingt ja grauenvoll.“

„Das ist was ganz anderes als der Altglascontainer, Harri. Man stellt einen Mann, der Pech in der Liebe hatte – du weißt schon: geschieden, kürzlich getrennt oder einfach nur unfähig, die richtige Frau zu finden –, einem ganz neuen Publikum vor.“

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass das funktioniert“, meinte Harri kichernd. „Ich meine, wer schreibt schon an eine Zeitschrift, um sich mit einem Wildfremden zu verabreden?“

Viv warf ihr einen strengen Blick zu. „Offensichtlich sehr viele. Du würdest dich wundern, wie viele Antworten auf diese Kolumne eingehen. Hör dir das mal an: ‚Unser Februar-Kandidat Joshua hat über zweitausend Zuschriften von Frauen aus ganz Großbritannien erhalten, die alle scharf darauf sind, ihm zu beweisen, dass es auch heute noch die wahre Liebe gibt. Josh lässt allen danken, die ihm geschrieben haben, und ist gerade dabei, die Briefe zu sichten und die zehn Zuschriften herauszufiltern, die ihm am besten gefallen. Er wird sich schon bald bei den Betreffenden melden, um sich mit ihnen zu verabreden. Viel Glück, Ladies!‘ Na, was sagst du dazu? Was schließt du daraus, Harri?“

Harri rümpfte die Nase. „Ich schließe daraus, dass es da draußen zu viele verzweifelte Frauen gibt. Zweitausend traurige, einsame Individuen voller Illusionen, die ihre Träume im Namen des Journalismus missbrauchen lassen.“

Vivs Enthusiasmus war dadurch nicht zu dämpfen. „Ganz und gar nicht. Es zeigt, dass besorgte Freunde und Mütter – wie zum Beispiel ich – Gelegenheit bekommen, eine Frau zu finden, die der Männer, die ihnen am Herzen liegen, auch würdig ist. Immerhin kennen wir Mütter unsere Söhne besser als jeder andere. Wer sollte also besser auswählen können, wer die perfekte Freundin für sie ist?“

„Also ich finde das eher ziemlich gruselig. Und was ist mit den Frauen, die an die Zeitschrift schreiben? Woher wollen sie wissen, ob der Typ, auf den sie ihre ganze Hoffnung setzen, nicht ein trauriger Loser ist, der aus gutem Grund allein lebt – zum Beispiel weil er Mundgeruch hat, merkwürdigen Hobbys nachgeht oder eine ungesunde Abneigung gegen Körperhygiene hegt?“

„Du hast leicht reden, Harriet; du hast einen netten Freund. Und du hast Rob schon so lange, dass du längst vergessen hast, wie sehr es wehtut, allein zu sein. Darf ich dich daran erinnern, dass das bei Alex ganz anders aussieht? Ich handele also nur zu seinem Besten.“

„Du denkst doch nicht etwa daran, Alex zu nominieren, oder?“ Harri spürte, wie ihre Augenbrauen so hochschnellten, dass sie fast über ihrem Kopf hingen – ähnlich wie bei Cartoon-Figuren. „Viv, das kannst du nicht machen! Was glaubst du, wie er sich fühlen würde, wenn er wüsste, dass seine eigene Mutter ihn auf diesem Fleischmarkt zur Auktion stellt?“

Ich will ihn doch gar nicht nominieren, Süße“, gab Viv mit ebenso vorwurfsvollem wie mütterlichem Lächeln zurück.

„Freut mich, das zu hören.“

„Ich möchte, dass du ihn nominierst.“

Der Vorschlag hing zwischen ihnen in der Luft, funkensprühend in seiner Kühnheit. Harri brauchte einen Augenblick, um ihn zu realisieren.

„Wie bitte?“

„Na ja, ich selbst kann das nicht machen, oder? Al würde die Idee sofort verwerfen, weil er meint, da sollte eine Mutter sich nicht einmischen.“

„Und wenn seine beste Freundin sich einmischt, würde er das anders sehen?“

Mit betretener Miene rang Viv zerknirscht ihre Hände. „Harri, ganz ehrlich: Ich würde dich nicht darum bitten, wenn das nicht die einzige Möglichkeit wäre, meinem Sohn zu helfen. Ich mache mir Sorgen um ihn – auch wenn er mich für eine neugierige alte Wichtigtuerin hält.“

„Es ist wirklich keine gute Idee. So etwas wäre ihm sehr, sehr peinlich. Jedenfalls wäre es das mir.“

„Aber er braucht doch nichts von der Sache mit der Zeitschrift zu erfahren. Und wir könnten alle Zuschriften, die er bekommt, auf Herz und Nieren prüfen.“ Sie deutete auf das Foto des letzten erfolgreichen Kandidaten. „Über zweitausend Zuschriften für ihn – und, jetzt mal ehrlich, er ist nicht gerade ein Supermodel. Jetzt stell dir mal vor, welche Auswahl wir für Alex bekommen könnten!“

In dem Punkt musste Harri ihr recht geben: Kandidat Joshua hatte ein Gesicht, das nur eine Mutter lieben konnte. Alex dagegen wirkte auf das andere Geschlecht durchaus sehr attraktiv. Bei ihm lag das Problem eher darin, dass nicht unbedingt die Richtigen auf ihn flogen.

„Ich weiß, dass er Hilfe braucht, Viv, aber ist das wirklich der beste Weg?“

„Du weißt besser als fast jeder andere, wie furchtbar unfähig mein Sohn ist, erfüllende Beziehungen einzugehen. Du hattest das Vergnügen, jede einzelne Katastrophe mit ihm zu durchleben. Ich weiß, dass er dir vertraut.“

„Trotzdem. Ich halte das für eine hirnrissige Idee.“

„Nun, mein Sohn scheint öfter hirnrissigen Ideen zu folgen. Man lässt doch nicht einfach einen absolut sicheren Job sausen und tingelt zehn Jahre lang kreuz und quer durch die Welt, wenn man einigermaßen bei Verstand ist, oder? Harri, Tatsache ist, dass Alex ein netter, aufrichtiger, gut aussehender junger Mann ist und für die richtige junge Frau ein fantastischer Fang wäre. Außerdem sagst du doch selbst immer wieder, dass er sich ständig in die falschen Mädchen verguckt. Hier bietet sich dir die perfekte Gelegenheit, das richtige Mädchen für ihn zu suchen. Meinst du nicht?“

Viv hat definitiv ihre wahre Berufung verfehlt, ging es Harri durch den Kopf. Sie hätte eine tolle Premierministerin abgegeben. Oder eine Unterhändlerin der UNO. Oder eine durchgeknallte Terroristin … Aber trotzdem hatte Viv natürlich recht: Alex hatte einen geradezu legendär schlechten Geschmack, wenn es um Frauen ging. Außerdem hegte Harri schon lange den Verdacht, dass Alex sich absichtlich mit Frauen abgab, mit denen er nicht wirklich eine dauerhafte Beziehung eingehen wollte.

Hätte sie natürlich einen Blick in die Zukunft tun können, dann hätte sie rundheraus abgelehnt. Hätte darüber gelacht und das Thema gewechselt. Oder hätte sich ihren Mantel geschnappt und wäre gegangen. Aber in diesem Moment entschied sie anders. Sie kam zu dem Schluss, dass es besser wäre, mitzumachen und Viv im Zaum zu halten, als zu riskieren, dass Alex’ Mutter die Sache allein in Angriff nahm.

Also sagte Harri Ja. Und damit begann der Ärger.

2. KAPITEL

Beste Freundinnen

Harri? Bist du da drin?“

Hinter der verschlossenen Kabinentür bleibt Harri still. Unbehagliches Schweigen auf der anderen Seite. Dann das Geräusch niedriger Absätze, die nervös über den Boden klackern, während die Frau an den Waschbecken offenbar darüber nachdenkt, was sie als Nächstes sagen soll.

„Äh … hör mal, Harri, wahrscheinlich ist das Ganze nicht so schlimm, wie es jetzt aussieht. Ich meine … äh … na gut, es sieht wirklich sehr schlimm aus. Aber wenn du einfach rauskommst, können wir ganz bestimmt in Ruhe und vernünftig mit allen darüber reden … äh … na ja, zumindest mit den Leuten, die noch nicht gegangen sind oder … äh … ins Krankenhaus gefahren …“

Wieder Stille. Dann ein tiefer Seufzer.

„Nun ja, in Ordnung, ich … ich lasse dich allein, damit du darüber nachdenken kannst, Liebes.“

Die Tür der Damentoilette wird geöffnet, und die niedrigen Absätze treten hastig den Rückzug an.

Harri schüttelt den Kopf.

Stella Smith war Harris älteste und beste Freundin.

Sie hatten sich an Harris erstem Schultag kennengelernt, auf dem kleinen Schulhof vor der Grundschule von Stone Yardley. Harri war fünfeinhalb und kam sechs Monate später als die meisten ihrer Mitschüler auf diese Schule, weil ihre Familie erst kurz vorher von ihrem Geburtsort in Yorkshire hierhergezogen war.

Ihre erste Erinnerung an Stella war die an ein hochgewachsenes dunkelblondes Mädchen in einem roten Polopulli – der sowohl ihre langen Finger als auch ihren langen Hals betonte und sie wie eine Massai aussehen ließ –, das, mit einer großen Tüte Chips in der Hand, selbstbewusst auf sie zusteuerte.

„Wollen wir Freundinnen sein?“, fragte Stella. Allerdings klang diese Frage eher wie ein Befehl.

„Ja“, erwiderte Harri.

Stella lächelte ihre neue Freundin an. „Gut. Nimm dir ein paar Chips.“

Und damit war die Sache entschieden.

Zweiundzwanzig Jahre später hatte ihr Geschmack sich deutlich weiterentwickelt. Statt Irn-Bru – eine Art schottische Cola – zu Doppelkeksen bevorzugten sie jetzt Latte macchiato mit Pfirsich-Himbeer-Muffins bei Starbucks. Aber die Freundschaft zwischen Stella und Harri war so eng wie eh und je.

Einem zufälligen Beobachter mochte die Freundschaft zwischen den beiden recht merkwürdig vorkommen. Stella war bekannt dafür, dass sie überall, wo sie ging und stand, Aufmerksamkeit auf sich zog. Kein Wunder, denn inzwischen war sie fast einen Meter achtzig groß, hatte lange, blond gefärbte Haare, ungeheuer attraktive Wangenknochen und de facto keine Hemmungen. Harri dagegen war auf stille Weise selbstbewusst und selbstsicher; sie maß kaum einen Meter sechzig, hatte rote Locken, große blaue Augen und verfügte über eine gehörige Portion gesunden Menschenverstand. Aber wenn die beiden zusammen waren, geschah etwas Magisches. Harri stellte fest, dass sie in Stellas Gesellschaft sie selbst sein konnte, während Stella sich bei ihr sicher, angenommen und geliebt fühlte. Und so bildeten sie in vielerlei Hinsicht ein vollkommenes Paar.

Harri wählte einen ihrer vielen Besuche im Coffeeshop, um Stella von Vivs toller Idee zu berichten.

„Sie möchte, dass du was tust?“, stieß Stella hervor und verschluckte sich fast an ihrem Latte macchiato.

„Hm, ungefähr genauso habe ich auch reagiert“, meinte Harri.

„Kommt überhaupt nicht infrage!“ Stellas Schultern zuckten heftig, als sie in schallendes Gelächter ausbrach. Es war eine allgemein anerkannte Wahrheit, dass Stellas Lachen den Straßenverkehr zum Erliegen bringen konnte.

„Du. Lieber. Himmel! Du hast doch hoffentlich Nein gesagt?“

Harri senkte ihren Blick auf den Milchschaum ihres Cappuccinos. „Ich hätte Nein sagen sollen … Aber in einem hatte sie recht.“

„Und das wäre?“

Harri seufzte. „Wenn es um Dates geht, ist Alex ein totaler Versager. Nein, halt, das stimmt nicht. Es fällt ihm leicht, sich zu einem Date zu verabreden, aber er ist ein totaler Versager, wenn es darum geht, sich mit der richtigen Sorte von Frauen zu verabreden.“

„Oder ein Genie, wenn es darum geht, durchgeknallte Zimtzicken aufzureißen“, meinte Stella.

„Ja, genau das.“

„Dafür hat er wirklich ein außerordentliches Talent. Vielleicht sollte er das vermarkten und für andere die seltsamen Typen aussortieren. Damit könnte er ein Vermögen verdienen!“

Harri grinste. „Ganz ehrlich, Stel, ich mag Al sehr, aber ich habe schon so oft erlebt, wie er am Boden zerstört war, weil sein Liebesleben ein immer wiederkehrender Albtraum ist …“

„Normalerweise um drei Uhr morgens, soweit ich mitbekommen habe.“

„Keine Sorge. Nach dem letzten Mal habe ich ihm deutlich zu verstehen gegeben, dass mein Notdienst für gebrochene Herzen ihm nur bei Tag zur Verfügung steht.“

„Trotzdem, Harri, die meisten hätten ihm längst klargemacht, dass das so nicht geht.“

„Wahrscheinlich. Aber es bleibt das Problem, dass er anscheinend nie aus seinen Fehlern lernt. Von daher ist diese verrückte Idee vielleicht einen Versuch wert. Zumindest können Viv und ich, wenn wir die Kandidatinnen auf Herz und Nieren prüfen, alle komischen Vögel von vornherein aussortieren.“

Stella schnaubte verächtlich. „Oh, Viv hat versprochen, dir dabei zu helfen, stimmt’s? Das glaube ich erst, wenn ich es sehe.“

„Nein, sie wird es wirklich. Es ist alles abgesprochen.“

„Ja, natürlich. Und ich bin der Kaiser von China …“

Harri kicherte. „Du bist gemein. Diesmal glaube ich ihr.“

„Schön für dich. Aber was, wenn Alex – dein ganz offiziell bester Freund auf der ganzen weiten Welt – nichts mehr von dir wissen will, weil du ihn nominiert hast? Ich wäre jedenfalls stinksauer, wenn ich jemals erfahren sollte, dass meine beste Freundin mich auf einer Zeitschriften-Liebesauktion feilbieten lässt.“

„Ich weiß. Du hast ja recht. Aber so wie ich Viv kenne, heckt sie einen noch dämlicheren Plan als diesen aus, wenn ich sie nicht daran hindere. Und wenn ich da bin, um sie ein wenig zu lenken, kann ich Alex wenigstens ein bisschen vor den verrückten Einfällen seiner Mutter schützen.“

Im Lauf der folgenden Woche ließ Harri sich die tolle Idee immer wieder durch den Kopf gehen, während sie bei Sun Lovers International Travel an ihrem Schreibtisch saß.

Auf dem zerschrammten Namensschild aus Metall auf ihrem Schreibtisch stand „Reiseberaterin“. Zutreffender, wenn auch unverhältnismäßig lang, wäre die folgende Bezeichnung gewesen: „Reiseberaterin, die vergeblich versucht, Bewohner von Stone Yardley dazu zu überreden, fantastische Orte zu besuchen, die sie am liebsten selbst bereisen würde“.

Sun Lovers International Travel war als Firma weder so groß noch so kommerziell erfolgreich, wie der Name suggerierte. Tatsächlich bestand SLIT (so nannte der Firmeneigner sein Reisebüro liebevoll, während seine Belegschaft die Abkürzung zwar auch benutzte, sie aber mit ganz anderen, wesentlich unfreundlicheren Assoziationen verknüpfte) aus einem winzigen Laden in der High Street von Stone Yardley. In seinem einzigen Schaufenster warben sorgsam platzierte Poster mit exotischen Abenteuern in aller Welt: Australien, Thailand, Indien, die USA, natürlich Luxusflugreisen. Die handgeschriebenen Sonderangebote, die mit Klebeband im Fenster befestigt waren, schlugen allerdings allesamt näher liegende Ziele vor: Blackpool, Weston-Super-Mare und Rhyl. Und es waren üblicherweise Busreisen.

Das Geschäft lief schon die ganze Woche schleppend, und am Freitagmorgen, als Harri all ihre Aufgaben erledigt hatte, nahm sie die Gelegenheit wahr und vertiefte sich in eine Hochglanzbroschüre über Venedig.

Venedig. Der Ort, mit dem alles begonnen hatte … Als ihr Blick auf die vertrauten Fotos der Stadt fiel, die sie schon seit vielen Jahren aus der Ferne anbetete, lächelte sie. Prachtvolle Palazzi, elegante Gebäude, die sich in den tief blaugrünen Kanälen spiegelten, farbenfroh kostümierte Karnevalsbesucher, die sich inmitten von Touristen und Stadtbewohnern bewegten, als wäre von Kopf bis Fuß in üppigen Samt gekleidet zu sein so alltäglich wie Kaffee kaufen … Fast konnte sie die Geräusche der Stadt hören, wie sie aus den Seiten der Broschüre aufstiegen, fast die köstlichen Cicchetti oder den herben Limoncello schmecken … Eines Tages, so schwor sie sich, wie schon Millionen Male zuvor, eines Tages werde ich selbst dort stehen …

Es war Tom, Auszubildender bei SLIT und von der beeindruckendsten Akne geplagt, die man je in Stone Yardley gesehen hatte, der sie mit einem mächtigen Seufzer in die Realität zurückholte, als er sich auf den Stuhl vor Harris Schreibtisch plumpsen ließ.

„Mir ist langweilig, langweilig, langweilig“, gab er im Singsang eines buddhistischen Mönches zu verstehen und schaute dabei mit großen Augen durch die fettigen blonden Locken, die ihm ins Gesicht hingen.

Rasch schlug Harri ihre Broschüre zu und lächelte ihn an. „Na, liebst du wieder mal deine Arbeit, Tom?“

„Oh, und wie! ‚Komm herein und arbeite im Reisebüro, Tom; dann kriegst du was von der Welt zu sehen!‘ Klar doch …“

„Willkommen bei Sun Lovers International Travel“, gab Harri lächelnd zurück, beugte sich vor und tätschelte ihm die Hand. „Sag schon, mit welchen aufregenden Reisezielen hast du dich heute befasst?“

Tom stöhnte. „Barmouth. Isle of Wight. Und fast hätte ich einen Flug nach Dublin verkauft.“

„Dublin? Wow! Woran ist der Verkauf gescheitert?“

„Mrs. Wetten war nicht klar gewesen, dass Dublin außerhalb von England liegt. Sie hält nichts von Auslandsreisen.“

Harri lachte. „Hmm, na ja, Dublin, das liegt ja schon fast in einer anderen Zeitzone. Außerdem haben sie anderes Geld, und überhaupt.“

Tom rutschte unbehaglich auf dem Stuhl herum, der nicht für seine schlaksige Gestalt gebaut war. Mit einem Meter neunzig war er fast dreißig Zentimeter größer als alle anderen Angestellten. Dementsprechend wirkte er, wo er stand und saß, immer so, als wäre er über seine Umgebung hinausgewachsen – so wie Alice in ihrem Wunderland.

„Warum tust du das, Harri? Ich meine, du arbeitest hier seit – wie lange schon?“

„Fast acht Jahre.“ Sie konnte es selbst kaum glauben.

„Ja, genau. Und was war das ausgefallenste Reiseziel, das du in all dieser Zeit verkaufen konntest?“

Das Traurige an dieser Frage war, dass Harri nicht einmal überlegen musste, um sie zu beantworten: „Marokko. Und den Harpers hat es nicht gefallen, weil es dort zu ‚ausländisch‘ war.“

„Was stimmt mit den Leuten in dieser Stadt nicht? Wenn es keine Busreise ist, haben sie kein Interesse.“

„Luxus-Busreise, wenn ich bitten darf“, korrigierte Harri ihn mit gespielter Entrüstung.

„Oh ja, Luxus-Busreisen. Du sprichst nicht zufällig von Somers Travels Direct Coaches?“, meinte Tom feixend. „STD – diese nette Abkürzung für sexuell übertragbare Krankheiten. Daran haben sie bei der Namensgebung nicht gedacht, oder?“

Harri lachte. Sie war sicher, dass Albert Somers, ein ortsansässiger Geschäftsmann, noch nie über die unglücklich gewählten Initialen nachgedacht hatte. Und doch löste es bei den Mitarbeitern immer wieder Heiterkeit aus, wenn ältere Einwohner von Stone Yardley, die immer etepetete waren, Äußerungen von sich gaben wie: „Wir lieben STD“ oder „Ich weiß nicht, was wir all die Jahre ohne STD getan hätten!“ oder „Ich könnte mir einfach keinen Urlaub ohne STD vorstellen.“

„Ich schätze, wir haben einfach nur das Pech, es mit den fantasielosesten Reisenden der ganzen Welt zu tun zu haben“, seufzte Tom, streckte seine unglaublich langen Beine und stieß dabei einen Stapel Reiseprospekte am Nachbarschreibtisch um. „Ach, verflixt!“

Harri stand auf und half ihm, die Prospekte wieder aufzusammeln. Dabei ließ sie ihren Blick flüchtig über jeden Hochglanzeinband schweifen, den sie in die Hand nahm: Indien, Fernost, Karibik, Hawaii … Eine Broschüre über Trinidad und Tobago öffnete sich auf einer Seite, in der Häuser im Kolonialstil von sattgrünen Palmen und azurblauem Wasser eingerahmt wurden. Harri und Tom hielten beinah andächtig inne und teilten einen stillschweigenden Moment wehmütiger Ehrfurcht.

„Ich begreife einfach nicht, warum die Leute immer in England bleiben wollen, wo doch da draußen diese große, fantastische Welt auf sie wartet“, meinte Tom kopfschüttelnd. „Ich möchte einfach überallhin reisen, solange es nicht hier ist. Bisher habe ich es nur bis Spanien, Italien und Frankreich geschafft, aber auf meiner Liste stehen noch so viel mehr Länder, die ich bereisen möchte, bevor ich fünfundzwanzig bin. Und ich bin froh, dass du verstehst, Kumpel. Ich meine – das Thema, über das wir reden. Du verstehst was vom Reisen, stimmt’s? Also, was war der exotischste Ort, den du je bereist hast?“

Harri wand sich innerlich. Sie hasste diese Frage, und das Herz rutschte ihr in die Hose. Denn obwohl sie sich so fürs Reisen begeistern konnte, obwohl sie unglaublich viel über Reiseziele in aller Welt wusste, hatte Harri ihr Heimatland erst ein Mal verlassen: auf einem Tagesausflug nach Calais mit ihrer Schulklasse. Ja, sie hatte sogar nur ein einziges Mal in einem Flugzeug gesessen: einem kleinen Doppeldecker, der sie zu ihrem neunten Geburtstag für einen halbstündigen Rundflug um den örtlichen Flugplatz in die Lüfte entführt hatte.

Tom sackte die Kinnlade herunter. „Im Ernst?“

„Im Ernst. Meine Eltern hatten Angst vorm Fliegen, also verbrachten wir die Ferien in Yorkshire, Wales oder im Lake District. Versteh mich nicht falsch – ich finde es schön dort, aber ich habe immer vom Reisen geträumt.“

„Und warum hast du es nie einfach getan?“

Diese Frage verabscheute Harri ganz genauso. Und wie immer nahm sie ihre altbekannten Ausflüchte: „Das Leben hat sich einfach nicht so entwickelt, wie ich es mir vorgestellt habe. Das ist alles. Erst hatte ich alle Hände voll mit dem College zu tun. Dann wurde Dad krank, und weil er gepflegt werden musste, gab es nur noch Verwandtenbesuche in Yorkshire und Cumbria.“

Tom bekam rote Flecken. „Ach ja, und dann ist deine Mutter gestorben …“

Harri schluckte und senkte den Blick auf den Stapel Prospekte auf dem Fußboden. „Ja. Als das alles vorbei war, habe ich mir das Haus gekauft, den Job hier bekommen, Rob kennengelernt und angefangen, mit ihm zum Camping zu fahren.“

„Camping?“ Tom lachte. „Junge, Junge, dein Typ weiß, wie er dir das Leben versüßen kann, was?“ Als Harri mit dem letzten Prospekt nach ihm schlug, duckte er sich geschickt zur Seite.

„Frechdachs. Nur dass du’s weißt: Ich gehe gern campen. Außerdem schafft Rob es, jeden Urlaub zum Vergnügen zu machen. Ich kann dir gar nicht sagen, wie schön es ist, ihn in meinem Leben zu haben, nachdem ich mich nach dem Tod meiner Eltern so verlassen gefühlt hatte. Ja, ich würde sehr gern reisen, aber im Moment – mit Robs derzeitiger Arbeitssituation, der Rezession und allem – können wir uns Auslandsreisen einfach nicht leisten. Aber eines Tages werden wir das können, und dann bin ich weg.“

„Wem sagst du das! Wenn ich nicht bald anfange, Geld zu sparen, werde ich niemals aus diesem Loch herauskommen“, vertraute Tom ihr an. Er senkte die Stimme, damit ihr Boss sie nicht in seinem Büro belauschen konnte. „Ich meine, Georgie Porgie da drin gibt uns wohl kaum eine Gehaltserhöhung, solange er die Wirtschaftsflaute als Ausrede anbringen kann.“ Seine braunen Augen funkelten, und er boxte Harri spielerisch mit dem Ellenbogen in die Seite. „Fährst du wirklich mit Rob zum Camping?“

Harri lächelte. „Ja. Jedes Jahr.“

„Thomas! Für den unwahrscheinlichen Fall, dass du ernsthaft beschließt, heute noch irgendetwas zu tun, das man als Arbeiten bezeichnen könnte: Die Schaufensterauslage müsste irgendwann vor dem Ende des einundzwanzigsten Jahrhunderts umgestaltet werden.“

„Ja, Boss.“ Tom zwinkerte Harri zu. „Schon mal den Verdacht gehegt, dass George beim Überwachungstrupp des MI5 ausgebildet wurde?“

„Thomas, ich kann deinen Sarkasmus von hier hören!“

„Schon gut, schon gut. Tut mir leid, Harri, ich geh jetzt besser, bevor George eine Ader platzt oder er uns an den KGB verkauft.“

Harri winkte ihm zu. „Viel Spaß!“

„Danke, gleichfalls. Also – Rob fährt mit dir auf verschiedene Campingplätze, oder?“

„Natürlich! Wir waren schon überall – meistens im Lake District, aber manchmal auch in Snowdonia oder Pembrokeshire. Wir fahren einfach herum, bis wir einen Campingplatz finden, und dann erkunden wir ein paar Tage die Gegend, bevor wir weiterfahren. Es ist schön, nicht an feste Pläne gebunden zu sein, weißt du? Und Rob ist gut darin, uns kleine Überraschungen zu bereiten. Einmal, als wir auf einem Platz in der Nähe von Troutbeck standen, hat Rob uns ein Dinner bei Kerzenlicht arrangiert. Wir saßen in Reisedecken gehüllt da und schauten uns die Sternschnuppen am Himmel über den Bergen an. In der Nacht hätte ich wirklich nirgendwo sonst auf der Welt glücklicher sein können.“

Toms pickeliges Gesicht bot einen Anblick für Götter, als er sich abwandte. „Bäh. Hat mal jemand eine Kotztüte für mich, bitte …?“

Von Stella wurden Harris Erzählungen von Robs spontanen romantischen Gesten viel besser aufgenommen – trotz der Tatsache, dass, was Stella anging, öffentliche Liebesbekundungen nicht zählten, wenn sie nicht mit Luxus, Schwelgerei und dem großzügigen Einsatz einer Kreditkarte verbunden waren.

„Ich weiß, dass dein Rob ein Schatz ist. Aber warum, um alles in der Welt, ist er mit dir noch nie ins Ausland gereist?“, fragte sie an einem Mittwochabend, als Harri auf einen Schwatz nach der Arbeit bei ihr vorbeischaute. „Harri, seit sieben Jahren ist er jetzt Teil deines Lebens. Da sollte man doch meinen, er hätte dich wenigstens schon mal nach Paris oder so entführt.“

Harri tunkte einen Schokoladen-Vollkornkeks in ihren Tee. „Er sagt, in einem Land, in dem er die Sprache nicht versteht, fühlt er sich einfach nicht wohl. Ich vermute aber, dass er nicht gern fliegt. Das hat seine Mum mir vor ein paar Jahren erzählt.

Eigentlich soll ich das nicht wissen, aber bei genauerer Überlegung ergibt das einen Sinn.“

„Schon möglich. Hey, vielleicht spendiert er ja eine große Auslandsreise, wenn er dir die Frage stellt.“

Harri hob ihre Tasse. „Darauf trinke ich!“

Jedes Jahr versprach Stella ihrer Freundin, mit ihr ins Ausland zu reisen. Immer im Januar oder Februar bat sie Harri, die neuesten Reiseprospekte von der Arbeit mit nach Hause zu bringen, und sie verbrachten glückliche Abende damit, sich mit den tollsten Reisezielen zu befassen. Endlos viele Flaschen Wein, Essen vom Lieferservice und Coffeeshop-Besuche wurden darauf verwandt, ihr großes Abenteuer zu planen. „Wie Thelma und Louise, aber ohne Tote und Schießeisen“, witzelte Stella. Aber irgendwie fand sie, immer wenn der Sommer näher rückte, einen neuen Typen und verlor sich so in ihrer Romanze, dass Harri unweigerlich zu einem „netten Essen auswärts“ eingeladen wurde. Spätestens beim Dessert wurde sie immer mit einem tränenreichen Geständnis konfrontiert, und das klang dann so: „Ich weiß, ich habe dir versprochen, dieses Jahr mit dir zu verreisen. Aber bevor ich noch Nein sagen konnte, hatte ich auch schon [Nichtzutreffendes streichen] Joe/Mark/Matt/ Juan zugesagt, ihn zu begleiten. Aber ich verspreche dir hoch und heilig: Nächstes Jahr verreisen wir zwei gemeinsam …“

Trotz der alljährlichen Enttäuschungen waren nicht einmal Stellas ungelegene Liebschaften das Problem. Genauso wenig waren es die Wirtschaftsflaute, das schwache Pfund oder die steigenden Flughafengebühren. Und egal, was Stella und Viv sagten, war auch Rob nicht das Problem. Am Ende lag es an ihr selbst.

Jedes Jahr zog Harri in Erwägung, sich ein Reiseziel in einem der Reiseprospekte von SLIT auszusuchen, ihre Koffer zu packen und allein irgendwohin zu reisen. Aber wenn sie darüber nachdachte, warf die Realität, zwei Wochen allein zu verbringen, einen Schatten über ihren Traum. Was hatte sie davon, wunderbare Orte zu besuchen, wenn sie dieses Erlebnis mit niemandem teilen konnte? Anders als Vivs Sohn Alex, der sich in seiner eigenen Gesellschaft absolut wohlzufühlen schien, konnte diese Aussicht Harri absolut nicht reizen. Seit ihre Eltern gestorben waren, war ihr das Gefühl von Einsamkeit nur zu vertraut. Warum sollte sie dieses Gefühl in ein anderes Land mitnehmen? Sie wusste: Eines Tages würde sie das können, und es würde ihr gefallen. Aber solange sie ihre Furcht vor dem Unbekannten nicht überwinden konnte, war sie zufrieden damit, zu bleiben, wo sie war. Ganz bestimmt machten Urlaube mit Rob in England mehr Spaß als ein Auslandsaufenthalt allein.

In Harris Welt gab es zwei Ausgaben ihrer selbst: die selbstbewusste, spontane in ihrem Kopf, die alle Bedenken über Bord warf und reiste, wohin es sie zog; und die echte Harri, die sich über alles zu viele Gedanken machte und in der Sicherheit ihres kleinen Cottages am Rand von Stone Yardley imaginäre Reisen plante.

Eines Tages, sagte sie sich immer wieder selbst, eines Tages werde ich nicht mehr darüber nachdenken, sondern einfach abreisen.

Und so kaufte sie sich ein neues Reisebuch und verbrachte Stunden damit, sich in die kleinsten Einzelheiten der Abenteuer anderer Leute in aller Welt zu vertiefen. Sie wurde zur Lehnstuhl-Reisenden – beherrschte fließend drei Sprachen und war Expertin bei jedem Pub-Quiz, in dem es um Reisefragen ging. Die Welt in ihrem Kopf war sicher, ständig zugänglich und vor allem nur ihre eigene. Ein geheimer Ort, an dem sie Zuflucht suchen konnte, ohne dass jemand davon wusste. Jahrelang war das ihre einsame Beschäftigung gewesen. Bis sie Alex kennenlernte. Von da an war sie plötzlich nicht mehr allein.

3. KAPITEL

Alles über Alex

Die kalte Brise, die durch das zugige und verdreckte Dachfenster über Harris Kopf hereinkommt, wird stärker, und die ersten Regentropfen treffen auf das gehärtete Glas. Harri erschauert und zieht ihren dünnen Cardigan enger um sich. Ihre Schultern überläuft eine Gänsehaut.

Um sich von der Kälte abzulenken, schaut sie sich in der Toilettenkabine um und liest zerstreut die kunterbunte Graffitisammlung. Neben einer beachtlichen Anzahl von Enthüllungen („Debbie ist ein Hund“, „Kanye Jones liebt deine Mudda“ oder „Sonia mag’s von hinten“, um nur einige zu nennen) finden sich sogar ein paar erstaunlich kreative Kunstwerke (ein Witzbold hat „Fluchtweg“ geschrieben und dazu einen Pfeil gezeichnet, der auf ein Schraubloch mit Dübel zeigt – das Einzige, was von einem Toilettenpapierhalter übrig geblieben ist). In einer Ecke der Kabine, neben einem der rostigen Türscharniere, fällt ihr Blick auf eine kleine Botschaft:

ALex woz eRe

Harri schnappt nach Luft und schließt fest die Augen.

Als Alex Brannan nach Stone Yardley zurückkehrte, wurde Harris Welt plötzlich immens viel größer.

Vivs einziger Sohn war in Harris Kindheit und Jugend eigentlich immer da gewesen, aber sie hatte nie viel mit ihm zu tun; nur selten kreuzten sich ihre Wege. Erst als er nach einer zehnjährigen Weltreise heimkam, entwickelte sich zwischen ihnen eine echte Freundschaft.

Es begann vor drei Jahren mit der Schließung des traditionellen Teehauses von Stone Yardley.

Als die Welcome Tea Rooms schlossen, erklärten viele Einheimische, dies sei ein trauriger Tag für die Stadt, und beklagten den Verlust einer Institution. In Wirklichkeit hatten jedoch die meisten, die die Schließung beklagten, schon seit Jahren keinen Fuß mehr in ebendiese Institution gesetzt. Das lag daran, dass sie alles andere als einladend war. Die Inhaberin, Miss Dulcie Danvers, war ein drahtiges, furchteinflößendes älteres Fräulein, das den Laden von ihrer unverheirateten Tante geerbt hatte. Weder der kochend heiße Tee noch die schwer verdaulichen hausgebackenen Scones, die die Zähne zum Quietschen brachten, konnten gegen die frostige Atmosphäre des Teehauses ankommen. Also bestellte man (in entschuldigendem Tonfall), verzehrte seine Bestellung in unbehaglichem Schweigen und sah zu, dass man so schnell wie möglich wieder rauskam. Schließlich, im Alter von dreiundsiebzig Jahren, gab Miss Danvers sich geschlagen und zog sich in ein Heim für betreutes Wohnen in den Cotswolds zurück.

Etliche Monate lang blieb das ehemalige Café an Stone Yardleys High Street leer stehen, als klaffende Wunde im geschäftigen Stadtzentrum. Aber dann verschwand Ende Oktober das Schild „Zu verkaufen“ aus dem Fenster, und im Laden entfaltete sich neue Aktivität. Passanten stellten fest, dass drinnen Licht brannte und schemenhafte Gestalten bis spät in die Nacht hinein werkelten. Drei Wochen später verkündete ein Plakat an der Tür: „Demnächst geöffnet: Hier entsteht eine neue Coffee Lounge.“

Eine Woche später fragte Viv, ob Harri Lust hätte, zur Eröffnungsfeier des neuen Unternehmens ihres Sohnes zu kommen.

„Du erinnerst dich doch an Alex, oder?“

Harri nickte höflich, obwohl ihre Erinnerungen in Wirklichkeit äußerst vage waren. „Er ist in London, oder?“

Viv zog eine Grimasse. „Nun, das war er, aber breiten wir den Mantel des Schweigens über diese spezielle Episode. Jetzt wohnt er jedenfalls wieder in Stone Yardley und eröffnet sein eigenes Geschäft.“

„Was macht er?“, fragte Harri.

Viv lächelte, wie Eltern, die ihrem Kind beim Krippenspiel zusahen (auch wenn es grauenvoll war). „Er hat die alten Welcome Tea Rooms übernommen. Aber sein Laden wird ganz anders, und ich glaube, er fürchtet, dass niemand kommen wird. Würde es dir etwas ausmachen?“

„Aber nein, überhaupt nicht. Rob ist an diesem Wochenende mal wieder beruflich unterwegs. Also habe ich am Freitagabend Zeit.“

Im selben Moment, in dem Harri das Wātea betrat, fühlte sie sich auch schon wie zu Hause. Alex hatte das düstere Café in eine entspannende, warme und einladende Coffee Lounge verwandelt. Große bequeme Ledersessel standen auf einem Boden aus grünen Schieferplatten, während eine Bar am Fenster – anscheinend aus einem mächtigen Treibholzbalken erbaut – einen großartigen Blick auf die Hauptstraße bot. In Weidenkörben neben den Sesseln steckten Reisebücher und -magazine, an den Wänden hingen Sammelstücke, die Alex von seinen Reisen mitgebracht hatte: Gemälde aus Südamerika, eine afrikanische Maske, Maorifiguren und indianische Decken.

Was Harri jedoch besonders ins Auge fiel und ihren Atem zum Stocken brachte, waren die Fotos: Strände und Regenwälder, Wüsten und Inseln, schneebedeckte Berggipfel und azurblaues Meer. Und der Star jedes Bildes, in verschiedenen, übertrieben dramatischen Posen und immer mit einem gewaltigen Grinsen im Gesicht, war Alex.

Während die anderen Gäste verschiedene Kaffeesorten probierten, von winzigen Cocktail-Quesadillas, würziger Chorizo sowie Olivenspießchen naschten und intensiv gewürzten Gazpacho kosteten, bewegte Harri sich schweigend durch den Raum. Mit den Fingern strich sie leicht über die prächtigen Webstoffe und ethnischen Skulpturen. Dabei schaute sie sich die Fotos an. Gerade betrachtete sie eingehend ein Bild von einer Inkasiedlung, als eine tiefe Stimme hinter ihr sie zusammenzucken ließ.

„Machu Picchu. Dort hat es mir sehr gefallen. Allerdings ist die Höhe atemberaubend im wahrsten Sinne des Wortes. Man muss sich sehr langsam bewegen, sonst kriegt man Probleme.“

Harri fuhr herum. Und sah sich einer von Maori handgeschnitzten Holzperlenkette gegenüber. Als sie ihren Blick hob, entdeckte sie auch deren Träger: den breit grinsenden Star der Fotos. Rasch streckte Alex ihr seine Hand entgegen und strich sich, plötzlich verlegen, mit der anderen Hand durch sein sandbraunes Haar. „Hi. Entschuldige, dass ich dich erschreckt habe. Ich bin Alex.“

Harri lächelte und ergriff seine große, warme Hand. „Hi, ich bin Harri. Dieser Laden ist wirklich erstaunlich …“

„Oooh, wie schön! Ihr habt euch schon getroffen?“, rief Viv und tauchte wie von Zauberhand zwischen ihnen auf. „Al, Liebling, du erinnerst dich doch noch an Harriet Langton, oder?“

Alex’ große braune Augen weiteten sich überrascht. Er trat einen Schritt zurück und musterte Harri von oben bis unten, als könnte er nicht glauben, was er sah. „Nie und nimmer! Pummelchen Harri mit den Zöpfen?“

„Ja!“, gab Viv strahlend zurück. „Das kleine Pummelchen Harriet!“

„Aber … aber als ich sie das letzte Mal gesehen habe, war sie, warte mal, so groß?“ Alex deutete auf etwas über Hüfthöhe.

„Ich weiß!“, meinte Viv. „Sie hat sich ganz schön verändert, hm?“

„Das hat sie allerdings“, gab Alex zurück und musterte Harri so aufmerksam, dass sie spürte, wie ihr eine Hitzewelle im Nacken hochkroch.

Vivs Blick verschleierte sich. „Ihre Mutter wäre so stolz auf sie. So erwachsen, und jetzt steht sie in deiner neuen Coffee Lounge!“

Harri hob eine Hand und wedelte damit schwach vor ihren Gesichtern herum. „Hallo? Ich stehe hier. Und darf ich euch beide daran erinnern, dass man mir diesen blöden Spitznamen verpasst hat, als ich vier Jahre alt war?“

„Oooh, tut mir leid, meine Liebe.“ Damit zog Viv sie in eine herzliche Umarmung, die ihr beinah alle Luft aus den Lungen quetschte. „Al, Harri arbeitet im Reisebüro, nur ein paar Läden weiter. Sie weiß so gut wie alles über, nun ja, so gut wie jeden Ort auf der ganzen Welt. Du solltest sie mal zu dir einladen und ihr all deine seltsamen Mitbringsel von deinen Reisen zeigen. Ach, und natürlich auch deine Fotos! Wäre das nicht eine tolle Idee, Harri?“

Jetzt war es an Alex, peinlich berührt zu reagieren. „Mum …“, wehrte er ab, rieb sich den Nacken und starrte zu Boden. „Ich bin sicher, dass sie gar keine Lust hat, sich den Kram anzusehen …“

„Nein, nein, das würde ich gern. Wirklich. Ich würde mich freuen“, warf Harri hastig ein.

Alex schaute sie mit einer seltsamen Mischung aus Belustigung und ehrlicher Überraschung an. „Im Ernst? Mich hat noch nie jemand gebeten, sich mein Zeug ansehen zu dürfen. Normalerweise langweile ich die Leute damit zu Tode, ob sie wollen oder nicht.“

Harri lächelte. „Glaub mir, ich würde wirklich gern hören, wo du überall warst und was du erlebt hast. Mein Freund sagt, ich sei ein Lehnstuhlreisejunkie. Du hilfst mir also, meine Sucht zu befriedigen.“

Alex’ Augen funkelten, und wieder breitete sich das Grinsen von seinen Fotos auf seinem Gesicht aus. „Nun, in dem Fall helfe ich natürlich gern. Lass uns gleich einen Termin ausmachen.“

Harri erzählte Rob am folgenden Montagabend von Alex und seiner Einladung zum Essen. Am Wochenende waren ihr plötzlich Bedenken gekommen, ob Rob womöglich nicht gerade begeistert über das Interesse dieses mehr oder weniger Fremden an seiner Freundin sein würde, aber ihre Furcht erwies sich als unbegründet.

„Das halte ich für eine tolle Idee“, meinte Rob und lächelte ihr über den Rand der Survival Monthly zu.

„Es stört dich also nicht, dass er mich zum Essen eingeladen hat?“

„Nein, überhaupt nicht.“ Er schüttelte den Kopf, ließ die Zeitschrift sinken und beugte sich vor, um Harri über die Wange zu streichen. „Du hast dir doch hoffentlich deshalb keine Sorgen gemacht?“

„Doch, ein bisschen.“

„Nun, das musst du nicht. Einen Abend in Reiseerinnerungen zu schwelgen klingt so, als wäre es genau dein Ding. Und es wird dir guttun, dich mit jemandem zu unterhalten, der deine Reisebegeisterung teilt. Seien wir doch ehrlich: Was das angeht, bin ich nicht gerade der beste Gesprächspartner, richtig?“ Er zeigte dieses für ihn so typische schiefe Lächeln, das es immer schaffte, ihr Herz zum Schmelzen zu bringen. „Also bekommst du einen Reisethemenabend, und ich muss nicht daran teilnehmen. So gewinnen alle Seiten.“

Ermutigt durch das, was ihr Freund gesagt hatte, begann Harri, sich auf den Abend mit Alex zu freuen. Aber im Laufe der Woche kamen ihr neue Bedenken: Würden sie wirklich genug Gesprächsstoff für einen ganzen Abend finden? Schließlich konnte sie sich kaum noch an Alex erinnern. So wenig, wie sie über ihn wusste, war er im Grunde genommen ein Wildfremder für sie. Außerdem: Wie würde sie sich in der Gesellschaft eines erfahrenen Weltreisenden schlagen, wo doch all ihre Kenntnisse auf den Erlebnissen anderer Leute beruhten? Würde sie sich, verglichen mit ihm, nicht wie eine Hochstaplerin vorkommen?

Diese Frage ging ihr immer noch durch den Kopf, als sie am Donnerstag um die Mittagszeit den Laden ihrer Tante betrat. Eadern Blooms war seit fünfunddreißig Jahren das Blumengeschäft von Stone Yardley, und der Laden hatte sich kein bisschen verändert, abgesehen von einem neuen Schild über der Tür und einem Aufsteller für den Bürgersteig (eine Investition, zu der Harri ihre Tante Rosemary im Jahr zuvor überredet hatte). Die sonnengelben Fußbodenfliesen und die weiß gestrichenen Wände waren schlicht und damit der perfekte Hintergrund, um die Blumen zur Geltung zu bringen. Schließlich waren sie die Stars der Show, jedenfalls in Rosemarys Augen. Als Harri eintrat, grüßte sie Mrs. Gilbert vom Konditor, die gerade mit einem in Papier gewickelten Strauß tiefvioletter Eustoma den Laden verließ.

„Hallo, Harriet! Wie geht’s, wie steht’s?“, fragte Mrs. Gilbert lächelnd.

„Alles bestens“, gab Harri zurück und hielt ihr die Tür auf. „Wie ist Ihre Woche?“

„Irre! Dora hat diese Woche ihren neuen Irish Coffee Cheesecake eingeführt, und man hat uns die Bude eingerannt. So einen Ansturm hat Sugarbuds seit Weihnachten nicht mehr erlebt.“

Tante Rosemary war im Arbeitsraum im hinteren Teil des Ladens, als sich Harri dem Verkaufstresen näherte. Also benutzte sie die Messingglocke, um ihre Tante auf sich aufmerksam zu machen. Das tat sie schon, seit sie ein Kind war. Damals hatte sie das aufregende Gefühl, die Glocke zu läuten, genossen, wenn ihre Eltern sie mit in das Geschäft nahmen. „Kundschaft!“, rief sie, genau wie ihr Dad es immer getan hatte.

Rosemary lugte nervös durch die Tür, die den Arbeits- vom Verkaufsbereich trennte. „Hallo, du. Ich wickle nur eben diesen Strauß ein, dann bin ich gleich bei dir.“

Geistesabwesend drehte Harri an dem Drehständer auf dem Tresen, in dem verschiedene Grußkarten für Blumenarrangements steckten. Die meisten wirkten so alt wie der Laden: verblasste gemalte rosa und gelbe Rosen, Störche, die Babys in einem Tragetuch in ihrem Schnabel trugen, weiße Lilien mit anteilnehmend gesenkten Blüten und ineinandergehakte Hufeisen im Konfettiregen. Harri fragte sich, ob sich wirklich jemals jemand für eine dieser Grußkarten entschied oder ob sie, genau wie die Messingglocke und die sonnengelben Linoleumfliesen, schlicht unersetzliche Kernelemente des Ladens waren.

Fünf Minuten später eilte Tante Rosemary herbei, mit fliegenden silbergrauen Haarsträhnen, die sich aus dem nachlässig zusammengesteckten Knoten an ihrem Hinterkopf gelöst hatten, und einer Rolle Bindedraht, die sie wie ein postmodernes Armband um ihr rechtes Handgelenk trug. „Bin schon da, bin schon da“, rief sie, legte ihre kühlen Hände an Harris Wangen und küsste sie auf die Stirn. „Und du bist auch da. Der Teekessel ist schon aufgesetzt, und ich habe Sandwiches von Lavender’s geholt. Erzähl mir, was es Neues gibt.“

Sie setzten sich auf die Holzstühle hinterm Tresen und aßen ihre knusprigen Sandwiches aus der Bäckerei von Stone Yardley, während Harri ihre Tante über die neuesten Ereignisse informierte.

Als sie äußerte, dass sie Bedenken wegen des Essens mit Alex hatte, zog Tante Rosemary die Stirn kraus und nahm einen großen Schluck Tee.

„Harriet, ich glaube nicht, dass du dir Sorgen machen musst. Ich bin sicher, ihr werdet jede Menge Gesprächsstoff finden.“

„Aber er hat es wirklich getan. Er ist gereist. Ich habe nur davon gelesen. Ich glaube, ich habe einfach nur Angst, dass er mich auslachen wird.“

„Sei nicht albern, Schätzchen. Nach meiner bescheidenen Erfahrung mit Männern kann ich dir sagen, dass sie alle eins ganz besonders mögen: wenn ihnen jemand zuhört. Und wenn die Person, die ihnen zuhört, weniger über eine Sache weiß als sie selbst, umso besser. Ich wage zu vermuten, dass da auch Alex nicht anders ist. Du bist eine fantastische Zuhörerin, und du interessierst dich für all seine Reiseerlebnisse. Was mehr kann er sich von einem Abendessensgast wünschen?“

„Wahrscheinlich hast du recht. Tut mir leid, Tante Ro. Du kennst mich ja. Ich denke immer die nächsten drei Schritte voraus.“

Rosemary lächelte und fegte Krümel von ihrem flauschigen grauen Cardigan. „In der Hinsicht kommst du hundertprozentig nach deiner Mutter. Sie war die geborene Organisatorin – genau wie du. Sich im Voraus über alles Mögliche Sorgen zu machen gehört vermutlich einfach dazu.“

„Du glaubst also, ich brauche mir keine Gedanken zu machen? Alles wird gut gehen?“

Ihre Tante stand auf und zerzauste ihr liebevoll das Haar. „Ich glaube, du wirst eine Menge Spaß haben.“

Am Ende war es Stella – auf klassische Stella-Smith-Weise –, die ihre Ängste zerstreute, indem sie die Situation in wenigen Worten zusammenfasste: „Er scheint ein netter Kerl zu sein, du kriegst was zu essen und eine Überdosis Reisegeschichten. Das ist ein Selbstgänger. Hör auf, dir Sorgen zu machen. Geh einfach hin.“

Also kam Harri in der nächsten Woche zum Essen ins Wātea. Alex war gerade dabei, den Laden nach Geschäftsschluss aufzuräumen, und sah ziemlich fertig aus. Sie wartete, während er die Beleuchtung ausschaltete und überprüfte, ob alles für den nächsten Morgen vorbereitet war.

„Anstrengender Tag?“, fragte sie, als er zu ihr an den Tresen trat.

Alex rieb sich die Stirn. „Ja. Es ist einfach irrwitzig, schon seit dem Eröffnungstag. Und ich habe mir Sorgen gemacht, dass die Kundschaft ausbleiben würde, weil alles so anders ist als im alten Café.“

Harri lachte. „Hast du das alte Café jemals besucht?“ Alex schüttelte den Kopf. „Dann weißt du nicht, was du verpasst hast! Ich meine, sieh dich hier doch mal um. Der Laden ist viel zu einladend. Du solltest jedem Furcht und Schrecken einjagen, der es wagt, seinen Fuß ins Café zu setzen! Und dann diese Sofas! Viel zu bequem! Was versuchst du hier zu erreichen? Willst du etwa, dass die Leute sich gern hier aufhalten?“

„Du liebe Güte, war es wirklich so schlimm?“

„Oh ja. Glaub mir, Stone Yardley hat dieses Café dringend gebraucht.“

„Danke.“

„Bitte sehr.“

Sie lächelten einander an.

Dann schob Alex verlegen seine Hände in die Hosentaschen. „Also – wenn du mir folgen möchtest, mache ich uns was zu essen.“

In seiner Wohnung über der Coffee Lounge bereitete Alex Singapur-Nudeln zu. Harri sah sich um und betrachtete die Fotos, die an den Wänden hingen. Nach dem Essen ließ sie sich im Schneidersitz auf dem Fußboden nieder, wärmte ihre Hände an einem Becher dampfendem Jasmintee und versuchte, ihre Aufregung zu zügeln, wie ein Kind kurz vor der Weihnachtsbescherung, während Alex jede Menge Schachteln voller Schätze anschleppte. Postkarten, Stoffe, Skulpturen, Muschelschalen, Schneckenhäuser und unzählige Fotoalben kramte er hervor und verteilte sie auf dem Fußboden. Dabei erzählte er von seinen Reisen, und Harri hörte mit großen Augen zu. Die Bilder, die vor ihrem inneren Auge aufstiegen und sie ganz schwindelig machten, waren fast unerträglich schön.

„Diese Muschel habe ich von Phillip Island, Australien. Du solltest die Pinguine dort sehen, Harri. Am Strand mitten unter ihnen – der reinste Wahnsinn! … Ein alter Priester in Weißrussland hat mir diese Ikone geschenkt. Er meinte, sie würde mich auf meiner Reise beschützen. Dann betete er für den Bus, in dem wir unterwegs waren. Allerdings musste er dafür ein Segensgebet für Pferd und Wagen verwenden, weil es das einzige in seinem Gebetbuch war, das auf eine Reise passte.“

Harri griff nach einem Foto, auf dem Alex neben einem Maori stand, der etwa zwanzig Zentimeter größer und fast doppelt so breit war wie er und so breit lächelte, dass daneben selbst Alex’ Grinsen verblasste. Der lächelnde Maori hatte ihm einen Arm um die Schultern gelegt, und sie sahen beide so aus, als hätten sie gerade einen urkomischen Witz gehört.

„Wer ist das?“, fragte sie und hielt Alex das Foto hin.

„Oh, wow, das ist Tem – ein ganz toller Kerl, den ich auf der Südinsel von Neuseeland kennengelernt habe. Ihm gehört die Bar im Ort, und er hat mir für drei Wochen einen Job gegeben, als ich knapp bei Kasse war. Außerdem hat er mir ein bisschen Maori beigebracht. Daher kommt übrigens der Name der Coffee Lounge. Wātea bedeutet ‚offen sein‘, ‚frei sein‘. Er meinte, ich sei ein freier Geist und müsse unbedingt so bleiben, wohin es mich auch verschlägt. Ich habe sehr viel von ihm gelernt.“

Harri ließ den Blick über die Sammlung von Erinnerungsstücken schweifen, die vor ihr ausgebreitet lag, und schüttelte den Kopf. „Al, diese Sachen sind einfach unglaublich. Warum stellst du sie nicht alle aus?“

Alex zuckte die Achseln. „Ehrlich gesagt, weil niemand sie ansehen wollte. Ich meine, bevor ich dich getroffen habe.“

„Das ist verrückt. Diese Sachen sind …“ Einen Moment suchte sie vergeblich nach den richtigen Worten, weil alle Superlative, die ihr einfielen, plötzlich so unzureichend wirkten. „Ich finde das hier wunderbar, Alex. Du ahnst ja nicht, wie glücklich du dich schätzen kannst, all diese Erinnerungen zu haben.“

Alex lächelte, und in seinen dunkelbraunen Augen spiegelte sich das Licht der Kerzen auf dem Couchtisch. „Ich glaube, wir werden gute Freunde werden, du und ich“, sagte er. „Seelenverwandte Reisende, das sind wir.“

Harri war sich nicht sicher, was ein seelenverwandter Reisender war, aber sie freute sich dennoch, so genannt zu werden. Das, so sollte sie feststellen, zählte zu den Dingen, die Alex von den anderen Bewohnern Stone Yardleys unterschieden: Er verfügte über Wörter für seine Welt, die weit über den Horizont aller anderen hinausging. Durch seine Augen sah Harri die Welt um sich herum in einem neuen, insgesamt ansprechenderen Licht. Alex war der Träumer schlechthin – ein hoffnungsloser Optimist in Bezug auf alles, was er sah. Selbst die alltäglichsten Dinge wurden zu einer magischen Entdeckungsreise, wenn er dabei war – wie zum Beispiel, als er den simplen Akt, den Fußboden zu wischen, in ein Curling-Spiel verwandelte: Zwei Zinkeimer fungierten als Curlingsteine, und die Feudel übernahmen die Rolle der Besen. Zwar war seine unrealistische Lebensauffassung schuld an vielen Problemen in seinem Liebesleben, und oft wurde ihm deshalb das Herz gebrochen, aber zumindest war das Leben niemals langweilig, solange Alex dabei war.

Im Laufe des nächsten Jahres entwickelte sich ihre Freundschaft mit jedem gemeinsamen Essen am Mittwochabend weiter. Alex kochte nach Rezepten, die er auf seiner zehnjährigen Weltreise zusammengetragen hatte, und Harri lauschte seinen Geschichten, während Gewürze, Fleisch, Fisch und Obst die Wohnung über der Coffee Lounge mit verlockenden Düften erfüllten.

„Pad Thai“, verkündete er eines Abends, als Harri der Duft nach würzigem Zimt, Chili und Piment in die Nase stieg. „Das kochen sie überall in Thailand. An fast jeder Straßenecke findet man kleine Stände, an denen man das bekommen kann. Das Rezept habe ich von Kito, einer Japanerin, die zwanzig Jahre zuvor nach Phuket gezogen war, als sie einen Einheimischen heiratete. Ihr gehörte die Herberge, in der ich untergekommen war. Ihre thailändische Schwiegermutter hatte darauf bestanden, dass Kito lernen müsse, dieses Essen zuzubereiten, bevor sie ihren Sohn heiraten dürfe. ‚Damit ich weiß, dass mein Sohn nicht verhungern muss‘, lautete ihre Begründung. Und von da an brachte Kito regelmäßig Pad Thai auf den Tisch.“

Treffen mit Alex waren so erfrischend wie die Bergluft von Wales. Sein Sinn für Humor, seine ironische Sicht der Welt um ihn herum und sein intensives Interesse an anderen Menschen machten ihn zu einem unwiderstehlichen Gesellschafter.

Aus Wochen wurden Monate, und Harri bemerkte, dass sie sich ihm immer mehr öffnete – sogar mehr, als sie sich Stella, Viv und selbst Tante Rosemary geöffnet hatte. Im Gegenzug gewann Alex immer mehr Vertrauen zu Harri, was schließlich eines Dienstagabends zum Thema seines nicht gar so tollen Liebeslebens führte. Gerade als sie schlafen gehen wollte, bekam sie eine SMS.

Hey H, bist du noch wach? Können wir reden? Al ;)

Harri hätte die Textnachricht fast ignoriert, weil das warme Bett und ihr Lieblingsbuch über Venedig gar zu sehr lockten. Aber Alex hatte sie noch nie so spät angemorst, und das allein reichte schon, um ihn anzurufen.

Als er sich meldete, klang er müde, und jeder Funken Leben in seiner Stimme schien erloschen. „Hey, Partner. Tut mir leid, dass ich so spät noch störe.“

„Alles in Ordnung, Al?“

Ein langer Seufzer. „Mir geht es gut, echt. Ich habe mich nur gerade zum letzten Mal mit Claudia getroffen. Du weißt schon, die Buchhalterin, mit der ich seit ein paar Wochen gehe?“

„Oh nein. Was ist passiert?“

„Mann, ich weiß es nicht. Sie ist einfach nicht die Frau, für die ich sie gehalten habe. Es hat sich rausgestellt, dass sie sich nur aus einem Grund mit mir verabredet hat: Sie wollte ihren Ex eifersüchtig machen.“

„Ah.“

„Und offensichtlich ist ihr Plan aufgegangen. Deshalb war das unser letztes Treffen. Danach musste ich einfach mal mit einem normalen Menschen reden, verstehst du?“

Harri lachte. „Lass mich raten: Der normale Mensch ist nicht ans Telefon gegangen. Deshalb musstest du mich anrufen?“

„Ja, so was in der Art. Nein, ehrlich gesagt schätze ich deine Meinung sehr.“

Dieses unerwartete Kompliment brachte sie ziemlich aus dem Konzept. Harri brauchte ein paar Sekunden, bevor sie antworten konnte. „Oh … verstehe. Äh. Danke, Al.“

Nachdem auf diese Weise das Eis gebrochen war, begannen Diskussionen über Alex’ Liebesleben ihre Mittwochabendtreffen zu würzen. Harri machte das nicht wirklich etwas aus. Angesichts der Lehnstuhlabenteuer rund um den Globus, die ihr zum Ausgleich geboten wurden, nahm sie das gern in Kauf.

Etwa um dieselbe Zeit wagte Alex den mutigen Schritt und schnitt das dornige Thema an, dass Harri selbst nie verreiste.

„Okay“, sagte er eines Mittwochabends, als er ihr die Schüssel mit dem würzigen, rauchigen ungarischen Gulasch reichte. „Stell dir vor, ich würde dir jetzt ein Flugticket schenken, mit dem du irgendwohin fliegen könntest.“

Harri riss ein Stück von dem noch ofenwarmen Walnussbrot ab und tunkte es in die Paprikasauce. „Dann wärst du Millionär, und ich bezweifle, dass wir dann in einer winzigen Bude über einem Café zu Abend essen würden.“

Alex schnitt eine Grimasse. „Jetzt mal im Ernst, H, denk nach: Wenn du jetzt einfach eine Reisetasche packen und verreisen könntest, wohin du willst, wohin würdest du reisen?“

„Hm, das kommt drauf an.“

„Worauf? Komm schon, H, du musst keine komplette Reiseplanung aufstellen, bevor du abreist. Wir tun nur so, als ob. In Ordnung?“

Harri tunkte ihren Löffel in das Gulasch, hob ihn an die Lippen und pustete darauf, um es abzukühlen. Sie fühlte sich in die Enge getrieben. „Al, ich weiß nicht, wie ich einfach so ein Ziel aussuchen soll. So funktioniert das nicht.“

„Doch, das tut es, Harri! Ich rede davon, dass du zum Flughafen fährst – Geld spielt keine Rolle – und dir irgendein Ziel auf der weiten Welt aussuchst. Einfach so.“

Harri ließ den Löffel auf den Tisch fallen. „Schau mal, für dich ist das so leicht. Einfach die Koffer packen und abreisen, ohne dass du darüber nachdenken musst, wen oder was du zurücklässt. Weißt du, ich trage Verantwortung: meinen Job, meinen Kater, Rob …“

Alex hob abwehrend beide Hände. „Hoppla, Harri, meine gute Freundin, wir reden hier von Fantasie, nicht von der Realität.“ Er musterte sie aufmerksam. „Na schön, ich sehe, dass du so etwas einfach nicht kannst. Pass auf, ich helfe dir. Lass uns für den Anfang ein Ziel wählen, das nicht allzu weit entfernt ist, wie … zum Beispiel Italien.“ Harri spürte, wie ihr Herz einen kleinen Hüpfer machte, und ihr Gesichtsausdruck musste sie verraten haben, denn Alex’ Lächeln wurde breiter. „Ah, gut, also Italien. Wie wäre es mit Rom?“

„Vielleicht …“

„Florenz?“

„Ich würde mir lieber erst Rom ansehen, dann Florenz.“

Alex klatschte in die Hände, sichtlich begeistert von ihrem neuen Spiel. „Okay, gut. Jetzt kommen wir der Sache langsam näher. Mailand?“

Harri dachte nach. „Lieber erst Rom, dann Florenz und dann Mailand.“

„Ausgezeichnet.“ Er trommelte mit den Fingern auf dem Tisch. „Also müssen wir jetzt ein Ziel finden, das Rom vom Spitzenplatz verdrängt.“ Er verdrehte die Augen, riss sie dann weit auf und schnippte mit den Fingern. „Aha, ich hab’s! Venedig.“

Harri zuckte zurück. „Nein. Nicht Venedig.“

Überrascht ließ Alex sich auf seinem Stuhl zurücksinken. „Oh? Warum nicht?“

Sie wollte sich wirklich nicht auf eine Diskussion darüber einlassen, zumal Alex nichts von ihrer heimlichen Sehnsucht, die Stadt zu besuchen, wusste. „Will ich nicht, das ist alles.“

„Aber es soll dort sehr schön sein, H.“

„Ich weiß, aber …“

Seine Augen wurden schmal. „Was hat Venedig dir getan, hm?“

Sie rutschte unbehaglich auf ihrem Stuhl herum. „Nichts. Das wird mir jetzt zu dumm. Können wir bitte das Thema wechseln?“

Doch sie protestierte vergeblich. Alex spürte, dass etwas hinter ihrer Weigerung steckte, und war nicht bereit, klein beizugeben. „Nee, nee, ich will wissen, warum nicht Venedig. Lass mich raten: Du magst Kanäle nicht?“

„Nein.“

„Findest du es zu touristisch?“

„Natürlich nicht.“

„Du hast eine irrationale Angst vor Gondolieri?“

Darüber musste Harri lachen. „Du bist unmöglich.“

Alex lächelte frech und nahm einen Löffel Gulasch. „Jetzt sag schon: Warum nicht Venedig?“

Es hatte keinen Sinn, mit ihm zu diskutieren, wenn er in so einer Stimmung war. Also holte Harri tief Luft und sagte die Wahrheit: „Weil ich nicht allein dorthin reisen möchte.“

„Dann bitte Rob, mit dir dorthin zu reisen.“

Das wies sie von sich. „Al, es würde ihm keinen Spaß machen. Das weißt du doch.“

Er beugte sich vor. „Also, du möchtest nach Venedig?“

„Natürlich möchte ich das! Ich habe so viele Bücher über die Stadt, dass ich wahrscheinlich selbst einen Reiseführer schreiben könnte, ohne je einen Fuß hineingesetzt zu haben.“

Er beugte sich noch weiter vor. „Tatsächlich? Was würdest du dir also zuerst ansehen, wenn du dort ankommst?“

Ihr stockte das Herz. Sie schloss die Augen und war plötzlich mitten in der Stadt, die sie so sehr liebte. „Die Kirche Santa Maria della Salute. Den Dorsoduro, wo die Maskenbauer ihre Läden haben“, hauchte sie. „Ach, einfach alles. Ich würde einfach aus dem Vaporetto auf die Fondamenta treten und in irgendeine Richtung gehen, damit ich mich verlaufen kann – und dann meinen Spaß dabei haben, den Weg zurückzufinden.“

„Du liebes bisschen, du hast das wirklich geplant, oder? Also das verstehe ich immer noch nicht: Wenn du diesen Ort so liebst, warum willst du nicht als Erstes dorthin reisen?“

Harri seufzte. „Es ist einfach so: Wenn ich, wie du sagst, irgendwohin reisen und alle meine Verpflichtungen hinter mir lassen würde, dann würde das auch bedeuten, dass ich allein reise. Richtig?“

Seine Miene verdüsterte sich. „Äh, ja, aber …“

Sie starrte ihn an. „Warum sollte ich also eine der romantischsten Städte der Welt allein besuchen wollen? Venedig sollte ein Ort sein, an den man entführt wird. Von einem Menschen, der einen liebt.“

„Verstehe. Und wenn der Mensch, den du liebst, nicht mit dir dorthin will?“

Entmutigt zuckte sie mit den Schultern. „Können wir jetzt bitte das Thema wechseln?“

Alex fügte sich, aber als er sie beim Essen beobachtete, lag Traurigkeit in seinen Augen.

Zwei Jahre nach ihrem ersten Mittwochabend – und unzählige stürmische Liebschaften, bittere Trennungen und mitternächtliches Herzausschütten später – kannte sich Harri mit Alex Brannans Achterbahnfahrt durchs Leben bestens aus.

Eine Woche nach der tollen Idee seiner Mutter wurde sie jäh aus dem Schlaf gerissen, weil anscheinend eine Herde Büffel ihre Haustür einrannte. Sie versuchte, klar zu sehen, griff nach ihrem Wecker und hielt ihn sich dicht vor die Augen, bis die tanzenden roten Zahlen endlich einen Sinn ergaben: 02.47 Uhr.

Sie fluchte wütend vor sich hin, schaltete die Nachttischlampe an (dabei wurde sie heftig geblendet), kämpfte sich unter der Bettdecke hervor und stolperte die Treppe hinunter, dem unablässigen Hämmern an der Haustür entgegen.

„Okay, okay, ich bin ja schon da“, murrte sie, während sie an der Sicherheitskette herumzerrte und schließlich die Tür aufriss. „Was willst du?“

Der Anblick der durchnässten, bedauernswerten Gestalt auf ihrer Türschwelle ließ ihren Zorn augenblicklich verrauchen. Dabei wurde strömender Regen in den Flur geweht und peitschte ihr um die Beine. „Alex? Um Himmels willen, es ist drei Uhr morgens!“

„Es tut mir leid. Ich … ich wusste einfach nicht, wohin sonst …“

„Egal. Komm rein.“

Harri drehte sich um und ging voran durch ihr winziges Wohnzimmer, schaltete dabei die Lampen ein und fluchte, als sie im Dämmerlicht über einen Bücherstapel stolperte und sich einen Zeh anstieß. Al folgte ihr. Seine tropfnasse Kleidung hinterließ eine Spur von schmutzigem Wasser auf dem Boden. Als die Küchenbeleuchtung anging, zuckte sie zusammen. Harri füllte den Wasserkessel, kramte unter ziemlichem Getöse zwei Becher aus dem Hängeschrank und gab aufs Geratewohl mehrere Teelöffel Instantkaffee in jeden Becher. Dann seufzte sie und rieb sich ungeschickt die Augen, um den Schlaf zu vertreiben. Einen Moment lang waren in der Küche nur das tiefe Summen der Leuchtstoffröhre und das Zischen des Wasserkessels zu hören. Dann sprach Alex von der Tür aus.

„Kollegin, es tut mir leid.“

„Al – hör mal, es ist schon in Ordnung, aber – aber gib mir erst mal eine Minute, damit ich wach werde, okay?“

Er schniefte, schlurfte tropfend zum Waschbecken hinüber und wrang dort einen Ärmel seines Sweaters aus. Bei diesem erbarmungswürdigen Anblick musste Harri lachen. Und dann lachte auch Alex und schüttelte den Kopf, während ihm Regentropfen aus den Haaren über die Stirn liefen und zu Boden fielen.

„Loser“, spottete sie und warf ihm ein Geschirrtuch zu.

„Danke“, gab er grinsend zurück, fing das Tuch auf und rieb sich die Haare damit.

Als der Kaffee fertig war, gingen sie ins Wohnzimmer. Harri trieb ein altes T-Shirt von Rob auf (etliche Nummern zu klein für Alex) und breitete ein Handtuch auf dem Sofa aus, damit Alex sich setzen konnte. Unter Protest zog der Sweater und T-Shirt aus, damit sie beides in den Trockner werfen konnte, streifte sich die Socken ab, um sie über den Heizkörper zu hängen, und rollte die Beine seiner Jeans hoch, bevor er das zu kleine T-Shirt anzog.

„Ich sehe aus wie ein Tänzer in einem Elton-John-Video“, jammerte er und ließ sich aufs Sofa fallen. „Mein Liebesleben nimmt gerade eine traumatische Wendung, und du setzt noch einen drauf, indem du mir so was zum Anziehen gibst.“

„Betrachte das als gerechte Strafe dafür, dass du mich um diese gottlose Zeit geweckt hast.“

„Na schön.“

Harri nippte an ihrem Kaffee. „Also, was ist passiert?“

Seine Miene verdüsterte sich, und er starrte auf seine nackten Füße hinab. „Ellie.“

„Wer?“

„Du kennst sie nicht. Sie arbeitet für eins dieser Internetbewertungsportale und schreibt Restaurantkritiken.“

Harri starrte ihn verständnislos an. „Aha …“

Alex rubbelte mit dem Geschirrtuch an seinen Haaren herum und mied Harris Blick. „Sie wollte über das Wātea schreiben – du weißt schon, einen Artikel darüber verfassen. Ich war einverstanden. Wir haben uns in den letzten zwei Wochen etliche Male getroffen, und es war … umwerfend. Wenn man mit jemandem gleich auf so vielen Ebenen auf gleicher Wellenlänge ist, verstehst du?“

„Hm.“

„Harri, bitte mach mit. Ich versuche zu erklären.“

„Al, es grenzt an ein Wunder, dass ich um diese Zeit wach bin. Erwarte keine emotionale Empathie von mir, bevor die Vögel erwachen.“

„Verstanden. Na, jedenfalls hat sie mich letzten Donnerstag besucht, und wir haben zusammen gegessen. Dann hat sie mir erzählt, dass die Sache mit dem Interview nur vorgetäuscht war. Ein Trick, um mir näherzukommen. Sie sagt, sie beobachte mich schon ewig und wolle einfach nur mit mir zusammen sein.“

Harri schüttelte den Kopf. „Oh, Al …“

„Im Ernst, was hätte ich denn tun sollen? Ich meine, hier steht diese – diese umwerfend schöne Frau vor mir und erklärt mir ihre Liebe … Na ja, jedenfalls führte eins zum anderen und – lass dir das gesagt sein – der Sex war …“

„Danke, das reicht mir.“

Alex’ Grinsen war der personifizierte Schalk. „Tut mir leid, Kollegin. Aber jedenfalls verdammt gut.“

„Und was ist schiefgelaufen?“

Erneut verfinsterte sich seine Miene, und er senkte den Blick zu Boden. „Gestern Abend rief sie mich an und sagte, wir könnten uns nicht mehr treffen. Einfach so. Dabei waren wir die ganze Woche jede Nacht zusammen, und ich hatte nicht bemerkt, dass es Probleme gegeben hätte. Jede Nacht, in meinem Bett. Und dann …“

In einem heroischen Versuch, das unerwünschte Bild, das sich vor ihrem inneren Auge auftat, auszulöschen, beugte Harri sich vor und drückte ihm den Arm. „Ich schätze, du bist zu ihr gegangen.“

Er nickte. „Ich musste einfach. Ich meine, ich musste einfach wissen, was los war. Ich kam bei ihr zu Hause an. Unten brannte Licht, also bin ich zur Tür gegangen. Aber gerade als ich sie erreicht habe, habe ich sie durchs Fenster gesehen. Sie und irgendeinen Typen …“ Er brach ab, strich sich mit der Hand durchs feuchte Haar und starrte an die Decke.

„Oh, Al …“

„Es würde mir weniger ausmachen, wenn sie einfach ehrlich gewesen wäre, weißt du? Wenn sie einfach nur den alten Spruch ‚Hat großen Spaß gemacht, aber das war’s jetzt‘ abgelassen hätte. Aber das, was sie mir gesagt hatte – erst vor wenigen Tagen –, dass ich der eine wäre, nach dem sie gesucht hätte, über all die Orte, die wir gemeinsam bereisen könnten … Warum sagt sie so was, wenn sie gar nicht die Absicht hat, es zu verwirklichen?“

„Mein Lieber, manche Leute sagen einfach bestimmte Dinge, um zu kriegen, was sie wollen.“

„Ja, ich weiß. Aber ich dachte, sie wäre anders.“

„Was sie offensichtlich nicht ist.“

Alex hob den Kopf und schaute Harri direkt in die Augen.

„Es ist immer dasselbe Spiel. Warum kann ich nicht einfach die Richtige finden?“

Beim Anblick ihres Freundes, der so unter Liebeskummer litt, dankte Harri ihrem Schicksal, dass sie so glücklich mit Rob war. Als sie sich kennenlernten, war sie gar nicht unbedingt auf der Suche gewesen. Genau genommen hatte es sie sogar überrascht, dass sie sich in ihn verliebte. Wie viel besser war es doch, wenn es so lief, als wenn man einer ständigen Achterbahnfahrt zwischen Hoffnung und Enttäuschung ausgesetzt war! Zu wissen, dass Rob sie liebte, und die Wärme zu spüren, die sein völliges Vertrauen in sie ihr vermittelte, war wunderbar. Um nichts auf der Welt hätte sie mit Alex tauschen mögen.

„Verbuch es als nützliche Erfahrung und sei beim nächsten Mal vorsichtiger“, meinte sie lächelnd. Und als seine Miene sich wieder jämmerlich verzog, nahm sie ihn tröstend in die Arme.

„Ich kann einfach nicht mehr so weitermachen“, klagte er an ihrer Schulter. „Hilf mir, Harri. Bitte hilf mir, jemanden zu finden. Ich habe keine Lust mehr, nach einer zu suchen. Es ist offiziell: Darin bin ich ein Totalversager. Und ich brauche Hilfe.“

Funkelnd wie eine Neonreklame in Las Vegas trat Harri Vivs tolle Idee vor Augen. Sie wusste, dass sie das, was sie als Nächstes sagte, bereuen würde, aber sie konnte nicht zulassen, dass Alex so etwas noch einmal durchmachte. Also drückte sie ihm die Schultern und sagte: „Okay, Al. Ich werde dir helfen.“

4. KAPITEL

Recycle deinen Mann

Harri kann nicht logisch denken: In ihrem erschöpften Verstand schreien zu viele Stimmen nach Aufmerksamkeit. Ihr Blick fällt auf ihre Schuhe. Sie sind neu, wahrscheinlich zu teuer für sie und wurden extra für diesen Abend gekauft – obwohl sie bis zum letzten Moment geschwankt hatte, ob sie überhaupt zu der Feier gehen sollte. Wunderschön sind sie. Sie sollten ihr das Gefühl geben, etwas Besonderes zu sein. Das funktioniert auch. Beziehungsweise hat zumindest bis vor einer Stunde funktioniert. Sechzig Steine für ein Paar dunkelrote, hochhackige Schuhe, mehr, als sie je zuvor für Schuhe ausgegeben hat. Wie sich die Zeiten doch ändern …

„Dieser Fotograf, auf den du so stehst, hat endlich sein neues Buch rausgebracht“, meinte Rob an einem Samstagmorgen, während sie die Bücherregale in Bennetts Antiquariat in Innersley durchstöberten. Der Marktflecken lag etwa fünf Meilen von Stone Yardley entfernt, und Rob und Harri hatten die meisten Wochenenden ihrer Beziehung hier verbracht: ein Bummel über den Bauernmarkt, ein Kaffee im Harlequin Café, Stippvisiten in den verschiedenen Antiquitätenläden entlang der Hauptstraße. Aber seit Rob im letzten Jahr zum Verkaufsleiter der Hydraulikfirma befördert worden war, in der er seinen Job hatte, arbeitete er an den meisten Wochenenden auswärts. Die heutige Gelegenheit, durch Innersley zu bummeln, war also zu einer bemerkenswerten Ausnahme geworden.

„Ich weiß, aber es kostet vierzig Pfund“, sagte Harri seufzend. „So viel Geld für ein Buch auszugeben, das geht einfach nicht. Selbst wenn es von Dan Beagle stammt.“

Rob legte ihr seinen Arm um die Schultern. „Ich weiß, im Moment ist es hart. Aber wenn ich den Preston-Job gut mache, wird alles gleich viel besser aussehen.“

Harri schlang ihren Arm um seine Hüfte und lehnte ihren Kopf an seine Schulter. „Meinst du, wir können genug Kleingeld zusammenkratzen, um einen Kaffee zu trinken?“

Rob küsste sie auf den Scheitel. „Ich glaube, das kriegen wir gerade noch hin. Besetze schon mal einen Tisch, ich bestelle uns den Kaffee.“

Harri ging an die Seitenwand des Bücherladens hinüber, an der sich ein paar kleine Tische zwischen den Regalen drängten. Sie wählte einen in der Nähe des großen Fensters mit Blick auf Innersleys Sheep Street und setzte sich. Das Antiquariat hatte seinen ganz eigenen Geruch – nach Staub, altem Leder, Druckerschwärze und Kaffee –, und ganz gleich, wie oft sie es besuchte, es überwältigte sie immer wieder. Sie beobachtete, wie der Staub in den Sonnenstrahlen tanzte und flirrte, die durchs Fenster hereinfielen, und überließ sich ganz dem Augenblick. Solche Tage liebte sie am meisten – nur sie und Rob, die gemeinsam ein paar ruhige Stunden miteinander vertrödelten.

Als hätte er ihre Gedanken gelesen, tauchte Rob wieder auf. Ein Tablett in den Händen, schob er sich durch die Sonnenstrahlen auf sie zu.

„Nigel hatte Mitleid mit uns“, meinte er grinsend und setzte sich. „Er hat gesagt, er braucht Hilfe beim Vernichten dieser Muffins. Also habe ich ihm unsere Dienste angeboten.“

„Großartig. Der gute alte Nigel.“ Während Harri einen ersten Bissen von einem Erdbeer-Muffin mit weißer Schokolade nahm, schob Rob ihr eine grün-weiß gestreifte Papiertüte zu.

„Und das ist für dich.“

Überrascht starrte Harri darauf. „Du hast doch nicht schon wieder Geld für mich ausgegeben, oder?“

Robs Augen funkelten spitzbübisch. „Vielleicht. Mach’s auf und sieh nach.“

Harri griff in die Tüte und schnappte nach Luft. „Dans Buch! Aber – Liebling, das kostet so viel Geld. Das kannst du dir doch gar nicht leisten.“

„Doch, kann ich. Du schwärmst schon seit Monaten von diesem Buch, also sollst du es haben. Keine Widerrede, verstanden? Wenn Tierney, Gratton und Parr schon von mir verlangen, dass ich rund um die Uhr arbeite, um ihren kostbaren Vertrag in Preston unter Dach und Fach zu bringen, dann ist es meiner Meinung nach das Mindeste, dass ich ein bisschen zu deiner Reisebuch-Sammlung beitrage.“

Harri drückte das Buch an ihre Brust. „Vielen, vielen, vielen Dank!“

„Ah, hier seid ihr ja!“, ließ sich eine tiefe Stimme vernehmen, und Nigel Bennett, der Eigentümer des Antiquariats, trat an ihren Tisch. Obwohl er schon seit vielen Jahren nicht mehr zur Royal Shakespeare Company gehörte, beeindruckte er immer noch durch seine Bühnensprache: Jedes Wort war korrekt artikuliert, jedes R wurde gerollt. „Unser im Antiquariat semiansässiges junges Liebespaar! Schön, euch beide mal wieder zu sehen. Lucien und ich dachten schon fast, ihr wärt verschollen.“ Damit beugte er sich vor und tätschelte liebevoll den rehäugigen, schokoladenbraunen Labrador an seiner Seite. „Harriet, sollen wir den jungen Robert hier einkerkern, um ihn aus den Klauen von Preston zu befreien?“

Harri lächelte. „Vielleicht sollten wir das wirklich. Danke für die Muffins – sie schmecken fantastisch.“

Nigel errötete vor Stolz und verneigte sich schwungvoll. „Es ist mir ein Vergnügen, liebe Dame. Und jetzt lasse ich euch Turteltäubchen allein, damit ihr euren Samstag genießen könnt. Adieu!“

Rob sah ihm nach. „Man muss Nigel einfach mögen.“

„Oh ja. Aber es ist wirklich schön, dich das ganze Wochenende für mich zu haben“, gab Harri zu.

„Ja, finde ich auch. Hey, du weißt aber hoffentlich, dass ich nicht gern rund um die Uhr arbeite.“

„Das weiß ich.“

„Aber ich tue das für uns, Rotschopf. Ganz ehrlich. Wenn ich den Preston-Vertrag an Land ziehe, dann heißt das, wir können anfangen, uns Gedanken über – du weißt schon – die Zukunft und so zu machen.“

Der Staub tanzte und flirrte in den Sonnenstrahlen, als Harri sich an ihren Freund kuschelte. Nach Tagen wie diesen sehnte sie sich. Tage, an denen alles möglich war und sie zusammen waren. Wenn Robs Firma ihm doch nur mehr freie Wochenenden ließe …

In den letzten Monaten hatte Rob immer häufiger Bemerkungen bezüglich der „Zukunft“ gemacht. Das beflügelte Harris Hoffnungen, dass er allmählich ernstlich darüber nachdachte, ihre Beziehung amtlich zu besiegeln. Dass sie zusammenziehen könnten, hatte er schon mehrfach erwähnt, aber das war es nicht, was Harri wollte. Sie wollte heiraten.

Um der Wahrheit die Ehre zu geben, trug zwar Harris regelmäßiger Gottesdienstbesuch in der Gemeindekirche von Stone Yardley zu dieser Entscheidung bei. Der Hauptgrund für ihren Widerstand dagegen, zusammenzuziehen, war jedoch, dass sie einen Heiratsantrag bekommen wollte. So altmodisch das auch sein mochte: Harri hegte die Hoffnung, dass Rob sie wirklich würde heiraten wollen. Und obwohl sie nun schon seit sieben Jahren zusammen waren, ohne dass etwas Einschneidendes passiert war, hielt sie an dieser Hoffnung fest. Schließlich liebte Rob sie, und er arbeitete hart, um ihre Zukunft zu sichern. Es war also nur eine Frage der Zeit, dass er ihr einen Antrag machte. Oder etwa nicht?

Als Harri ihm zum ersten Mal begegnete – bei einem Wohltätigkeitsfußballspiel, das Merv, Vivs Hin-und-Wieder-Freund, organisiert hatte –, hatte sie sich Hals über Kopf in Rob verliebt. Und so, wie es aussah, beruhte dieses Gefühl auf Gegenseitigkeit.

Rob war von seinem Chef dazu überredet worden, der Fußballmannschaft beizutreten, und er hatte sich dafür entschieden, weil er auf eine Beförderung hoffte. Dass er sich auf dem Spielfeld sehr gut schlug und drei geradezu lehrbuchwürdige Tore gegen eine Mannschaft schmächtiger Rechtsanwälte aus mehreren lokalen Rechtsanwaltskanzleien erzielte, war seinen Chancen nicht gerade hinderlich. Da er ein athletisch gebauter, schneller Läufer war, war es für ihn kein Problem, die gegnerische Abwehr auszuschalten, und Harri konnte den Blick nicht von ihm wenden. Er war vollkommen: mit seinem kastanienbraunen Haar, den haselnussbraunen Augen, dem leicht oliv getönten Teint und einem Lächeln, das Schokolade zum Schmelzen brachte – alles in allem eine Killerkombination. Harri dachte unwillkürlich, dass er aussah wie Frank Lampard – der Mann, der der Grund dafür war, dass sie sich im Fernsehen immer wieder Fußballspiele ansah, obwohl sie eigentlich kein Interesse am Spielablauf hatte. Als Merv ihn herüberrief, um ihn Harri vorzustellen, sah Rob Southwood sie an, als stünde er der Geburtstagsüberraschung seines Lebens gegenüber.

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